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Wilhelm Pevny – Werkausgabe Band 5

Abteilung 2: Frühe Romane 2/4

In alter Rechtschreibung ohne ß.

Wilhelm Pevny

Aus heiterem Himmel

Roman

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Die Herausgabe dieses Buches erfolgte
mit freundlicher Unterstützung durch die
Stadt Wien, das Land Kärnten
und das Land Niederösterreich

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ISBN 978-3-99029-225-9

eISBN 978-3-99047-082-4

Soeben noch woanders gewesen. – Oder bildete ich es mir bloss ein? – … X4YN, oder so ähnlich. Plötzlich wussten wir, es ist aus. Was aus? – Ein unbekannt unangenehmes Gefühl: Als wären wir miteinander verwachsen und jemand versuchte uns mit wuchtigen Hieben zu trennen, G., F., K., L. und mich, vielleicht auch R., S., U., W. oder 4, Beta, Ramses und Kom – Namen, Bezeichnungen, die ich mir später nicht mehr in Erinnerung zu rufen vermag.

Danach auf etwas Kaltem erwacht. Steinboden, heisst es, Halle, Südbahnhof, Wien – weshalb nicht Wiese, Auckland, oder Feld 1, Quadrat X., Gammagan?

Ich hätte es wissen müssen, behaupten die Wesen um mich herum. Brigitte, Maria, Kurt, MEINE Freunde im Spital, bestürzt, dass ich mich nicht erinnern kann. Zum Beweis halten sie MEINEN Kamm vor mich hin, MEINEN Rasierapparat, Papiere, Stempel, Dokumente. Am 6. 10. 1953 an einem Ort namens Jennersdorf geboren. 1972 nach Wien übersiedelt. Erinnerst du dich nicht mehr? – meine Mutter. Mutter — was ist das? Etwas, das zu Boden sackt, sobald man es nicht erkennt?

Die Gemeindewiese, der Bach, die Weinfelder, wir hätten als Kinder so oft miteinander gespielt – Maria, meine Schwester. In der Lange-Gasse, Nummer 7, würde ich wohnen, gemeinsam mit meiner Ehefrau und meinem Sohn. Nein, nicht 1972, man schreibe bereits … – Überall diese seltsamen Wesen, und alle behaupten dasselbe: In der Kassenhalle des Südbahnhofs, wie aus heiterem Himmel niedergestürzt, hätte ich danach verwirrt auf Passanten eingeredet, was immer das ist.

Das grelle Licht, in das sie mich gelegt haben, diese fremdartigen, weissen Gestalten (sonderbare Scheiben obenauf) – hat er recht, der im weissen Kittel und all die anderen: ich würde schon die längste Zeit in dieser Stadt hier wohnen, und bildete mir bloss ein, kurz bevor ich erwacht sei mit meinen Geschwistern (wie man sie hier wohl nennen würde) auf X4YN unterwegs gewesen zu sein – oder Lichtfeld Kaser, Abschnitt RO7?

Das sei normal – das Gesicht des Oberarztes zu meiner Mutter gewandt —, in den Sekundenbruchteilen des Schocks entstünden solche Visionen(herrlich, diese unbewegte Scheibe, während der untere Schlitz darin sich ständig öffnet und schliesst!) – abrupt brach es aus mir heraus: sie nennen es Gelächter, ein angenehm quälendes Gefühl.

Aber angenommen, so frage ich mich Wochen später, angenommen, der Oberarzt und all die anderen hätten recht (schliesslich behaupten sie, Beweise zu haben) und ich wäre tatsächlich in der Halle des Südbahnhofs wie vom Blitz getroffen zu Boden gestürzt, kurz nachdem ich – wie der Schalterbeamte angeblich bezeugte – eine Fahrkarte nach St. Veit an der Glan erstanden hätte (ein Ort, dessen Name und Existenz mir völlig unbekannt), so bleibt jetzt im Ehebett unseres blumengemusterten Schlafzimmers dennoch die Frage (falls es wirklich so geschehen ist, wie die Zeugen behaupten, was ich noch immer nicht recht glauben will): WAS sollte mich denn dermassen erschreckt haben, dass ich niedergestürzt und – im Zeitmass dieser Welt gedacht – von einer Sekunde auf die andere offenbar vergessen hatte, wie ich angeblich hiess und wer ich bis zu diesem Zeitpunkt gewesen sei, ich mir stattdessen (glaube ich den Äusserungen der sogenannten Ärzte) bloss einbildete, soeben noch mit Freunden in einer anderen – bis dahin wohlbekannten – Welt unterwegs gewesen zu sein, ohne Körper aus Fleisch und Blut, frei von solch seltsamen Begriffen wie Zeit und Ort, zwar – so ich mich richtig erinnere – Raum, aber sicherlich keine Bezeichnungen wie St. Veit an der Glan oder Wiener Südbahnhof …?

