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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Danksagung

Verhaftet?

Das fängt ja gut an

Die Todesfall-Checkliste

Wurzelbehandlung mit Hindernissen

Der Leckerlijäger

Mit voller Wucht

Treffen mit der Vergangenheit

Institut für Rechtsmedizin St. Gallen

Polizei – in Hundekot treten verboten

Muffige Alphütte

Heimfahrt fast ohne Pannen

Das Parkplatzduell

Zivilstandesamt mal zwei

Ohne Arbeit kein Testament

Unerwarteter Besuch

Plan A

Plan B

Einbruch in den Friedhof

Beerdigt!

Bildquellennachweis

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2019 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99064-581-9

ISBN e-book: 978-3-99064-582-6

Lektorat: Marie Schulz-Jungkenn

Umschlagfoto: Roger Steiner

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: siehe Bildquellennachweis am Ende

www.novumverlag.com

Danksagung

DANKE

Für meine Tochter Eva Clara, die mein Leben verändert hat und ich über alles liebe!

Danke meinen Verwandten, speziell meinem Bruder Markus mit Karin, Franz mit Lucia, Fritz mit Ingrid sowie Monika.

Für meine Freunde und Bekannte, die mich immer wieder unterstützen. Danke, Trudy, Isa mit Stefan, Rosy, Philipp, Reto, Renate und Yvonne, die die Veröffentlichung des Buches leider nicht mehr erleben durfte.

Verhaftet?

Kerzengerade steht der Sicherheitschef vor ihrem Tisch, lässt suchend seinen Blick in die Runde schweifen und fragt: «Mark Bücheler, wer von Ihnen ist Mark Bücheler?»

Mark erstarrt mitten in der Bewegung, gerade wollte er einen Schluck Kaffee trinken.

«Das bin ich.» Langsam stellt er die Tasse auf den Tisch zurück.

«Kommen Sie bitte mit.»

«Wie bitte? Warum?»

«Bitte begleiten Sie mich hinaus.» Der Sicherheitschef ist immer noch höflich, aber der Tonfall ist eine Spur bestimmter geworden.

Für Mark ist es plötzlich viel zu warm in der Cafeteria. Die Situation ist ihm peinlich. Er kann sich nicht vorstellen, wieso man ihn auf diese Weise von der morgendlichen Kaffeepause weg und mitten aus dem Kreis seiner Arbeitskollegen herausholt.

Auch wenn er sonst ein sehr friedfertiger und umgänglicher Mensch ist, regt sich in ihm etwas Rebellisches. «Können Sie mir bitte sagen, wieso ich sie begleiten muss?» Jetzt hat auch seine Stimme eine gewisse Schärfe. Wie um zu demonstrieren, dass er sich nicht alles gefallen lässt, greift er demonstrativ langsam zur Tasse mit dem Latte Macchiato, führt sie zum Mund und leert sie in einem langen Zug. Eine schlechte Idee.

«Wollen Sie wirklich, dass ich das in aller Öffentlichkeit sage?» Das hat gesessen, und Mark hat sich am Kaffee verschluckt. Es wird immer peinlicher. Heftig hustend steht er auf, eine Hand vor dem Mund, mit der anderen den Kollegen zum Abschied kurz winkend, folgt er dem Sicherheitschef auf den Gang und bis vor den Lift. Seine Kollegen schauen ihm verdutzt nach, sogar sein Vorgesetzter, der wortgewandte Tobias, bleibt mit offenem Mund staunend zurück.

Während sie auf den Lift warten, eröffnet ihm der Sicherheitschef: «Die Basler Polizei hat nach Ihnen verlangt, sie wartet vor der Hauptporte. Ich muss Sie deshalb bis dorthin begleiten. Brauchen Sie noch etwas aus Ihrem Büro?»

Immer noch hustend lässt Mark seine Hände über die Vestontaschen gleiten. Portemonnaie, Smartphone, Badgealles da. «Nein, habe alles», presst er zwischen zwei Hustenanfällen hervor.

