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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Danke!

… und es ward (nicht nur) Licht

Prolog 1

Leben

Höllenfahrt (Teil A)

Vorboten

Am Horizont bauen sich dunkle Wolkentürme auf

Nachtmeerfahrt (Teil A)

Das Schiff nimmt Kurs auf das Festland

In der Ferne ist ein Leuchtturm in Sicht

Höllenfahrt (Teil B)

Aus den dichten Wolkentürmen zucken erste Blitze

Nachtmeerfahrt (Teil B)

Auf den letzten Meilen herrscht gewaltiger Seegang

Der Steuermann sucht mit aller Kraft, den Kurs zu halten

Testa dura (Teil A)

Es ist gefährlich, mit schlechten Karten hoch zu pokern

(Man müsste sich zumindest darüber im Klaren sein)

Höllenfahrt (Teil C)

Eine Brise aus Nordwest könnte den Gewitterherd auflösen

Himmelfahrtskommando (Teil A)

Ist es das strahlende Gelb der Blüte im Frühling?

Oder ist es das leuchtende Gelb des welkenden Laubs?

Testa dura (Teil B)

Die Karten werden neu gemischt

Wendet sich das Blatt?

Höllenfahrt (Teil D)

Am Scheideweg

Bricht das Gewitter aus, oder zieht es ab?

Prolog 2

Erkenntnis

Höllenfahrt (Teil E)

Über Zentraleuropa breitet sich ein Zwischenhoch aus

Nachtmeerfahrt (Teil C)

Der Lotse hilft dem Steuermann

Es gilt, Wind und Strömung richtig einzuschätzen

Himmelfahrtskommando (Teil B)

Grün, so weit das Auge reicht

Tropischer Regenwald – undurchdringlich scheint der Busch

Höllenfahrt (Teil F)

Das Tiefdruckgebiet im Osten bleibt weiterhin wetterwirksam

Nachtmeerfahrt (Teil D)

Land in Sicht

Die Hafeneinfahrt erfordert viel Geschick

Höllenfahrt (Teil G)

Heftige Turbulenzen zwischen Hoch- und Tiefdruckgebiet

Sturmböen sind nicht ausgeschlossen

Himmelfahrtskommando (Teil C)

Im Dickicht leuchten rote Tupfer

Erwachende Blüte oder sterbendes Laub?

Prolog 3

Entwicklung

Nachtmeerfahrt (Teil E)

Stürmische See erfordert einen souveränen Kapitän

Höllenfahrt (Teil H)

Ohne Vorwarnung fegt ein Orkan übers Land

Höllenfahrt oder Himmelfahrtskommando?

Knospen brauchen Sonne, um sich öffnen zu können

Entr’acte

Vermischtes

Prolog 4

Freiheit

… und es ward … eine neue Nacht

Morgenröte (Teil A)

Der Mond ist untergegangen

Morgenröte (Teil B)

Die Sterne verblassen

Morgendämmerung?

Morgenröte (Teil C)

Tagesanbruch oder Sonnenfinsternis?

Morgenröte (Teil D)

Am Horizont, ein Lichtstreifen?

Morgenröte (Teil E)

Wolken und Sonne, sie kämpfen um die Vorherrschaft

Der Tag bricht an

„Wirst du ein Guter?“

Morgenröte (Teil F)

Silberstreifen am Horizont

Hallo Tag!

… und es brach ein neuer Morgen an

Epilog 1

Unterwegs

Sonnenaufgang (Teil A)

Vorfrühling

Die Zwiebel ist zum Wachstum bereit

Die Lebensgeister erwachen

Sonnenaufgang (Teil B)

Winterausklang

Erwachen zu neuem Leben

Sonnenaufgang (Teil C)

Frühlingsboten

Knospen öffnen sich behutsam

Angst vor Verletzlichkeit

Sonnenaufgang (Teil D)

Schneeschmelze

Tod und Geburt, Geburt und Tod

Sonnenaufgang (Teil E)

Frühlingsgefühle (Teil I)

Zarte Triebe warten auf die Kraft der wärmenden Sonne

Neuland (Teil I)

Sonnenaufgang (Teil F)

Raureif im Frühling (Teil I)

Prüfung für das neue Leben (Teil I)

Sonnenaufgang (Teil G)

Frühlingsgefühle (Teil II)

Die Triebe recken sich in die Sonne

Neuland (Teil II)

Sonnenaufgang (Teil H)

Raureif im Frühling (Teil II)

Prüfung für das neue Leben (Teil II)

Epilog 2

Freiheit?

Anhang: Personen

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2019 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99064-631-1

ISBN e-book: 978-3-99064-632-8

Lektorat: Annette Debold

Umschlagfoto: „Alltagstrott“, Benedikt Notter, www.benediktnotter.ch/seiten/plus.html

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Danke!

Ganz speziell will ich mich bedanken bei allen Klientinnen und Klienten – wie auch bei ihren Angehörigen –, die ich auf ihrem Weg begleiten durfte. Ihre Prozesse und ihre Geschichten waren mir Inspiration und Vorlage für die Personen in vorliegendem Roman.

Einen besonderen Dank spreche ich auch meiner Partnerin und einigen guten Freunden aus, die mir bei der Entwicklung und Korrektur des Werkes mit Rat und Tat zur Seite standen.

Last but not least bedanke ich mich ganz herzlich beim Zeichner Benedikt Notter, der mir eines seiner Bilder für den Umschlag zur Verfügung gestellt hat.

