3Habermas global

Wirkungsgeschichte eines Werks

Herausgegeben von Luca Corchia,Stefan Müller-Doohmund William Outhwaite

Suhrkamp

9Luca Corchia, Stefan Müller-Doohm und William Outhwaite

Vorwort

Jürgen Habermas gilt als Weltautor, der mit seinen in zahlreiche Sprachen übersetzten Schriften und seinen tagespolitischen Interventionen zum Mitinitiator einer grenzüberschreitenden Öffentlichkeit geworden ist. Sein in über 60 Buchveröffentlichungen umgesetzter Anspruch, die Grundlagen für eine kritische Gesellschaftstheorie zu entwickeln, die ihre eigenen Maßstäbe auszuweisen vermag, hat insbesondere im Umfeld der Geistes- und Sozialwissenschaften, aber auch über diese hinaus eine breite Diskussion ausgelöst. In diesen – oft hoch kontroversen – Debatten innerhalb der scientific community reflektiert sich die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte seiner Schriften, die die Idee kommunikativer Vernunft ausbuchstabieren. So berufen sich weltweit Philosophen und Theologen, Juristen und Politikwissenschaftler, Soziologen und Psychologen sowie eine Vielzahl weiterer Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlichster Einzelwissenschaften – oft in kritischer Abgrenzung – auf die Konzeptualisierung eines nachmetaphysisch begriffenen und im gesellschaftlichen Leben verankerten Vernunftbegriffs. Und es ist keine Überraschung, dass Jürgen Habermas zu den in den Geistes- und Sozialwissenschaften am häufigsten zitierten Autoren gehört. Soweit sie sich überhaupt vollständig erfassen lässt, besteht allein die weltweit erschienene Sekundärliteratur zu seinem Werk aus über 8000 Titeln. Die in diesem Band versammelten Beiträge von 40 Autorinnen und Autoren, die die Rezeptionskontexte aus mehr als 20 Ländern beleuchten, belegen diese eindrucksvolle globale Wirkungsgeschichte ebenso wie der abgedruckte Auszug aus René Görtzens mondialer Bibliographie, deren vollständige Fassung mehrere hundert Seiten umfasst.

Habermas' linksliberale, republikanisch inspirierte politische Philosophie, seine Kritik an neoliberalen Tendenzen, seine europakritischen Analysen und europapolitischen Vorschläge bis in die jüngste Zeit sind fester Bestandteil der Debatten innerhalb der bundesdeutschen Medienöffentlichkeit. Nicht zuletzt seine Verteidigung einer öffentlich bekundeten Kultur der Erinnerung an die deutsche Schuld 10war für die moralische Erneuerung und damit für die westdeutsche Nachkriegsgeneration im Ganzen mentalitätsprägend und ist es bis heute. Innerhalb des ostdeutschen Rezeptionszusammenhangs wurde Habermas von offizieller Seite als Reformist denunziert, obgleich sein Ansatz vor allem wegen seiner Kritik am westlichen Spätkapitalismus auch Gegenstand fachlicher Kontroversen war. Im informellen Rahmen wurde er nichtsdestotrotz intensiv diskutiert, und zwar schon bevor seine Schriften Ende der 1980er Jahre auch in demokratietheoretischer Hinsicht wirkten.

In der angelsächsischen Welt, insbesondere in den USA, hat gerade die von Thomas McCarthy besorgte englische Übersetzung des Hauptwerks Theorie des kommunikativen Handelns [Theory of Communicative Action] im Jahr 1984 eine regelrechte Rezeptionswelle ausgelöst, die sich aktuell vor allem auf Habermas' Demokratie- und Rechtstheorie erstreckt. Die führenden Vertreterinnen und Vertreter der nordamerikanischen Geistes- und Sozialwissenschaften wie etwa Charles Taylor, John Rawls, Hilary Putnam, Richard J. Bernstein, Richard Rorty, Ronald Dworkin, Thomas Nagel, John R. Searle, Robert B. Brandom, Charles Larmore, Seyla Benhabib, Eduardo Mendieta und Amy Allen haben immer wieder den Dialog mit Habermas gesucht.

Habermas' philosophische und politische Schriften werden in ganz Europa an den Universitäten und im zeitpolitischen Diskurs rezipiert. Bedeutende Intellektuelle haben sich – zum Teil äußerst kritisch – mit seinem Ansatz auseinandergesetzt, darunter Michel Foucault, Jacques Derrida, Pierre Bourdieu, Umberto Eco, Gianni Vattimo und Anthony Giddens. Berühmt geworden ist sein Dialog über Fragen der Religion und des Glaubens mit Kardinal Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., und auch so mancher Politiker lässt sich von Habermas' Vorschlägen öffentlich inspirieren.