Mit einem leisen «Pling» öffnen sich die Lifttüren. Sie steigen in den Lift und fahren ohne weitere Worte nach unten. Endlich lassen die Hustenkrämpfe nach und Mark kann wieder normal atmen – und halbwegs vernünftig denken. Er weiß beim besten Willen nicht, wieso die Polizei ihn von seiner Arbeitsstelle wegholt. Während er schweigend die fünf Minuten bis zur Hauptporte neben dem Sicherheitschef marschiert, rasen seine Gedanken. Ist seiner Freundin etwas zugestoßen? Wurde in seine Wohnung eingebrochen? Was hat das zu bedeuten?!

Endlich sind sie am Ausgang, der kurze Fußmarsch dauerte eine gefühlte Stunde. Der Sicherheitschef begrüßt kurz die zwei wartenden Polizisten und deutet mit seinem Kopf auf Mark: «Das ist Herr Mark Bücheler, ich überlasse ihn dann Ihnen.» Mark hofft, dass sich die Situation nun klärt.

Draußen vor den Gittern der Werkszufahrt steht ein Einsatzwagen der Polizei mit einem kastenartigen Aufbau. «Ist das ein Gefängniswagen?», schießt es Mark durch den Kopf. Dann lässt er seinen Blick über die beiden wartenden Polizeibeamten schweifen. Hätte er nicht ein flaues Gefühl im Magen, dann wären die beiden ein Grund zum Grinsen. Sie erinnern ihn stark an Dick und Doof.

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Ein großer Schlaksiger und ein kleiner Runder. Der Schlaksige reißt ihn mit leicht nasaler Stimme aus seinen Überlegungen: «Herr Bücheler, würden Sie sich dann bitte noch ausweisen.»

Mark zieht seine Identitätskarte aus dem Portemonnaie und hält sie dem Schlaksigen vor die Nase. Der wirft einen kurzen Blick darauf, nickt und bittet Mark, hinten einzusteigen. Kaum hat er auf der Rückbank Platz genommen, setzt der Runde das Polizeifahrzeug zurück, wendet und fädelt sich in den Verkehr ein. Korporal «Schlaksig» erklärt: «Wir haben den Auftrag, Sie auf den Claraposten zu bringen. Den Grund können wir Ihnen nicht sagen.» Damit sind alle Fragen im Keim erstickt, die Situation klärt sich nichtund Mark fühlt sich noch mieser. Verstohlen blickt er sich im Auto um. Die hinteren Türen lassen sich von innen nicht öffnen. «So müssen sich verhaftete Ganoven fühlen», denkt er, «aber immerhin haben sie mir keine Handschellen angelegt, so schlimm kann es also nicht sein.» Hoffentlich.

Nach knapp zehn Minuten endet ihre Fahrt direkt vor dem Haupteingang eines mehrstöckigen Bürogebäudes. Der Schlaksige öffnet ihm von außen die Türe und führt Mark in den Polizeiposten.

Im zweiten Stock verlassen sie den Lift. Oder war es der dritte? Seine Gedanken vollführen immer noch Purzelbäume, er ist kaum in der Lage, halbwegs vernünftig zu denken. Der Polizist führt ihn durch einen düsteren, grauen Flur, an dessen Ende eine dunkelgraue, durchgesessene Sitzgruppe steht. «Setzen Sie sich bitte hier. Herr Fürst von der Abteilung Fahndung wird Sie abholen und Ihnen alles erläutern.» Sagts, dreht sich um, näselt ein «Schönen Tag noch» und ist weg.

Da steht Mark nun wie bestellt und nicht abgeholt. Er ist unschlüssig, ob er stehen bleiben willder Herr Fürst kommt sicher gleichoder sich setzen soll. Als sich nach zwei Minuten noch nichts getan hat, schnappt er sich vom Tischchen daneben eine zerfledderte Schweizer Illustrierte und lässt sich mit einem Seufzer in die Sitzgruppe plumpsen. Das hätte er besser sein lassen. Er sinkt endlos tief ein, kann sich kaum mehr bewegen. «Das muss ein Polizeimodell sein, hockst du drin, kommst du nicht mehr raus», denkt er sich mit einem Anflug von Galgenhumor.

Einigermaßen lustlos blättert er durch das Heft, beginnt den Artikel über die neue Miss Schweizdreimal. Es bleibt nichts hängen. Seine Gedanken kehren immer wieder zur Frage zurück, weshalb er hierhergebracht worden ist. Als Nächstes beginnt er mit der Homestory eines Nationalrats, aber dessen Geschichte fesselt ihn noch weniger. «Auch einer der Sorte, die alles tut, um wiedergewählt zu werdenaußer mit gesundem Menschenverstand zu politisieren.» Kopfschüttelnd blättert er weiter.