… und es ward (nicht nur) Licht

Prolog 1

Leben

Der Mensch wird geboren

als der, der er ist.

Der Mensch wird geformt

durch das, was ihn berührt.

Der Mensch lebt und wird

beeinflusst und entschieden

von außen und von innen

zu dem, der er ist in der Welt.

Es ist die Entscheidung des Individuums,

sich zu entwickeln und zu lernen,

oder zu verharren und zu leiden.

Höllenfahrt (Teil A)

Vorboten

Am Horizont bauen sich dunkle Wolkentürme auf

Dienstagmorgen, sechs Uhr fünfunddreißig

Ein heftiger Wind rüttelt an den verschlossenen Rollladen, Regentropfen pochen gegen die Plastiklamellen, das Quietschen der Straßenbahn mischt sich unter das Brummen der Autos, die vor der Ampel warten, und unter das Aufheulen der Motoren, wenn das Signal auf Grün wechselt. Stimmen durchdringen das leise Rauschen des Regens, man hört das Trippeln von Schritten auf dem Asphalt. – Ein ganz gewöhnlicher Morgen in einem nassgrauen, kühlen und trüben Monat Mai.

Die Stadt erwacht.

Dienstagmorgen, sechs Uhr achtunddreißig

„Biip – biip“, leise klingelt er noch, der Wecker, doch immer penetranter beginnt er zu piepen.

„Verdammter Scheißwecker!“ Mit einem Faustschlag wird er zum Verstummen gebracht, worauf er aus dem Gleichgewicht gerät und klappernd über den Parkettboden in die nächste Ecke kullert.

Nachdem er ihn kurz hochgewuchtet hat, lässt Maurizio seinen schweren Kopf wieder ins Kissen fallen, die Schädeldecke fühlt sich an, als ob sie nächstens abheben wollte, wie er seine Baseballmütze am Abend von seinem Haupt löst. Es hämmert und dröhnt in seinem Gehirn, und es ist ihm, als ob siebenhundert Zwerglein sich um einen einzigen Stuhl balgen würden, auf den sich jedes gern setzen möchte. „Scheiße! Scheiße, Scheiße, Scheiße!“

Dienstagmorgen, sechs Uhr dreiundvierzig

„Biip – biip“, der Wecker, schon wieder! – Unerbittlich setzt er erneut an, leise noch, doch schon beginnt sich der durchdringende Ton zu steigern: „Biiip, biiip!“ Maurizio weiß, eigentlich gibt es kein Ausweichen. ‚Faule Sau, klemm dich in Arsch!‘ – Bleischwer bleibt der Körper in der Matratze versenkt. Ein verzweifelter Versuch, den Rumpf allen Widerständen zum Trotz in die Vertikale zu heben, scheitert in Anfang einer eruptiven Bewegung in der Magengegend: Säure steigt die Speiseröhre empor, es brennt bis in den Hals hoch! Ätzend!

Die Horde Zwerglein unter der Schädeldecke scheint sich für einen Moment in einen Schwarm wild gewordener Hornissen verwandelt zu haben. Absolut ätzend!

Dienstagmorgen, sechs Uhr achtundvierzig

„Biip – biip“, das Piepen wird lauter, penetranter. „Scheißwecker, verfluchtes, verdammtes Scheißding!“ Die Hand, mit einem Anflug von Wut in die Höhe gewuchtet, knallt mehr schlaff als wuchtig auf die Holzplatte des Nachttischchens, auf dem das unschuldige Ding aus schwarzem Kunststoff vor wenigen Augenblicken noch stand.

„Scheiße, Scheiße!“, röchelt eine heisere Stimme aus dem Kopfkissen.

Das Piepsen schwillt zu einem ohrenbetäubenden, markdurchdringenden Alarm an! „Verdammtes, verrecktes Scheißding, wo liegst du nur? Verflucht noch mal!“, tobt Maurizio. In einem Anflug von Verzweiflung rollt er sich aus der Matratze auf den Fußboden, gleitet in die Richtung, aus der der elektronische Ruf schallt, und packt das arme Ding, als ob er es zerquetschen müsste.

„Biip.“

Dann Stille, durchbrochen nur von einem Stöhnen und Keuchen von jemandem, dem der Rest Lebenskraft aus dem Körper zu weichen scheint und der sich nun wie leblos hindrapiert, dem Fußboden hingibt. Wie gebannt richtet sich sein Blick auf dieses kleine Ding vor ihm, welches durch ein leises „Tack-Tack-Tack“ unaufhaltsam und unbarmherzig den Fortgang der Zeit kundtut.

Dienstagmorgen, sechs Uhr dreiundfünfzig

Zum vierten Mal setzt der Piepston ein, zögernd erst, fragend, beinahe bittend. Maurizio weiß aus Erfahrung, dass es nur Sekunden dauern wird, bis er wieder die Frequenz erreicht haben wird, die ihn zum Folterinstrument werden lässt. „Verfluchtes, verdammtes Scheißding!“

Der Energieausbruch war Überforderung pur, schwer knallt der Kopf auf den Parkettboden nieder, die Körperspannung löst sich. Maurizio röchelt, als würde er leibhaftig am Kreuz hängen und nur auf den erlösenden Todesstoß warten!

