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Rosa Liksom

Abteil Nr. 6

Roman

Aus dem Finnischen
von Stefan Moster

Der Zug rast dem Osten entgegen,
und alle warten auf den Morgen.

Danke

Gospodin / Graždanin X. X.







Moskau kauerte im trocken-kalten Märzabend, schützte sich vor der Berührung durch die eisige, rot sinkende Sonne. Die junge Frau stieg in den letzten Schlafwagen am Schluss des Zuges, suchte ihr Abteil, Abteil Nr. 6, und atmete tief durch. Das Abteil hatte vier Betten, die beiden oberen waren an die Wand geklappt, zwischen den unteren befand sich ein kleiner Tisch, auf dem ein weißes Tuch lag und eine Blumenvase aus Plastik stand, darin eine von der Zeit gebleichte rosa Papiernelke. Die Ablage am Kopfende der Betten steckte voller großer, dürftig verschnürter Kolli. Sie stopfte den bescheidenen alten Koffer, den sie von Zachar bekommen hatte, unter das schmale, harte Bett, in die dort eingebaute Metallablage, den kleinen Rucksack warf sie auf das Bett. Als die Bahnhofsglocke zum ersten Mal schlug, stellte sich die junge Frau im Gang ans Fenster. Sie atmete den Geruch des Zuges ein, den Geruch, den Eisen, Kohlestaub, zig Städte und Tausende Menschen hinterlassen hatten. Reisende und ihre Begleiter drängten an ihr vorbei, stießen sie mit ihren Taschen und Kolli an. Sie berührte mit der Hand das kalte Fenster und blickte auf den Bahnsteig. Dieser Zug würde sie durch Dörfer bringen, die von Verbannten bewohnt wurden, durch die offenen und gesperrten Städte Sibiriens bis in die mongolische Hauptstadt Ulan-Bator.

Als die Bahnhofsglocke zum zweiten Mal schlug, sah sie einen kräftigen Mann mit Kohlblattohren, der die schwarze Steppjacke der Arbeiter und eine weiße Hermelinpelzmütze trug. Er wurde von einer dunkelhaarigen, schönen Frau und einem Jungen im Teenageralter, der sich dicht an seine Mutter hielt, begleitet. Die Frau und der Junge verabschiedeten den Mann und gingen untergehakt zum Bahnhofsgebäude zurück. Der Mann starrte zu Boden, kehrte dem kalten Wind den Rücken zu, kniff eine Belomorkanal zusammen, steckte sie zwischen die Lippen und zündete sie an, rauchte eine Weile, sog gierig, drückte die Zigarette an der Schuhsohle aus und blieb dann schlotternd auf der Stelle stehen. Als die Bahnhofsglocke zum dritten Mal schlug, sprang er in den Zug. Die junge Frau sah, wie er mit wiegenden Schritten den Gang entlangging, und hoffte, er würde nicht ausgerechnet ihr Abteil betreten. Sie hoffte vergebens.

Nach kurzem Zögern begab sie sich ebenfalls ins Abteil und setzte sich dem Mann gegenüber auf ihr Bett. Er dünstete Kälte aus. Sie schwiegen. Der Mann starrte unwillig auf die junge Frau, die junge Frau unsicher auf die Papiernelke. Als der Zug mit einem Ruck anfuhr, brach in Gang und Abteil Schostakowitschs achtes Streichquartett aus den Plastiklautsprechern.

