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DAVID • DAS HAUS DES ERINNERNS UND DES VERGESSENS

FILIP DAVID

Das Haus des Erinnerns und
des Vergessens

Aus dem Serbischen

von

Johannes Eigner

Und schließlich wird er uns – da er jedermann oder wer immer ist – als niemand im besonderen erscheinen. Und das führt uns zum ersten seiner Streiche zurück, der darin bestand, uns an seiner Existenz selbst zweifeln zu lassen.

Denis de Rougemont, Der Anteil des Teufels

Auf einmal kommst du drauf, dass es dich nicht gibt. Dass du in tausend Stücke zersplittert bist, und dass jedes Stück sein Auge, seine Nase, sein Ohr hat…ein Haufen Scherben…

Ljudmila Ulitzkaja, Ljudi nashego zarja

(Die Leute unseres Zaren)

Es gibt zur zwei Arten zu leben. Entweder so als wäre nichts ein Wunder oder so als wäre alles ein Wunder.

Albert Einstein

Lärm

Dieses Geräusch…es ist so oft da. Ein fahrender Zug. Die dahinrollenden Räder des Zuges. Anfangs konnte ich mir nicht erklären, woher dieser Lärm kommt. Er weckte mich immer wieder mitten in der Nacht. Ich stand jedes Mal auf, öffnete die Fenster und versuchte, dessen Ursprung auszumachen. Vergebens. Es gab in der Nähe keine Gleise, keinen Bahnhof.

Ich hielt mir die Ohren zu, steckte den Kopf unter das Kissen. Nichts half. Dieser hartnäckige, monotone Lärm hörte einfach nicht auf.

Rat-ta-rat-rat-ta-rat.

Ich pflegte mich anzukleiden, aus dem Haus zu gehen und durch die leeren Straßen zu irren, um vor diesem monotonen Geräusch eines fahrenden Zuges möglichst weit wegzulaufen.

Das Geräusch begleitete mich. Es war da, um mich, in mir, nicht abzuschütteln. Es trieb mich zum Wahnsinn.

Rat-ta-rat-rat-ta-rat.

Auf einmal hörte es auf. Aber ich wusste, es würde wiederkehren. Mit jedem Mal lauter, hartnäckiger, unerträglicher.

Einleitung (aus dem Tagebuch des Albert Weisz)

In welchem von einer zufälligen Begegnung die Rede ist, bei der die Frage gestellt wird, ob unser Schicksal vorausbestimmt ist, erklärt wird, was ein Daimon ist und Schlüsse aus einigen Lebensirrtümern gezogen werden.

Anfang 2004 nahm ich an einer von der Europäischen Union organisierten internationalen Tagung im Belgrader »Park«-Hotel zum Thema »Verbrechen, Versöhnung, Vergessen« teil. Das Treffen verlief wie viele ähnliche großteils in einer akademischen Atmosphäre. Die meiste Zeit wurde für vergebliche Versuche vertan, der Natur des Bösen auf den Grund zu gehen und sein philosophisches, theologisches, ja menschliches Wesen zu bestimmen. Als das Böse bezeichnen wir Vielerlei – von Naturkatastrophen über Krankheiten bis hin zu gewaltsamem Tod, Kriegen, Verbrechen. Wenn ausschließlich von Verbrechen die Rede ist, hört man hauptsächlich die These von der Banalität des Bösen, aufgestellt von Hannah Arendt nach dem Eichmann-Prozess in Jerusalem. Viele der Sprecher hoben hervor, wie Frau Arendt nach dieser ihrer Erkenntnis endlich wieder in Ruhe schlafen konnte, in der Überzeugung, dass sich ein Verbrechen in den Ausmaßen des Holocaust nie mehr wiederholen würde, dies hingegen aber nicht auszuschließen wäre, handelte es sich beim Bösen um etwas Metaphysisches, dem menschlichen Begreifen völlig Unzugängliches. Während des Vortrags der verschiedenen Referate bemerkte ich jemanden in der letzten Reihe, der immer aufmerksamer lauschte, ohne dass er zu den Teilnehmern gehört hätte.

