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Inhaltsverzeichnis

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PROLOG

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2019 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99064-585-7

ISBN e-book: 978-3-99064-586-4

Lektorat: Senta Kneip

Umschlagfoto: Sven Hansche | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

PROLOG

Sie war unruhig an diesem Herbstabend. Die ersten Nebelschwaden schlichen sich bis auf den Berg herauf zum Chalet. Die Sonne hatte sich den ganzen Tag kaum blicken lassen, nur ein paar matte Strahlen waren ab und zu durch den Dunst gebrochen. Tanja war müde und froh, dass dieser Tag, an dem auch gar nichts geklappt hatte, endlich zu Ende ging. Die Arbeit mit Ben, dem jungen Pferd, das ihr zum Training anvertraut worden war, hatte sie heute Nachmittag viel Mühe gekostet. Er war nervös und unkonzentriert gewesen; hatte sich ihre eigene innere Unruhe auf ihn übertragen? Als er endlich fertig gestriegelt in seiner Box stand, war sie zu spät dran gewesen, um die Mädchen rechtzeitig von der Schule abzuholen.

Und nun die Angst vor dem unvermeidlichen Streit mit Pesche. Sicher hatte er an diesem Morgen die Scheidungspapiere vom Anwalt per Einschreiben bekommen, unterzeichnen müssen, und allein deshalb würde er sich geärgert haben. Übliche Folge: Er würde sich betrinken. Ob er seinen Zorn im Zaum halten konnte, wusste sie nicht. Und wenn nicht? Dann würde er sie wohl hier oben aufsuchen, herumbrüllen, ihr die Schuld geben an seiner Misere, etwas zerstören, wie neulich, als er die Ständerlampe an die Wand geknallt und die Kristallvase zerschlagen hatte. Nichts wäre sicher vor seiner Wut. Und sie selbst? War sie sicher, dass er nicht handgreiflich werden würde? Wie damals, als sie ihn vor die Wahl gestellt hatte:

„Die Sauferei oder ich, auf eines musst du verzichten.“

„Ich werde dich nie gehen lassen, verlass dich drauf. Töten, ja, dazu könnte es kommen, falls du davonlaufen willst. Darauf, und nur darauf, kannst du dich verlassen“, hatte er geschrien und sie zu Boden gestoßen.

Diese voller Hass hingeworfenen Worte blieben in ihrer Seele stecken und schmerzten wie ein Seeigelstachel in der Fußsohle. Töten würde er sie nicht, da war sie sich sicher. Er besoff sich normalerweise im Wirtshaus und war dann zu Hause unflätig, eklig und gemein. Aber er war kein Säufer von der brutalen Sorte.

Sie schlich sich nochmals leise in das Kinderzimmer, um die Mädchen zu küssen und zuzudecken. Dann schloss sie alle Fenster, ließ den Schlüssel von innen in der Haustür stecken und ging ins Bett.

Bereits im Halbschlaf glaubte sie ein Motorengeräusch zu hören. Ein Auto fuhr die Bergstraße hoch und kam näher. Sie öffnete die Augen und hielt den Atem an. Der Wagen bog jedoch nicht in ihre Seitenstraße ein und hielt auch nicht auf ihrem Kiesparkplatz. Tanja tadelte sich selbst für ihre Panik und drehte sich auf die andere Seite. Doch kaum hatte sie ihre Augen geschlossen, fuhr sie hoch, erschreckt durch das Klirren von zerbrochenem Glas.

1.

Beschwingt springe ich bei der Tempelanlage von Delphi vom Trittbrett des klimatisierten Reisebusses in die mittägliche Hitze; nicht die kleinste Brise weht, über dem Asphalt flimmert die Luft. Mein Herz jubelt: Sonne! Monatelang habe ich im langen Schweizer Winter die ersten warmen Tage herbeigesehnt, und während zu Hause erst gestern die Eisheiligen begonnen haben, genieße ich die griechische Wärme mit jeder Pore.

Die Mitreisenden schwärmen die Treppen hinauf zum Tempel, nur eine französische Familie bleibt stehen, die Mutter schmiert ihre drei Kinder noch rasch mit Sonnenmilch ein; hinter ihrem Rücken stopft der Älteste seinen weißen Matrosenhut mit einem entschiedenen „Non!“ in Vaters Kameratasche.