Ich weiss, und beschwichtige mich sogleich – hinter dem Fenster die Baumkronen des sogenannten Schönbornparks —, ich darf solchen Gedanken nicht weiter nachhängen, darf mich nicht zurücksehnen nach G., K., M. und F. (oder Recta, Star, Omega, oder wie immer meine Geschwister— in hiesiger Sprache unnennbar – hiessen): verrückte Einbildungen!, von den Ärzten gebrandmarkt, Erinnerungen, die hierorts offenbar verboten sind, vor allem mein Gelächter; dennoch drängen sich diese Einbildungen gerade in den letzten Tagen mir wieder auf, Erinnerungen an eine Welt, die mir näher ist und echter scheint als diese hier mit ihren Ehebetten und Bäumen vor dem Fenster, Geburtsurkunden, Kämmen und Rasierapparaten, von der sie behaupten, dass sie die einzig wirkliche ist. – Licht, murmle ich, Felder, alles Gefühl … – mühsam versuche ich die Welt, aus der ich zu stammen glaube, meiner Ehefrau zu beschreiben.

Brigittes besorgtes Gesicht. – Ist ja gut, Brigitte, versprochen, ich werde darüber nicht mehr reden: Gut, lalle ich und hebe meine Hände, gut— mehr als ein paar Worte kriege ich nicht heraus (jedoch seltsamerweise denken kann ich in dieser mir noch immer fremden Sprache) – Gut, Brigitte, ich werde darüber nicht mehr reden – nicht reden; dass es mir gut gehe – gut geht —, besser als gestern – gestern, nicht gut —, und dass es seit ein paar Tagen offenbar kühler sei als vorige Woche, und wie sehr ich mich freue, dass Eva und Ernst uns heute abend besuchen – Eva, Ernst, froh …

Nein, meine Einbildungen nicht mehr erwähnen, aber denken, im Geheimen – was für eine Freude, als ich es herausgefunden hatte: am Denken können sie mich nicht hindern! – Vor sich hinträumen, für sich allein. Zumindest die Träume bleiben einem, aber leider allein, und eben im Geheimen, nicht mit den geliebten Geschwistern beisammen, nicht gemeinsam lachen, nein; hier in der Fremde nur im Verborgenen in Gedanken fliegen, und so tun, als würde ich liegen oder gehen, reden – aber dabei anderes denken, bloss niemandem verraten, dass ich mich stärker denn je an meine Welt erinnere: körper- und grenzenlos schwappen wir ineinander … zu wissen, wie es X. ergeht, ohne ihn danach zu fragen.

Rücklings auf dem Bett in der Erinnerung schwelgen: solche Erlebnisse können sie mir nicht nehmen. Aber, wie gesagt, bloss nicht darüber reden, über die Verzweiflung, jeden Morgen – vielleicht bis in alle Ewigkeit? – immer wieder, Tag für Tag, in dieser seltsamen Wirklichkeitswelt zu erwachen, deren Bewohner einen ungemeinen Eifer entwickeln, sich und vor allem mir einzureden, dass diese Welt wirklich und keine Täuschung sei. – … Leuchtende Felder, schwappen wir ineinander, jedwede Vorstellung, die man hegt, ist sogleich real und wird einem fremd, sobald sie sich wieder entfernt; der andere wird zu einem selbst, und man selbst zum anderen … – War es etwa die Sehnsucht von uns Endlosen nach dem Endenden, frage ich mich, von vier Wänden umgeben, die Zimmerdecke über mir. Als hätte es unter uns – in uns – zwischendurch die Sehnsucht nach dem Endenden gegeben. Ist diese Welt hier das Produkt einer solchen Sehnsucht? – … Und bin ich schon so sehr hier gelandet, dass ich mich bereits ob solcher Gedanken schäme?