Die Abende nach den Sitzungen im weitläufigen Speisesaal des Hotels verliefen um Vieles entspannter und entkrampfter, und es ergaben sich interessante Gespräche, denn die meisten von uns kannten sich von früher, als wir in ein und derselben Heimat gelebt, ähnliche Schicksale und ähnliche Freundschaften geteilt hatten. Nachgerade anekdotenhaft wurden Geschichten von Kriminellen, Mördern und Einbrechern erzählt, die man aus den Gefängnissen entlassen und an die vorderste Front geschickt hat, von Nachbarn, die einander in frisch erwachtem, fanatischem religiösen und nationalen Hass abgeschlachtet haben. Das Böse konnte man sich entweder mit einer kriminellen Vergangenheit oder primitiver Veranlagung erklären, mit schlechter Erziehung und Bildung, mit einem Charakterfehler, der traditionellen Mentalität, den Manipulationen durch die Politiker, kurz mit all dem, was der menschlichen Natur eigen und ihr eben nicht fremd ist. All diese Geschichten waren von jenem Gedanken durchzogen, der einer Deutung des Bösen als etwas Irdisches, Simples, in der Tat Banales und Erklärbares entgegenkam.

– Verstehen heißt rechtfertigen – wandte eine Stimme entgegen dem allgemeinen Tenor des Gesprächs ein. – Dies sind die Worte eines großen Schriftstellers, der die ungeheuren Ausmaße des Bösen und des Verbrechens erfahren hat. Und der gesagt hat, dass man sich eine neue Sprache ausdenken müsse, wenn vom Bösen die Rede ist, denn mit unserer Sprech- und Denkweise könne man die Abgründe des Bösen nicht erfassen.

Für einen Augenblick herrschte Stille. Ich erkannte jenen Unbekannten wieder, der in der letzten Reihe des Konferenzraums gesessen hatte.

– Ich komme zu solchen Tagungen, auch wenn ich nicht eingeladen bin. Ich möchte mir da alle möglichen Deutungen anhören und versuchen, die Natur und die Macht von Verbrechen zu begreifen, gegen die nichts auszurichten ist und gegen die wir schicksalhaft machtlos sind.

Woanders hätten diese Worte wohl deplatziert gewirkt, ja tragikomisch, aber der Mann sprach ruhig und mit einer so hypnotisierenden Selbstsicherheit, dass zumindest für ein paar Augenblicke das allgemeine Gemurmel verstummte und die Anwesenden ihm aufmerksam zu lauschen begannen. Und er fuhr fort:

– Ich möchte ja, dass die Erklärung so einfach ausfällt, wie sie heute in einigen Ausführungen zu hören war: dass nämlich das Böse und das Verbrechen lediglich Handlungen von kriminellen Typen seien, von manipulierten Menschen und blindwütigen Fanatikern, gefangen in verbrecherischen Ideologien. Vermöchte ich davon überzeugt zu sein, woran Hannah Arendt glaubte, dann würde ich wahrscheinlich auch ruhig schlafen. Aber mein Traum ist nur ein schrecklicher, unablässiger Alb, denn solche Behauptungen sind ohne Beweis und ohne jede Untermauerung, sie wiegen uns lediglich in unseren Illusionen, dass wir das Verbrechen, so wir ihm ein menschliches Antlitz verleihen, auch schon unter Kontrolle gebracht hätten.

Der Kellner brachte zu jenem Zeitpunkt eine neue Runde Getränke, und die anfängliche Aufmerksamkeit verflog. Die Teilnehmer begannen sich wieder zu unterhalten, und jemand brachte, wie es in solchen Gesellschaften oft üblich ist, auf Kosten des ungebetenen Gastes einen unpassenden Scherz an. Niemand hörte mehr auf die eben erst begonnene Tirade. Da drehte sich dieser Mensch zu mir, der ich in der nächsten Nähe war, entschlossen, wenigstens einen Zuhörer für seine Geschichte zu finden.