Urplötzlich strömt wieder Leben in sein Gesicht! Mehr lallend als sprechend scheint er sich bei seinem Wecker entschuldigen zu wollen: „Eigentlich kannst du ja nichts dafür! Eigentlich.“ Und dabei denkt er sich: ‚Eigentlich sollte ich jetzt wirklich aufstehen – schon wieder zu spät kommen ist nicht drin: am Mittwoch krank, am Freitag Benzin ausgegangen, gestern einen Platten … Nicht schon wieder so was! Lange kann ich dieses Spiel nicht mehr spielen, sonst geht es wieder so, wie schon oft: Herr Salvelli, wir gedenken in Zukunft auf Ihre Dienste zu verzichten! Dieses herablassende Getue des Chefs! – Scheiß­chef! – Eigentlich soll

Der Geist ist schwach, und das Fleisch folgt ihm willig! Abermals zieht sich die rechte Hand zusammen, als halte sie eine Zitrone darin, die es vollständig auszudrücken gilt. Stille breitet sich im Raum aus! Nur das „Tack-Tack-Tack“ erinnert daran, dass der Tag unaufhaltsam älter wird.

Das schwarze Loch hat über Maurizio gesiegt. Die Gedanken schweigen, sie wollen nicht gedacht werden, so nicht, jetzt nicht!

Dienstagmorgen, sechs Uhr achtundfünfzig

„Biip – biiip – biiip – biiiiipp – biiiiipp – biiiiiiiiiipppp.“

„Scheißding, kannst du mich nicht endlich in Ruhe lassen?!? Verflucht noch mal!“, schimpft Maurizio. Mit wem eigentlich?

‚Komm schon, mach dir nichts vor: Der Wecker ist nicht wirklich der Grund! Eigentlich ist ihm klar: Es sind der Scheißschnaps, die Scheißkollegen, der Scheißmagen, die Scheißkopfschmerzen, das Scheiß-eigentlich-alles!

Und der Scheißkopf fällt erneut auf den harten Scheißboden. Und noch mal geben die Gedanken für ein paar Augenblicke Ruhe. Erlösende Ruhe? Ruhe vor dem Sturm? – Ruhe, einfach Ruhe!

Aber bald rumort es wieder in den Hirnwindungen: ‚Was soll das Ganze eigentlich? Lass doch diese blöden Spiele! Wo ist schon wieder das Alka-Seltzer? Und es folgt ein Schub dieser alles andere als erbaulichen Lebensweisheiten, die anscheinend nur danach trachten, einen im unpassendsten Moment auf dem falschen Fuß zu erwischen, um einen noch tiefer ins Elend zu pressen: ‚Wer saufen kann, kann auch aufstehen! – Ein Indianer kennt keinen Schmerz! – Du kannst es schon, du musst nur wollen!

Maurizio schreit sein Elend in den Raum: „Neiiin! Jetzt hör einfach auf damit, du Scheißvater, du! Schenk dir deinen Rat, und schau nur, wohin du es gebracht hast, mit deinem ‚Man muss nur hart genug sein, dann …‘ Alle und alles hast du damit ins Elend geritten, alle, du verfluchtes Arschloch, du!“

Vom nahen Kirchturm erklingen vier doppelte Glockenschläge, hell und leicht. Danach dröhnt es sieben Mal dunkel und dumpf.

‚Wenn du dich jetzt aufraffst, schaffst du es gerade noch! In einem Anflug von Energie hievt Maurizio seinen geschundenen Körper vom Fußboden hoch und bewegt sich im Versuch einer Synthese von Torkeln und zielgerichtetem Gang Richtung Badezimmer. Gerade noch rechtzeitig erreicht er die Kloschüssel, um die Reste seines Mageninhaltes auf direktem Weg dem Kanalisationssystem seines Quartiers zu übergeben. ‚Wenigstens du gibst jetzt endlich Ruhe!

‚Hier, Alka-Seltzer, endlich! – Leer!

Und er legt sich erneut ins Zeug: „Scheiße noch mal!“

‚Hab ich vielleicht irgendwo noch Aspirin? – Oder was sagen seine Kumpanen: „Auf die Zähne beißen, ein Glas Bier auf nüchternen Magen, und der Tag ist gerettet!“ Den Tag mit Bier beginnen, wie ein Alki? Dann haste aber echt ein Problem! Wieso schaffe ich es einfach nicht, weniger zu trinken?

Inzwischen hat Maurizio seinen Kopf so hoch gehoben, dass seine Augen in den Spiegel über dem Waschbecken zu schauen vermögen: Die Fratze, die er da erblickt, käsebleich, mit schwarzen Ringen unter den geschwollenen Augen, diese Fratze, zum Kotzen und doch so wie eine gute Bekannte! Aber dennoch: einfach zum Kotzen! – „Neiiin!“

‚Jetzt ist aber Schluss, mir reichts, ich habe es gesehen, habe es gestrichen voll, echt! Ich glaub, ich lass jetzt endlich die Finger von diesem Scheißalkohol! Jeden Morgen diesen Kater, jeden Morgen diesen Krampf, diesen Kampf: einfach nur Scheiße!

„Da, ein Aspirin – Nein, lieber gleich zwei, die Dinger sind doch eh nur Schwachstrom – Kacke!“ – Das Glas Wasser dazu – der Magen scheint zu einem doppelten Salto mortale anzusetzen. Dank einigem Würgen im Verbund mit dem Sammeln all seiner Willenskräfte schafft Maurizio es, den Inhalt an dem Ort zu halten, wo er hingedacht ist. „Ufff!“ – ein tiefes Ausatmen unterstützt den Körper im Loslassen: Entwarnung erster Stufe!

