Iny Lorentz

Feuertochter

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Iny Lorentz

Hinter dem Namen Iny Lorentz verbirgt sich ein Münchner Autorenpaar, dessen erster historischer Roman »Die Kastratin« die Leser auf Anhieb begeisterte. Mit »Der Wanderhure« gelang ihnen der Durchbruch; der Roman erreichte ein Millionenpublikum. Seither folgt Bestseller auf Bestseller. Die Romane von Iny Lorentz wurden in zahlreiche Länder verkauft.

Besuchen Sie auch die Homepage der Autoren: www.iny-lorentz.de

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2012 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Regine Weisbrod

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München / Kostümbild Monika Buttinger

ISBN 978-3-426-41587-0

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Personen

Die Iren:

Bríd: Magd auf der Ui’Corra-Burg

Eachann: Händler

Ionatán: Tagelöhner der Ui’Corra

Maeve: Ionatáns Frau

Maitiú: Priester

Ní Corra, Ciara: Schwester Oisin O’Corras

Ní Corra, Eibhlín: Oisins und Ciaras Mutter

Ní Corra, Saraid: Ciaras und Oisins Cousine

O’Connor, Teige: Ire

O’Corra, Aithil: Oisin O’Corras Unteranführer

O’Corra, Buirre: Oisin O’Corras Verwalter

O’Corra, Oisin: Anführer des Ui’Corra-Clans

O’Corra, Seachlann: Buirres Untergebener

O’Corraidh, Deasún: Ire

O’Rueirc, Cuolán: Ire

Toal: Hütejunge der Ui’Corra

Die Engländer

Crandon, John: englischer Offizier

Darren, Humphrey: englischer Offizier

Haresgill, Richard: englischer Siedler

Maud: Londoner Hure

Mathison, James: englischer Offizier

Tim: Trödler in London

Die Deutschen:

Hans: Pförtner auf Kirchberg

Hufeisen, Cyriakus: deutscher Söldner

Moni: Magd auf Kirchberg

von Kirchberg, Ferdinand: Franz’ Neffe

von Kirchberg, Irmberga: Franz’ Ehefrau

von Kirchberg, Franz: Herr auf Schloss Kirchberg

von Kirchberg, Simon: Franz’ Neffe.

Andere:

de Cazalla, Luis: spanischer Offizier

Vandermeer, Dries: flämischer Offizier

Geschichtliche Personen:

Bacon, Anthony: Sekretär des Earls of Essex

Bagenal, Henry: englischer Offizier

Blount, Charles: Baron Mountjoy

Cecil, Robert: englischer Staatsmann

Devereux, Robert: Earl of Essex

Elisabeth: Königin von England

O’Domhnaill, Aodh Ruadh: von den Engländern Hugh O’Donnell genannt, Rí von Tir Chonaill

O’Néill, Aodh Mór: von den Engländern Hugh O’Neill genannt, Earl of Tyrone

Erster Teil:
Leuchtender Klee

1.

Saraid schreckte hoch, als jemand sie ungeduldig anstieß. Erschrocken riss sie die Augen auf und sah die Mutter über sich gebeugt. In der einen Hand eine Fackel, in der anderen den Dolch, den sie nicht einmal abgelegt hatte, um ihre Tochter zu wecken.

»Aufstehen, Kind! Wir müssen fliehen!«

»Fliehen?«, fragte das Mädchen verwundert. Erst langsam nahm es das Geschrei und die Rufe wahr, die von draußen hereindrangen.

»Zieh dich an! Ich hole Ciara.« Mit diesen Worten eilte die Mutter aus der Kammer und ließ Saraid in der Dunkelheit zurück.

»Ich sehe nichts! Wie soll ich mich denn anziehen?«, rief die Kleine noch, doch es war niemand mehr da, der ihr hätte Antwort geben können. Sie begriff jedoch, dass Eile nottat. Daher kroch sie aus dem Bett, tastete nach ihrem Kittel und streifte ihn über. Hoffentlich ist er nicht verkehrt herum, dachte sie noch, vergaß das Problem aber, als ein entsetzlicher Schrei durch die Burg hallte.

Erschrocken tastete Saraid sich zur Tür und schlüpfte hinaus. Auf dem Korridor war es etwas heller. Eine greinende Magd rannte an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken.