Und so bleibt es zurück, das winterliche Moskau, die stahlblaue Stadt, wie die Abendsonne sie wärmt. Zurück bleibt Moskau, mit seinen Lichtern und dem lautstarken Verkehr, dem Reigen der Kirchen, mit dem Jungen im Teenageralter und der schönen dunkelhaarigen Frau, deren eine Gesichtshälfte geschwollen ist. Zurück bleiben die spärlichen Neonreklamen vor dem pechschwarzen, mürrischen Himmel, die Rubinsterne auf den Türmen des Kreml, die einbalsamierten Leichen des guten Lenin und des bösen Stalin und Mitka; zurück bleiben der Rote Platz und das Lenin-Mausoleum, die Geländer aus eiserner Spitze an den Wendeltreppen des Kaufhauses Gum, das internationale Intourist-Hotel mit seinen Valuta-Bars, mit seinen düsteren, an westlichem Make-up, Parfüm und Rasierapparaten interessierten Etagenaufsichten, die sich heimlich die Besenkammern des Hotels als Wohnfläche erobern. Zurück bleiben Moskau, Irina, das Puschkin-Denkmal, die Ringstraßen und Ringlinien, Stalins Prachtstraßen, der mehrspurige Nowy Arbat im westlichen Stil, die Jaroslaw-Hauptverkehrsstraße und die mit Holzschnitzereien verzierten Reihen der Datschas; müdes, vielfach umgearbeitetes, glitschiges Land. Vor dem Fenster rauscht ein hundert Meter langer Güterzug vorbei. Das ist noch Moskau: ein Haufen neunzehnstöckiger Plattenbauten inmitten einer Schlammgrube, wo auf eisigen Fenstern mattes, scheues Licht zittert, Baustellen, halb fertige Wohnblocks, klaffende Löcher in den Wänden. Bald bleiben auch sie als Silhouetten in der Ferne zurück. Das ist nicht mehr Moskau: ein Haus, zusammengebrochen unterm Schnee, wild schwankender, vereister Kiefernwald, von Schneewehen überzogene Ebenen, unter den Verwehungen eingefrorener Dampf, Dunkelheit, ein einsames kleines Holzhaus, von weißer Weite umgeben, davor ein ungestutzter Apfelbaum, Mischwald in steifem Schnee, Bretterzäune vor Landhäusern, ein verfallener Holzschuppen. Vorne dehnt sich das unbekannte, im Eis erstarrte Russland aus, der Zug rast dahin, am erschöpften Himmel zeichnen sich hell leuchtende Sterne ab, der Zug schießt in die Natur hinein, in die drückende Finsternis unter dem Schein des sternenlosen Wolkenhimmels. Alles ist in Bewegung: der Schnee, das Wasser, die Luft, die Bäume, die Wolken, der Wind, die Städte, die Dörfer, die Menschen und die Gedanken. Der Zug stampft durch das verschneite Land.

Die junge Frau hörte den schweren, ruhigen Atem des Mannes. Der Mann betrachtete seine Handflächen – sie waren breit und kräftig. In Bodenhöhe flitzten Weichenlichter vorbei. Bisweilen verdeckten stehende Waggons die Sicht, dann wieder entfaltete sich vor dem Fenster die nächtliche Finsternis Russlands, hier und da huschte ein blass erleuchtetes Haus vorüber. Der Mann blickte auf, musterte die junge Frau lange und durchdringend und stellte dann erleichtert fest:

»Wir sind also zu zweit. Die glänzenden Gleise werden uns in Gottes Kühlschrank bringen.«

An der Abteiltür erschien eine gleichmäßig kräftig gebaute Schaffnerin und reichte beiden Reisenden sauberes Bettzeug und ein Handtuch.

»Dass mir keiner auf den Boden spuckt! Der Gang wird zweimal am Tag geputzt. Und jetzt, bitte, die Pässe her!«

Sobald sie die Dokumente erhalten hatte, entfernte sich die Schaffnerin mit spöttischem Lächeln. Der Mann nickte ihr hinterher.

»Die alte Arisa hat hier Vollmachten wie die Miliz. Das hält die Säufer und Huren in Zucht und Ordnung. Besser, man regt sich über sie nicht unnötig auf. Arisa ist nämlich auch die Göttin der Zugheizung. Das sollte man nicht vergessen.«

Er nahm ein Messer mit schwarzem Griff aus der Tasche, entfernte die Sicherung und drückte auf den Knopf am Griff. Ein metallisches Geräusch erklang, die Messerklinge schnappte mit kräftigem Federsprung auf. Behutsam legte er das Messer auf den Tisch und grub einen großen Brocken Rossijskaja-Käse aus seiner Tasche, dazu ein ganzes Schwarzbrot, eine Flasche Kefir und ein Glas Sauerrahm. Schließlich entnahm er der Seitentasche des Gepäckstücks eine triefende Tüte mit Gurken und fing an, sich mit der einen Hand Schwarzbrot, mit der anderen Gurken in den Mund zu stopfen. Nachdem er gegessen hatte, zog er einen Wollstrumpf aus der Provianttasche. Darin steckte eine Flasche, die mit warmem Tee gefüllt war. Der Mann sah die junge Frau lange an. In seinem Blick konnte man zunächst Abscheu erkennen, dann gefräßige Neugier und schließlich Billigung, aber nur bis zu einem gewissen Grad.

»Ich bin Stahlin Eisenowitsch«, sagte er, »Metaller und einer, der alle Arbeiten am Bau übernehmen kann. Ich komme aus Moskau, Wadim Nikolajewitsch Iwanow mein Name. Für Sie einfach Wadim. Einen Schluck gefällig? Im Tee sind Vitamine, deshalb ist es von Vorteil, ein oder zwei Tässchen zu trinken. Ich habe schon gedacht, da haben sie mich Kerl aber schwer bestraft und mit einer aus Estland ins Abteil gesteckt. Dabei besteht ja ein Unterschied zwischen der Finljandskaja Respublika und der Estonskaja Sowetskaja Socialistitscheskaja Respublika. Die Esten sind krummschnäblige deutsche Nazis, aber die Finnen sind im Prinzip aus demselben Speck gemacht wie unsereins. Finnland ist eine kleine Kartoffel weit weg und hoch im Norden. Von euch geht kein Verdruss aus. Alle nördlichen Völker der Welt sind von ein und demselben Schlag, der nordische Stolz verbindet sie. Das Fräulein ist übrigens die erste Finnin, die ich je gesehen habe. Aber gehört hab ich viel. Bei euch herrscht ja Prohibition.«

