image1
Logo

Sucht: Risiken – Formen – Interventionen

Interdisziplinäre Ansätze von der Prävention zur Therapie

 

Herausgegeben von

 

Oliver Bilke-Hentsch

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank

Michael Klein

Wilma Funke

Fallkonzeption und Therapieplanung

Interdisziplinäres Fallverstehen als Grundlage einer erfolgreichen Suchtbehandlung

Verlag W. Kohlhammer

 

 

 

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

 

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-028763-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-028764-8

epub:    ISBN 978-3-17-028765-5

mobi:    ISBN 978-3-17-028766-2

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

 

Meinem Mann für das geduldige Ausharren

 

Geleitwort der Reihenherausgeber

 

 

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Suchtbereich sind beachtlich und erfreulich. Dies gilt für Prävention, Diagnostik und Therapie, aber auch für die Suchtforschung in den Bereichen Biologie, Medizin, Psychologie und den Sozialwissenschaften. Dabei wird vielfältig und interdisziplinär an den Themen der Abhängigkeit, des schädlichen Gebrauchs und der gesellschaftlichen, persönlichen und biologischen Risikofaktoren gearbeitet. In den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsphasen sowie in den unterschiedlichen familiären, beruflichen und sozialen Kontexten zeigen sich teils überlappende, teils sehr unterschiedliche Herausforderungen.

Um diesen vielen neuen Entwicklungen im Suchtbereich gerecht zu werden, wurde die Reihe »Sucht: Risiken – Formen – Interventionen« konzipiert. In jedem einzelnen Band wird von ausgewiesenen Expertinnen und Experten ein Schwerpunktthema bearbeitet.

Die Reihe gliedert sich konzeptionell in drei Hauptbereiche, sog. »tracks«:

Track 1:

Grundlagen und Interventionsansätze

Track 2:

Substanzabhängige Störungen und Verhaltenssüchte im Einzelnen

Track 3:

Gefährdete Personengruppen und Komorbiditäten

In jedem Band wird auf die interdisziplinären und praxisrelevanten Aspekte fokussiert, es werden aber auch die neuesten wissenschaftlichen Grundlagen des Themas umfassend und verständlich dargestellt. Die Leserinnen und Leser haben so die Möglichkeit, sich entweder Stück für Stück ihre »persönliche Suchtbibliothek« zusammenzustellen oder aber mit einzelnen Bänden Wissen und Können in einem bestimmten Bereich zu erweitern.

Unsere Reihe »Sucht« ist geeignet und besonders gedacht für Fachleute und Praktiker aus den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchtberatung, der ambulanten und stationären Therapie, der Rehabilitation und nicht zuletzt der Prävention. Sie ist aber auch gleichermaßen geeignet für Studierende der Psychologie, der Pädagogik, der Medizin, der Pflege und anderer Fachbereiche, die sich intensiver mit Suchtgefährdeten und Suchtkranken beschäftigen wollen.

Die Herausgeber möchten mit diesem interdisziplinären Konzept der Sucht-Reihe einen Beitrag in der Aus- und Weiterbildung in diesem anspruchsvollen Feld leisten. Wir bedanken uns beim Verlag für die Umsetzung dieses innovativen Konzepts und bei allen Autoren für die sehr anspruchsvollen, aber dennoch gut lesbaren und praxisrelevanten Werke.

Der vorliegende Band von Professor Dr. Wilma Funke, der Track 1 (Grundlagen und Interventionsansätze) zugehörig ist, macht deutlich, dass die Grundlage einer notwendigen Fallkonzeption der Dreiklang aus Planung, Dokumentation und Evaluation vor dem Hintergrund eines prozessdiagnostischen Verständnisses in der Suchtbehandlung ist. Die Erhebung, Verarbeitung und Bewertung fallbezogener Informationen stellen einen kontinuierlichen Prozess dar, der im vorliegenden Band inhaltlich und aus der Metaperspektive zugleich betrachtet wird. Die umfassende und zielführende Fallkonzeptionierung ist eine notwendige Grundlage für gelingende und erfolgreiche Therapien: auch und gerade im Suchtbereich. Die Autorin macht dabei deutlich, welche Informationen zu berücksichtigen sind und dass die Mikroebene (z. B. die Nonverbalität des Patienten) genauso zu berücksichtigen ist wie die Makroebene (z. B. der soziokulturelle Hintergrund).