»Was ist los?«, rief Saraid. »Wieso müssen wir fliehen?«

Niemand antwortete ihr. So trat sie an eine der als Fenster dienenden Schießscharten und schrie auf.

Im Burghof wurde gekämpft. Saraids Vater verteidigte mit dem Mut der Verzweiflung die Tür des Wohnturms gegen drei Feinde. In einem der Angreifer erkannte Saraid Lochlainn O’Néill, der am Vortag als Bote von Aodh Mór O’Néill in die Burg gekommen war, um über einen Frieden zwischen seinem Clan und den Ui’Corra zu verhandeln.

So jung Saraid auch war, so begriff sie doch, dass Lochlainn O’Néill in der Nacht heimlich das Tor der Burg geöffnet und Feinde hereingelassen hatte.

»Verfluchte Ui’Néill!«, schrie sie auf und wünschte sich, ein Krieger wie ihr Vater zu sein, den selbst drei Männer nicht zu bezwingen vermochten. Ein halbes Dutzend weiterer Ui’Corra-Krieger stemmte sich ebenfalls den Feinden entgegen. Doch es kamen immer mehr Ui’Néill durch das offene Burgtor, und hinter ihnen tauchten Männer in blanken Rüstungen und Waffenröcken auf, auf denen das verhasste englische Wappen prangte.

»Verfluchte Sasanachs!«, zischte Saraid.

Da klang erneut die Stimme ihrer Mutter auf. »Saraid, komm endlich! Du musst Ciara tragen. Wir Frauen haben alle Hände voll zu tun!«

»Ja, Mama!« Noch während Saraid es sagte, wurde ihr auch schon der Säugling in die Arme gedrückt. Ihre Mutter und die anderen Frauen rafften Wertsachen und persönliche Erinnerungsstücke an sich, die sie nicht den Feinden überlassen wollten.

Ciaras Mutter Eibhlín Ní Corra nahm die Clanharfe von ihrem Platz, hängte sie aber sogleich wieder zurück. »Wir können sie nicht mitnehmen – wie so vieles andere. Gott soll diese verräterischen Ui’Néill mit der Pest schlagen!«

Dann blickte sie kurz zu Saraid hin. »Du musst auf Ciara achtgeben, Saraid, verstehst du?«

Die Kleine nickte. »Ja, Tante Eibhlín.«

Die Frau des Clanchefs nickte ihr zu, hob das Bündel auf, in dem sie die wichtigsten Urkunden und Besitztümer des Clans verstaut hatte, griff nach einem Schwert und stieg nach unten. Saraids Mutter und die anderen Frauen folgten ihr auf dem Fuß, während Saraid noch einen raschen Blick in den Burghof warf. Dort wimmelte es mittlerweile vor Feinden. Die wenigen Ui’Corra, die sich dem Eindringling noch entgegenstemmten, standen auf verlorenem Posten.

»Saraid, komm endlich!«

Der scharfe Ruf der Mutter brachte das Mädchen zur Besinnung. Sie drückte die weinende Ciara fest an sich, rannte zur Treppe und achtete sorgsam darauf, auf dem Weg nach unten nicht zu stolpern. Sie schnupfte ihre Tränen; ihre Mutter und Tante Eibhlín hatten ihr eine Aufgabe erteilt, und sie durfte die beiden nicht enttäuschen.

»Wir schaffen es, Ciara«, flüsterte sie dem Säugling ins Ohr und versuchte damit auch sich selbst zu beruhigen.

Inzwischen hatte Eibhlín Ní Corra eine geheime Tür in der Vorratskammer geöffnet, von der selbst Saraid nichts gewusst hatte, und betrat als Erste den engen Gang. Saraids Mutter folgte ihr, und dann wurde Saraid selbst in die Öffnung geschoben. Das Mädchen stolperte hinter dem Licht einer blakenden Kerze her durch die feuchtklamme Dunkelheit.

»Wenn wir draußen auf Feinde stoßen, versteckst du dich mit Ciara und sorgst dafür, dass sie nicht schreit. Sonst verrät sie euch«, erklärte Eibhlín Ní Corra Saraid am Ende des Gangs und gebot ihr zu warten, während sie die Ausfallpforte öffnete und hinausblickte.