Nach einer halben Stunde kann er nicht länger still sitzen. Er will sich aus der Sitzgruppenumklammerung befreien und hangelt sich mühsam aus den Polstern. Die Schweizer Illustrierte wirft er aufs Tischchen und beginnt, auf dem Flur wie ein gefangener Löwe auf und ab zu gehen. Da wurde er mitten aus seiner Kaffeepause unter Arbeitskollegen herausgeholt, im Polizeifahrzeug auf den Posten gebracht, und hier lässt man ihn nun warten. Langsam wird er sauer.

Seit gut dreiviertel Stunden wartet er, zu trinken hat er nichts und sein Magen beginnt zu knurren. Um sich abzulenken, wandert er im Flur von Tür zu Tür, liest die Namen auf den Schildern und stellt sich vor, wie die Person dahinter wohl aussieht. «Lichtenhahn» steht auf dem dritten Schild und er stellt sich gerade einen stolzen Gockel im Scheinwerferlicht vor, als am Ende des Flurs jemand um die Ecke biegt, auf ihn zumarschiert und ruft: «Sind Sie Herr Bücheler?»

«Ja, das bin ich», antwortet er, «Mark Bücheler.» Der Unbekannte reicht ihm die Hand und stellt sich vor: «Fürst ist mein Name. Entschuldigen Sie die Wartezeit. Ich hatte noch ein paar wichtige Telefonate in Ihrem Fall!»

«Was heißt inIhrem Fall», denkt sich Mark, «bin ich schon ein Fall bei der Polizei? Und ich habe immer noch keine Ahnung, weshalb ich hier bin!»

«Bitte folgen Sie mir.» Herr Fürst geht voraus. «Mein Büro ist gleich um die Ecke.» Das Hungergefühl im Magen hat wieder einem flauen Gefühl Platz gemacht. Der Hunger war ihm lieber.

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Fürsts Büro ist winzig und komplett vollgestellt. Hinten an der Wand und auf der Seite stehen zwei Lateralschränke, davor ein überfüllter Schreibtisch voller Papierstapel und Akten aufgetürmt und vis-à-vis davon zwei Besucherstühle.

Das Fenster ist weit aufgerissen. Trotzdem ist es extrem stickig. Kein Bild an der Wand, kein gerahmtes Foto auf dem Schreibtisch. Der Raum versprüht den Charme einer Gefängniszelle.

Bevor Mark einen Platz zum Sitzen angeboten erhält, möchte auch Fürst einen Ausweis sehen. Mark fischt erneut seine ID aus dem Portemonnaie und hält sie mit der Fotoseite nach vorne hin. Entschuldigend greift Fürst danach: «Ich muss nur schnell eine Fotokopie davon machen, bin gleich zurück.»

Schon wieder alleine. Schon wieder warten.

Immerhin dauert es tatsächlich nur einen kurzen Moment.

Fürst klemmt sich hinter seinen Schreibtisch, greift sich das oberste Dossier vom Meter hohen Stapel vor ihm und beginnt zu lesen. «Sie haben eine Schwester namens Klara Bücheler, ist das richtig?»

«Ja, das stimmt, aber könnten Sie mir jetzt bitte endlich sagen, weshalb ich hier bin?»

Das fängt ja gut an

Ihr Spiegelbild gefällt ihr überhaupt nicht. Klara sieht aus, als hätte sie gerade mal eine Stunde geschlafen, dabei war sie schon vor Mitternacht im Bett. Erst der kühle Wasserstrahl unter der Dusche und die coole Musik von Radio Basilisk bringen ihre Lebensgeister auf Trab. Sie schlüpft in eine schwarze dreiviertellange Hose – ein stylisches Modell mit kleinen silbrig glänzenden Nieten am Saumund angelt sich die Bluse vom Windelständer. Sie ist noch leicht feucht. Einen Augenblick hält sie inne und überlegt sich die Alternativen. Keine! Was solls, auf der Velofahrt an den Bahnhof wird sie trocknen, warm genug ist es heute. Kurz etwas Make-up aufgelegt, jetzt freut sie sich auf einen kräftigen Morgenkaffee.