 

Oliver Bilke-Hentsch, Winterthur/Zürich

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Köln

Michael Klein, Köln

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Geleitwort der Reihenherausgeber
  2. Vorwort
  3. 1 Womit die Reise beginnt
  4. 1.1 Fallkonzeption und Therapieplanung als Orientierung
  5. 1.2 Grundüberlegungen zum Zusammenhang zwischen Fallkonzeption und Therapieplanung
  6. 1.3 Zur Koorientierung von Patient und Behandler
  7. 1.4 Reisende und ihre Ziele
  8. 1.5 Etappen auf dem Weg zum Ziel
  9. 2 Fallkonzeption und Therapieplanung: Die Modelle von Kanfer und Grawe
  10. 2.1 Das 7-Phasenmodell nach Kanfer
  11. 2.1.1 Phase 1: Grundlagen der Arbeitsbeziehung schaffen
  12. 2.1.2 Phase 2: Aufbau von Änderungsmotivation und (vorläufige) Auswahl von Änderungsbereichen
  13. 2.1.3 Phase 3: Problemanalyse
  14. 2.1.4 Phase 4: Vereinbaren therapeutischer Ziele
  15. 2.1.5 Phase 5: Planung, Auswahl und Durchführung spezifischer Methoden
  16. 2.1.6 Phase 6: Evaluation therapeutischer Fortschritte
  17. 2.1.7 Phase 7: Erfolgsoptimierung und Abschluss der Therapie
  18. 2.2 Die neuropsychotherapeutische Perspektive nach Klaus Grawe
  19. 3 Die sechs Stufen der Fallkonzeption: ein pragmatischer Ansatz
  20. 3.1 Der erste Eindruck
  21. 3.2 Das Kennenlernen
  22. 3.3 Die tiefere Begegnung
  23. 3.4 Vertrauensvolle Zusammenarbeit
  24. 3.5 Krisen und ihre Lösungen
  25. 3.6 Der Abschied
  26. 4 Therapieplanung
  27. 4.1 Ressourcen und Defizite
  28. 4.2 Indikationsstellung
  29. 4.3 Kurskorrekturen
  30. 5 Dokumentation, Evaluation und Supervision therapeutischer Arbeit
  31. 6 Womit die Reise endet
  32. Literatur
  33. Stichwortverzeichnis
  34. Anhang

 

Vorwort

 

 

Sich mit einem Thema intensiver auseinanderzusetzen, ist wie eine Reise zu planen, zu erleben und in Gedanken die Erlebnisse und Erfahrungen zu rekapitulieren. So ist es auch mir in der Erstellung dieses Buches ergangen – es war interessant und bereichernd, manchmal beschwerlich und mühsam, im Rückblick spannend und voller guter Erfahrungen.

Wesentliche Impulse für dieses Buch ergaben sich dabei aus der Arbeit mit meinen therapeutischen Mitarbeitern1 in den Kliniken Wied, wo ich seit nunmehr 20 Jahren als Therapeutische Leiterin wirken darf – danke. Anregungen und Reflektionsmöglichkeiten verdanke ich ebenso den Ausbildungskandiaten der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln, die ich seit Beginn des dortigen Masterstudiengangs »Addiction Treatment and Prevention« im Bereich Suchttherapie begleite. Durch meine Tätigkeit in den Vorständen und zahlreichen Arbeits- und Forschungsgruppen des Fachverbands Sucht (FVS) und der Deutschen Gesellschaft für Suchtpsychologie (dg sps) sowie in der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG Sucht) konnte ich zusätzlich einen umfassenden Einblick in das deutsche Suchthilfesystem, seine Rahmenbedingungen und die Suchtforschung gewinnen. Zwei bis drei Seminare in der Selbsthilfe pro Jahr unterstützen mich immer in einer Sichtweise, die Betroffene in unterschiedlichen Stadien ihrer Rekonvaleszenz und Angehörige von Suchtkranken gleichermaßen in den Blick nimmt und zeigen mir wiederholt in beeindruckender Weise, welche Ressourcen in scheinbar ausweglosen Lagen Menschen beim Überleben und der Wiedererlangung eines zufriedenen Lebens aktivieren. Dabei spielt Abstinenz vom Suchtmittel eine große Rolle – aber sie alleine reicht nicht aus und ist es nicht, die das Leben sinnvoll und lebenswert macht. Meine Erfahrungen mit Betroffenen und Mitbetroffenen der Sucht zeigen mir jedoch auch häufig, mit welch anderem Blick und wie fragend diese Menschen an die Gestaltung ihres Lebens herangehen und dass sie gelernt haben, sich in besonderer Form um sich selbst zu kümmern, um ein sinnerfülltes Leben zu führen, ohne den Blick für die Gemeinschaft zu verlieren.

In meiner praktischen Tätigkeit mit Patienten sowie mit Supervisanden und auch als Coach durfte ich ebenfalls Einblicke in solch individuelle Lebensentwürfe und -herausforderungen nehmen, die meine fachliche und persönliche Entwicklung mit beeinflusst haben. In der Forschungsgruppe TRIAS (Trierer Forschungsgruppe für Abhängigkeitsstörungen und Suchtmittelmissbrauch), einem seit über 35 Jahren existierenden, losen kollegialen Verbund, wurden die wesentlichen Grundlagen meiner fachlichen Interessen und Schwerpunkte gelegt und kontinuierlich gefördert. In verschiedenen Konstellationen der vier Mitglieder dieses Netzwerks wurden viele Forschungsthemen verfolgt, vertieft und publiziert. Diese gegenseitige Bereicherung – jenseits aller funktionalen Zielsetzungen – ist etwas Wertvolles und ich danke Michael Klein (Professor an der Katholischen Hochschule NRW in Köln), Joachim Funke (Professor an der Universität Heidelberg) und insbesondere Reinhold Scheller (Professor an der Universität Trier, im Ruhestand) dafür. Allen diesen Menschen möchte ich für ihr Vertrauen und ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit danken, diese Erfahrungen fließen in dieses Buch mit ein und machen es in dieser Form erst möglich. Sie, lieber Leser, haben damit einen kurzen zusammenfassenden Einblick erhalten in meinen Erfahrungshintergrund und meine fachlichen Interessen und können so meine Ausführungen im Folgenden entsprechend einordnen.