Ich nehme den schmalen Ziegenpfad entlang der Natursteinmauer, um den ersten Tag Ferienfreiheit in Ruhe zu genießen. Rundherum karge Wiesen, auf denen sich Olivenbäume mit ihren silbrigen Blättern Luft zufächeln; zu meinen Füßen tischt der Rosmarin seine Duftdecke auf, weiße Margeriten und grell roter Mohn leuchten in dem klaren südlichen Licht.

In der Ferne liegt Athen. Unter der Dunstglocke lässt sich der Tempel der Athena auf der Akropolis nur erahnen, am Horizont verschmilzt das Azur des Mittelmeeres mit dem Kobalt des Himmels. Ich bin glücklich.

Danke, Regina, für dieses Glück. Immer wieder hast du, liebe Freundin, mich angefleht, dich während deiner Ferien auf der Insel Antiparos zu besuchen. „Wir beide brauchen Abstand, Tanja“, hast du mich gedrängt. Oder: „Reiß dich zusammen – reiß‘ aus!“ Nun habe ich mir beim Gedanken an meine Sorgen schon wieder den Seelenfrieden verdorben, auch das muss ein Ende haben.

Der schmale Pfad führt mich um die Tempelanlage herum zum Seiteneingang, die letzte Steigung ist steil und in der Hitze beschwerlich. Ich lächle beim Gedanken daran, dass das Orakel vielleicht auch für mich einen Fingerzeig hat. Hier die letzte Biegung, eine Treppe, und schon stehe ich auf dem jahrtausendealten Marmorboden des Heiligtums und ziehe die Sandalen aus, um die Wärme des ausgetretenen Steins zu spüren. Barfuß zu gehen hat etwas Reines, es erinnert an die Wanderungen von Jesus Christus. Das passt zu meiner Stimmung, zu meiner Hingabe an diese heilige Stätte, an die antiken Legenden mit ihren Lehren, es gibt mir Hoffnung.

Marmorboden, Marmorsäulen, Marmormauern! Die Elemente haben durch die Jahrhunderte hinweg eine gelbe Patina hinterlassen. Dieser Marmor ist nicht wie ein frisch geschnittener und geschliffener weiß. Ich nehme einen Stein und kratze daran. Eine kreideweiße Oberfläche kommt zum Vorschein und ich kann mir vorstellen, dass der heutige Tempel nur ein Abglanz des ehemaligen Heiligtums ist. Entzückt stelle ich mir Wände, Säulen und Böden in diesem leuchtenden Weiß vor. Wie haben die alten Griechen mit ihren einfachen Mitteln ein solches Wunderwerk geschaffen? Jedes Stück und jede Platte wurde von Hand bearbeitet. Ob sie das voller Hingabe an ihre Götter vollbracht haben? Oder vielleicht in Sklaverei? Doch daran mag ich jetzt in meiner frohen Stimmung nicht denken.

Leise Radiomusik erklingt von den nahen Zypressen. Ich gehe näher und sehe im Schatten der Bäume ein Pärchen, eng umschlungen. Die beiden sind in die Musik und ihre Umarmung versunken, ihre Liebkosungen bringen in mir die Saite der Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit zum Schwingen. Der Gedanke, dass diesen zwei ihre Wünsche bereits erfüllt wurden, bringt mich zum Schmunzeln und macht mich zuversichtlich. Natürlich völlig grundlos, heutzutage glaubt man nicht mehr an göttliche Offenbarungen. Oder vielleicht doch? Was sonst bedeuten denn all die Horoskope, Tarot-Karten und Wahrsagereien? Behutsam setze ich meine nackten Füße auf den warmen Marmor, um spitze Steine, Glasscherben und Disteln zu meiden, und suche das Orakel.

Touristen schlendern herum, knipsen: „Karli, dorthin, nein, neben die breite Säule, lächeln“, oder „den Kopf bitte ein bisschen schief, sonst krieg ich das Relief nicht drauf. Jetzt verdeckst du die Aussicht, ein bisschen nach links, ruhig jetzt, nicht bewegen!“ So nehmen sie alles Sehenswerte als Beweis ihrer kulturellen Interessen mit heim. Sie halten nicht inne, um die Atmosphäre der heiligen Stätte zu erfühlen, sie hasten durch – knips, knips, knips –, so reicht es vielleicht heute noch für ein anderes Heiligtum. Sich vorzustellen, wie hell der Marmor gewesen sein muss, wie die Pracht der Tempel von den heutigen Ruinen nur symbolisiert wird, dazu reicht die Phantasie nicht.