Brigitte, ihr Entsetzen – nicht über die Bilder, die wir soeben im Fernsehen gesehen hatten, nein, über mich! Offenbar sei es noch zu früh, offenbar würde ich das, was ist, noch nicht verkraften … Was wiederum mich entsetzte. Wie konnte sie angesichts der Geschehnisse, die wir soeben verfolgt hatten, ruhig an ihrem Kaffee schlürfen, als hätten wir bloss die Wiese betrachtet, und nicht die aufgeschlitzten Zivilisten, Soldaten, die darauf lagen. Ich schrie auf und deutete verwirrt auf den Bilderkasten. – Nicht hier! Es geschieht nicht hier, sondern im Fernsehapparat!, versuchte sie mich zu beruhigen. – Schlechte Strahlen!, stiess ich besorgt hervor, und »Wie nennt man«: Ich deutete, leblos sein. —Tot, antwortete sie und stellte sich demonstrativ schlaff; und als klein Ferdinand mir an den Hals griff und dabei seinen Lappen aus dem Mund hängen liess, sagte sie Mord und schob sanft die Hände des Kleinen zur Seite. – Mord?, fragte ich verständnislos, deutete auf den strahlenden Kasten und starrte klein Ferdinand an, der sich selbst an den Hals griff und zur Seite kippte, als wäre er leblos. – … Nicht wahr!, versuchte mich meine Schwester zu beruhigen und legte ihre Hand auf meine. – Film?, fragte ich – diesen Begriff hatte sie mir tags zuvor erklärt. – Sie schüttelte den Kopf: Nein, nicht Film, Nachrichten. – Nachrichten? Nachrichten nicht wahr? – Doch wahr, aber nicht hier. —

Ich schwieg, musste dann aber doch damit heraus: Wieso Tod sehen, wieso nicht Lichtblitze, energetische Felder. Wieso nicht Wesen, die ineinanderschwappen? Schlechte Strahlen, rief ich erneut aus. Ich verstand und verstehe noch immer nicht, wie man sich dem aussetzen kann. – Schlecht!, rief ich tags darauf, als wir die Mutter besuchten und der Fernsehapparat im Wohnzimmer eingeschaltet war. – Gift! Strahlen! Mord! Tod! – Das entsetzte Gesicht der Mutter, sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. – Oh Gott, wo er doch immer so gern Fussball geschaut hat!Seid ruhig. Jetzt kommen die Nachrichten, keuchte der Grossvater und reichte eine Schüssel herum. – So sassen wir da, tranken Kaffee und assen Salzgebäck und vor uns lagen, so wie tags zuvor, reglos Soldaten, Zivilisten, diesmal allerdings auf einer anderen Wiese.

Der Bazillus nistet sich ein, hatte mir der Oberarzt nach der Kontrolluntersuchung tags darauf erklärt – das grosse Fenster, das helle Gebäude gegenüber … – Einmal in die Blutbahn geraten, beginnen diese Partikelchen Zellen und Organe zu zerstören, als Folge unweigerlich der Tod, würden nicht die weissen Blutkörperchen in Aktion treten, die Eindringlinge umkreisen, sie ausschalten.

Also doch! Die Erklärung des Arztes, welche Erleichterung! – diese Welt war also doch der meinen ähnlich. – Die Stiege hinauf, noch in Mantel und Hut sogleich ins Wohnzimmer, im medizinischen Lexikon blättern – Brigitte hatte es vor einigen Tagen zur Hand genommen, als sich klein Ferdinand verletzte und ich auf die rote Flüssigkeit starrte. Blut. Blut?, hatte ich gefragt, und sie hatte mir die Abbildungen gezeigt. – Jetzt sass ich in Mantel und Hut da und betrachtete fasziniert die weissen Blutkörperchen, während Erinnerungen an L., M. und K. auftauchten – gemeinsam stürzen wir uns auf den eindringenden Schrecken, greifen ihn an, jagen ihn davon; vor mir das dicke Buch, die enggedruckten Zeilen, die bunten Abbildungen, millionenfach vergrössert: Bazillen, weisse Blutkörperchen – also hatte diese Welt doch etwas mit der unseren gemein!

Umso grösser mein Unverständnis für das Verhalten meiner Verwandten tags zuvor: weder Brigitte noch meine Mutter, auch nicht die Schwester oder der Grossvater waren angesichts der Toten – wie sie mir später erklärten: der Ermordeten (den Unterschied verstand ich nicht sogleich) – aufgesprungen, keiner hatte gerufen: Wir müssen sofort etwas dagegen unternehmen, lasst alles liegen und stehen, den Bazillus, man muss ihn angreifen, eliminieren, ansonsten ergreift er von uns Besitz! – Stattdessen versuchten sie mich zu beruhigen und, während sie Knabbergebäck herumreichten, langatmig zu erklären, was ich nicht glauben will: Offenbar lässt man hierorts tatsächlich den Schrecken gewähren. Wir trügen die Krankheit alle in uns, sagte mein Cousin ein paar Tage danach, die einen stärker, die anderen schwächer, das sei eben so!