Die Anerkennung, die Habermas in Japan genießt, hat die Auszeichnung mit dem renommierten Kyoto-Preis der Weltöffentlichkeit deutlich vor Augen geführt. In Spanien und Lateinamerika stoßen seine Zeitdiagnosen sowie seine theoretischen Deutungen von Rechtsstaat und Demokratie auf große Beachtung. Auch in Südkorea, in Indien und in China haben seine Öffentlichkeits- und Demokratietheorie, sein Beharren auf der Nichthintergehbarkeit von Menschenrechten und seine Thesen zum Völkerrecht Aufsehen erregt, nicht selten zum Unmut der politischen Eliten.

11Der vorliegende Band stellt zwei Aspekte in den Vordergrund, die in der Masse an biographischen Zugängen, Einführungen und Werkexegesen bislang bestenfalls am Rande Berücksichtigung gefunden haben. Zum einen beleuchtet er die wechselvollen, mitunter stürmischen Rezeptionsprozesse innerhalb unterschiedlicher Sprachkulturen, die die Publikationen von Jürgen Habermas dort in ihrer ganzen Breite ausgelöst haben. Zum anderen widmet er sich dezidiert den Kontroversen, den Kritiken und Gegenkritiken, die Habermas' wissenschaftliche und politische Veröffentlichungen über die Jahrzehnte ausgelöst haben. In diesem Sinne versteht sich dieses Buch als ein Beitrag – oder besser: Anstoß – zu einer Rezeptionsforschung über die Grenzen der Länder und Kontinente hinweg.

Wir haben uns als Herausgeber dazu entschieden, den Autorinnen und Autoren mehr oder weniger freie Hand bei der methodischen Anlage ihrer Rezeptionsanalyse zu lassen. Dennoch gibt es eine Gemeinsamkeit, die darin besteht, dass der Akzent auf längerfristigen Rezeptionsprozessen liegt, die sich dialogisch, das heißt als wechselseitige Bezugnahme vollzogen haben. Eine solche Perspektive, die bestimmbare Transformationsprozesse im Akt aktiver semantischer Aneignung in den Blick nimmt, hebt sich von den kausalanalytischen Modellen ab, bei denen passive Wirkungs- und Einflusseffekte im Vordergrund stehen.

Vor allem aus Platzgründen musste eine Reihe von Themen unberücksichtigt bleiben und konnte nicht für jedes Land die Rezeption von Habermas' Denkwegen dargestellt werden. Eindeutig im Vordergrund steht in den Beiträgen dieses Bandes Habermas' Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns, was nicht heißt, dass die anderen Schwerpunkte seines Denkens – von der Erkenntnistheorie bis hin zur Diskurstheorie des Rechts – keine Rolle spielen. In geographischer Hinsicht bleibt die Darstellung der Rezeption von Habermas' Sozialtheorie in Osteuropa sowie in den Ländern des Mittleren Ostens ebenso ein Desiderat, wie der afrikanische Kontinent in dieser Hinsicht als terra incognita gelten muss.

12Dank

Der Dank der Herausgeber geht zuerst an alle Autorinnen und Autoren dieses Bandes, die mit Engagement und Kompetenz zu dessen Zustandekommen beigetragen haben. Wir danken auch René Görtzen, dass er uns seine umfangreiche internationale Bibliographie, die er nach jahrelangen Recherchen zusammengestellt hat, in generöser Weise zur Verfügung gestellt und einen Teilabdruck gestattet hat. Die Übersetzung von zahlreichen Beiträgen aus dem Englischen ins Deutsche lag in den Händen von Daniel Steuer, einem hervorragenden Kenner der Materie. Ein ganz großer Dank geht an Roman Yos, der den Band redaktionell betreut hat, und dies mit großer Sorgfalt und Akribie, sowie an Gesa Steinbrink, die das Gesamtmanuskript geduldig und kompetent lektoriert hat. Auch bei Eva Gilmer, die uns als kompetente Ansprechpartnerin im Verlag mit ihren zielgenauen Hinweisen und Ratschlägen bei der Umsetzung dieses Projekts unterstützt hat, möchten wir uns an dieser Stelle bedanken. Für ihre Unterstützung beim Kollationieren danken wir Yentl Henken und Ansgar Baumgart. Ohne die finanzielle Förderung durch das Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg hätte sich das Projekt nicht realisieren lassen.

Zum Schluss möchten wir Jürgen Habermas danken – für die von ihm stimulierten Lernprozesse.

Pisa/Oldenburg/Oxford im Frühjahr 2019

13Zitierte Schriften von Jürgen Habermas1

1954:

Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken, Inauguraldissertation, unveröffentlicht, Bonn.

1961:

Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten (zusammen mit Ludwig von Friedeburg, Christoph Oehler, Friedrich Weltz), Neuwied, Berlin.