‚Um halb acht Uhr bei der Arbeit sein? Kann ich vergessen, das schaffe ich nicht! Schaffe ich mit allem Auf-die-Zähne-Beißen nicht.‘ – „Scheißalkohol, Scheißkater!“

‚Jetzt reicht’s, jetzt ist echt fertig mit Saufen! Schließlich habe ich endlich einen guten Job, will den nicht gleich wieder verlieren, nicht schon wieder!

Wie soll er es heute wohl nur richten?

„Verdammter Mist! In diesem Zustand schaffe ich es nicht, vermutlich wirklich nicht!“

Verzweifelt überlässt Maurizio seinen Kopf den Gravitationskräften, worauf dieser auf den Rand des Waschbeckens prallt. Ein schmerzhaftes Erwachen ist die Folge, ein paar halbwegs klare Gedanken eine der Auswirkungen: ‚Stopp, was hat mein Schwesterchen, das ich gestern zufälligerweise am Bahnhof getroffen habe, erzählt? Mamma hat Darmgrippe!

„Hey, Mann, das ist es doch! Hey, komm, Doc Hutter wird mir bestimmt ein Zeugnis schreiben, wenn ich heute Morgen mit Darmgrippe bei ihm aufkreuze, habe schließlich schon länger keins mehr benötigt!“ – ‚Außer letzte Woche, denkt sein Gehirn kurz und klar, aber schon vorbei. – ‚Echt, Mann! Darmgrippe, nicht schlecht! Der Chef wird sich vielleicht denken „Schon wieder krank!“ Aber was solls: Darmgrippe kann jeder mal haben, und ich habe ja ein Zeugnis, und nächste Woche wird alles besser!

„Abgemacht, Mauri, diesmal ist es klar! – Indianerehrenwort!“, spricht er sich selber Mut zu.

Kaum haben sich die wildesten Stürme im Magen etwas gelegt, beginnt Maurizio wie toll durch die Wohnung zu tigern. Voller Wut packt er plötzlich das Bierglas, das noch auf dem Küchentisch steht. Kurz bevor es zum fliegenden Objekt mit einer Halbwertszeit von einigen wenigen Sekunden umfunktioniert wird, kommt Maurizio zur Besinnung, atmet dreimal tief durch und beginnt seine Gedanken zu sortieren.

Hastig zieht er sich die Hose vom Trainingsanzug und die Regenjacke über den Pyjama, schlüpft in seine Sportschuhe und rennt, so schnell sein Verdauungstrakt es ihm erlaubt, die Treppe runter.

Der Kiosk um die Ecke hat schon auf. „Eine Marlboro-Box, bitte.“ Ein mürrisches, fahles und müdes Gesicht voller Falten schaut zwischen den Bergen von Zeitungen und Magazinen hindurch, die sich ohne jede Ordnung auf der Ablage zu türmen scheinen.

„Schlecht geschlafen, junger Mann?“, brummt eine raue Stimme zwischen den letzten zwei verbliebenen, bernsteingelben Zähnen hindurch. Mit einer fahrigen Bewegung wischt eine zerfurchte, kräftige Hand eine Haarsträhne – weiß-vergilbt – Richtung Hinterkopf. Die alte Frau tut dies, ohne Maurizio direkt anzusehen. Und sie tut es in einer Gemächlichkeit, die einen zur Verzweiflung bringen könnte.

‚Scheißalte, gib mir die Kippen und halt die Klappe!, denkt sich Mauri. Und das bisschen Blut, das sich bereits in seinem Kreislauf befindet, schießt ihm in Sekundenschnelle in den Kopf. Kurz vor dem Loswettern besinnt er sich eines Besseren und bringt ein „Guten Morgen!“ in einem Ton von anerzogener Freundlichkeit über seine Lippen. „Ja, Sie haben recht, ich bin auch schon besser aufgestanden als heute.“

Das scheint der Alten zu genügen. Sie wendet sich gemächlich hin zum Zigarettengestell, klaubt eine Packung aus dem Regal und dreht sich in einem Tempo zurück zu ihrem Kunden, dass dieser fürchtet, es werde Mittag, bevor er sein Verlangen nach Nikotin endlich würde stillen können.

In der Zwischenzeit hat Maurizio sämtliche Jackentaschen durchwühlt und ist dabei auf Bares von einigen wenigen Franken gestoßen, definitiv zu wenig für eine Packung Zigaretten! Nach dem obligaten ‚Scheiße fasst er sich rasch. Ihm ist klar, dass er mit dem Überraschungseffekt agieren muss.

Endlich tauchen die wässerigen, blaugrauen Augen wieder zwischen den Zeitschriftenstapeln auf. Die jetzt erstaunlich flinke Hand schiebt eine rot-weiße Schachtel über die Auslage von grünen, gelben, blauen und roten Kaugummipackungen zum wartenden Kunden.

„Fünf Franken achtzig“, ertönt die kehlige Stimme der Alten. Blitzschnell greift Maurizio mit der rechten Hand nach den Zigaretten, während die linke den Haufen Kleingeld in die dafür bestimmte Plastikschale wirft. „Hab nicht mehr Flüssiges, bring den Rest morgen vorbei“, ruft er und verabschiedet sich grußlos, während er wie der Blitz nach Hause rennt.

Im Wegeilen hört er die Alte keifen: „Diebstahl … Polizei … helft mir …“, oder so ähnlich.