Ach du Schande, das hatte sie erfolgreich verdrängt! Ihre Küche sieht aus wie nach einem ausgelassenen Festgelage: Schmutziges Geschirr türmt sich im Waschbeckendie Geschirrwaschmaschine hat vor einer Woche den Geist aufgegeben, leere Verpackungen stehen herumder Abfalleimer quillt über und das Beste zum Schluss: Sie findet keine Kapseln mehr für die Kaffeemaschine. In diesem Moment schaut sie zum ersten Mal nach dem Aufstehen wieder auf die Uhr. «Mist!», entfährt es ihr. Will sie pünktlich im Büro sein, bleiben genau 15 Minuten bis zur Zugabfahrt. Den ersten Kaffee wird sie heute erst bei der Arbeit trinken. «Ich brauche meinen Morgenkaffee, sonst bin ich ungenießbar!», schimpft sie vor sich hin, während sie die Türe hinter sich abschließt. Schnell runter in den Velokeller, aufs Fahrrad geschwungen und durch den dichten Morgenverkehr zum Hauptbahnhof geradelt. Ein Auto braucht sie in der Stadt nicht, mit Fahrrad und ÖV ist sie meistens schneller.

Am Bahnhof herrscht das übliche Pendlergedränge. Auf den Rolltreppen hoch zu den Perrons ist es besonders schlimm. Wild fuchtelnd und unter keuchenden Entschuldigungsrufen bahnt sie sich ihren Weg. Kaum eingestiegen, schließen sich zischend die Wagontüren und der Zug fährt los. Außer Atem lässt sie sich auf den letzten freien Gangplatz eines Viererabteils plumpsenwohl oder übel mit dem Rücken zur Fahrtrichtungwobei übel die Sache eher trifft. Für Klara kommt das Rückwärtsfahren fast einer Brechgarantie gleich. Der heutige Tag hat «toll» begonnen, sich «großartig» fortgesetzt – und es wird noch besser.

Kaum sitzt sie eine Minute, bemerkt sie, wie der Mann gegenüber sie von Kopf bis Fuß mustert. Ein ekliger Typ mit Bierbauch, viel zu engem Hemd und schmierigem Grinsen. Klara macht auf Eisklotz, wendet sich so weit, wie es geht, von ihm ab. «Wenn der seine Grimasse charmant findet, hat er sich schwer getäuscht», denkt sie und lässt unauffällig aus dem Augenwinkel den Blick nochmals kurz über ihn schweifen: Viel zu kurze, speckige Hosen geben den Blick frei auf stark behaarte Waden. Keine Socken, ausgetretene Mokassins von undefinierbarer Farbeund sein Grinsen ist noch breiter geworden. Vom Rückwärtsfahren ist ihr flau im Magen, irgendwie muss sie sich ablenken. Sie stellt sich vor, dass ihrem Gegenüber beim nächsten Einatmen die Hemdknöpfe über dem Bierbauch aufplatzen. Das Kopfkino funktioniert, nur mühsam kann sie das Lachen unterdrücken, beugt sich dabei etwas nach vorne, damit der Kerl ihr Gesicht nicht sieht und … erstarrt!

Etwas Schwarzes baumelt vorwitzig aus ihrem rechten Hosenbein. Jetzt wird ihr klar, wieso «Bierbauch» gegrinst hat. Wie zufällig greift sie nach unten und versucht, es unauffällig herauszuziehen. Vergebens. Es ist zwar elastisch, rührt sich aber nicht von der Stelle – die Strumpfsocke von gestern. Ein verschämter Blick in die Runde, «Bierbauch» guckt unterdessen auf sein Smartphone, niemand beachtet sie. Und nochmals ziehen. Das Ding leistet zähen Widerstand, scheinbar hat es sich innen an einer der Saumnieten verhakt. Ein heftiger Ruck soll dem Ringen ein Ende machen. Jetzt!

Mit einem unterdrückten Schrei landet Klara auf ihrem Hintern. Auf dem Boden, genau zwischen den Sitzbänken. Ihre linke Hand an der behaarten Wade des Gegenübers, in der rechtendie zerrissene Strumpfsocke vom Vortag. Nun ja, der Ruck war wohl etwas zu heftig und sie hatte das Gleichgewicht verloren. Nicht nur! Auch ihre bleiche Hautfarbe ist schlagartig weg. Puterrot hockt sie am Boden und ihr ist siedend heiß.