Der Mann goss der jungen Frau dunklen Tee ins Glas. Sie kostete ihn vorsichtig. Auch der Mann nahm den Tee in kleinen Schlucken zu sich, dann stand er auf und machte sein Bett. Verschämt zog er die äußeren Kleidungsstücke aus, die dicke schwarze Hose mit dem schmalen Ledergürtel, das aus grobem Stoff genähte leichte Sakko und das weiße Hemd, und legte sie sauber gefaltet am Fußende aufs Bett. Er zog einen hellblauen, gestreiften Pyjama an und schlüpfte zwischen die gestärkten Laken. Gleich darauf ragten vernachlässigte und von schlechten Schuhen ruinierte krumme Zehen und raue, rissige Fersen unter der Decke hervor.

»Gute Nacht«, sagte der Mann matt, beinahe flüsternd, und schlief auf der Stelle ein.

Die junge Frau blieb lange wach. Im Halbdunkel des Abteils bewegten sich die Teegläser und ihre Schatten, ohne je stillzuhalten. Sie hatte fortgewollt aus Moskau, brauchte Abstand zu ihrem Leben, aber nun sehnte sie sich bereits zurück. Sie dachte an Mitka, an Mitkas Mutter Irina, an Irinas Vater Zachar, an sich selbst und was aus ihnen allen werden würde. Sie dachte an ihrer aller provisorisches Zuhause, das jetzt leer stand. Nicht einmal die Katzen, Fräulein Schmutz und Kater Müll, waren noch dort. Die Lokomotive pfiff, die Schienen quietschten, das Geklapper des Zuges hämmerte metallisch, der Mann schnarchte mit tiefer Stimme die ganze Nacht. Das Geräusch erinnerte die junge Frau an ihren Vater, und sie fühlte sich sicher. In den frühen Morgenstunden endlich, als die Schatten zu schrumpfen begannen, sank sie in weißen, schaumigen Schlaf.







Als die junge Frau vorsichtig die Augen öffnete, sah sie als Erstes den Mann zwischen den Betten Liegestütze machen. Auf den lackierten Abteilwänden zuckte der grüne Schein der Sonne, der Mann wischte sich mit dem Handtuch den Schweiß von der Stirn. Noch bevor die junge Frau sich aufgerichtet hatte, klopfte es an der Tür, und Arisa, in eine schwarze Uniformjacke gezwängt, stellte zwei dampfende Teegläser, trockene Waffeln und vier große kubanische Zuckerstücke auf den Tisch. Der Mann nahm einige Kopeken aus seiner Geldbörse, die ein Relief von Walentina Tereschkowa mit Weltraumhelm zierte.

Nachdem Arisa gegangen war, zog er sein Messer unter der Matratze hervor, nahm ein Stück Zucker in die linke Hand, klopfte es mit der stumpfen Seite der schmalen Klinge in zwei Teile und reichte der jungen Frau ein dampfendes Teeglas und ein halbes Zuckerstück.

Er lächelte scheu und traurig, zog eine Wodkaflasche aus der Tasche, schraubte sie auf und füllte zwei blaue Schnapsgläser, die er ebenfalls den Tiefen seines Gepäckstücks entnommen hatte.

»Weil wir die Freude einer langen gemeinsamen Reise haben, darf der Trinkspruch kurz ausfallen: Auf unser Zusammentreffen! Auf den einzigen wahren Staat der Welt, auf die Sowjetunion! Die Sowjetunion wird niemals sterben!«

Er kippte sich seine Portion in den Rachen und biss ein Stück von einer saftigen Zwiebel ab. Die junge Frau berührte mit dem Glas die Lippen, trank aber nicht.

Der Mann trocknete sich mit lümmelhaftem Lächeln die Lippen an einer Ecke des Tischtuchs. Die junge Frau kostete den Tee. Er hatte lange gezogen, war aromatisch und stark. Erst jetzt merkte der Mann, dass sie ihr Wodkaglas nicht geleert hatte.

»Es ist traurig, alleine zu trinken.«

Sie rührte das Glas nicht an. Er musterte sie mit enttäuschter Miene.

»Schwer zu verstehen. Aber sei’s drum. Ich zwinge niemanden, auch wenn ich Lust dazu hätte.«

Er vergaß sich im finsteren Betrachten der jungen Frau. Sein Blick gefiel ihr nicht, und darum nahm sie das kleine Handtuch und die Zahnbürste und ging zur Toilette, um sich zu waschen.