Dort, eine Tor-Ruine: zwei Säulen und ein Marmorbalken darüber. Ich trete näher und kann eine Inschrift erkennen. Ein Orakelspruch? „Erkenne dich selbst“, steht da in Stein gemeißelt. Ist das die erhoffte Botschaft des Schicksals? Ich spreche laut: „Erkenne dich selbst!“ Mich selbst erkennen? Ich kenne mich doch, was für eine komische Idee! Warum konnten sie sich für eine heilige Stätte nicht wenigstens etwas Spirituelles einfallen lassen? An mir selbst herum zu studieren kommt mir gar zu egoistisch vor, und doch hat der Spruch Anziehungskraft und macht mich nachdenklich.

Ich schlängle mich durch die Säulen und finde schließlich die Stufen, die laut Reiseführer früher hinunter zum Orakel geführt haben. Scherben und anderer Unrat wurden vom Meltemi, dem Schönwetterwind der Sommermonate, in das Treppenloch getragen; eilig ziehe ich meine Sandalen wieder an.

Früher wurden von hier unten die Schicksale der alten Griechen gelenkt. Es ist erfrischend kühl und feucht, ich setze mich vor der Absperrung in eine Mauernische. Laut Legende saß Pythia dort unten über einer Felsspalte auf ihrem Dreibein und wurde durch die von der Erde ausströmenden Gase in Trance versetzt. Wir würden heute sagen: sie war high. Die Bittsteller mussten eine Opfergabe bringen, also sozusagen eine Vorauszahlung leisten, dann duften sie ihre Probleme schriftlich darlegen. Die Offenbarung der Antwort wurde in rätselhaften, gereimten Versen vorgetragen, wodurch sie von den Ratsuchenden selbst interpretiert werden mussten. Es waren Denkanstöße, die eine neue Perspektive vermitteln sollten.

Was wäre meine Frage? Und was würde Pythia mir raten? Es ist schwierig, alles in einer einzigen Frage zu formulieren. Ich schließe die Augen wie im Gebet und wünsche mir die Gabe, den nächsten Schritt auf meinem neuen Pfad zu finden; die Fähigkeit, mich selbst im wilden Gestrüpp meines Lebens zurechtzufinden. Mich selbst zu erkennen? Das Ich, das ich als junges Mädchen werden wollte, gibt es nicht. Wie ein Stück Treibholz bin ich herumgewirbelt und mitgezogen worden, nur darauf bedacht, es allen Recht zu machen: Meinen Eltern, Pesche, Oma Martha. Habe ich je etwas Wichtiges zu meinem Wohl beschlossen? Nein. Ich habe den Mund nicht aufgemacht. Habe ich mich je gewehrt? Auch nicht. Irgendwie bin ich das artige, autoritätsgläubige kleine Mädchen geblieben.

Was ist aus meinen Jugendträumen vom Auswandern und einem Leben unter Palmen am Meer geworden? In meiner Jungmädchenfantasie bin ich mit meiner Freundin Regina über lange weiße Strände galoppiert, fühlte, wie mein Pferd im tiefen Sand hart arbeiten musste, um vorwärts zu kommen, hatte den Geruch des schweißtriefenden Felles in der Nase und im Herzen ein Freiheitsgefühl zum Jauchzen! Am Ende des Strandes habe ich mir einen tropischen Wald vorgestellt, eine Quelle, einen Bach mit kühlem Wasser. Verschwitzt und glücklich sind wir abgestiegen, haben die Sättel abgenommen und mit den Pferden aus der kühlen Quelle getrunken. Bis in jedes Detail habe ich den Traum ausgeschmückt, hörte das Schnauben der Pferde, fühlte die kühle Wiese, wo wir uns im Schatten der Bananenstauden ausruhten, habe auf das Meer geblickt – das Symbol für meine unendlichen Möglichkeiten.

Manchmal bin ich in diesen Träumen meinem Märchenprinzen begegnet, einem Jungen mit schwarzem Haar -
Liebe auf den ersten Blick. Er nahm mich in seine Arme, um mich mein ganzes Leben lang zu lieben. Natürlich wusste ich, dass diese blühenden Fantasien nicht Wirklichkeit werden. Doch ich habe damals erwartet, dass sich wenigstens einzelne Teile davon in meinem Leben wiederfinden würden. Das Leben am Meer oder die Arbeit mit Pferden, vielleicht eine große Liebe.