»Es ist niemand zu sehen«, sagte sie leise und schlich hinaus. Von der Burg her erklangen immer noch Waffenlärm und wilde Schreie. Die Krieger der Ui’Corra wehrten sich bis zum Äußersten, um der Frau ihres Anführers, deren Tochter und den übrigen Frauen die Flucht zu ermöglichen.

Obwohl Eibhlín Ní Corras Herz blutete, dankte sie den Männern für diesen letzten Dienst. Für sie und ihre Schutzbefohlenen hieß es nun, schnell zu sein.

»Lauft!«, befahl sie. »Wir müssen das Moor erreichen, bevor uns Verfolger im Nacken sitzen. Nur dort können wir ihnen entkommen.«

»Was ist mit den anderen?«, fragte Saraids Mutter besorgt.

»Wer bis jetzt noch nicht aufgewacht ist, ist entweder taub oder tot«, antwortete Eibhlín Ní Corra schroff. »Alle werden nun wissen, dass wir verraten worden sind und fliehen müssen. Zudem kennt jeder den Platz, an dem wir uns sammeln wollen. Wir werden unsere Clanangehörigen entweder dort treffen oder beweinen.«

»Und wo sollen wir hingehen?«, fragte eine Magd, deren vorgewölbter Bauch auf ihre baldige Niederkunft hinwies.

»Uns bleibt vorerst nur ein Weg, nämlich der nach Tir Chonaill. Dort steht ein Wehrturm, der von alters her meiner Sippe gehört. Er liegt so verborgen, dass ihn weder die verräterischen Ui’Néill noch der dreimal verfluchte Richard Haresgill finden werden. Ich werde meinem Gemahl Botschaft nach Frankreich schicken, damit er mit Oisin und den anderen Kriegern zurückkehrt. Dann wird die gerechte Strafe unsere Feinde ereilen!«

Eibhlín Ní Corra klang so überzeugt, dass Saraid und die meisten Frauen ihr uneingeschränkt Glauben schenkten. Nur wenige begriffen, dass die Macht des eigenen Clans niemals ausreichen würde, sich ohne Unterstützer sowohl gegen die mächtigen Ui’Néill wie auch gegen dessen englische Verbündete zu behaupten. Zu dieser Stunde ging es allein darum, das eigene Leben zu retten, und das würde ihnen schwer genug fallen.

Nach wenigen hundert Schritten stießen sie auf die ersten Clanangehörigen, die ihr Dorf in der Nähe der Burg fluchtartig verlassen hatten. Jeder Mann und jede Frau schleppte so viel, wie sie tragen konnten. Unter ihnen waren mehrere Jungen, die anstelle von Spielzeugwaffen echte Schwerter in Händen hielten und ihren Mienen nach gewillt waren, sich und die anderen gegen jeden Feind zu verteidigen.

Saraids Vettern Aithil und Buirre gesellten sich sofort zur Frau des Clanführers.

»Wie konnte das geschehen?«, fragte Aithil.

»Die Ui’Néill haben uns an Richard Haresgill verraten. Möge Gott es ihnen heimzahlen!«, antwortete Eibhlín Ní Corra mit hasserfüllter Stimme. Sie musterte die kleine Gruppe. »Bewegt euch! Der Kampflärm verebbt, bald werden uns die Ui’Néill und die Männer dieses englischen Bluthunds im Nacken sitzen.«

»Wir sollten die Fackeln löschen«, schlug Saraids Mutter vor, doch Eibhlín schüttelte den Kopf.

»Dann kommen wir in der Dunkelheit nicht rasch genug voran. Uns rettet nur das Moor, denn wir sind die Einzigen, die die Wege hindurch kennen. Bis die Verfolger es umgangen haben, sind wir über alle Berge.«

Es waren die letzten Worte, die in der nächsten Stunde zwischen den beiden Frauen fielen. Eibhlín Ní Corra strebte so energisch voran, dass die anderen kaum mithalten konnten. Nach einer Weile blieb die schwangere Magd stehen und schüttelte den Kopf. »Geht ihr allein weiter. Ich kann nicht mehr!«

»Du kannst!«, fuhr Eibhlín Ní Corra sie an und befahl Aithil, der Frau beizustehen.

Weitere Ui’Corra kamen aus den Dörfern und schlossen sich dem Flüchtlingszug an. Einige trieben Schafe, andere sogar ein paar Kühe vor sich her. In der Hinsicht konnte Eibhlín zufrieden sein. Sie hatte ihren Leuten unermüdlich erklärt, was geschehen müsse, wenn ein fremder Clan oder gar die Soldaten dieser Engländerin Elisabeth die Burg stürmen würden, und viele hatten sich offenbar daran gehalten.