– Das erste Mal begann ich über die Natur des Bösen nachzudenken, als ich noch ein Kind war und mit dem Grauen unbegreiflichen Sterbens konfrontiert wurde, ungerechten, sinnlosen Sterbens, wie auch immer. Wissen Sie, der Eine durchlebt ein ganzes Jahrhundert und sieht keinen einzigen toten Menschen, der Andere erstickt schier an einer pausenlosen Gegenwart des Todes, im Wachen und im Schlaf. Ich war zehn Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann. Ich lebte mit den Eltern in einem Provinzstädtchen, das von den Deutschen besetzt wurde. In unser Haus wurde eine Familie von Volksdeutschen einquartiert. Sie hatten einen Sohn, der etwas älter war als ich. Wir begannen uns anzufreunden. Eines Tages sagt er mir, dass mein Vater verhaftet worden sei und zu Mittag zusammen mit anderen Geiseln erschossen werde. Ich erzähle das meiner Mutter, die sagt, dass das kindliche Hirngespinste seien und der Vater freigelassen werde. Aber mein neuer Freund nimmt mich am Arm: »Ich lüge nie, hab das von Vati gehört. Gehen und schauen wir!« Er führt mich zu einem aufgelassenen Fabrikshof, wir verstecken uns hinter einem Erdwall. Es hat nicht lang gedauert, da haben die Deutschen zwei Maschinengewehre aufgestellt und dann aus den Baracken eine Gruppe von Leuten geführt, die an den Händen gefesselt waren. Unter ihnen habe ich meinen Vater erkannt. Da, vor unseren Augen haben sie zu schießen begonnen. Ich sah, wie er fällt. Er war ein kräftiger, großgewachsener Mann, in den besten Jahren, kein einziges Mal krank. Dieser sinnlose Tod meines Vaters, dessen Zeuge ich wurde, begleitete mich durch meine ganze Kindheit und Jugend. Und das war das schrecklichste Gefühl: begreifen zu müssen, dass ein solches Verbrechen sinn- und grundlos geschieht, dass der Tod jemanden ereilen kann, der blindlings aus Tausenden ausgewählt wurde, zufällig von der Straße weggefischt. Und seine Mörder hat er nicht einmal kennengelernt, genauso wenig wie sie ihn, es war ein völlig absurder Tod, ein grauenhaftes Verbrechen. Von diesem Tag an verstummte ich, ich konnte nicht mehr sprechen, und es dauerte lang, bis ich das Sprachvermögen wieder zurückerlangte, dank der innigen Zuwendung meiner Mutter und der Fürsorge und Liebe meiner jüngeren Schwester.

Der Lärm am Tisch wurde größer, neue Weinflaschen wurden aufgetragen. Alle hatten auf den ungebetenen Gast vergessen, nur ich nicht, ich hörte mir teils aus Neugier, teils aus Höflichkeit seine Geschichte an.

– Jetzt ist mir, im Nachhinein betrachtet, klar, dass mein weiteres Schicksal durch diesen tragischen Vorfall vorgezeichnet war, dass er mir seinen Stempel aufgedrückt hat, den »scharlachroten Buchstaben«, der auf immer mein Leben markieren wird. Wissen Sie, eben das versuche ich Ihnen, die Sie sich in der Theorie mit den Fragen von Verbrechen und Strafe, von Opfer und Henker befassen, zu beweisen, dass dies alles mit dem Verstand nicht so ganz zu begreifen ist, aber auch nicht emotional, dass es da irgendetwas darüber gibt. Die alten Griechen nannten sie »Daimon«, diese Macht »des Führers, der mit uns geht und der sich unserer Bestimmung erinnert«.

Mein Gesprächspartner hielt da für einen Augenblick inne.

