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ÜBER DIE AUTORIN

Dorthe Nors wurde 1970 in Herning, Dänemark, geboren und studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Aarhus. Sie ist die Autorin mehrerer Romane, Kurzgeschichten und Novellen. Auf Deutsch erschien 2014 ihr international gefeierter Erzählband Handkantenschlag, im selben Jahr wurde sie mit dem Per-Olov-Enquist-Preis für junge Nachwuchsliteraten von europaweiter Ausstrahlungskraft ausgezeichnet. Dorthe Nors lebt an der dänischen Westküste.

ÜBER DAS BUCH

Als sich Sonja mit über vierzig endlich bei der Fahrschule anmeldet, verspricht sie sich davon mehr Freiheit. Nur bereitet ihr das Schalten größere Probleme als gedacht – und überhaupt läuft ihr Leben gerade nicht rund. Immer mehr sehnt sie sich an die idyllischen Orte ihrer Kindheit zurück: Wilde Singschwäne und Zugvögel will sie sehen, keine Tauben und Plastikeulen auf Nachbarbalkonen! Doch was muss passieren, damit Sonja ihr Schicksal in die Hand nimmt?

»Dorthe Nors erinnert an den Grund, warum man liest: um Menschen wie Sonja zu begegnen.«

Nordjyske

»Dorthe Nors weiß, wie sie die kleinen Momente einfängt und mit ihren Worten unvergesslich macht.«

Oprah Winfrey

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1

Sonja sitzt in einem Auto, und sie hat das Wörterbuch dabei. Es ist schwer und liegt in der Tasche auf dem Rücksitz. Sie ist halb fertig mit der Übersetzung des neuesten Gösta Svensson, dessen Niveau schon im vorigen Krimi am Sinken war. Jetzt kann ich es mir leisten, dachte sie, suchte im Internet nach Fahrschulen und meldete sich bei Folke in Frederiksberg an. Der Unterrichtsraum war klein, blau gestrichen und roch nach altem Rauch und Umkleide, aber sie hat die Theorie bestanden. Außer Folke saß nur noch einer in Sonjas Alter dort. Er hatte den Führerschein wegen Alkohol am Steuer verloren und blieb während des gesamten Kurses für sich, sodass Sonja zwischen all den Teenagern umso mehr hervorstach. Beim Erste-Hilfe-Kurs musste sie das Unfallopfer spielen. Der Kursleiter zeigte auf die Stelle an ihrem Hals, wo sie nachfühlen sollten, ob sie noch atmete. Seine Finger strichen ihr übers Gesicht und fuhren in ihren Kragen. Dann packte er sie um den Oberkörper und führte das Heimlich-Manöver an ihr vor. Sie erstickte fast, doch das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass sie die Übungen wiederholten. Es war demütigend, von einem Achtzehnjährigen in die stabile Seitenlage gebracht zu werden. Ihr wurde schwindlig, aber keiner sollte es merken. Du bist ein Fighter, hat Mutter immer gesagt, und das stimmt, Sonja gibt nie auf. Vielleicht sollte sie, aber sie tut es nicht. Dann drückt ihr dreißig Mal fest auf den linken Brustkorb und fühlt nach, ob sie wieder atmet, sagte der Kursleiter.

Atmen, dachte Sonja, darauf kommt es an, und bestand die Theorie. Sie hat mehr Probleme mit der Praxis, deshalb sitzt sie nun im Auto. Sie freut sich, dass sie so weit gekommen ist, doch es reicht nicht, sie braucht Übung. Sonjas Schwester Kate und deren Mann Frank haben den Führerschein in den Achtzigern gemacht. Daheim in Balling ließ man die Autoreifen qualmen und fuhr Stoppelfeldrennen in tiefergelegten Schrottwagen. Allen Gefahren, die Kate heute scheut, hat sie als Teenager ins Auge geblickt. Sie war Beifahrerin in ausrangierten Autos, Femme fatale beim Scheunentanz und der Mittelpunkt von Vereinsheimen und Turnwettkämpfen. Sicher war sie oft betrunken nach Hause gefahren. In Balling nimmt man nachts den Schleichweg hinter der Kirche. Sonja schleicht ebenfalls, aber nur, weil sie so schlecht fährt. Das Auto als Mechanismus ist ihr ein Rätsel, was die Fahrstunden problematisch macht. Das größte Problem jedoch sitzt neben ihr. Es heißt Jytte und ist Kettenraucherin. Die Wände der Fahrschule sind mit Zigarettenrauch galvanisiert, von dem ein Großteil durch Jyttes Lunge gezogen ist. Wenn Sonja kommt, sitzt Jytte in Folkes Büro, ist auf Facebook oder blättert in den Akten der Fahrschüler. Melanie, die mit dem Pferdeschwanz, hat kein Attest bekommen, ruft sie Sonja zu. Sie hat was mit den Nerven, wusstest du das?