Die Schlange nahm den halben Gang ein. Die Reisenden trugen Morgenmäntel, Pyjamas, Trainingsanzüge, zwei Männer sogar lediglich die weißen Unterhosen der Armee.

Mehr als eine Stunde später erreichte die junge Frau ihr Ziel. Nun war sie an der Reihe, die feuchte, klebrige Türklinke zu ergreifen. Die Toilette befand sich in unsauberem Zustand, und der Gestank war stechend. Auf dem Fußboden schwappte eine Mischung aus Pisse, Seife und Zeitungspapier, aus dem Hahn kam kein einziger Tropfen Wasser. Allerdings waren noch zwei exakt gewürfelte, von der Stange geschnittene beigebraune, nach Natrium riechende Stücke Haushaltsseife vorhanden. Die Oberfläche des einen war mit rostbraunem Schleim überzogen. Mit einem Satz stieg die junge Frau auf die Kloschüssel, um sich nicht die in Leningrad gekauften Morgenpantoffeln nass zu machen, und führte eine Trockenreinigung von Zähnen und Gesicht durch. Das kleine Toilettenfenster stand einen Spaltbreit offen. Ein vergessener, menschenleerer Bahnhof fuhr vorbei.

Der Mann lud Schwarzbrot, Meerrettich im Glas, Zwiebel- und Tomatenscheiben, Mayonnaise, Dosenfisch und hart gekochte Eier, die er vorsichtig schälte und halbierte, auf den Tisch.

»Den Satten vergisst Gott nicht und umgekehrt. Also bitte sehr!«

Sie aßen lange, und erst nachdem der Mann die Reste des Frühstücks wieder in seiner Provianttasche verstaut und mit der Hand die Brotkrümel vom Tisch auf den Boden gewischt hatte, genossen sie den inzwischen auf die richtige Temperatur abgekühlten Tee.

»Ich habe heute Nacht von Petja geträumt. Wir wurden im selben Jahr geboren und waren in der Schule in einer Klasse. Fünfeinhalb Jahre verbrachten wir da zusammen. Die Schule schmeckte uns nicht, also mussten wir arbeiten gehen. Ich wartete auf der Treppe vor dem Laden auf eine Fuhre, und wenn sie kam, nahm ich die Ware von der Ladefläche und warf sie ins Lager. Petja schleppte auf einer Baustelle Bretter hin und her. Wir lebten in einem Kesselraum. Dort gab es ein Fenster, durch das sah man den Gehweg und die Beine der Passanten. Da wohnten wir, aber eines Abends kam Petja nicht von der Arbeit nach Hause. Am nächsten Tag fuhr ich mit dem O-Bus zu seiner Baustelle, um nach ihm zu fragen, und dort erzählten sie mir, er sei unter eine Maschine geraten und gestorben. Von einer Maschine getötet. Ich fragte, was für eine Maschine. Ein altes Väterchen zeigte mir so einen kleinen elenden Bagger. Da steht der Schuldige. Ich nahm den Vorschlaghammer und zertrümmerte das Ding. Seitdem schlage ich mich alleine durch.«

Die junge Frau warf einen Blick auf den Mann, der sich in seine Gedanken verkrochen hatte, und dachte an Mitka und an eine bestimmte Nacht im August. Sie hatten am Rand des Puschkin-Platzes auf einer Betonbank gesessen, etwas geraucht und auf die Morgendämmerung gewartet, als eine Schar grölender junger Betrunkener ankam und sie bedrängte und schubste. Sie rissen sich los, liefen davon, aber ein fetter Glatzkopf folgte ihnen und drohte damit, dem mit der Brille das Gehirn aus dem Schädel zu prügeln. Sie bekamen es mit der Angst zu tun. Rannten schneller, die menschenleere Straße entlang, aber am Ende der Straße tauchte ein Auto auf, und die junge Frau war sich sicher, dass auch darin Glatzköpfe saßen. Sie hetzten durch Nebenstraßen und kürzten über Innenhöfe ab, bis sie verschwitzt vor ihrer Haustür standen.