1962:

Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied, Berlin.

1963:

Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Neuwied, Berlin.

1968a:

Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M.

1968b:

Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt/M.

1968c:

(Hg.), Antworten auf Herbert Marcuse, Frankfurt/M.

1969:

Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt/M.

1970a:

Zur Logik der Sozialwissenschaften. Materialien, Frankfurt/M.

1970b:

Arbeit, Erkenntnis, Fortschritt. Aufsätze 1954-1970, Amsterdam.

1971a:

Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/M.

1971b:

Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? (zusammen mit Niklas Luhmann), Frankfurt/M.

1971c:

Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien (Neuausgabe), Frankfurt/M.

1973a:

Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt/M.

1973b:

Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M.

1974:

Zwei Reden (zusammen mit Dieter Henrich), Frankfurt/M.

1976:

Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M.

1977:

(Hg.), Entwicklung des Ichs (zusammen mit Rainer Döbert, Gertrud Nunner-Winkler), Köln.

1978a:

Politik, Kunst, Religion. Essays über zeitgenössische Philosophen, Stuttgart.

1978b:

(Hg.), Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt/M.

1979a:

Das Erbe Hegels. Zwei Reden aus Anlaß der Verleihung des Hegel-Preises 1979 der Stadt Stuttgart an Hans-Georg Gadamer, Frankfurt/M.

141979b:

(Hg.), Stichworte zur ›Geistigen Situation der Zeit‹, 2 Bde., Frankfurt/M.

1981a:

Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/M.

1981b:

Kleine Politische Schriften I-IV, Frankfurt/M.

1981c:

Philosophisch-politische Profile. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt/M.

1982:

Zur Logik der Sozialwissenschaften, 5., erweiterte Auflage, Frankfurt/M.

1983a:

Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M.

1983b:

(Hg.), Adorno-Konferenz 1983 (zusammen mit Ludwig von Friedeburg), Frankfurt/M.

1984a:

Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M.

1984b:

(Hg.), Soziale Interaktion und soziales Verstehen. Beiträge zur Entwicklung der Interaktionskompetenz (zusammen mit Wolfgang Edelstein), Frankfurt/M.

1985a:

Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M.

1985b:

Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt/M.

1987:

Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI, Frankfurt/M.

1988:

Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M.

1990a:

Die nachholende Revolution. Kleine Politische Schriften VII, Frankfurt/M.

1990b:

Vergangenheit als Zukunft. Hg. von Michael Haller, Zürich.

1990c:

Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage, Frankfurt/M.

1990d:

Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1990, Leipzig.

1991a:

Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M.

1991b:

Texte und Kontexte, Frankfurt/M.

1992:

Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M.

151993:

Vergangenheit als Zukunft. Das alte Deutschland im neuen Europa? Hg. von Michael Haller, München.

1995:

Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Politische Schriften VIII, Frankfurt/M.

1996:

Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M.

1997:

Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays, Frankfurt/M.

1998:

Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/M.

1999:

Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M.

2001a:

Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/M.

2001b:

Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt/M.

2001c:

Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. Sonderdruck, Frankfurt/M.

2003:

Zeitdiagnosen. Zwölf Essays, Frankfurt/M.

2004a:

Der gespaltene Westen. Kleine Politische Schriften X, Frankfurt/M.

2004b:

Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt/M.

2004c:

Philosophie in Zeiten des Terrors (zusammen mit Jacques Derrida). Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori, Berlin.

2005a:

Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M.

2005b:

Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion (zusammen mit Joseph Ratzinger), Freiburg u. ‌a.

2005c:

Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Erweiterte Ausgabe, Frankfurt/M.

2008a:

Ach, Europa. Kleine Politische Schriften XI, Frankfurt/M.

2008b:

Erkenntnis und Interesse. Neuausgabe. Mit einem Nachwort von Anke Thyen, Hamburg.

2008c:

Protestbewegung und Hochschulreform. Mit einer Nachbemerkung von Alexander Kluge und einer DVD des Dokumentarfilms Ruhestörung, Frankfurt/M.

2009:

Philosophische Texte, Frankfurt/M.

16

– Bd. 1, Sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie;

– Bd. 2, Rationalitäts- und Sprachtheorie;

– Bd. 3, Diskursethik;

– Bd. 4, Politische Theorie;

– Bd. 5, Kritik der Vernunft.

2011:

Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin.

2012:

Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin.

2013:

Im Sog der Technokratie. Kleine Politische Schriften XII, Berlin.

Anmerkung

1

 Die Hinweise auf Schriften von Jürgen Habermas in den Anmerkungen des vorliegenden Bandes beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf diese Übersicht. Sie weicht aus pragmatischen Gründen in einigen wenigen minimalen Details, die sachlich nicht ins Gewicht fallen, von der Görtzen-Bibliographie ab.