Warum habe ich mich nicht gewehrt, als Vater gegen eine Lehre als Bereiterin entschieden hat? Warum bin ich nicht für mein Talent im Umgang mit Pferden eingestanden? Mein Trainer Johann hat an meine Begabung geglaubt, nicht aber meine Familie. Sie konnten meine Liebe zu den Pferden nicht verstehen, nicht das Glücksgefühl erahnen, wenn zwischen Grane und mir vollkommene Harmonie herrschte, wenn er die Übungen nach vielen Wiederholungen verstanden und auf mein Lob hin gewiehert hat. Mama hat nicht geglaubt, dass er vor Freude wieherte, wenn uns etwas gelang. Ich konnte ihr die Zweifel nicht ausreden, wollte es ihr beweisen, aber dafür hatte sie keine Zeit. Und wohl auch kein Interesse.

Meine Eltern hatten die altmodische Idee, dass Mädchen nicht reiten sollten; mein Vater hat gesagt: „Mädchen sollten die Beine nicht spreizen.“ So ein veralteter Blödsinn. So kam es, dass einzig Onkel Peter mich verstanden hat. Ihm hatte ich meine Reitstunden zu verdanken, er kam für all die Kosten auf, damit ich an den Dressurprüfungen teilnehmen konnte, er fühlte mit mir, begleitete mich und teilte meine Freude. Er ist der jüngere Vetter meines Vaters, meine Eltern vertrauten ihm und waren froh, dass er sich um mich kümmerte. Von seinen wahren Motiven haben sie nie etwas geahnt. Dann kam die Mussheirat, mit der ich die Familienehre retten sollte, und aus waren die Träume.

Nun existiert die Tanja, die ich werden wollte, nicht mehr. Ich habe das Gefühl, eine Marionette zu sein, die an irgendwelchen Fäden hängt und von irgendwoher bewegt wird – zu keiner eigenständigen Bewegung fähig. Das seltsam verkrüppelte Ich, das ich geworden bin, sitzt da und hadert mit dem Schicksal.

„Muuutiii, ich will eine Cola“, kreischt ein kleines Mädchen hinter mir. Erschreckt sehe ich, wie die Mutter die Kleine am Arm hochreißt und ebenso lauthals zurückschreit. Meine meditative Stimmung ist verflogen, verwirrt entfliehe ich dem Geschrei.

Der Weg hinunter zum Bus ist viel steiniger und steiler als der Aufstieg auf dem Ziegenpfad. Nach einer Biegung sehe ich unten im Dorf das Gewimmel von Touristen, höre Dudelsackgejammer, Sirtaki und Lachen, doch danach ist mir im Moment überhaupt nicht zumute. Ich will diesen unbeschwert Lustigen nicht begegnen, nicht sprechen, kein Geplapper erdulden und flüchte mich vor dem Lärm in den Olivenhain. Ich will nachdenken und setze mich auf einen flachen Stein vor der warmen Natursteinmauer. Da, mitten im sandigen Staub liegt ein Kiesel, mit etwas Fantasie kann ich eine Herzform ausmachen. Ich kratze daran, unter dem Dreck kommt schneeweißer Marmor zum Vorschein. Ein Talisman!

Ein Schatten fällt vor mir aufs Gras. Schon wieder diese Touristen. Nicht hinschauen! Doch da erklingt ein Räuspern:

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Männlich, spricht deutsch mit amerikanischem Akzent. Auch das noch!

„You are welcome“, erwidere ich mürrisch. „Haben Sie das Orakel gefunden?“

„Ich bin das Orakel“, entgegnet eine tief aus dem Bauchraum kommende Stimme. „Was ist Ihre Frage?“

Interessant. Nun muss ich doch hinschauen: Eine Lichtgestalt! Eine heiße Welle durchflutet mich, mein Herz tanzt Cha-Cha-Cha. Er steht zwischen mir und der untergehenden Sonne, die eine helle Aura um seine Figur bildet; das weiße Hirtenhemd hängt lose über der schwarzen Jeans, passt zum schwarzen Wuschelhaar und zu seiner jungenhaft hoch aufgeschossenen Erscheinung. Doch kein Tourist? Nun schenkt er mir ein Lächeln; ein Lächeln, so unwiderstehlich, dass ich erschrocken wegschauen muss.