»Nach Südsibirien bin ich zum ersten Mal Anfang der Sechzigerjahre gekommen. Das war die Zeit der Währungsreform. Der Rubel war nichts mehr wert, Essen bekam man auch für Geld nicht, und in den Bierhallen wurde ein Krug für fünfzig Kopeken ausgerufen. Damals saß ich in der Baustellenkantine und kippte mit Boris, Sascha und Hund Mucha Selbstgebrannten. Einmal kam einer von der Baustellenaufsicht hereingeschneit. Dieser Filzstiefel vom Land sagte, geh, Volksgenosse, nach Sochumi, auf die Krim, ins südliche Sibirien, dort werden Plan-Übererfüller gesucht. Er drückte mir einen Zettel in die Hand und war wie vom Erdboden verschluckt. Ich ging zu Wimma, meiner geliebten breitärschigen Hure, sagte danke für deine Möse und auf Wiedersehen, ging schnurstracks zum Bahnhof und ruckelte mit dem Zug durch das weite, offene Sowjetland. Ich landete dann statt in Sochumi in Jalta. Dort wurden alle Arten von Hütten gebaut, und als ich sagte, ich bin eine stachanowsche Fleischmaschine und ein Betonheld, bekam ich sofort Arbeit. Das war der beste Sommer meines Lebens. Ich konzentrierte mich aufs Faulenzen und auf die Huren. Wenn man die fragte, bist du feucht, dann waren sie’s in zwei Minuten. Manchmal waren wir mit den Flittchen im Kino Der Bauarbeiter und sahen uns Abenteuerstreifen an: Drei Männer im Schnee, Im Eis verschollen, und wie hieß der eine gute noch …? Drei Freunde auf offenem Meer. Jedes Mal wenn ich an den Sommer zurückdenke, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Damals fesselte die Vernunft noch nicht das Leben. Aber dann kam die letzte Nutte! Katinka. Die trällerte mit Zuckerstimme, komm, ich wasche dir dein Hemd. Damit endete mein Leben, und vor mir tat sich der holperige, lichtlose Weg des immer tiefer sinkenden Alkoholikers auf.«

Der östliche Wind schleuderte vereinzelte Schneeflocken über die weiße Steppe, ein blasser Schein schimmerte über einem Gehölz. Der Mann spuckte wütend über die linke Schulter in die Abteilecke.

»Ich spreche von der Katinka, die mich gestern an den Bahnhof gebracht hat. Das in ihrem Gesicht stammt von mir. Ich kam besoffen heim, und da ging es los. Jedes Mal dasselbe Tohuwabohu, Katinka brach den üblichen Streit vom Zaun. Weil sie nicht aufhörte, wischte ich ihr eine und dann noch eine. Sie müsste einfach den Mund halten, dem müden Wanderer helfen, sich auszuziehen, und ein gutes Nachtessen machen, aber sie lernt es nie. Ich versuche, es ihr zu erklären, und schwärme ihr sogar was vor. Sie hört nicht hin, sondern macht immer weiter, schreit, die Männer hätten diese verdammte Welt nur für sich aufgebaut. Da ballt sich die Wut des unterdrückten Ehemannes, und dann verpasse ich ihr eine, damit sie still ist. Wenn sie beim ersten Mal nicht aufhört, schlage ich ihr richtig kräftig mitten in die Fresse. Das ist nicht leicht für mich, ich schlage nicht gern zu, aber es kommt jedes Mal dazu. Schließlich habe ich auch ein Recht, in den eigenen vier Wänden den Mund aufzumachen und ein Mensch zu sein, selbst wenn ich da nur selten auftauche.«

Der Mann wog seine Worte genau ab, ließ eins nach dem anderen fallen. Die junge Frau konzentrierte sich darauf, die Ohren zu verschließen.

»Ein gewöhnlicher Streit mitten in der Nacht ist deprimierend. Er nimmt dem Leben alle Freude. Letzte Nacht im Traum wälzte sich ihr schreiender Geruch wie ein Panzer auf mich. Allein der Gedanke an ihre abgebrannte Fotze bringt mich dazu, die Wände vollzukotzen.«

Der Waggon ruckelte, die Hand des Mannes hüpfte, im Augenwinkel bildete sich eine Träne. Er wischte sie mit dem Handrücken weg und schloss die Augen, räusperte sich, streckte den Rücken durch, sog die Lunge voll mit Luft und blies sie wieder leer.

»Aber alles hat seine Grenzen. Ich schlage Katinka nie auf dem Gang der Kommunalka, auch nicht auf der Straße und nicht auf dem Amt. Ich schlage sie einzig und allein in unserem eigenen Zimmer, denn sonst kommt der Blockwart oder die Miliz, und ich mag beide nicht, schon gar nicht die Miliz. Die Hauptregel lautet aber: Der Junge darf es nicht sehen, denn immerhin ist Katinka seine Mutter. Jetzt ist der Junge so groß, dass er schon sein eigenes Mädchen schlägt. Das gefällt mir nicht … Wenn du deine Alte mit dem Hammer haust, machst du aus ihr Gold, haben mir die alten Kerle geraten, als ich ein junger Mann war. Dieser Rat ist befolgt worden. Vielleicht sogar zu gut.«

Die junge Frau schaute mal zu Boden, mal auf eine Wolke, die am Rand des Horizonts erstarrt war. Einem solchen russischen Mann war sie noch nie begegnet. Oder vielleicht doch, aber sie wollte sich nicht daran erinnern. Kein Russe hatte je in diesem Ton mit ihr gesprochen. Dennoch hatte dieser Mann etwas an sich, das sie kannte, seine Dreistigkeit, seine Art, die Wörter zu dehnen, sein Lächeln, sein verächtlicher, sanfter Blick.