Sonja wusste es nicht. Auch sie hat kein Attest bekommen, weil mit ihren Ohren etwas nicht stimmt. Bei bestimmten Bewegungen kann sie die Balance nicht halten, das hat sie von ihrer Mutter geerbt. Lange glaubte sie, sie wäre davon verschont geblieben, bis ihr zum ersten Mal schwindlig wurde. Es nennt sich »Benigne paroxysmale positionale Vertigo«, doch das ist zu viel Latein für den Ort, aus dem Sonja stammt. Außerdem hat sie es im Griff. Es soll sie an nichts hindern, deshalb sitzt sie nun im Auto. Gösta liegt auf dem Rücksitz, und Jytte sitzt neben ihr.

Weil Jytte so viel auf dem Herzen hat, hat sie keine Zeit, Sonja das Schalten beizubringen. Seit sechs Monaten lernt Sonja bei Jytte, und sie findet noch immer nicht den richtigen Gang. Jytte nutzt die Gelegenheit und übernimmt das Schalten für sie, denn wenn sie für Sonja die Gänge wechselt, muss sie nicht das Thema wechseln: Ihr Sohn heiratet, ihre Enkel sollen irgendwelche fürchterlichen Namen bekommen, ihre Schwiegertochter ist eine dumme Gans, und die Mutter ihres Schwagers hat einen neuen Mann, dessen Schwester gerade gestorben ist.

»Thailänder können kein Auto fahren.«

Sonja und Jytte halten an einer Ampel in Frederiksberg. Der Rauch der letzten Zigarette hängt noch im Auto und mischt sich mit dem Geruch von Sonjas Schweiß. Sie blinkt rechts, Jytte hat die Hand an der Gangschaltung, und Sonja hält nach Radfahrern Ausschau.

»Ich hab jetzt eine, die heißt Pakpao. Pakpao? GRÜN! ZWEITER GANG, ZWEITER GANG, FAHRRAD

Jytte schaltet in den zweiten Gang, während Sonja dem Radfahrer ausweicht.

»Sie ist mit einem alten Sack verheiratet. Er ist mindestens fünfundsiebzig und hat sich bei mir im Büro aufgeblasen.«

Sie nähern sich der Innenstadt, der Verkehr fließt, sodass Jytte den vierten Gang einlegt. Sie hat ihr eigenes Kupplungspedal. Gleichzeitig zeigt sie auf ein Delikatessengeschäft.

»Da gibt es leckere Sülze und warme Leberpastete mit Bacon und Cocktailwürstchen. Ich liebe Weihnachten, kann gar nicht genug davon kriegen. Magst du Weihnachten auch?«

Es ist Anfang August, und Sonja hat nicht den geringsten Sinn dafür. Weihnachten: Das sind Kates endlose Einkaufszettel und der Versuch, die Zeit zurückzudrehen, um den Schaden möglichst gering zu halten. Trotzdem nickt sie. Sie will Jytte nicht verärgern, denn schließlich ist sie die eigentliche Fahrerin. Außerdem stammt sie aus Djursland, aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Nimtofte. Ihrem Vater gehörte der örtliche Futtermittelhandel, der sich direkt gegenüber der Schule befand. In der Pause konnte Jytte zum Essen nach Hause laufen. Mit zwanzig bezog sie ein Zimmer im Kopenhagener Stadtteil Hvidovre, das dem kleinen Bruder des Dorfpolizisten gehörte. Der kleine Bruder selbst war auch bei der Polizei, und Jytte hatte schon immer eine Schwäche für Männer in Uniform. Jetzt wohnt sie im gesetzten Vorort Solrød, aber damals hieß es ausgehen und tanzen, bis man nicht mehr nach Mist roch.