Meine Frage will er wissen – ich gehe auf das Spiel ein:

„Was muss ich tun, um mich wieder frei zu fühlen, frei wie damals, als ich als kleines Mädchen durch die Wiesen gehüpft bin und mit dem Zittergras gesprochen habe?“

Wieder diese tiefe Stimme: „Erkenne dich selbst!“

„Abgucken gilt nicht!“, entgegne ich lachend. „Das hat bereits das Orakel gesagt, und außerdem steht es auf dem Torbogen geschrieben.“

Er streckt mir die Hand hin und zieht mich hoch. Gefällt mir, ein Gentleman in einem griechischen Tempel, das könnte glatt eine Romanfigur sein. Ich möchte jung sein und mich auf seinen Charme einlassen.

„Ich bin Iannis“, stellt er sich vor und hält mir die Hand entgegen. Sein Griff ist warm und fest.

„Ich bin Tanja.“ Galant, der Bursche. Ich schaue auf, direkt in seine schwarzen Augen. Unsere Blicke verfangen sich ineinander, mir wird mulmig. Er will etwas sagen, zögert, starrt, errötet. Ist er auch aus dem Konzept geraten?

Ich fange mich: „Ich muss mich beeilen, um den Bus in die Stadt nicht zu verpassen.“

„Dein Lächeln ist bezaubernd, darf ich dich begleiten?“ Wieder diese Galanterie, so spricht man doch heute nicht mehr.

Die Sonne ist hinter dem Weinberg verschwunden und das Dämmerlicht hüllt den Hain in Blau. Wie selbstverständlich läuft er neben mir den Weg entlang, hinunter zur Haltestelle. Ich spüre seine Blicke, er geht dicht an meiner Seite und sieht auf mich herunter. Ab und zu streift er wie zufällig meine Schulter oder meinen Arm. Aber das ist nicht zufällig. Wir sind wie zwei Magnete, die Anziehungskraft wirkt so körperlich, als müssten wir uns umarmen.

Im Dorf haben die Marktleute die verbleibende Ware zusammengepackt und sitzen mit den Dudelsackpfeifern, die ihre Münzen zählen, in der Taverne; etwas abseits spielen einheimische Männer Tavoli, aus der Küche hört man Rufe und Geklapper. Oh, wie der Lammbraten mit Rosmarin duftet! Der Abendwind streicht wohltuend über die heiße Haut und verweht die Hitze des schwülen Tages. Iannis legt seine Hand leicht auf meine Schulter und steigt mit mir in den Reisebus.

Hinter uns erklimmt das verliebte Pärchen mit dem Kofferradio die hohen Tritte, ihnen folgt der Wächter, der tagsüber die Stätte des Orakels bewacht. Die Türen schließen sich, der Bus fährt an. Schweigend schaue ich aus dem Fenster, glaube aber zu spüren, wie Iannis mich betrachtet.

„Du bist wunderschön“, unterbricht er schließlich die Stille. „Dein Profil erinnert mich an eine Büste im Nationalmuseum in Athen. Die schwarz umrandeten Augen, das angedeutete Lächeln, die stolze Haltung, zum …“ Er stockt.

Was wollte er sagen? Zum Verlieben? Zum Verknallen? Zum Fressen? Sein Vergleich ist ein bisschen linkisch, wahrscheinlich hat auch er einen Knoten in der Magengrube. Ich möchte antworten, aber wie? Mir ist, als müsste ich die absolut richtigen Worte finden, als wäre ihre Wahl von riesiger Bedeutung. Aber ich nicke nur stumm und versuche, mich in die Landschaft zu vertiefen. Es ist schwierig, mich auf die Gegend zu konzentrieren, während Iannis mich fasziniert mustert, als könnte er den Blick nicht von mir lassen.

„Jetzt hab ich’s. Du siehst aus wie Isis, die Göttin der Weisheit und Weiblichkeit. Du hast dieselben gerade geschnittenen dunklen Haare, dieselben Stirnfransen, dieselbe Haltung.“

„Ist das nun ein Kompliment?“ Als Antwort lächelt er mich an. Wenn der Glanz in seinen Augen und die Bewunderung in seiner Stimme nicht lügen, schmeichelt er nicht nur.

Er fügt hinzu: „Isis war auch eine mächtige Zauberin, ich muss mich wohl in Acht nehmen, was?“

Der Lautsprecher hustet, dann sprudeln griechische Sätze wie geölt über uns weg.