Trotzdem machte sie sich Sorgen. Um voranzukommen, brauchten sie die Fackeln, und deren Licht konnte der Feind auf etliche hundert Schritt Entfernung sehen.

»Nur das Moor bietet uns Schutz«, wiederholte sie wie ein Gebet, während sie weiterlief. Kurz wandte sie sich zu ihrer Tochter um und sah deren kindliche Trägerin mit entschlossenen Schritten hinter ihr herstapfen. Ciara hatte die Augen offen, gab aber keinen Laut von sich, als hätte sie den Ernst der Lage erkannt.

»Brav, Saraid!«, lobte Eibhlín Ní Corra ihre Nichte und überlegte, ob sie ihr den Säugling kurz abnehmen sollte. Doch ihr Bündel wog so viel, wie sie gerade noch tragen konnte, und sie benötigte ihre rechte Hand für das Schwert. Aithil und Buirre mochten mutige Bürschlein sein, aber mit ihren elf und zwölf Jahren waren sie keine ernstzunehmenden Gegner für einen ausgewachsenen Ui’Néill oder gar einen Engländer. Die meisten anderen Männer waren Knechte und Tagelöhner, die sich bislang nur mit ihresgleichen im Ringkampf und Stockfechten gemessen hatten. Auch diesen waren die Angreifer haushoch überlegen.

Und was konnte sie selbst ausrichten?, fragte sich Eibhlín Ní Corra. Wohl nicht viel, gab sie sich zur Antwort. Aber sie war die Frau des Taoiseachs und für ihre Leute verantwortlich. Daher musste sie notfalls ihr Leben opfern, damit diese mit ihrer Tochter entkommen konnten.

2.

Schon glaubten sie, sie hätten es geschafft. Das Moor lag vor ihnen, als eine der Frauen sich umdrehte und erschrocken aufschrie. »Die Engländer!«

Eibhlín Ní Corra riss es herum. Tatsächlich folgte ihnen ein Trupp Reiter und würde sie bald eingeholt haben.

»Schneller!«, rief sie, blieb aber selbst zurück.

Aithil kam an ihre Seite und fuchtelte mit seinem Schwert. Dann gesellten sich noch zwei Männer mit langen Stöcken zu ihr.

»An uns kommen die nicht vorbei«, flüsterte Aithil mit blassen Lippen.

Als auch noch Buirre heraneilte, schüttelte die Anführerin den Kopf. »Ich habe einen Auftrag für euch zwei! Das hier sind alle wertvollen Urkunden und Schriften unseres Clans. Sie müssen unbedingt gerettet werden. Außerdem müsst ihr Ciara und Saraid beschützen.«

Ohne auf den Widerspruch der beiden Knaben einzugehen, drückte sie ihnen ihr Bündel in die Hände und wandte sich dann dem ersten Engländer zu, der sie im nächsten Augenblick eingeholt haben würde.

»Brate in der Hölle, Sasanach!«, schrie sie und schwang ihr Schwert.

Der Berittene lachte höhnisch und wollte sie mit dem Fuß niederstoßen, bezahlte seinen Leichtsinn aber mit einer heftig blutenden Wunde. Bevor er selbst mit dem Schwert zuschlagen konnte, stießen ihn die beiden Knechte mit ihren Stöcken aus dem Sattel. Ein Dolch blitzte auf, und es gab einen Engländer weniger auf der Welt.

Eibhlín Ní Corra sah es mit grimmiger Zufriedenheit. Zudem stellte sie mit Erleichterung fest, dass ihre Clanangehörigen mittlerweile den schwankenden Boden erreicht hatten, der für Pferde kaum passierbar war. Ein Knecht, dem das Moor vertraut war, führte die Gruppe in das sumpfige Gebiet hinein.

Da schloss ein weiterer Engländer zu Eibhlín Ní Corra auf. Es war Richard Haresgill, der sich mit Aodh Mór O’Néill verbündet hatte, um das Land der Ui’Corra in Besitz zu nehmen. Mittlerweile dämmerte es, und er meinte in der Miene der Clanchefin lesen zu können, dass sie bereit war, ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Angesichts der Leichtigkeit, mit der die Frau mit einem seiner Gefolgsleute fertig geworden war, zügelte er sein Pferd und ließ seinen Reitern den Vortritt.