Keine Leistung ist denkbar ohne Unterstützung im Alltagsumfeld: meinem Mann Michael Schwarz ein herzliches Dankeschön für seine Geduld, emotionale und alltägliche Unterstützung und die Bereitschaft, auf gemeinsame Freizeitstunden zu verzichten; Kerstin Walkenbach Dank für die tatkräftige Hilfe in der technischen Erstellung des Manuskripts und dass sie mir im Arbeitsalltag immer wieder einmal den Rücken freigehalten hat; den Mitarbeitern beim Kohlhammer Verlag und hier insbesondere Frau Anita Brutler und Frau Hanna Laux sei Dank für die freundlich-geduldige und kompetente Unterstützung. Des Weiteren gilt mein Dank den Herausgebern der Reihe Sucht: Risiken – Formen – Interventionen, die mit ihren Anregungen an einigen Stellen zur Schärfung des Textes beigetragen haben.

1     Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch das generische Maskulinum verwendet. Es schließt – soweit nicht anders vermerkt – sowohl Frauen als auch Männer ein. Alle Leserinnen werden um Verständnis gebeten.

 

 

 

1

Womit die Reise beginnt

 

 

In der Reihe Sucht: Risiken – Formen – Interventionen sollen alle relevanten Themen im Umfeld der Abhängigkeitsstörungen und suchtnaher Verhaltensstörungen einschließlich der bewährten Behandlungsansätze aufgegriffen werden. Warum hier ein Band »Fallkonzeption und Therapieplanung«, und dies im Track Grundlagen? Gibt es nicht schon genügend Bücher im Rahmen der allgemeinen Psychotherapie oder der medizinischen Rehabilitation, die sich (auch) mit Methoden der Therapieplanung beschäftigen? Und gar die »Fallkonzeption«? Bedarf diese einer eigenständigen Betrachtung? Ergibt sie sich nicht quasi im Verlaufe einer Behandlung von selbst? Sind die therapieschulenspezifischen Störungs- und Behandlungsmodelle nicht die ausreichende Grundlage? Reichen das intuitive Wissen und die Erfahrung des Behandlers nicht aus, um darüber hinausgehend handlungsleitende Bilder von der Situation und Person des Patienten zu entwickeln? Bevor Sie weiterlesen, lieber Leser: Aus meiner Bewertung und Erfahrung heraus stellen eine durchdachte, hypothesenentwickelnde und -testende Therapieplanung sowie eine auf das Individuum bezogene, reflektierte Fallkonzeption von Anfang an Voraussetzungen einer gelingenden Intervention dar und sie ergeben sich nicht wie von alleine im Prozess. So wie sich die Arbeitsbeziehung mit dem Patienten entwickelt und zu gestalten ist, so wird auch die Fallkonzeption, d. h. die Vorstellung davon, wie Probleme sich im Leben des Patienten entwickeln konnten und sie sein Leben beeinflussen, differenzierter und aussagefähiger werden. Daraus lassen sich Notwendigkeiten und Chancen ableiten, wie eine angemessene und für den Patienten ökonomische Intervention aussehen könnte, um eine Behebung seiner Probleme oder eine Verbesserung seiner Lage und Befindlichkeit zu erzielen.

Eine schrittweise sich aus den Bedarfen, Störungsbereichen und Motivationen des Patienten aufbauende Therapieplanung beinhaltet auch, dass wir uns an vielen Stellen des Behandlungsprozesses immer wieder gemeinsam mit dem Patienten vergewissern, ob wir an den vereinbarten Zielen und mit der Absicht der Veränderung dysfunktionalen Erlebens und Verhaltens arbeiten bzw. uns mit dem Aufbau hilfreicher, für den Patienten zielführender Verhaltensweisen beschäftigen. Im Sinne eines test-operate-test-Prozesses (prüfen – handeln – prüfen) können so immer wieder Kurskorrekturen vorgenommen werden, Ziele eventuell angepasst und Hindernisse für das Fortschreiten erkannt und überwunden werden. Einer selektiven und differentiellen Diagnostik mithilfe objektiver, reliabler und valider Instrumente kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Dies erhöht die Sicherheit für Patient und Behandler, gute, belastbare und nachvollziehbare Grundlagen für die Intervention zu schaffen und beizubehalten und deren Ergebnisse im Prozess und zum Abschluss einzuschätzen.

Definition

Rekursives Vorgehen im Prozess durch test – operate – test (Feststellung des Ist-Zustandes – Handlung – Feststellung des Ergebniszustandes) ermöglicht Kurskorrekturen, falls erforderlich.