»Katinka ist eine russische Frau, grausam und gerecht. Sie geht arbeiten, kümmert sich um Haus und Kinder und hält alles aus. Ich denke bloß über manche Dinge anders als sie. Nehmen wir zum Beispiel mein altes Mütterchen. Wir wohnen alle nebeneinander in derselben Kommunalka, und ich finde, das ist eine gute Sache, da kann Katinka ihr von dem Essen bringen, das sie für den Jungen und sich gemacht hat, und gleichzeitig ein bisschen gucken, dass dem Mütterchen das Leben schmeckt. So leicht ist das aber nicht. Unsere ganze dreiundzwanzigjährige Ehe lang hat die Nutte von mir verlangt, sie hinauszuwerfen.«

Die junge Frau stand auf, um in den Gang zu gehen, aber der Mann packte sie hart an der Hand und deutete auf das Bett.

»Es wird bis zum Schluss zugehört.«

Die junge Frau riss sich los. Der Mann stürzte ihr nach und zog sie am Handgelenk zurück, kräftig, aber zugleich väterlich. Sie ließ sich auf das Fußende ihres Bettes sinken.

Der Mann setzte sich auf seinen Platz, legte den Zeigefinger auf die Lippen, blies leicht und lächelte frivol.

»Eins hat mich schon immer gewundert: Jeder Bräutigam liebt seine Braut, aber jeder Kerl hasst seine Alte. Sobald die Heiratspapiere unterschrieben sind, verwandelt sich der Mann in einen alten Kerl und die Frau in ein altes Weib, und von da an nagt an beiden die Unzufriedenheit. Die Alte denkt, wenn wir uns nur Komfort verschaffen, dann wird sich alles legen. Ihr geht es um die eigene Kochplatte, den neuen Bademantel, die Bodenvase, den Kochtopf ohne Beulen oder das Teeservice aus Porzellan. Der Kerl denkt seinerseits, wenn ich zu den Huren gehe, ertrage ich das Weib hier besser. Aber trotz allem … Wenn ich mir Katinka richtig anschaue, hätte ich manchmal Lust zu sagen, Katjuscha, meine kleine Närrin, mein kleines Dummerchen.«

Er seufzte schwer, griff mit der Hand in die Tüte mit den Gurken, erwischte eine, biss ab und schluckte aus Versehen das ganze Stück.

»Wir Männer taugen zu nichts. Die Weiber kommen ohne uns besser zurecht. Uns braucht niemand. Außer der andere Mann. Gerade jetzt, in diesem Augenblick, hätte ich Lust, auf die russische Frau zu trinken, auf ihre Tüchtigkeit, ihre Zähigkeit, ihre Geduld, ihren Mut, ihren Humor, ihre List, ihre Tücke und auf ihre Schönheit. Die Weiber sind es, die dieses Land aufrechterhalten.«

Der Mann schob eine Hand unter die Matratze und zog eine Tafel Tschaikowski-Schokolade heraus. Er öffnete sie mit der Messerspitze und bot der jungen Frau davon an. Er selbst nahm kein einziges Stück, sondern legte die Tafel mitten auf den Tisch. Sie war dunkel und schmeckte nach Naphtalin. Die junge Frau dachte an Irina: wie sie oft abends auf ihrem Lieblingsstuhl unter der Lampe saß und in einem Buch las, wie das gelbliche Licht der Lampe auf die Seiten fiel, wie Irinas Hände das Buch hielten, wie ihr Gesicht und wie …

»Früher wussten die Frauen, still zu sein, heute geht bei den modernen Weibern die ganze Zeit das Mundwerk. Ich hatte mal eine Hure, die quasselte und rauchte, während ich sie bumste. Am liebsten hätte ich sie erwürgt.«

In der Ferne schimmerte ein Birkenwald, ausgelaugt von schwerer Kälte und scharfen Winden. Die nackten Bäume zeichneten Schatten in den Schnee. Der Zug raste voran, der Schnee stob auf und flimmerte rein und hell. Mal füllte eisiger weißer Wald das Fenster, mal leichter blauer, wolkenloser Himmel. Die junge Frau lauschte auf den Klang und den Rhythmus der Worte des Mannes. Bald verflog sein Eifer, und an dessen Stelle trat ein Hauch von tiefem Kummer.

Der Mann überlegte lange. Zwischendurch bewegten sich die feuchten Lippen schnell, dann wieder sehr langsam. Seine aufrechte Haltung war dahin, er saß mit eingesunkenen Schultern da.