Noch ehe der Fahrer mit der englischen Übersetzung beginnen kann, sagt Iannis: „Stau vor Athen, wir werden mit Verspätung ankommen.“ Er berührt meine Hand und schmunzelt: „Mir soll’s Recht sein.“

Prüfend schaue ich in seine Augen: „Bist du nun Amerikaner oder Grieche?“

Ein jungenhaftes Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit: „Kannst wählen.“

„Wie meinst du das?“ Ich mache wohl ein ziemlich dummes Gesicht, er lacht laut heraus.

„Ich bin Amerikaner und Grieche: Auf Thira geboren, der Insel, die die Touristen Santorin nennen; aber als ich acht Jahre alt war, hat mein Vater die ganze Familie nach Kalifornien verpflanzt. Das war vielleicht ein Schock!“

„Kalifornien ein Schock? Warum denn?“

„Zu Hause war unsere Familie riesengroß. Ich fühlte mich mit allen verwandt, sie durften nur nicht Panayotis heißen.“

„Und was haben die verbrochen?“

„Meine Großtante hat einen Panayotis geheiratet, der nicht griechisch-orthodox ist, nicht zur Kirche geht und seine Kinder nicht hat taufen lassen. Wie sehr sich meine Großtante auch bemüht hat, die Familie hat den beiden nie verziehen; alle Panayotis sind immer noch unsere Feinde, sozusagen von Geburt an, und werden es wohl immer noch sein, wenn längst niemand mehr weiß, warum. Auf dieser Reise habe ich nun erfahren, dass man munkelt, es sei Spiro Panayotis gewesen, der meinen Vater beim Militärputsch 1967 denunziert hat, und dass wir seinetwegen ins Exil fliehen mussten.“

„Was für ein Drama, wie im Film“, staune ich und Iannis fährt fort:

„Vater spricht nicht darüber, ich weiß immer noch nicht genau, was damals abgelaufen ist, bevor die Junta an die Macht kam. Jedenfalls hatten wir das Glück, dass Theologos, der Bruder meiner Mutter, uns bei sich in Kalifornien aufgenommen hat. Seither arbeiten meine Eltern bei ihnen in Sausalito, in ihrem griechischen Restaurant. Wir hatten Glück im Unglück, doch das wusste ich damals nicht, ich war todunglücklich ohne meine Freunde, in einer Schule, in der nur Englisch gesprochen wurde.“

„Ach so, armer Kerl“, entfährt mir traurig, „ich kann es dir nachfühlen, hatte auch Schwierigkeiten, unseren Umzug in die Stadt zu verkraften.“

„Nun aber zu deinem Akzent“, wechselt Iannis das Thema. „Schweizerin, richtig?“

„Schweiz, Kanton Bern, Stadt Biel“, antworte ich unbehaglich. Verheiratet, zwei Kinder‚ wäre wohl die korrekte Fortsetzung, aber die lasse ich aus; der Flirt dauert ja doch nur bis zur Haltestelle am Sintagma Platz.

„Ist das alles, Geheimnisvolle?“

„Ist die Mimose enttäuscht? Ich möchte im Moment alles andere hinter mir lassen, bin in den Ferien, verstehst du?“

„Könnte ich den Rest bei einem hübschen Abendessen herausfinden?“

Meine Gedanken rasen, das geht über das bisherige Geplänkel hinaus. Ich möchte „Ja“ sagen, aber ich bin doch nicht „so Eine“, und doch: Ich bin im Urlaub, möchte mich amüsieren, vom Alltag lösen, Neues erleben. Das Gewissen regt sich, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Habe ich mir nicht gerade gestern eine solche Einladung von ganzem Herzen gewünscht?

Ich wohne im Hotel King George und habe mir gestern Nachmittag, nachdem ich mein Zimmer bezogen hatte, die übrigen Hotelräumlichkeiten angesehen.