Sonja kann kaum noch hören, dass Jytte aus Jütland stammt. Ihr Dialekt ist verschwunden, aber sie ist trotzdem schwer zu verstehen. »Links abbiegen« heißt linksap, »rechts abbiegen« rechtsap. Jytte macht es kurz, damit sie nicht das Thema wechseln muss.

»Du sprichst gar kein Jütisch mehr«, sagt Sonja.

»Du solltest mich – rechtsap – mal hören, wenn ich mit meiner Schwester telefoniere. GRÜNER PFEIL! LENK DOCH, FAHRRAD

Sonja biegt Richtung Vesterbro ab und fragt sich, wie sie klingt, wenn sie mit Kate telefoniert, was fast nie der Fall ist. Vor ihr liegt das Verkehrschaos der Istedgade, und Jytte erzählt, dass sie schwedische Adventsleuchter in den Fenstern mag. Und ordentlich Lametta soll an den Weihnachtsbaum, aber ihre Schwiegertochter hat etwas dagegen. Bei ihr muss alles am Baum weiß sein, was Jytte gar nicht versteht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Folke so viele Ausländer annimmt.

»Die können doch auf ihre eigenen Fahrschulen gehen«, sagt Jytte. »Sie verstehen nicht, was ich sage. Mit denen zu fahren – linksap –, ist lebensgefährlich.«

Sonja denkt an den Futtermittelhandel in Djursland. Daheim in Balling gab es auch so einen, gegenüber vom Konsum, den sie nur »Aage« nannten, weil der Besitzer so hieß. Heute gibt es in Balling keinen Kaufmann mehr, keinen Metzger, keine Post. Die Höfe haben einander aufgefressen, es gibt nur noch zwei, und wo früher Molkereiwagen, Klatschweiber und Knechte unterwegs waren, ist heute kaum noch Verkehr. Balling liegt wie ein zufälliger Klecks Zivilisation mitten in einem überdimensionalen Maisfeld, doch die Heide hinter dem Feld ist der wirtschaftlichen Effektivität entronnen. Dort leben die Singschwäne. In Balling sind die Landküchen noch groß wie Kantinen, obwohl heute kaum jemand in der Landwirtschaft arbeitet. Ein langer, alter Tisch für das abgewanderte Gesinde und am Fenster die neueren Essmöbel. Wenn einer kam, der hart gearbeitet hatte, musste man zusammenrücken. So sitzt Jytte auf der Bank und lässt die Beine baumeln, die nicht auf den Boden reichen. Es ist große Pause, und sie ist zum Essen nach Hause gerannt. Sie trägt rote Socken und einen karierten Rock. Ihre Mutter hat ihr eine Scheibe Weißbrot auf den Teller gelegt. Sie backt es selbst, es ist trocken, und Jytte streicht Margarine darauf. Dann nimmt sie ein Päckchen Puderzucker. Es knirscht. Es macht Spaß, das Pulver in die Margarine zu drücken, sie lässt sich Zeit. Nach dem Abbeißen horcht sie, wie der Puderzucker im Mund weiterknirscht. Er löst sich im Speichel auf, wird zu süßem Sirup. Da klingelt es auf dem Schulhof. Mutter ruft, dass sie zu spät kommt. Jytte schnappt ihr Brot und rennt hinaus über die Landstraße.

»BREMS DOCH, VERDAMMT! SIEHST DU NICHT DEN ZEBRASTREIFEN

Jytte hat gebremst und in den ersten Gang zurückgeschaltet. Sie halten an und sehen einen verschreckten Mann am Straßenrand.

»Du musst die Leute über die Straße lassen!«, sagt Jytte.

»Ich weiß«, sagt Sonja.

»Sieht aber nicht so aus«, sagt Jytte und nimmt den Fuß von der Kupplung. Erster Gang, zweiter Gang.

Jyttes Handy klingelt. Sie kreuzen die Vesterbrogade, dritter Gang. Jyttes Mann hat heute frei und findet die Fernbedienung nicht.