– In jedem Menschen wohnt ein geheimnisvolles, fremdes, körperloses, nicht erkennbares Wesen, das sein Schicksal lenkt. Meine Mutter wurde in eines der Lager verbracht, sie kam dort um, und auch sie hat die Gesichter ihrer Mörder nicht gesehen. Auch dieser Tod war anonym. So wie der gewaltsame Tod meiner Schwester, am Tag der Befreiung, von der Hand eines tobsüchtigen Kämpfers, der einen Nervenanfall bekam und alle, die in seiner Nähe waren, umzubringen begann. Vor nicht allzu langer Zeit verlor ich auch meine Tochter. Sie wurde Opfer eines Scharfschützen in Sarajewo. Da kann man nicht von der Banalität des Bösen sprechen, mein Herr, sondern von einem Daimon, der für den einen Schutzengel, für den anderen Richter und Vollstrecker ist, vom Wirken von etwas Mächtigem und Unangreifbarem, von etwas, das sich unserer Deutung entzieht. Ich bin überzeugt, dass jeder Einzelne, jede Familie, ganze Völker über sich jene geheimnisvolle Macht, jenen Daimon haben. Diese führt sie, rettet oder vernichtet sie. Kann man denn von der Banalität des Bösen daherleiern, wenn all diese Tode, die Tode meiner Liebsten, aber auch die Tode vieler anderer, zwar von Menschenhand geschehen sind, aber doch die Tat von Mördern ohne Gesicht waren, von anonymen Henkern, die ihre Opfer überhaupt nicht kannten. Im Unterschied zu Frau Arendt, deren These von der Banalität des Bösen man hier anhängt, bin ich davon überzeugt, dass das Böse kosmischer Natur ist, irrational und unausrottbar. Sünde, Strafe, Vergebung, Trost – alles Gerede davon ist unsinnig und falsch.

Ich sah, wie Tränen in seine Augenwinkel traten. Er wischte sie mit der Hand ab. Ich wollte etwas sagen, ihm mein nachträgliches Mitgefühl ausdrücken, aber ich brachte kein Wort hervor. Und er – es war, als ob er sich schämte nach allem, was er gesagt hatte. Er ist aufgestanden, hat sich umgedreht und ist grußlos gegangen. Ich konnte ihn nicht einmal nach seinem Namen fragen; ja, wir haben uns nicht kennengelernt.

Vielleicht hätte ich mit der Zeit diese Begegnung und diese ungewöhnliche Lebensgeschichte vergessen, wenn sich nicht etwas ereignet hätte, das die Erinnerung daran wachrief. Vor ein paar Tagen kam in den Fernsehnachrichten die Meldung von einem Bombenattentat eines Geistesgestörten auf einen Autobus. Man brachte die Fotos der Opfer. Auf einem der Fotos erkannte ich den Mann, der an jenem Abend von dem unerbittlichen, gewalttägigen Daimon sprach, von diesem mythischen Wesen, das uns mit dem Jenseitigen verbindet.

Werden wir je verlässlich etwas mehr über diesen verborgenen, geheimnisvollen Künder von Leben und Tod wissen, über den rettenden Engel und den Engel des Verderbens, der aus dem tiefsten Schattenreich heraus unser Schicksal lenkt?

Alberts Traum

Albert träumt einen beunruhigenden Traum.

Er befindet sich auf einem verlassenen Provinzbahnhof. Das Bahnhofsgebäude ist heruntergekommen, von den Wänden bröckelt der Verputz. Hinter zwei schmutzigen Fenstern sind die Gesichter des Bahnhofspersonals zu sehen. Hässliche ältliche Gesichter von langgedienten Post- und Bahnbeamten.

Alles ist in bedrohlichem Halbdunkel. Der Himmel ist grau, auf die umliegenden Felder hat sich Nebel gelegt.

Albert steht am Bahnsteig und wartet. Er weiß nicht worauf und auf wen.

Auf einmal taucht aus dem Halbdunkel ein Ungeheuer mit zwei Feueraugen auf. Die Lokomotive zieht ein Dutzend Waggons. Es ist nur das Rattern der Räder zu hören. Das weckt in Albert ein Gefühl der Angst. Ja der Panik. Er möchte weg von diesem Bahnsteig, an den er gelangt ist, ohne zu wissen, wie. Aber er kann nicht.

Die schwarze Lokomotive zieht unbeleuchtete Waggons nach sich.

Der Zug fährt in den Bahnhof ein, wird langsamer, bleibt aber nicht stehen. Dennoch kann Albert an die Waggonscheiben gepresste Gesichter sehen. Das sind nicht Gesichter von Lebenden.

Das sind Tote, fürwahr ein Toten-Zug.

Und aus diesem monotonen Lärm, der Albert Schauder und Schrecken bereitet, dringt zu ihm eine alles übertönende Stimme, eine Kinderstimme.

– Bruder, rette mich! Es ist so finster hier! Es ist die Stimme seines kleinen Bruders Elijah.

Er ruft ihm zu: – Fürchte dich nicht, Eli, ich bin ja da!