«Junge Frau, kann ich Ihnen irgendwie helfen?», tönt es direkt von oben. Das muss «Bierbauch» sein. Sie spürt sein Grinsen geradezu, unangenehm begleitet vom unterdrückten Lachen anderer Fahrgäste. Peinlich! «’tschuldigung», nuschelt sie von unten und nimmt ihre Hand blitzartig von «Bierbauchs» Wade. Sie vermeidet, ihren Blick auch nur eine Sekunde schweifen zu lassen. Auf die grinsenden Gesichter kann sie im Moment verzichten. So schnell wie möglich stopft sie die Strumpfhose in ihre Handtasche, stemmt sich vom Boden hoch und setzt sich zurück auf ihren Platz. Eingehend mustert sie ihre Fingernägel, auf keinen Fall aufschauen, das Getuschel rundherum reicht ihr vollkommen. Immerhin etwas Gutes hatte die Panne, ihr flaues Gefühl ist wie weggeblasen.

Zwei Minuten vor der spätestens erlaubten Ankunftszeit im Büro meldet sie sich an ihrem Computer an und lässt ihn gleich wieder stehen. Klara braucht dringend ihren Kaffee, so viel Zeit muss sein, und einen zweiten nimmt sie mit an ihren Bürotisch. Wie üblich wirft sie zuerst einen Blick in den Kalender, um ihre Termine zu checken. «Oh nein!», entfährt es ihr. Um 13.30 Uhr steht bei ihr die zweite Wurzelbehandlung beim Zahnarzt an. Eigentlich hatte sie heute von zu Hause aus arbeiten wollen, um sich das Pendeln zu ersparen, aber das ging im Morgenstress völlig vergessen. Nun kann sie knapp noch die wichtigsten Pendenzen abarbeiten, etwas essen und dann muss sie sofort wieder mit dem Zug zurück an den Hauptbahnhof und von dort mit dem Fahrrad weiter bis zum Zahnarzt fahren.

Nach einem sehr kurzen Mittagessen kommt sie nochmals ins Büro, um den nächsten Tag vorzubereiten und ein paar pendente Arbeiten sowie den Laptop einzupacken.

Und schon ist sie wieder zu spät dran. Mit Handtasche, Laptop und einer Tragtasche voll Akten rennt sie aus dem Gebäude und liefert sich heute schon zum zweiten Mal einen Wettlauf gegen die Uhr. Bis zum Bahnhof braucht sie bei normalem Tempo rund zehn Minuten, ihr Zug fährt in acht.

Halb gehend, halb rennend und alle paar Schritte den Tragegurt der Laptoptasche wieder nach oben schiebend, biegt sie um die Ecke vor dem Bahnhof und sieht, wie der Zug einfährt. Nimmt sie die Fußgängerunterführung, verpasst sie ihn garantiert. Also abkürzen, über die Geleise rennen und vor der Lokomotive durch. Mit einem Sprung ist sie auf den Bahngeleisen und versucht, den Lokführer rufend und mit der freien Hand wild winkend auf sich aufmerksam zu machen. Zwei Schritte weiter fällt sie fast hin. Der rechte Schuh hängt fest. Sein Absatz hat sich zwischen Schiene und Bahnschwelle verklemmt. Kurzerhand schlüpft sie raus, zerrt den Schuh freiein gehetzter Blick zum Lokführer sagt ihr, dass er sie gesehen hatund humpelt halb barfuß zu den offenen Zugtüren. Kaum drin, fährt er los.

«Hat sich heute eigentlich alles gegen mich verschworen?», denkt sie und betrachtet traurig den baumelnden Absatz. Der Schuh ist hinüber. Zum Glück hat es um diese Uhrzeit nur Schüler und ein paar pensionierte Wanderer im Zug. Die sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt und haben weder Klaras Malheur gesehen noch bemerkt, wie sie ins Abteil gehumpelt kam. Ihr ist es recht. Erst als sie sitzt, realisiert sie, wie ihr die Bluse am Rücken klebt. Sommertemperaturen und Stress haben ihre Spuren hinterlassen.