»SIE LIEGT IM KORB. JA, DEM KORB NEBEN DEN … (rechtsap, blink, blink doch, zum Teufel, rechtsap, langsam, LANGSAM!) Rippchen, glaube ich.«

Zwischen Schwärmen von glänzenden Fahrrädern fahren sie die Istedgade hinauf. Sonja sieht verschwommen, sie atmet kaum, aber an der Kreuzung zum Enghavevej biegt sie mehr oder weniger allein links ab. Jytte redet nicht mehr mit ihrem Mann, aber sie hat eine MMS von ihrer Schwiegertochter bekommen: Jyttes Enkel im Taufkleid. Ihre Stimme wird weich, sie will Sonja das Bild zeigen, aber Sonja möchte bis nach der Fahrstunde warten.

Als Fahrschüler legt man seinen Willen ab. Einmal zwang Jytte sie, einen Imbisswagen zu überholen, obwohl weiter vorne bereits eine Verkehrsinsel zu sehen war. Eine Verkehrsinsel und ein Imbisswagen. Sonja konnte nicht überholen, doch die Leute hinter ihr wurden ungeduldig und drängelten. Fahr doch, überhol!, rief Jytte. Sonja scherte auf die Gegenfahrbahn aus, überholte und lenkte so schnell wieder nach rechts, dass sie den Imbisswagen beinahe schnitt. Da hättest du fast ein Leben auf dem Gewissen gehabt, sagte Jytte hinterher. Die Scham sitzt Sonja noch immer im Nacken. Die Scham und die Angst, jemanden umzubringen. Sie fahren am Westfriedhof vorbei, und Jytte entscheidet, ihn zu umrunden.

»Ich mag den Westfriedhof«, versucht Sonja. »Besonders die alte Kapelle mit den zugenagelten Fenstern. Und die Allee mit den krummen Pappeln und den Teich. Da kann man schön im Gras liegen, ich gehe oft zum Lesen dorthin.«

Für Jytte ist Lesen etwas für Leute, die Ferien haben, und Friedhöfe sind für die Toten. Es gibt viele Tote in Jyttes Familie. Ein paar sind im Straßenverkehr umgekommen, andere an Krebs oder durch Arbeitsunfälle gestorben. Jyttes Mutter lebt noch, aber ihre Schwester hat eine Raucherlunge, und Sonja soll links abbiegen. Spiegel, Blinker, Schulterblick, Kupplung runter. Jytte legt den zweiten Gang ein, Sonja ordnet sich ein. Sie wählt die richtige Spur, was gar nicht so leicht ist, schließlich gibt es so viele. Die Ampel ist rot, Jytte schaltet in den ersten Gang. Rechts von ihnen steht ein Lieferwagen, der Fahrer spielt ungeduldig mit dem Gaspedal.

»Das sind Bimbos«, sagt Jytte und zeigt auf den Lieferwagen.

Die Ampel wird grün, Sonja fährt an. Der Lieferwagen fährt ebenfalls an und schwenkt vor Sonja nach links. Es ist verboten, von der rechten Spur links abzubiegen, das weiß Sonja, und Jytte weiß es auch. Sie streckt die Hand aus dem Fenster und zeigt dem Fahrer den Stinkefinger, während sie mit links auf die Hupe drückt. Das Fenster des Lieferwagens geht auf, beide bleiben mitten auf der Kreuzung stehen.

»KANAKEN!«, ruft Jytte.

»VERDAMMTE HURE!«, ruft der Lieferwagenfahrer.

Sonja denkt an den Friedhof. Sie liebt es, auf der Picknickdecke zu liegen und die Gräber der Ministerpräsidenten zu betrachten, während die Enten schnattern und das Dach der großen Kapelle in der Sonne glänzt. Es erinnert sie an das himmlische Jerusalem, oder an ein kleines, fernes Stück Dänemark. Dann ist der Verkehrslärm weit weg. Es duftet nach Eibe und Buchsbaum, und sie liegt in der Mitte von nirgendwo. Theoretisch könnte jederzeit ein Hirsch vorbeistolzieren. Sie hat Kaffee und Kekse mitgebracht und das Gedeck mit Efeu dekoriert. Die Toten machen keinen Lärm, und wenn sie Glück hat, schwebt ein Raubvogel über den Friedhof. Wenn sie dort liegt, kann sie allem ausweichen.