‚Halt doch die Klappe, Scheißalte! Stell dich nicht so an! So hast du wenigstens das bisschen Kleingeld, ist doch besser als gar nichts!, denkt er, und schon biegt er um die nächste Hausecke.

Noch im Rennen reißt er die Plastikumhüllung weg, klappt die Box auf und reißt die Aluminiumabdeckung weg. Für einen Augenblick bleibt er nun stehen, klaubt sich hastig eine Zigarette aus der Packung und steckt sie sich in den Mund. Etwa so, wie sich ein Wüstenwanderer kurz vor dem Verdursten in der Oase an die dargereichte Wasserflasche hängt, angelt er sein Feuerzeug aus der Jackentasche.

„Klick!“ Es funkt, aber es entsteht keine Flamme!

„Scheißwind!“, flucht Maurizio.

Ein zweites und drittes Mal setzt er an, wieder erfolglos! Die Hand beginnt zunehmend zu zittern. Noch mal reißt er sich zusammen: Mit der linken Hand schirmt er das Feuerzeug ab, der rechte Zeigefinger drückt auf den roten Plastikhebel, endlich entsteht eine Flamme!

Rasch heran mit dem Glimmstängel an das flackernde Flämmchen! Rote Glühwürmchen fressen sich von der Spitze her langsam in die Zigarette hinein, ein dünnes Rauchzeichen steigt auf.

Gierig saugen Maurizios Lippen am Filter. Er schluckt den Rauch, als ob es um sein nacktes Überleben ginge. Vor der Lunge fühlt er einen leichten Widerstand, bei dessen Überwinden ein erstes Glücksgefühl auftaucht. Und dann: Dieser Kick im Gehirn, wie du ihn nur bei der ersten Zigarette des Tages erleben kannst! – Es sind alles nur Sekundenbruchteile, aber unverzichtbares Lebenselixier! Dieses bisschen an Prickeln ist Grund genug, dass Maurizio die voraussehbare erneute Irritation des restlichen Mageninhaltes in Kauf nimmt.

Allerdings kann sich Mauri nicht lange seinen Glücksgefühlchen widmen. Hinter der Hausecke vernimmt er einen kontinuierlich anschwellenden Wortwechsel. Er erkennt die Stimme der Alten und hört die eines Mannes, der wohl unmittelbar nach ihm beim Kiosk aufgetaucht sein muss.

Noch mehr Ärger kann er jetzt definitiv nicht brauchen! Schnell sammelt er seine Energie und setzt zu einem Sprint an, nicht ganz olympiawürdig, aber immerhin bringt ihn dieser innert nützlicher Frist vor die Eingangstür seines Mietshauses. Noch kann er niemanden auf dem Trottoir erblicken. Er rennt hastig weiter und erreicht das erste Zwischenziel: die Haustüre – Nummer 67. Die schwere dunkelbraune Holztür, mit ihren großen, vor Altersschwäche klimpernden Glaseinsätzen hinter einem schwarzen Metallgitter öffnet sich unter der Beigabe eines ächzenden Tones der Scharniere fast widerwillig.

Flugs betritt Maurizio den hohen, vermutlich einmal weiß gestrichenen, heute ganz vergilbt wirkenden Eingang. Rechter Hand befinden sich die alten, karamellfarbigen Briefkasten, denen an einigen Ecken der Lack abgeht – die rotviolette Grundierung kommt wieder zum Vorschein. Darunter hängt ein sogenanntes „Milchkästli“, das Mauri eigentlich nur noch aus Kindertagen bekannt ist. Damals wohnten sie auch in so einem Mehrfamilienhaus, in einer Wohnform, die in der damaligen Zeit noch eher ungewohnt war. Den Milchmann allerdings, der die Milcheimer füllte und sie in eben diese Milchkästli stellte, kannte er nur vom Hörensagen, aus Erzählungen betreffend die guten alten Zeiten der Mutter, als alles noch nicht so teuer war. Aus den Zeiten, als Vater noch Zeit hatte für die Familie und sich liebevoll um seine Kinder kümmerte, Zeiten, in denen das Leben noch nicht so hektisch war und es keinem Jungen in den Sinn gekommen wäre, vor dem Abschluss der obligatorischen Schulzeit Zigaretten zu rauchen oder Alkohol zu trinken. Oder um es in den Worten der Eltern auszudrücken: „Damals wusste man noch, was sich gehörte!“ – Und eben, heute ist ja alles anders, und sagen darf man auch nichts dazu.

Die dunkelbraunen Fliesen sind wie immer sauber poliert. Es duftet nach demselben Glanzreiniger, den auch seine Großmutter in ihrem Treppenhaus benutzte. So roch der Mief der ordentlichen und sauberen Schweizer Familie, so roch Biederkeit und Bürgertum, Ruhe und Ordnung. – Zum Kotzen, eigentlich!

Über diesen Briefkasten prangt ein rotes Schild, auf dem in weißer Schrift steht: Rauchen verboten! – mit Ausrufezeichen! Hundertmal schon ist Mauri durch diesen Raum gelatscht, sein Blick ist dabei höchstens über die Briefkasten gestreift. Eine Doppelreihe, zehn Stück unten, zehn Stück oben, alle mit denselben schwarzen Täfelchen oben links im Türchen, Namen weiß eingraviert – Maurizio Salvelli (das ist er). Und wenn schon mehr auf den Türchen prangt, dann höchstens ein Aufkleber Keine Werbung, bitte! Der hat dann aber waagrecht unter dem Täfelchen zu kleben, bitte! Linksbündig, BITTE!