Mit dem Aufzug bin ich bis zum Dachrestaurant, der Tudor Hall, vorgedrungen. Diese Eleganz! Am liebsten hätte ich gleich Platz genommen, doch ist das wirklich nicht der Ort, an den sich eine Frau allein hinsetzt; es wäre schmerzlich, so etwas alleine genießen zu müssen. Traurig, aber auch ein bisschen eifersüchtig, habe ich die Pärchen an den Tischen auf der Terrasse gemustert – ihr Lachen, tiefe Blicke, Beine, die sich unter den Tischen liebkosen, Hände, die sich zärtlich streicheln. Die Paare haben meine Sehnsucht angefacht, ich fühlte mich inmitten der Pracht allein und verlassen. Und nun drängt sich die ersehnte Gelegenheit eines tête-à-tête auf! Oder ist es Vorspiegelung falscher Tatsachen, wenn ich mich zu einem Dinner einladen lasse? Erwartet der Mann neben mir einen Ferienflirt? Oder sogar mehr? Ach was, ich weiß ja nicht einmal, ob er nicht auch verheiratet ist, und ein Ferienflirt ist noch lange keine Affäre.

Da fügt Iannis mit zärtlichem Blick hinzu: „Bitte“, und erobert den Augenblick.

„Du hast mich eben überredet“, sage ich zu meiner eigenen Überraschung. Sein Mund steht einen Moment offen, eine Umarmung liegt in der Luft; nur das könnte die plötzliche Spannung richtig lösen.

Ich muss etwas sagen, bevor wir uns in den Armen liegen und wage den Vorschlag:

„In meinem Hotel gibt es ein Dachrestaurant. Wenn du mir nach unserer Ankunft auf dem Sintagma Platz zwanzig Minuten Zeit für eine Dusche gibst, können wir uns dort treffen.“

Der Reisestaub ist abgespült, wohlig frisch und sauber steige ich aus der Dusche und wickle mich in das flauschige Frottiertuch mit dem vornehmen Kronenwappen vom King George. Zu Hause will ich mir unbedingt auch luxuriösere Wäsche leisten, um mich dort genauso zu verwöhnen. Das Badezimmer ist schneeweiß wie ein Wintergletscher gefliest und auf Augenhöhe mit gelben Kronen verziert. Hier tragen sogar die Porzellanknöpfe für warmes und kaltes Wasser das Kronenemblem. Heute bin ich selbst die Königin. Der Spiegel ist angelaufen, ich nehme meine Konturen nur schemenhaft wahr und öffne die Tür. Langsam schärft sich mein Spiegelbild: Die Frau, die ich heute erblicke, gefällt mir schon viel besser als die von gestern. Die hellenische Sonne hat meine Winterblässe vertrieben, das bisschen Farbe passt zu meinem „Isis Look“, wie Iannis meine Aufmachung auf der Busfahrt betitelt hat. Wie erfrischend das Kompliment gewirkt hat! Es bringt mich immer noch zum Lächeln. Warum kann es nicht immer so sein? Habe ich im Alltagstrott vergessen, dass ich erst dreißig bin? Wie ist es so weit gekommen, dass ich wie eine Schlafwandlerin dahintreibe? Jung zu sein sollte Energie, Abenteuer, Lachen, Freunde, Tanz bedeuten. Stattdessen nur Pflicht und Monotonie: Tagsüber setze ich ein Lächeln für die Kundschaft auf und am Abend bin ich viel zu müde, um auch nur ans Ausgehen zu denken. Das Muttersein hat mich über Wasser gehalten, meine beiden Mädchen sind meine ganze Freude, ihretwegen lohnt es sich zu leben. Ansonsten ist mein Gefühlsleben in den letzten Jahren abgeflacht wie die Lebenslinie eines Todkranken auf einem Krankenhaus-Monitor.

Aber jetzt, allein in Athen, will ich meine Freiheit genießen. Willkommen, neu erwachte Lebensgeister! Die Feuchtigkeitscreme kühlt meine Haut, an den Armen und im Ausschnitt habe ich wohl ein bisschen zu viel Sonne erwischt. Kommt es drauf an, was für Dessous ich trage? Dürfen es die hautfarbenen aus Seide sein? Versteckt unter dem Kleid gibt es nur einen Grund, heute so etwas zu tragen: Wenn mich der seidige Hauch bei jeder Bewegung umschmeichelt, kriege ich ein Gefühl von Noblesse. Genau das will ich heute Abend in der Tudor Hall verspüren. Das Hemdchen streift mein Gesicht und bleibt hängen, Arme und Hände über meinem Kopf gefesselt wie Flügel. Ich summe „Sigah, sigah“, meine griechische Lieblingsmelodie, und tanze vor Lebenslust wie ein Teenager. In meinem Herzen, meiner Seele oder wo auch immer herrscht ein Gemisch von freudiger Erregung, aber auch ein Zaudern. Die ungewohnte Situation und die Erwartung erfüllen mich gleichzeitig, mein Herz läuft auf Hochtouren. Es ist wie ein Traum, dass ich noch so eine Freude empfinden kann.