Die Todesfall-Checkliste

Mark verharrt noch einen Augenblick auf seinem Stuhl. «Nur, dass ich es richtig verstehe, im Moment bin ich der Einzige, der informiert wurde?»

«Das ist korrekt, vonseiten Kantonspolizei konnten wir von der Verwandtschaft nur Sie ausfindig machen. Hier habe ich noch eine TC für Sie, die ist gerade in den ersten Tagen nach einem Todesfall sehr hilfreich.» Fürst beugt sich über den Schreibtisch und streckt ihm ein Blatt entgegen. Mark steht zögerlich auf, greift danach und wirft einen Blick darauf: Todesfall-Checkliste.

«Die TC ist für in Basel wohnhaft gewesene Personen gültig. Halten sich die Hinterbliebenen an die aufgeführten Punkte, dann geht sicher nichts vergessen. Die Checkliste ist eine Gratis-Dienstleistung der Kantonspolizei Basel-Stadt.» Schwingt da etwas Stolz in seiner Stimme mit? Mark ist sich nicht sicher und Fürst spricht schon wieder weiter. «Auf die Rückseite habe ich Ihnen die Telefonnummer des Gerichtsmedizinischen Institutes von St. Gallen notiert, wo sich derzeit der Leichnam befindet. Dort müssen sie sich in den nächsten Tagen unbedingt melden. Das wär dann alles von meiner Seite. Haben Sie noch Fragen?»

«Ja, ich habe 1.000 Fragen», würde er am liebsten sagen. Er steht in einem winzigen Polizeibüro, hält eine Todesfall-Checkliste in der Hand und gerade ist ein naher Blutsverwandter aus der Versenkung aufgetaucht, in die er vor über zehn Jahren verschwunden war. Mark ist derart durcheinander, dass er nicht weiß, wo er mit Fragen beginnen soll, also lässt er es bleiben. «Nein, danke, alles klar.» Sie schütteln sich die Hände und er verlässt das Büro ziemlich durcheinander.

Für den Rückweg ins Geschäft übernimmt die Polizei leider nicht mehr den «Taxidienst». Mark ist froh, dass ganz in der Nähe des Postens eine Haltestelle ist. Im Tram fragt er sich, was ihn wohl im Geschäft erwarten wird. Dort kursieren sicher schon die wildesten Gerüchte. Es ist bekannt, dass er mit seiner Freundin häufig und gerne auch länger ins Ausland verreist. Lässt sein Chef Tobias seiner Fantasie freien Laufen, dann ist von Antiquitäten- über Drogenschmuggel bis zu Waffenschieberei alles drin. Seufzend verdrängt er diese Gedanken und wirft erst einen Blick auf die Uhr, es ist bereits 11.45 Uhr, dann auf die Todesfall-Checkliste:

  1. 1. Den Totenschein besorgen
  2. 2. Das nähere Umfeld informieren
  3. 3. Wünsche des Verstorbenen ermitteln
  4. 4. Das Zivilstandsamt benachrichtigen
  5. 5. Weitere Stellen informieren
  6. 6. Nachlass vor falschen Händen schützen
  7. 7. Todesanzeige und Trauerkarten besorgen
  8. 8. Die Beerdigung organisieren
  9. 9. Erbangelegenheiten klären, Danksagungen schreiben
  10. 10. Nachlass abwickeln und Grabstein bestellen.

Eines ist klar, er muss bei Punkt zwei anfangen. Wie es danach weitergehen soll, weiß er nicht. Mark fühlt sich völlig hilflos und total überfordert. Ihm wird bewusst, dass jetzt alles auf seinen Schultern lastet. Zumindest vorerst.

Als Erstes muss er Tobias, seinen Vorgesetzten, informieren und unbedingt etwas Richtiges essen. Wie es aussieht, braucht er ein paar Tage, um alles zu erledigen. Ärger löst das Gefühl der Hilflosigkeit ab: «Nachgerechnete dreizehn Jahre hört man nichts und dann melden sich sogenannte nahe Angehörige auf diese Art zurück, und zwar genau dann, wenn zwei Kollegen wegen eines Kurses die ganze Woche abwesend sind. Mist! Wenn er wenigstens Anstand genug gehabt hätte, in Basel zu sterben! Jetzt muss ich auch noch in die Ostschweiz fahren!»