»Katinka … meine Katinka.«

Es wurde still im Abteil. Der Mann legte die Stirn an die kalte Fensterscheibe. Die junge Frau erhob sich und trat auf den Gang.

Dort standen einige Reisende. Ein entgegenkommender Güterzug brauste vorbei, brachte den Waggon zum Schwanken, weiter hinten huschte als türkiser Fleck ein kleines Gebäude bei einem Haltepunkt vorüber. Die Nacht hatte Schmutzspritzer an die Fenster im Gang geschleudert, zwischen denen mattes Licht eindrang. Die Birken wurden spärlicher, der Zug drosselte das Tempo, auf dem Nebengleis lag verrosteter Metallschrott herum, und wenig später rauschte der Zug schlagartig in den Bahnhof von Kirow. Ein Schild neben der Strecke teilte mit, dass es bis Moskau gut tausend Kilometer waren.

Die junge Frau stand in der offenen Wagentür. Ein paar kleine Schneeflocken schwebten in der stillen, trockenen Kälte. Auf dem Bahnsteig gegenüber zuckte unruhig ein schmächtiger Regionalzug, wie von einem Anfall geschüttelt. Die Menschen drängten aus ihm heraus und schnappten panisch frische Luft. Die Bahnhofsglocke schlug einmal, dann ein zweites Mal. Die junge Frau konnte gerade noch flüchtig das schwarze Plastikschild an der Mütze des vorbeispazierenden Zugführers sehen, als Arisa kam, um die Tür zu schließen.

»Was stehen Sie da? Wollen Sie in Kirow bleiben? Da kriegen Sie die Peitsche. Weil Sie ja keinen Volkspass und auch keinen Ihnen zugewiesenen Wohnraum haben. Dumme Ausländerin, versteht nichts und steckt hier die Nase raus! Und in meine Verantwortung haben sie das unglückliche Ding gegeben. Wissen Sie wenigstens, wer Kirow war?«

Im langsam fahrenden Zug ging die junge Frau schwankend den Gang entlang und schaute auf die schaukelnde Stadt vor dem Fenster. Vor einem Verwaltungsgebäude im Barockstil raufte ein Rudel streunender Hunde, ein junger Mann schlug mit einem abgebrochenen Besenstiel auf sie ein. Die junge Frau war auf dem Weg zum Abteil der Schaffnerin, um Tee zu kaufen. Wie die Allmächtige saß Arisa auf dem Bett und betrachtete die junge Frau mitleidig. Im kleinen Transistorradio sang Georg Ots etwas auf Russisch.

»Alle Menschen müssen ein Leben auf die gleiche Art haben«, sagte Arisa. »Entweder gleich gut oder gleich schlecht.«

Sie reichte der jungen Frau zwei Gläser mit heißem Tee und drei Packungen Kekse statt zwei.

»Der Mensch ist zu allem fähig, wenn man ihn zwingt. Und jetzt ab ins Abteil!«

Der Mann saß auf seinem Bett. Er hatte sich ein kariertes Hemd über das weiße gezogen. Es stand offen, unter den Falten des weißen Hemdes schimmerte der schweißnasse, muskulöse Bauch hervor. Der Mann schnappte sich eine kleine Apfelsine vom Tisch und riss auf hässliche Art die Schale herunter. Nachdem er die Frucht gegessen hatte, zog er unter dem Bett eine zerfledderte Zeitung hervor, hielt sie sich vor die Nase und stellte gereizt fest: »In jungen Jahren ist der Mensch ruhelos. Kein bisschen Geduld. Nichts als Rennerei. Alles läuft wie von selbst, die Zeit ist bloß Zeit.«

Er runzelte die Stirn und seufzte.

»Du musst nur hierhergucken. Dann siehst du einen alten Kerl mit einer betrübten Seele voller tristem Frieden. Mit einem Herzen, das nicht mehr vor Gefühl schlägt, sondern nur noch aus reiner Gewohnheit. Keine verrückten Streiche mehr, nicht einmal Schmerz. Bloß Langeweile.«

Die junge Frau dachte an ihren letzten Abend in Moskau zurück, wie sie von einem Ort zum nächsten geeilt war. Sie war die lange Treppe zur Metro hinuntergerannt und mit der roten Linie zur Lenin-Bibliothek gefahren, dort auf dem gekachelten Fußboden durch die museumsartige Halle und die von Bronzestatuen gesäumten Labyrinthe. Dann hatte sie die vielen steilen Rolltreppen hinauf zur blauen Linie genommen, war am Arbat vorbeigefahren, an dem mit Mosaiken verzierten, kirchenhaften Bahnhof ausgestiegen, an dessen Namen sie sich jetzt nicht erinnern konnte, und unter dem Betongewölbe hatte sie gemerkt, dass sie ihre Tasche mit den Zugfahrkarten und den Vouchers vergessen hatte, und da war sie umgekehrt, von einer Metro zur anderen gerannt, hatte die Stationen, an denen sie umgestiegen war, abgeklappert und die Tasche zu ihrem großen Erstaunen an der Haltestelle der Lenin-Bibliothek gefunden: Sie wartete mitten im Fenster des Metroaufseherkabuffs auf ihre Besitzerin.