Er kann bloß seine Blicke dem sich entfernenden Zug nachschicken.

Schweißgebadet erwacht er. Der Traum frisst sich tief in sein Bewusstsein.

Erstes Kapitel

Welches Betrachtungen über die Grenzen des Erlaubten und den Versuchen, diese Grenze zu überschreiten, gewidmet ist.

Aus dem Tagebuch von Albert Weisz.

Die Aufzeichnungen im Tagebuch füllten viele Blatt Papier, das war eine Zeit, in der ich Nacht um Nacht geschrieben habe, getrieben von einer, so könnte man sagen, wahnwitzigen Energie, ich zeichnete die flüchtigsten Gedanken auf, die sonderbarsten Begebenheiten und Erlebnisse, von denen ich glaubte, sie würden mich einer Erklärung all dessen, was wir durchlebt haben, näher bringen. Und als ich meinte, ich würde endlich den Ausgang aus diesem düsteren komplizierten Labyrinth finden, würde dem geheimen Mechanismus seiner verschlungenen Wege immer näher kommen, da haben sich mit einem Mal alle Durchgänge zu verschließen begonnen, die Hand versagte mir, die Gedanken verwandelten sich in chaotische unzusammenhängende Sätze. Ich hörte auf zu schreiben, aufzuzeichnen, Zeuge zu sein, es gelang mir nicht mehr, auch nur einen zusammenhängenden Gedanken zu formulieren. Das, was ich tagsüber auf das weiße Blatt Papier niedergeschrieben hatte, löschte sich in der Nacht von selbst, verschwand, als ob es nie aufgezeichnet worden wäre. Manchmal wollte ich mich zur Einbildung versteigen, ich schriebe »mit schwarzem Feuer auf weißem Feuer«, so wie die mystische Thora geschrieben ist. Gott behüte, dass ich mich mit dem geheimnisvollen Autor dieser Schrift vergleiche, die viel mehr ist als Schrift, die das Leben selbst ist, Existenz für sich, ein lebender Organismus, der in sich gleichzeitig auch den Sinn seines Bestehens enthält. Bisweilen hatte ich den Eindruck, meine niedergeschriebenen Worte würden ihr Brandmal hinterlassen und auf meinen Händen schmerzhafte Verbrennungen verursachen, etwas, das, wie man aus alten Handschriften weiß, Wissbegierigen manchmal widerfahren ist, die unzulänglich vorbereitet versuchten, hinter Wissen und Geheimnisse zu kommen, welche unter dem Siegel höherer Mächte standen.

Aus Angst, die Grenzen des Erlaubten überschritten zu haben, ließ ich die einzelnen Teile der Handschrift unvollendet und verstreut. Ich hörte auf zu schreiben und verräumte die Aufzeichnungen in die Abstellkammer, die von oben bis unten voll mit derartigen Blättern war. Einen halben Monat, manchmal auch länger, verwahrte ich die vollgeschriebenen Seiten in diesem Versteck – vor wem eigentlich? Vor mir selbst? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich im Wesentlichen auf unleserliche und konfuse Texte gestoßen bin, als ich diese Blätter aufs Neue durchsah. Ich entdeckte, das kann ich beschwören, Teile, die in einer der meinen ähnlichen Handschrift geschrieben waren, was wohl bezwecken sollte, mich in völlige Verwirrung zu stürzen und mich glauben zu machen, ich würde den Verstand verlieren und dem Wahnsinn verfallen. Die Botschaft, glaube ich, sollte eben sein: Es gibt Gebiete, die zu betreten nicht erlaubt ist, die unter der Aufsicht von Mächten stehen, welche größer und stärker sind als die menschliche Macht.

Es gab Augenblicke, da die Hand ganz von selbst erstarrte und das Bewusstsein sich eintrübte. Kleinmut erfasste mich, ich konnte kaum aufstehen und musste irgendwo sicheren Halt finden, der Boden unter mir wankte, es überkam mich Ohnmacht. Eine unbekannte Krankheit fesselte mich ans Bett, und in meinem Kopf machte sich Chaos breit. Ich versuchte, meines eigenen Verfalls mit Verstand Herr zu werden, und begriff doch nicht, was mir geschieht und warum.