Da Maurizio keine Zeitung abonniert hat und sich so um die Zeit noch nicht um seinen Briefkasten kümmern muss, schlurft er achtlos Richtung Treppe. Den dritten Zug aus seiner Zigarette kann er endlich ohne Stress inhalieren, die Holztür hält die Geräusche der Straße ab, und im Treppenhaus herrscht Ruhe. „Ffffffhhhh!“, presst er den Rauch durch seine Lippen hinaus.

„Herrrr Salvelli!“, durchdringt eine Männerstimme die morbide Stille im Haus. Maurizio zuckt zusammen. Erst jetzt sieht er, dass die Kellertür unterhalb vom Treppenaufgang geöffnet ist. Auf der Kellertreppe ist es dunkel. Doch den Hauswart Studer erkennt er an der Stimme, ohne das Gesicht zu sehen. So lange alles in Ordnung läuft, ist Herr Studer ein zurückhaltender, schweigsamer Zeitgenosse. Aber wenn jemand an seiner Hauswartehre kratzt, kann er höchst ungemütlich werden. Rauchen im Treppenhaus ist mindestens auf derselben Stufe anzusiedeln wie Kinder mit schmutzigen Schuhen im Hausflur, also deutlich im roten Bereich. Und dieser Studer steckt jetzt auch seinen hochroten Kopf ins Treppenhaus, offensichtlich kaum in freundlicher Absicht!

„Herrrr Salvelli!“ Die Betonung so sehr auf dem „Herrrr“, das kann nichts Gutes heißen. Das ist auch Mauri klar, sonnenklar, der sich sonst nicht so leicht durch Meinungsäußerungen seiner Mitbürger beeindrucken lässt: absolut sonnenklar.

„Herrrr Salvelli!“ Das erinnert ihn jetzt an eine Situation, als er mit seinem Vater notfallmäßig Backsteine auf eine Baustelle fahren musste. Der kleine Lieferwagen war hoffnungslos überladen. Vater hatte noch zum Magaziner gesagt, an einem 1. Mai hätten die Bullen wohl anderes zu tun, als den Verkehr zu überwachen. Doch just an der Kreuzung vor der Baustelle, zu der sie unterwegs waren, wurden sie von einem Streifenwagen angehalten. Mauri wäre, als siebenjähriger Knirps vor diesen riesigen Polizisten, die in ihren Uniformen noch viel größer aussahen als andere Erwachsene, am liebsten im Erdboden versunken. Ängstlich wartete er auf Vaters Reaktion. Doch der ließ den Polizisten gar keine Zeit! Er stieg entschlossen aus dem Kleinlaster raus und fragte den Uniformierten, der eben aus dem Streifenwagen ausgestiegen war, wie er denn heiße. Als er ihm seinen Polizeiausweis unter die Nase hielt, hob der Vater an: „Herrrr Müller!“, und es tönte so gar nicht nach Schuldbewusstsein. „Herrrr Müller, auch wenn ich nur Gastarbeiter bin, bevor Sie mit mir sprechen, könnten Sie ruhig Ihren Hosenladen schließen!“ Und er langte ihm mit seinem rechten Zeigefinger fast an den tatsächlich offen stehenden Reißverschluss der Uniformhose.

Just als der verdatterte Beamte etwas antworten wollte, fuhr er ihn erneut an: „Herrrr Müller, wollten Sie mir sonst noch etwas sagen?“ Ohne den Polizisten einen Atemzug Zeit zu gewähren, fuhr er fort: „Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Tag!“ Sprachs, stieg wieder in den klapprigen Lieferwagen ein, und sie fuhren zum Neubau, wo der Maurer ungeduldig auf Nachschub wartete.

Beim Ausladen erzählte sein Vater dem Arbeitskollegen die Begegnung mit den Polizisten. Dabei klopfte er mehr als einmal mit beiden Händen auf seine Oberschenkel, und die beiden lachten derb dazu. Als der Wagen entladen war, stand der Maurer mit zwei Flaschen Bier da, öffnete mit je einem Ruck seiner beiden Daumen die Metallfedern der Flaschenverschlüsse, dass es laut knallte: „Darauf trinken wir einen!“ und „Prost!“ – „Und du, Mauri, kriegst du auch einen Schluck?“ – „Nein, nein“, wehrte der Vater ab, „der soll nicht zu früh mit solchen Unsitten anfangen. Es reicht, wenn einer säuft in der Familie!“, und sie grölten vor Lachen.

„Herrrr Salvelli!“ – So wie er den Herr Studer kennt, hat der sicher keinen offenen Hosenladen. Aber probieren konnte man es ja trotzdem: Zu verlieren hat Maurizio in dieser Situation sicher nicht viel.

Mühsam rafft Mauri seine restliche Konzentration zusammen und erwidert im selben Tonfall wie zuvor der Hausmeister, nur sehr viel lauter: „Herrrr Studer!“ Er sieht, wie der Hauswart leer schluckt. Das ist seine Chance: Mit einem „Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Tag!“ gewinnt er die ersten paar Treppenstufen.