Auch der Therapeut selbst wird davon profitieren, immer wieder eine eigene interne Reflektion des gemeinsamen Arbeitsprozesses für sich vorzunehmen. Es wird für den Behandler nützlich sein, im Sinne der Orientierung an den Patienteninteressen und am Auftrag, aber auch in der Prüfung und gegebenenfalls Reduzierung der emotionalen Belastung für ihn selbst. Diese besteht – neben der fachlichen Herausforderung, die geeigneten Schritte mit dem Patienten zu planen, umzusetzen und diese zu begleiten – wesentlich auch darin, seine eigenen Gefühle und Empfindungen als wichtige Werkzeuge in der Interaktion mit dem Patienten wahrzunehmen und einzuordnen. Hierbei ist es wichtig, ein Gespür dafür zu behalten, die Befindlichkeit des Patienten und dessen emotionale Lage angemessen zu berücksichtigen, ohne die erforderliche Trennung zwischen eigenen Emotionen und denen des Gegenübers aufzugeben (sogenannte doppelte Emotionsregulierung; s. a. Fiehler, 1990; Witte & Petersen, 2011). Gerade in der Arbeit mit suchtkranken Menschen haben es Behandler immer wieder mit besonderen Herausforderungen zu tun, da hier erneuter Substanzkonsum, »süchtige« beziehungsgestaltende und -beeinflussende Verhaltensweisen beim Patienten und in seinem sozialen Bezugssystem, aber auch die tiefe Not und Verzweiflung von Patienten und Angehörigen angesichts oft scheinbar auswegloser Lebenssituationen einen erheblichen emotionalen Einfluss auf den Behandler ausüben. Einem solchen Einfluss süchtiger Systemdynamiken sind auch Behandler in akzeptierenden Therapiekontexten ausgesetzt, wenn auch mit etwas anderen inhaltlichen Prägungen.

Eine Quelle emotionaler Belastung, Auslastung, manchmal sogar Überforderung für Behandler in psychotherapeutisch orientierten Kontexten besteht u. a. darin, dass der Therapeut zur Realisierung der hochwirksamen unspezifischen Wirkfaktoren einer therapeutischen Intervention (z. B. Empathie, Wertschätzung und Kongruenz/Echtheit; vgl. auch Hadley & Strupp, 1983) einerseits in der Interaktion mit dem Patienten eine mitempfindende und respektvolle Haltung umsetzen muss. Dabei darf er andererseits den Blick für die Verstrickungen und Hemmnisse beim Patienten nicht verlieren und insbesondere die eigene emotionale Beteiligung bei auch für den Therapeuten relevanten Lebensthemen in die Arbeitsbeziehung nicht ungünstig einfließen lassen. Diese besondere Thematik des Schutzes vor Überlastung und Burn out des Therapeuten wird noch verschiedentlich in diesem Buch besprochen. Eine unterstützende Fallkonzeption und Sicherheit gebende Therapieplanung sowie ein kontinuierlich begleitender Evaluationsprozess sind wichtige Faktoren zum Schutz des Therapeuten und damit letztlich auch zum Schutz des Patienten. Wenn wir therapeutisch arbeiten, wird erfahrungsgemäß etwa ein Viertel der Arbeitszeit auf diese vorbereitenden und nachbereitenden Inhalte entfallen (auch im Sinne eines briefings bzw. debriefings für den Therapeuten). Daher sollten Personalberechnungen in Institutionen oder Sollstellen- und Wirtschaftsplänen immer auch diese Aspekte der therapeutischen Arbeit mit veranschlagen, um eine fachlich qualifizierte Behandlung sicherstellen zu können sowie die Psychohygiene der Mitarbeiter bzw. der Behandler ausreichend zu unterstützen.

Merke

Vor- und Nachbereitung einer therapeutischen Arbeit als »Rüstzeiten« dienen der Verlaufskontrolle und der Burnout-Prophylaxe und damit der Qualität. Sie brauchen (Arbeits-)Zeit.

Therapieplanung und Fallkonzeption erfordern je nach therapeutischer Ausrichtung verschiedene Blickwinkel, und ihre Passungen für Patient und Problem sind entscheidende Voraussetzungen zu jedem Zeitpunkt einer erfolgversprechenden therapeutischen Herangehensweise. Diese Faszination und Wertschätzung für die Bedeutung eines übergeordneten Rationalen und einer stützenden Struktur für jede therapeutische Arbeit mit einem Patienten, gleichzeitig aber auch deren Potential für eine gesunde, professionelle Haltung des Behandlers wird sich als roter Faden durch die inhaltlichen Darstellungen ziehen.