Der Zug bremste und hielt. Wenig später zog die Lokomotive mit einem Ruck an, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Erneutes Bremsen. Und Stopp. Die Lokomotive wunderte sich kurz, pfiff dann fröhlich und nahm entschlossen Fahrt auf. Für einen Moment klimperten ihre Räder, wie um Verzeihung bittend, aber kurz darauf ratterte der Zug zielstrebig vorwärts. Am anderen Ufer des Schneemeers sprang die Sonne hervor, erleuchtete kurz Erde und Himmel und verschwand wieder hinter uferloser Moorlandschaft. Der Mann musterte die junge Frau mit stechender Aufmerksamkeit.

»Ist deine Seele voller Träume? Na, träumen darf man. Auch der Taugenichts Iwan liegt auf der Ofenbank und träumt von einem Ofen, der sich bewegt, und einem Tisch, der sich selbst deckt, aber dieses Leben, das Leute, die klüger sind als ich, als Übergangsgefängnis bezeichnet haben, dieses Leben findet hier und jetzt statt. Schon morgen kann der Tod kommen und dich an den Eiern packen.«

Sein Gesicht leuchtete vor Selbstzufriedenheit. Er hatte einen schönen Mund, schmale Lippen und eine kleine Narbe am Kinn wie Trotzki.

»Der Tod kann kein bisschen schlimmer sein als das Leben.«

Er schloss die Augen und kniff die Lippen fest zusammen. Dann sang er leise vor sich hin.

»Hab keine Angst vorm Tod, mein Mädchen, solange du lebst, denn dann gibt es ihn noch nicht. Und wenn du gestorben bist, gibt es ihn nicht mehr.«

Er stieß ein paar Mal auf, lockerte die Schultern und streckte den Rücken durch.

Rote Blume

Sie legte das Buch auf den Tisch. Ach, Mitka!

Zärtlich packte der Mann das Radio in die Tasche und warf sich dann aufs Bett. Der späte Mond schaukelte haltlos über dem wilden Gelände.

»Endlich scheint das Eis zu brechen, Mädelchen«, stellte der Mann leichthin fest. »Jetzt kann ich einschlafen. Für den Schlafenden ist das Leben leichter.«

Sie sah zu, wie der Mann im Schlaf schnaufte. Er hatte etwas an sich. Vielleicht waren es seine Kohlblattohren. Seine Art, das Messer zu halten. Sein flacher, muskulöser Bauch. Sie nahm wahr, wie der Schein am westlichen Himmel für einen Moment das ganze Weltall purpurn färbte und wie am schwarzen Firmament die Sterne aufblitzten, einer nach dem anderen.

Sie dachte an Mitka, an seine langen Wimpern, an die vollkommenen Zehen, an das nach innen gekehrte Lächeln. An den Tag, an dem sie im strömenden Regen ins Museum der Streitkräfte geflohen waren, wie sie sich in einem Panzer versteckt hatten und wie der Aufseher sie nach der Schließung gefunden hatte. Das alles hatte dazu geführt, dass sie noch in den frühen Morgenstunden mit dem Aufseher im Wachhäuschen mit Sektgläsern anstießen. Mitka, dessen Zimmertür immer offen bleiben musste, war in die Psychiatrie gegangen, damit er nicht zur Armee musste und nicht nach Afghanistan in den Krieg.

Und durch die Dunkelheit hindurch gefror die Nacht zu einem roten Morgenanbruch vor dem Fenster. Der gelbe Mond kehrte den letzten leuchtenden Stern vor der feurigen Sonne hinweg. Und langsam wurde ganz Sibirien hell. Zwischen den Betten machte der Mann in blauen Trainingshosen, weißem Hemd und mit Schweiß auf der Stirn Liegestütze; verschlafene Augen, trockener, übel riechender Mund, im Abteil der klebrige Gestank des Schlafs, ein Fenster, das nicht atmete, stille Teegläser auf dem Tisch, schweigende Krümel auf dem Boden. Ein neuer Tag stand bevor, seine orangefarbenen Reifbirken und Kiefern, hinter denen verborgen Tiere umgingen, und auf den offenen Mooren wellte sich frischer Schnee, weiße, flatternde Unterhosen, schlaffe Penisse, Mischi, Maschi, Muschi, weite Blumennachthemden aus Flanell, Wollsocken, Schals, Zahnbürsten mit in alle Richtungen abstehenden Borsten.