Noch ehe der Studer sich erholt hat, steht Maurizio auf dem ersten Podest, von wo aus er den Hauswart noch etwas schimpfen hört wie: „… der Verwaltung schon sagen.“ Fast schon übermütig ruft Mauri nach unten: „Und bestellen Sie der Frau Verwaltung einen schönen Gruß, von Herrrrn Salvelli.“

Geschafft! Endlich ist Maurizio wieder in seiner Wohnung, aber mit der nun einkehrenden Ruhe wird ihm die Tragweite seiner Situation wieder unausweichlich klar. Gierig zieht er an seinem Glimmstängel. Doch damit kann er weder seinen Brummschädel beruhigen, noch sein Unwohlsein im Bereich der Verdauungsorgane beseitigen! Abermals saugt er den Rauch in seine Lungen, um diesen begleitet von einem kraftvollen „Scheiße!“ in den Raum zu exhalieren. Allein, er kann es nicht mehr verdrängen: Er hat sich in eine Reihe bescheuerter Situationen verstrickt, und ihm schwant, dass er das eine und das andere Süppchen ganz schön heiß auszulöffeln haben wird. „Scheiße-Scheiße-Scheiße!“

Aber jetzt: Filtertüten raus aus der Packung, rein in den Halter. Kaffeepulver und Wasser einfüllen, Maschine starten. Das erste Brodeln weckt seine Lebensgeister. Mit ihrer Rückkehr wird ihm aber leider auch der traurige Ist-Zustand seines Magens bewusster. Nichtsdestotrotz: So weit ist sein Kopf nun klar, er muss sich hinsetzen und in Ruhe überlegen, was jetzt am besten zu tun und was lieber zu lassen ist.

Dienstagmorgen, halb acht Uhr

Eigentlich sollte Maurizio jetzt unten im Lager antreten. Alex, der Lagerist und sein Vorgesetzter, schaut jetzt sicher auf die Uhr – „Der Mauri, schon wieder!“  und er wird wohl dreimal laut mit der Zunge schnalzen, wie er es immer tut, wenn ihm etwas missfällt. Dann wird er den Computer einschalten, wird das Fächlein mit den Bestellzetteln auf den großen Schreibtisch ausleeren und sich in aller Ruhe eine Zigarette anstecken.

‚Zigarette? Verdammt, wo hab ich meine hingelegt? Plötzlich riecht es sehr merkwürdig aus der kleinen Küche. „Scheiße!“ Die Zigarette ist vom Gurkenglasdeckel, der Mauri als Aschenbecher dient, herausgerollt und hat dabei ein ovales, schwarzbraunes Loch in das blassgrüne Wachstischtuch gesengt, das dem alten Küchentisch eine halbwegs freundliche Note verleihen sollte.

„Was für ein Scheißmorgen, ich wär doch lieber gleich liegen geblieben, als dieser Scheißwecker loslegte“, flucht Maurizio vor sich hin über diesen nicht überaus glücklichen Tagesanfang.

Die Kaffeemaschine röchelt und zischt. Das Wasser muss nun durchgelaufen sein. Au ja, ein Kaffee, so richtig stark, und dazu in Ruhe eine Zigarette, das ist es, was er jetzt braucht, um ein paar klare Gedanken fassen zu können.

So: Tasse auf den Tisch, Löffelchen, Zucker und Milch. Rasch nimmt er den Filter vom Krug, noch bevor das Wasser ganz durchgelaufen ist. Es zischt auf der Wärmeplatte. Und Maurizio hinterlässt eine Spur so ähnlich wie ein Ornament, lauter kleine braune Tupfen von der Kommode bis zum Abwaschbecken, in dem zu allem Überfluss auch noch das schmutzige Geschirr vom letzten Wochenende vor sich hin mieft. Der Filter, heiß, nicht allzu sanft ins Becken gelegt, bringt den Turm von Tellern und Besteck aus seinem labilen Gleichgewicht, die Teile geben sich ungehemmt der Schwerkraft hin und setzen sich über zwei Weinkelche hinweg, es scheppert und klirrt: Chaos und Scherben. Und wie als Sahnehäubchen folgt noch Maurizios: „Scheiße!“

Aber dieser lässt das Corpus Delicti Corpus Delicti sein, er ist mit dem Kaffeekrug unterwegs zu seiner Tasse. Endlich einen Kaffee, den hat er sich jetzt redlich verdient! Und er lässt sich auch durch das grell piepsende Smartphone nicht aus der Ruhe bringen.

„Leckt mich alle am Arsch!“, schreit er durch die Wohnung, als müsste er seinen Stimmungszustand dem ganzen Haus mitteilen, während er mit dem rechten Zeigefinger die NO-Taste drückt, um dann das Phone in die nächste Ecke zu schmeißen. Sein Ruf verhallt nicht ungehört: Begleitet von einer krächzenden Frauenstimme, deren Betonung eindeutig auf Ärger schließen lässt, klopft es von unten dreimal heftig.

„Leckt mich alle …“, posaunt Mauri nur noch halb so laut in den Raum hinein (der Antritt des Rückzugsgefechts).

Wenige Augenblicke später lässt sich Maurizio auf seinen Hocker fallen, hebt seine Kaffeetasse und lässt einen kräftigen Schluck durch seine Kehle rinnen. Es folgt ein kurzes Würgen im Magen; mit einem tiefen Durchatmen löst er auch diese Situation. Dann ein zweiter Schluck: Wahrer Genuss ist es ja nicht, aber was soll’s? – ‚Da musst du jetzt einfach durch!, denkt er und gießt einen dritten Schluck nach.

Und jetzt? Noch mal eine Zigarette anstecken, die Übelkeit verschwindet nicht wirklich, aber irgendwie werden doch die Lebensgeister wieder wachgerüttelt.