1.1       Fallkonzeption und Therapieplanung als Orientierung

Die hier verwendeten Fallbeispiele, die der Illustration dienen, werden Ihnen, wenn Sie im Suchtbereich arbeiten, sicher in ihren Konstellationen vertraut vorkommen. Es wird so vorgegangen, dass zunächst die im Überweisungskontext auftretenden Informationen gegeben werden, gefolgt von weiteren Informationen im Verlauf einer sich entwickelnden Interventionskette. So begegnen wir im weiteren Text den Patienten »wie im richtigen Leben« eines Behandlers. Allmählich werden Informationen, Fakten und Erfahrungen im Behandlungsprozess hinzukommen. In diesem Maße werden sich auch Fallkonzeption und Therapieplanung Schritt für Schritt entwickeln und verändern. Ihre gegenseitige Beeinflussung und Bedeutung füreinander kann damit besser deutlich gemacht werden (image Anhang zur Vorgeschichte der Patienten).

Als ersten Patienten möchte ich Ulli vorstellen. Er war 24 Jahre alt und hatte bereits zwei stationäre Entwöhnungsbehandlungen absolviert, als er in die Suchtberatungsstelle seines Wohnortes kommt. Nun sitzt Ulli in der offenen Sprechstunde der Suchtberatungsstelle in O. der Beraterin gegenüber und weiß selbst nicht so genau, was er ihr sagen soll. Es geht ihm nicht so gut in den letzten Wochen, er hat in seinen Augen aber schon endlose Therapien hinter sich (zwei stationäre Entwöhnungsbehandlungen in den letzten zwei Jahren) und meint, er solle es eigentlich wissen, worauf es nun ankomme. Allerdings befürchtet er, dass er die Kraft nicht dauerhaft aufbringen können wird, durchzuhalten. Durchhalten heißt für Ulli, keinen Rückfall mehr zu haben. Nach der ersten stationären Therapie war er quasi schon auf der Heimfahrt rückfällig geworden, wie er auf Nachfrage, verbunden mit viel Selbstanklage, wortreich mitteilt. Damals habe er die empfohlene Adaptionsmaßnahme nicht annehmen wollen, war wieder ins Elternhaus zurückgekehrt und hatte bereits Stoff auf der Heimfahrt angeboten bekommen, gekauft und dann am ersten Abend zuhause konsumiert. Beim letzten Mal habe er im Anschluss an die stationäre Maßnahme die Adaption durchgeführt und darüber einen befristeten Arbeitsplatz aus dem Praktikum heraus erhalten. Dieser stehe jetzt auf dem Spiel, da er schon ein paar Mal krank gefeiert habe und es langsam kritisch würde. Er sei zwar noch nicht rückfällig, habe noch nicht konsumiert und auch keinen Stoff direkt verfügbar, erlebe jedoch immer wieder Suchtdruck, vor allem abends, wenn er alleine in seiner Wohnung sitze und über seine Situation nachgrüble. Ein Freund von ihm, den er in der Adaption kennen gelernt habe und mit dem er losen Kontakt in der neuen Umgebung hält, habe ihm jetzt dringend geraten, sich Hilfe zu holen.

Der erste Kontakt mit dem Patienten bietet bereits eine Fülle an Informationen über ihn und seine Motivationen und Überzeugungen an. Bevor eine konkretere Faktensammlung erfolgt, macht es in den meisten Situationen sehr viel Sinn, etwas mehr Zeit für die aktuelle Befindlichkeit und die Wünsche des Patienten aufzubringen. Dies wird in der Regel auch eine Milderung der negativen Befindlichkeiten als erste Zielsetzung umfassen, teilweise schon sogar mit anstoßen. So schlägt Kanfer in seinem 7-Phasenmodell (image Kap. 2.1.; Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 2012) vor, gerade in den Beginn einer therapeutischen Arbeitsbeziehung bereits entlastende Aspekte bewusst mit einzubeziehen sowie unmittelbare Erfahrungen, die die Selbstwirksamkeitserwartung und die Hoffnung auf Veränderung beim Patienten positiv beeinflussen. Es wird im Fall von Ulli wahrscheinlich sinnvoll sein, ihn zunächst bei der Suche nach Hilfe zu unterstützen. Wertschätzung gegenüber dem, was er in der letzten Zeit geleistet hat – die erneute Behandlung und Adaption erfolgreich abzuschließen, einen Arbeitsplatz zu bekommen und die Signale rechtzeitig aufzugreifen, dass es Schwierigkeiten geben könnte diesbezüglich – steht neben der Empathie für die Sorge und die Angst davor, das Erreichte wieder zu verlieren. Ulli benennt selbst die Rückfallangst als ein Zeichen seiner aktuellen Überforderung mit der Situation. Aus dieser anfänglichen Interaktion ergeben sich erste Veränderungsziele, zu deren Konkretisierung der Therapeut im Sinne der Unterstützung und Entlastung für den Patienten z. B. folgende Vorgehensweisen vorschlägt: Wie kann Ulli sich Klarheit verschaffen über die Situation am Arbeitsplatz (erkannte Bedrohung ist nur halb so kritisch wie vage Befürchtungen), welche Ressourcen stehen ihm zur Verfügung, um die Situation dort gut zu bewältigen und was steht dem entgegen. Wie können die Hindernisse angegangen werden, welche Vorschläge hierfür hat der Therapeut, welche Schwierigkeiten hat der Patient bei deren Umsetzung zu erwarten, gibt es Alternativen? Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die Angst vor dem Rückfall. Was fehlt Ulli hier, wie kann kurzfristig ein schützender Umgang damit gefunden werden, wer kann Ulli in seinem Alltag dabei helfen (wie sieht sein derzeit verfügbares, unterstützendes soziales Netzwerk aus)? Wie hat er selber solche Risikosituationen bislang gemeistert (Rückgriff auf bereits erfahrene erfolgreiche Bewältigungen)? Könnte eine medikamentöse Unterstützung hilfreich sein in der akuten Krisensituation? Hierzu wäre die Expertise und Begleitung durch einen möglichst in der Suchtbehandlung erfahrenen ärztlichen Kollegen bzw. Facharzt nötig.