Aber wenn es in uns ist, weshalb gebärden sie sich dann auf der Fernsehcouch und in den Fauteuils, als hätten sie damit nichts zu tun, als würde das Missliche bloss ausserhalb von ihnen geschehen und es ginge nur darum, von den Auswirkungen nicht betroffen zu werden – bei Salzgebäck und Chips zusehen, was jene anrichten, die davon offenbar bereits im Übermass verseucht, und wie es denen ergeht, die schutzlos diesen Verseuchten ausgeliefert sind … – Ich rannte ins Badezimmer, spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht: Zu Hause bequem sitzen und die Ausbreitung des Übels, die Tötung, das Massaker begaffen, anstatt sich zu versammeln, alles sofort liegen und stehen zu lassen. In die Autos steigen, aus den Supermärkten rennen, die – ach so – wichtige Arbeit sein lassen, sich zusammentun, Wissenschaftler, Lehrer, Manager, von überall strömen die Menschen auf die Strassen; Banken und Schulen geschlossen, Taxi- und Speditionsunternehmen bis auf weiteres verwaist, jeder lässt alles liegen und stehen, in den Mienen aller zu lesen: Wir müssen etwas gegen den Bazillus tun und wir werden es schaffen! – Warum geschieht es nicht? Wo bleiben die weissen Blutkörperchen?

Gilt, stammle ich, sammeln … forsche … kommen … Massnahme … Medi … Üben … – die Bazillen umzingeln mit aller Kraft. Stark …! – Das lachende Gesicht meiner Mutter sonntags in der guten Stube: Schon als Kind hätte ich nicht verstanden, weshalb so viel Geld in die Raketen gesteckt wird und nicht für die Armen verwendet werde. Aber später sei ich selbst einer der schlimmsten Waffennarren gewesen … – Gelächter. Prost. Noch ein Glas! Unerträglich, hier in dieser burgenländischen Stube. Wie sich Wesen je an so etwas gewöhnen können!

Allmählich begreife ich, wie es geht: Die anderen reden lassen – den Rinderbraten am Teller, vor sich hinträumen. – He, hörst du uns überhaupt zu? – Natürlich. Ja, ja. Immer brav die Fragen beantworten, so tun, als wäre man mit ganzem Herzen dabei, im Geheimen jedoch vor sich hinträumen – ja allmählich verstehe ich, wie man sich hier verhalten muss. Das Fleisch (tote Lebewesen!) mit Messer und Gabel zerteilen, hin und wieder Mhm, schmeckt gut! stammeln. – Na Gott sei Dank, wenigstens isst er wieder ordentlich. Das verschafft einem jedesmal ein paar Augenblicke, um sich hinwegzuträumen: mit G., K., F. und M. im Unbegrenzten unterwegs, sich Farben ausmalen, Welten erdichten, die im selben Moment wirklich werden, bis dann zuletzt etwas Starkes uns auseinandergeschleudert hatte – jeder für sich allein, vereinsamt, bis in alle Ewigkeit?

Als Siebenjähriger sei ich in einen Strudel geraten – Mutters hochrotes Gesicht, ihre Augen blitzen. Nachdem ich das Bewusstsein verloren hätte, habe mich das sprudelnde Wasser wieder ausgespuckt. – Ringsum Gelächter. – Strudel? – Spirale, deutet die Schwester. Und wieder die entsetzt bis besorgten Gesichter rundum. – Allmählich verstehe ich, was sie meinen: Turbulenzen … – Kein Grund, uns zu ängstigen, hatte es in uns gedacht. Aber diesmal war es anders. Diesmal spuckte es uns nicht wieder dorthin zurück, wo wir soeben noch waren, diesmal trieb es uns auseinander, G., F., K. und M. – oder wie immer sie hiessen —, spuckt es mich seither Tag für Tag immer wieder in diese mir völlig unverständliche Welt.