Gott sei Dank habe ich mein Sommerkleid gestern noch zum Glätten der Kofferfalten aufgehängt, nun sieht es ganz passabel aus. Hier, das kurze Weiße könnte passen. Nicht zu aufgeputzt, nicht zu touristenhaft nonchalant, mein Herz macht wieder Sprünge. Husch, über das Seidige gestreift, es sitzt ausgezeichnet. Noch ein bisschen Glow auf den Ausschnitt pinseln, ein unauffälliger Blickfang. Mein Lieblingsparfum habe ich erst gestern auf dem Flughafen im Duty Free Shop gekauft. Sachte einen Tupfer Orangenblütenduft hinter die Ohren, ein bisschen an jedes Handgelenk für den Fall eines galanten Handkusses, einen Stäuber aufs Haar, es ist, als hätte mich die Vorsehung für mein Rendezvous vorbereitet: Gestern habe ich bei einem Schumacher in der Plaka auch die kleine, handgefertigte rote Handtasche gefunden und die roten Sandalen. Langsam wickle ich sie aus dem Seidenpapier und streichle mit den Fingern über den glänzend roten Lack. Oh, der Duft von neuem Leder! Die Absätze sind hoch, ich schummle mich gerne ein paar Zentimeter größer. Rasch versuche ich, ein paar Schritte zu gehen. Doch, kein Problem, sogar tanzen könnte ich darin!

Ich setze mich an den Frisiertisch. Wie nobel, ein Frisiertisch im Zimmer! Noch ein bisschen Kohlestift an die Lidränder, das lässt meine Augen mandelförmiger erscheinen. Das Makeup ist im Töpfchen eingetrocknet, ich habe mich zu Hause schon ewig lange nicht mehr geschminkt. Wozu auch? Welchen Lippenstift? „Rote Lippen soll man küssen …“ Schmunzelnd trällere ich den Oldie. Ach, nun denke ich schon wieder sündig! Und wähle ein zartes Rosa.

Plötzlich sitzt wieder ein Klumpen in meiner Magengegend – mein innerer Moralapostel meldet sich. Es ist das erste Mal, dass ich mich von einem fremden Mann einladen lasse. Ist das verrucht? Ein Wagnis? Verrückt? Vielleicht schon. Aber er sieht so hinreißend gut aus, ist spontan, höflich, jung wie ich, da kann ich doch gar nicht anders. Ist ja bloß ein Flirt. Ich bin einfach viel zu verheiratet! Morgen reise ich weiter, dann ist alles vorbei und ich um eine schöne, süße Erfahrung reicher. Rein technisch unschuldig. Oder belüge ich mich? Mit Sicherheit wird vom heutigen Abend zu Hause nie jemand erfahren, er wird mein Geheimnis bleiben. Blödes Gewissen! Dummes Zeug, ich bin doch nicht so altmodisch, dass ich das nicht schaffe! Wenn ich doch bloß die Spielregeln kennen würde, eine Formel, nach der „Flirten“ gespielt wird. Ob ich ihm überhaupt sagen muss, dass ich verheiratet bin? Ich würde stottern. Das kommt bei mir nicht oft vor, außer vielleicht jetzt, da ich ihm so sehr gefallen möchte. Was wird nach dem Abendessen? Vielleicht noch ein Spaziergang? Uff, mit meinen Hochhackigen! Aber ich werde auf keinen Fall zulassen, dass wir auch die Nacht zusammen verbringen. Das würde eindeutig zu weit gehen, auch wenn ich mir einen romantischen Abend noch so sehr gewünscht habe. Vielleicht so sehr, dass ich ihn herbeigezaubert habe? Meine Freundin Regina sagt immer: „Du musst nur ernsthaft aus dem Bauch heraus bestellen und das Universum wird für dich kreieren.“ Oft hatte sie damit Recht – nur habe ich bisher eher aus Angst bestellt. Immer habe ich bestellt, was alles nicht passieren soll. Bitte, bitte, liebes Universum! Nie habe ich egoistisch bestellt, ganz allein für mich. Erhöre meinen Wunsch, einmal etwas nur für mich. Einfach nur für mich. Lass mich diesen Abend genießen, süß und unschuldig wie im Märchen.