Im Dienste der Beziehungsentwicklung steht auch die frühzeitige Rollenklärung für Patient und Therapeut. Letzterer wird zu Beginn bestenfalls sein Repertoire in der Unterstützung des Patienten für dessen Problemlösung klar definieren, aktiver in der Beziehungsgestaltung Verantwortung übernehmen und dem Patienten die Erfahrung vermitteln, dass er erstens über Kompetenzen und die Bereitschaft verfügt, ihn zu unterstützen, und zweitens seine Loyalität im Sinne der Erreichung von Veränderungen verdeutlichen. Dies bedeutet, sich als Therapeut schon sehr frühzeitig im klaren zu sein, ob ich mit diesem Patienten voraussichtlich erfolgreich werde arbeiten können, weil ich sowohl Interventionen zur Verfügung habe, die dem Patienten bei der Veränderung helfen können, als auch eine erste Idee von der Person des Patienten sich soweit herauskristallisiert hat, dass ich Hilfe sowohl anbieten kann als auch, dass diese – zunächst ganz allgemein – angenommen werden kann. Im Falle von Ulli hat dieser mit seinem Erscheinen in der Suchtberatungsstelle seine grundsätzliche Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, gezeigt. Allerdings ist es noch kaum einzuschätzen, zu welchen Veränderungen und damit zu welchem persönlichen Einsatz Ulli bereit ist oder sich in der Lage sieht. Wir wissen zu diesem frühen Zeitpunkt der Zusammenarbeit, dass Ulli bereits ausgeprägte Behandlungserfahrung mit Mißerfolgen und (Teil-)Erfolgen hat, sowie einen hohen Leistungsanspruch dahingehend, das umzusetzen, was er sich vorgenommen hat und dass er sich am Rande des Scheiterns sieht. Er hat mit der Adaptionsmaßnahme für sich einen Weg gewählt, sich auf (erwachsene) eigene Füße zu stellen. Er möchte Abstinenz aufrecht erhalten. Die Loslösung vom Elternhaus in Richtung Verselbständigung ist in ersten Schritten geglückt. Nach anfänglich erfolgreichen Umsetzungen (und der möglichweise etwas euphorischen Sicht der Möglichkeiten) hat ihn der raue Alltag nun eingeholt.

Merke

Die Zusammenarbeit beginnt mit der Schaffung günstiger Rahmenbedingungen, wozu auch die Rollenklärung gehört.

Immer wieder kommen Menschen im Laufe ihres oft jahrelang andauernden Rekonvaleszenzprozesses in der Bewältigung einer so komplexen Störung wie der Suchterkrankung in solchen äußerlichen Selbstwertkrisen ins Hilfesystem zurück. Dies ist zunächst ein gutes Zeichen, belegt es doch, dass die bisherige Unterstützung angenommen und als hilfreich bewertet wurde. So kann ein Transfer aus den vorherigen, (teil-)erfolgreichen therapeutischen Erfahrungen in die aktuelle Situation erfolgen (nicht von ganz vorne anfangen müssen – auch nicht nach erneutem Konsum). Andererseits werden hier niedrigschwellige Angebote benötigt, die ein Wiederaufsuchen von spezifischer Hilfe nicht als Scheitern oder Rückschritt markieren und die einen erneuten Substanzkonsum als einen Teil der Störung begreifen können. Außerdem müssen diese Angebote so schnell zur Verfügung stehen, dass aus einer Krise keine Katastrophe entsteht. An dieser Stelle erfüllt auch die Selbsthilfe im Suchtbereich eine ganz wichtige Funktion. Allerdings erreicht sie – wie aus Nachuntersuchungen belegt ist – nur einen kleineren Teil der Behandelten gerade in den ersten Monaten nach Beendigung einer Therapie, in einer Zeit also, in der die Rückfallwahrscheinlichkeit statistisch gesehen am höchsten ist.

In der ersten Fallkonzeption wird das Bild von Ulli deutlich als ein Mensch, der in einer aktuellen Krise steckt, Hoffnungen und Erwartungen an ein Beratungs- oder Behandlungssetting knüpft und auf zahlreiche Ressourcen zurückgreifen kann. Bezüglich der Indikationsstellung geht es nun in erster Linie darum, welche Rahmenbedingungen für Ulli hilfreich sein können und auch realitätsangemessen in der Umsetzung sind.