Ja, …äpfelsalat gut, Mutte… – sage ich und rätsle, während ich das Fleisch kaue und Mhm! s töhne, was wohl zuerst war, die Katastrophe (wie man hier einen solchen Absturz nennen würde) oder der beängstigende Gedanke, etwa an eine Prüfung, der wir ausgesetzt sein würden: unser Beisammensein, unsere Ergänzung, Übereinstimmung würde durch ein fremdes System auf die Probe gestellt, und es würde uns Mühe kosten – hatte die Stimme solches prophezeit? —, durch diesen Sturm unbeschadet hindurchzukommen, einzig so wir den Kontakt zueinander nicht verlören, hätten wir Chancen zurückzukehren … – war es das, was uns der letzte Gedanke prophezeit hatte, und kaum artikuliert, waren wir schon mitten im Geschosshagel …? (Erleichtert, dass mich hier niemand beim Denken belauscht.)

G … schwister! – dieses Wort, während ich zum Himmel deute, löst jedesmal wahre Grimassengewitter (wie ich es später insgeheim bezeichne) aus. – Mit meinen Geschwistern in Kontakt treten, ja das will ich so sehr! – Um Gottes willen, sie sperren dich wieder ein!, das besorgte Gesicht meiner Schwester. – Es wird nicht besser mit ihm, meine Mutter schlägt die Hände vors Gesicht, gefolgt von den alsbald sattsam bekannten Beweisen, Episoden, Lebensgeschichten: Erinnerst du dich denn nicht daran? Oder daran, wie du das Kruzifix damals …?

Immer wieder dieselben Fragen, und tatsächlich – oder bilde ich es mir ein: Es gelingt ihnen allmählich, Erinnerungen zu entfachen, Erinnerungen an meine angebliche oder tatsächliche Kindheit. Gestern, auf dem Kinderbett im Kabinett meines Elternhauses, zum ersten Mal so, als würde ich mich aus eigenem an einen Jugendstreich erinnern, die Dachrinne, der Pfarrer, ich sah es, so wie sie es geschildert hatten, klar vor mir. Konnte ich mich wirklich daran erinnern oder wollte ich es mir einbilden, um ihrem steten Drängen nachzugeben – endlich die bekümmerten Gesichter vor mir erleichtert sehen, endlich von ihnen in Ruhe gelassen werden? – Das Kruzifix über der Kommode: Kruzifix, hatte die Schwester erklärt. (Wieso preisen die Wesen dieser Welt die Kreuzigung ihresgleichen an?, hätte ich fragen wollen, verkniff es mir aber.) – Dem Gekreuzigten hast du damals Puppenkleider angezogen …

Ja, kenne dieses Gesicht, Mutter, ja, das Gesicht meines Onkels, meiner Tante, meiner Schwester … – ständig die gleichen Gesichter vor mir, weiss ich nicht, ob ich sie wirklich erkenne oder bloss, weil ich mich bereits an diesen Blick und jenen Mund gewöhnt habe, sie es mir immer wieder gesagt hatten: das ist deine Schwester, deine Mutter, deine Ehefrau …

Erinnerst du dich daran, erinnerst du dich daran …? – ist es mir nun so, als würde ich mich in letzter Zeit tatsächlich an die eine oder andere Begebenheit erinnern, sogar an solche, welche die Ansicht meines Onkels bestätigen, ich wäre früher ein knallharter Realist gewesen, hätte mich – sehe man von meiner frühesten Kindheit ab (also bis zur Geburt meiner Schwester) – nie solchen Spintisierereien hingegeben, wie etwa … dass man die Zerstörung bekämpfen müsse oder gar, dass ich aus einer anderen Welt stammte oder ähnlich Abstruses. Immer ein bemerkenswert wirklichkeitsnaher Mensch sei ich gewesen, der solche Ansichten stets verspottet habe; und so ich mich – von Tag zu Tag mehr – an meine Kindheit und Jugendzeit erinnere, muss ich meinem Onkel und auch Tante Gertrud recht geben: Vergnügungen, wie Mädchen aufreissen, und alsbald der alles überdeckende Drang, möglichst schnell aus Jennersdorf hinaus und auf schnellstem Wege zu Geld und Einfluss zu gelangen, bestimmten offenbar mein jugendliches Leben.

Annemarie! Alle deuteten auf eine dicke Frau vor dem Fenster, die aus einem Auto stieg und im Haus gegenüber verschwand. Mein Bruder Kurt lachte und spitzte ein paarmal die Lippen, da ich nicht sogleich verstand. Aber allmählich meinte ich mich zu erinnern. Der erste Kuss, Annemarie. Sogar den Geruch meiner Vergangenheit im alten, damals noch nicht renovierten Gemäuer des Elternhauses glaubte ich zu erahnen. Und ach ja, der frische Asphalt