Die Ärzte vermochten nicht zu sagen, um welche Krankheit es sich bei mir handelte. Symptome: Ohnmacht, hohe Temperatur, Schmerzen am ganzen Körper, Träume, die an eine schwere, gequälte Stimme gemahnten, nur für mich vernehmlich und drohend, Warnung und Aufforderung, mit meinem Schreiben aufzuhören.

Ich versuche herauszufinden, warum es so viel Unglück gab im menschlichen Schicksal, wie es kommt, dass man aus einem friedlichen, geordneten Leben in friedlose, gestörte Zeiten treten muss und das Leben jeden Wert verliert. Woher kommt, wo verbirgt sich dieses Böse, das alles von oben nach unten kehrt, und sich dann wieder verzieht, nichts als Leere in den Menschen und um sie herum zurücklassend?

***

Ich widersetze mich dem Zustand verzweifelter Hilflosigkeit und innerer Panik und entspanne mich also und schließe die Augen. Ich atme durch beide Nasenlöcher ein und stelle mir vor, wie die Luft durch meinen ganzen Körper durchzieht und ihn mit neuer Energie ausfüllt. »Einfache Atemübungen« nennt man das, ausgehend von einem unendlich entfernten Punkt, vom Rand des Weltalls. Dann spüre ich Erleichterung, nicht für lange, aber doch Erleichterung.

Es hat den Anschein, ich bin davon immer mehr überzeugt, dass bestimmte Dinge nicht niedergeschrieben werden dürfen oder können. Nicht, weil das niemand will, sondern weil es nicht erlaubt ist. Nicht menschlichem Willen geschuldet, sondern einem Willen, der die schreibende Hand und den denkenden Kopf zu zäumen vermag, einer Macht, die stärker ist als alles, was wir sind, waren und sein werden.

Zweites Kapitel

Gewidmet den Erinnerungen an den Vater und seinen prophetischen Visionen.

Meine frühesten Erinnerungen reichen weit und tief in die Vergangenheit zurück. Ins Gedächtnis prägte sich mir das strenge, aber gerechte Antlitz meines Großvaters, eines polnischen Rabbiners aus Lemberg. Mein Vater setzte diese Familientradition nicht fort, er gehörte zu jenen aufgeklärten Juden, die sich von der Tradition lossagten, polnisch, russisch und deutsch sprachen und sich des Jiddischen als einer Sprache der mitteleuropäischen jüdischen Unterklasse schämten. Meine Mutter lernte er ganz zufällig auf einer Reise durch Serbien kennen. Sie stammte aus einer sephardischen Familie. Das sind jene Juden, die aus Spanien vertrieben worden waren, ihre Sprache war das Ladino, eine Mischung aus altspanischen und slawischen Wörtern. Ihr Vater hatte in K. ein Handelsgeschäft. Die Familie war groß, neun Kinder. An einem Ehrenplatz in der Wohnung, in einem Schrank mit Glastüren, befand sich auf einem Perlmutt-Ständer, zwischen Porzellantellern neben der Menora, ein großer massiver Schlüssel, eine alte Familienreliquie, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde, über den Großvater, den Urgroßvater und so weiter, der Schlüssel zum Haustor in Sevilla, von wo die Berahs, unsere Vorfahren mütterlicherseits, fortgezogen sind, auf Befehl der Königin Isabella unter der Androhung der Inquisition vertrieben. Der Schlüssel wird als eine schon verblichene Sehnsucht nach Spanien verwahrt, als eine Erinnerung an eine lang zurückliegende Familiensaga. Das ist die Erzählung vom jungen Simon Berah, der nach einem Schiffbruch mediterranes Land betritt und sich einer Gruppe von Pilgern anschließt. Auf dem Weg mit den Pilgern, der sie von Heiligtum zu Heiligtum führte, hörte er wundersame Geschichten und erlebte eine Reihe von Abenteuern. Diese Geschichten hat man sich in unserer Familie als Überlieferungen weitererzählt, in denen wahre Begebenheiten mit kabbalistischen Allegorien verschmolzen. Es sind Geschichten über langes Herumirren, über Vertreibung, Heimatlosigkeit, über ein Leben, welches uns unablässig daran gemahnt, dass wir nur Gast sind in einer fremden Welt.