Nach zwei kurz hintereinander absolvierten stationären Entwöhnungsbehandlungen und dem erfolgreichen Abschluss der Adaptionsmaßnahme verfügt Ulli wahrscheinlich prinzipiell über einiges an Veränderungswissen und wird auch über seine Probleme sprechen können. Ein Arbeitsplatz ist vorhanden, wenn auch befristet und aktuell nicht stabil gesichert. Das soziale, unterstützende Netz von Ulli ist vergleichsweise klein, da er den Lebensmittelpunkt verändert hatte, auch, um einen neuen – und ersten selbständigen – Anfang zu machen. Diese Überlegungen zusammengenommen, könnten dafür sprechen, zunächst eine ambulante Unterstützung anzubieten. Dies kann entsprechend der Indikationskriterien der medizinischen Rehabilitation z. B. eine ambulante Rehabilitationsmaßnahme sein, die es Ulli erlaubt, weiterhin berufstätig zu sein und dennoch eine abhängigkeitsspezifische Unterstützung etwa zweimal pro Woche zu erhalten (störungsspezifische Aspekte berücksichtigende Gruppen- und Einzelgespräche). Vorteilhaft wirkt hier auch die Einbindung in eine Behandlungsgruppe, die in eine Erweiterung des sozialen Stützsystems für Ulli münden kann und deren Wirkungsweise er bereits kennt.

Diese ambulanten Maßnahmen mit der Zielsetzung der Vermeidung bzw. Reduktion von Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit, der verstärkten Integration im Beruf, am Arbeitsplatz und im gesellschaftlichen Leben haben zur Zeit eine Regeldauer von sechs bis neun Monaten, je nach Intensität und Erforderlichkeit der Leistungen. Wird die aktuelle Rückfallgefährdung von Berater und Klient als sehr hoch eingeschätzt, kann es auch sinnvoll sein, zunächst mit einer (kürzeren) stationären Maßnahme als Auffangbehandlung (in der Regel derzeit bis zu acht Wochen bei Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit bzw. bis zu 13 Wochen bei Abhängigkeit von illegalen Drogen) zu beginnen, um dann am Wohnort eine längerfristige ambulante Maßnahme anzuschließen. Sogenannte Kombinationsbehandlungen bei Abhängigkeitsstörungen, die bei vorliegender Gefährdung oder Beeinträchtigung in Arbeitsleben, Beruf und gesellschaftlicher Integration als medizinische Rehabilitationsmaßnahme durchgeführt werden können, beginnen in der Regel mit einer stationären Behandlung von acht (bei Drogenabhängigkeit derzeit 12–14) Wochen und einer anschließenden ambulanten Fortführung von sechs bis neun Monaten (s. a. Indikationsempfehlungen der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung, Anlage 3 der Vereinbarung »Abhängigkeitserkrankungen« vom 04.05.2001, www.deutsche-rentenversicherung.de).

Zwar berichtet Ulli von Suchtdruck und der Angst vor einem Rückfall, wobei er hier sicher auch einer auf seinen Kenntnissen aufbauenden Maßnahme zur Rückfallprophylaxe bedarf. Seine dahinterliegende Problematik schildert er allerdings eher in Form der Überforderung, mit seinen negativen Befindlichkeiten, sozialen, stressauslösenden Ereignissen am Arbeitsplatz und seinem Kränkungserleben zurecht zu kommen. Je nachdem, wie diese akute Befindlichkeitsstörung von Ulli einzuschätzen ist, kann sie auch Hinweise auf eine andere, nicht unbedingt suchtspezifische Möglichkeit der Intervention geben. Diese besteht in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung in Form der Durchführung einer Behandlung durch niedergelassene ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten und wird als Krankenbehandlung von der zuständigen Krankenkasse nach Sozialgesetzbuch V bezahlt. Hier ermöglicht der Leistungskatalog bis zu zehn Behandlungsstunden (in der Regel einmal pro Woche) verhaltenstherapeutisch oder tiefenpsychologisch orientiert bis zur Stabilisierung der Abstinenzfähigkeit (unter Einhaltung von Konsumkontrollen über den Hausarzt o. ä. und deren negativem Befund im Sinne der Konsumfreiheit). Währenddessen und in Folge kann in einer regulären Weiterbehandlung die psychische Problematik bzw. die einer Rückfallgefährdung zugrunde liegende psychische Störung behandelt oder bei nicht stabiler Abstinenzsicherung eine suchtspezifische medizinische Rehabilitationsmaßnahme eingeleitet werden. Leider gibt es zurzeit in Deutschland häufig lange Wartezeiten auf einen ambulanten Psychotherapiebehandlungsplatz und zum Teil ausbaufähige Fachkenntnisse über die Behandlung von komorbiden Störungen unter Einbeziehung der Abhängigkeitsstörung bei niedergelassenen Psychotherapeuten. Für Ulli wird es hilfreich sein, verschiedene Alternativen mit Für und Wider abzuklären und dann eine Wahl zu treffen sowie Schritte zur Umsetzung einzuleiten. In seinem Fall schlägt die Beraterin in der Suchtberatungsstelle eine Indikationsklärung über einen kooperierenden Psychologischen Psychotherapeuten vor und regt Ulli an, sich zu überlegen, ob er zur Unterstützung für eine gewisse Zeit die in der Beratungsstelle sich regelmäßig treffende Selbsthilfegruppe besuchen möchte. Gleichzeitig bietet sie sich als Fallmanagerin für Ulli an, er kann sie sowohl bezüglich möglicher Unterstützungsangebote als auch im Hinblick auf u. U. erforderliche Beantragung von Leistungen um Rat fragen, und sie wird ihn hierin im Verlauf weiter unterstützen.