Nur Sekunden später ist es wieder da, das grell piepsende Phone. Unerbittlich, das Gerät, unerreichbar am Boden, es piepst und piepst und piepst, bis endlich die Box einsetzt, endlich ist Ruhe, endlich! Doch mit einem Mal schießt es ihm durch den Kopf, dass das wohl der Alex ist, der vermutlich jetzt gerade eine Litanei auf seine Box spricht, so von wegen „Verarschen, im Stich lassen, schon wieder verpennt, soll doch endlich kommen“ und weiß der Geier was

‚Scheiße! Urplötzlich wird die Situation Maurizio so richtig bewusst: ‚Ziemlich heftig am Dampfen, die ganze Sch…!‘

Mauri drückt die Ellbogen auf den Tisch, dann vergräbt er seinen schwarzen, zerzausten Wuschelkopf zwischen den Armen und parkt ihn auf dem lindgrünen Tischset. – Das Tischset, auch so ein Geschenk seiner Mutter. Sie hat sich ewig Sorgen gemacht um ihn, nachdem er von zu Hause ausgezogen war, Sorgen, dass es ihm nicht gut gehen könnte. Und dann, wenn sie bei ihm auftauchte, klagte sie, dass er mehr in einer Räuberhöhle als in einer Wohnung leben würde, und das dürfe er doch einfach nicht. Sie meinte dann, dass es ihm nicht guttun würde. Und dann folgten jeweils all die fürsorglichen Geschichten, die Frauen – insbesondere Mütter – so an Lager haben: „Wenn wir Frauen nicht nach dem Rechten schauen, es ist doch furchtbar mit euch Männern, keine Sorgfalt, kein Geschmack, keine Ordnung, und, und, und. Eben diese gute ‚Mamma‘ fand eines schönen Tages, es müsse etwas freundlicher aussehen in seiner Loge, er sei ja überhaupt nicht eingerichtet. Es wirke alles so kalt, so leer, so karg. Und eben da hat sie ihm unter anderem diese lindgrünen Tischsets mitgebracht, passend zum hellgrünen Tischtuch. Dazu orangene Tassen und Teller und sonst noch Klimbim, den er sich selber nie angeschafft hätte.

Damals hätte er sie am liebsten zum Teufel geschickt: ‚Lass mich doch einfach so leben, wie ich will! Ich quatsche dir schließlich auch nicht in dein Leben.‘

Au Mann, wie oft hat er sich geärgert über seine Mutter! Diese Frau, die sich um alle Sorgen machte, die für alle sorgte, nur nicht für sich. „Und Mauri hier und Mauri da! Und: Mauri, nicht! Und: Mauri, so doch nicht! Und so weiter und so fort.“

‚Mamma‘, lass mich einfach in Ruh’, einfach in Ruh’!‘, schimpft er in Gedanken. Diese Scheißbevormundung: Nicht mal wenn man erwachsen ist, können sie es lassen, diese Mütter!

‚Gib einfach Ruh!‘

Ganz grundsätzlich war sie ja eine liebe Frau, seine Mutter! Häufig war sie vielleicht sogar zu nett gewesen, die gute Frau. Mit Bestimmtheit war sie aber zu lieb gewesen mit seinem Vater, diesem elenden Aas!

Aber ihrem Jungen, dem armen Mauri, dem hätte sie damals schon etwas mehr Liebe schenken dürfen, als er noch klein war. Viel lieber als später mit diesen Scheißgeschenken, Tischtuch, Tischset, Geschirrtücher, Bettzeug. Für ihn waren das Versuche, wiedergutzumachen, was sie früher versäumt hatte, und das ärgert ihn doppelt und dreifach!

‚Ach Mammi!‘, überkommt es ihn auf einmal ganz unvermittelt. Am liebsten würde er nun losheulen wie ein Schlosshund und sich hineinsteigern in sein Selbstmitleid bis zum Gehtnichtmehr. Aber halt: Richtige Jungen weinen doch nicht! (Dafür haben sie ein Taschenmesser in der Hosentasche!) Sie kennen weder Schmerz noch Müdigkeit. (Und sie wissen sich immer zu helfen.)

Mit einem Ruck schießt Maurizios Körper plötzlich hoch: nicht, weil er sich gegen sein Schicksal auflehnen würde, vielmehr folgt der Rumpf einem Impuls seiner Verdauungsorgane, welche mit dieser Geste vehement kundtun, dass Kaffee in Anbetracht ihrer Befindlichkeit nicht wirklich die bevorzugte Flüssigkeit darstellt. Allein das Signal verhallt unerhört, der Herr über Körper und Magen begnügt sich damit, seinen Kehlkopf angespannt zu halten, bis der ganze innere Terror vorüber ist: Druckausgleich durch Gegendruck! Wieso nicht? Hat ja bisher ein Leben lang so funktioniert, oder nicht?

Der Willensakt führt zum Ziel: Endlich herrscht innerlich Ruhe, zumindest was den Grobstoff anbelangt!

„Scheiße, Mann!“, entfährt Maurizio ein weiterer Entlastungsfluch.

In seinem Kopf fangen Gedanken an zu kreisen: ‚Das kackt mich vielleicht an, das alles! Au Mann, ich bin doch einfach nur müde, leckt mich doch alle kreuzweise am …!‘

Maurizio lässt den Kopf auf die Tischplatte fallen und taucht ab ins unbewusste Nirwana! ‚Und tschüss, du schöne Welt!‘