Merke

Behandlung der Suchtstörung und komorbider Störungen als ambulante Psychotherapie setzt eine stabile Abstinenzfähigkeit spätestens nach zehn Behandlungsstunden voraus.

Aufgrund der therapeutischen Vorerfahrungen von Ulli gelang es diesem recht schnell, sich auf die Angebote der Beraterin einzulassen und gemeinsam eine Abwägung seiner Situation und die daraus folgenden Gedanken zu sinnvollen Interventionen vorzunehmen. Ein Patient, der zum ersten Mal hilfesuchend aufgrund einer mit Suchtmittelkonsum verknüpften Problematik ins Versorgungssystem kommt, wird dies häufig nicht bei einem auf Suchtmittelabhängigkeiten spezialisierten Berater oder Behandler tun. Umso wichtiger sind die Kenntnis über diese und der wache Blick der Behandler im Primärversorgungssystem der Krankenbehandlung auf mögliche konsumassoziierte Beeinträchtigungen oder Folgen. Nur so können lange Erkrankungsdauern mit entsprechenden psychischen, körperlichen und sozialen Schäden und eine lange Geschichte von Fehlbehandlungen vermieden werden. Dies betrifft insbesondere die in Deutschland legalisierten Substanzen Alkohol, Tabak und psychotrope Medikamente, da sie die größte Verbreitung haben und aufgrund der legalen Beschaffungs- und Konsumbedingungen nicht wie bei illegalisierten Substanzen allein deswegen schon justiziabel in Erscheinung treten. Auch zu jeder Krankheits- und Behandlungsanamnese bei anderen psychischen Störungen gehört die Erfassung von Konsumgewohnheiten bezüglich psychotroper Substanzen inzwischen zwingend dazu. Oft sind beginnende oder bereits manifeste Abhängigkeitsstörungen nicht leicht als solche zu identifizieren und werden von den Betroffenen, die eine ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung suchen, nicht als solche angegeben oder erkannt.

1.2       Grundüberlegungen zum Zusammenhang zwischen Fallkonzeption und Therapieplanung

Das Thema Therapieplanung macht es unumgänglich, auch Überlegungen zur sogenannten Fallkonzeption einzubeziehen. Unter Fallkonzeption verstehen wir den Blick auf den ganzen Menschen, der aufgrund einer psychischen Störung (z. B. Sucht/Abhängigkeitserkrankung) oder von Verhaltensauffälligkeiten (z. B. dysfunktionale Lebensgestaltung oder auffällige Verhaltensweisen im persönlichen, sozialen und/oder beruflichen Kontext) Hilfe sucht. So wie sich der Behandler an die jeweilig individuellen Aspekte einer Erkrankung, Störung oder Beeinträchtigung diagnostisch herantastet, so wird die Fallkonzeption als Grundlage jeder Behandlung von Schritt zu Schritt und in dem Maße, wie er seine Patienten/Klienten und ihr Umfeld besser kennen lernt, immer komplexer, vielschichtiger und realitätsnäher werden. Da es kaum theorie- oder annahmefreies therapeutisches Arbeiten geben dürfte, ist der Sichtbarmachung und Reflektion der therapeutischen Grundannahmen eine hohe Bedeutung zuzumessen. In der Konzeptioneiner behandlungsbedürftigen, krankheitswertigen Störung liegen andere Implikationen für die Arbeit mit dem Patienten als unter der Annahme einer sozialen Auffälligkeit, einer Entwicklungsverzögerung oder einer primär somatischen Erkrankung. Eine wesentliche Aufgabe der Dokumentation – neben der rechtlichen Absicherung des therapeutischen Handelns in Form des Nachweises der Interventionsschritte und Reaktionen des Patienten hierauf – ist eben auch diese tiefergehende konzeptuelle Einordnung in Form der Bearbeitung/Nacharbeit des Therapeuten in für ihn selbst und andere (Mit-)Behandler nachvollziehbarer schriftlicher bzw. visualisierter Form. Diese hilft dabei, die Konzeption der Arbeit mit dem Patienten zu reflektieren und zu bewerten und führt dadurch zu mehr Klarheit und Verhaltenssicherheit des Therapeuten. Hierzu gehören als Voraussetzungen ein gutes Wissen um die eigene Rolle, die Verantwortlichkeiten und Grenzen innerhalb der Rahmenbedingungen und die Kenntnis des Versorgungssystems und seiner Mitspieler insgesamt.

Merke