Diese waren durch den Tod ihres Kameraden gewarnt und gingen es vorsichtig an. Um nicht umzingelt zu werden, mussten Eibhlín Ní Corra und ihre Knechte zur Seite ausweichen und gerieten auf festen, mit niederem Gestrüpp bestandenen Boden, der die Reiter nur wenig behinderte.

»Lauft! Lauft!«, schrie die Clanchefin ihren Begleitern zu, wirbelte herum und begann in Richtung des Moores zu rennen.

Sofort gellte Richard Haresgills Stimme auf. »Achtung, das ist Eibhlín O’Corra! Holt sie euch! Eine Belohnung für denjenigen, der sie lebend fängt und mir zu Füßen legt! Außerdem könnt ihr alle sie haben, wenn ich mit ihr fertig bin …«

Eibhlín Ní Corra wurde schneller, vernahm aber kurz darauf das Schnauben eines Pferdes hinter sich und fuhr herum. Ihre Klinge zuckte durch die Luft, traf aber nur auf Eisen und glitt ab. Gleichzeitig spürte sie einen harten Schlag gegen den linken Arm und sah ihr Blut fließen. Um dem nächsten Hieb des Engländers zu entgehen, ließ sie sich zu Boden fallen und rollte zur Seite. Einer ihrer Knechte drosch mit seinem Stab auf den Mann ein und wurde dann selbst ein Opfer der englischen Klinge. Aber er hatte seiner Clanchefin die Zeit verschafft, wieder auf die Beine zu kommen und weiterzurennen. Als sie das Moor erreichte, war ihr bewusst, dass sie sich nicht auf einem ihr bekannten Weg befand. Doch der Tod in der alles verschlingenden Tiefe dieses Sumpfs war ihr allemal lieber, als in Richard Haresgills Hände zu fallen.

Voller Entsetzen war Saraid stehen geblieben und hatte gesehen, wie ihre Tante verletzt wurde und wieder auf die Beine kam. Dann aber schien Eibhlín Ní Corra verloren, denn zwei Engländer folgten ihr und hatten sie fast erreicht. Da sank die Clanchefin mit einem Bein bis zum Knie ein und konnte sich gerade noch befreien. Im nächsten Augenblick war der erste Engländer heran und hob seine Waffe, um ihr das Schwert aus der Hand zu prellen. Doch hoch zu Ross und mit Eisen am Leib war er um vieles schwerer als die Fliehende, und als er sich nach vorne beugte, um zuzuschlagen, gab der Moorboden unter den Hufen seines Gauls nach, und das Tier sank ein. Der Mann verlor den Halt und stürzte über den Hals des Pferdes hinweg kopfüber in den Sumpf. Erschrocken rissen die anderen Verfolger ihre Pferde zurück und starrten entsetzt auf die Stelle, an der ihr Kamerad versank. Nach wenigen Herzschlägen sahen nur noch seine Beine heraus, die sich krampfhaft bewegten. Dann war es vorbei.

Außer sich vor Wut versuchte Richard Haresgill, seine Männer anzutreiben, doch diese kehrten auf trockenen Boden zurück und hoben abwehrend die Hände. »Das Moor ist des Teufels! Da kommen wir nicht durch.«

»Seid ihr Männer oder Memmen?«, tobte Haresgill.

Dabei war auch ihm der Tod seines Gefolgsmanns in die Knochen gefahren, und er würde sein Pferd keinen Schritt weit in dieses unheimliche Gebiet hineinlenken. Deshalb musste er voller Ingrimm mit ansehen, wie Eibhlín Ní Corra mit einer noch recht ansehnlichen Schar weiterzog und irgendwann zwischen mannshohem Gebüsch und einzelnen Bäumen verschwand. Das Letzte, was er von ihr vernahm, waren selbstbewusste Worte: »Wir kommen wieder, Richard Haresgill! Dann wirst du für alles bezahlen, und Aodh Mór O’Néill ebenfalls!«

Eibhlín Ní Corra war zuversichtlich, denn sie ahnte nicht, dass es achtzehn Jahre dauern würde, bis die Ui’Corra wieder den Fuß auf heimatliche Gefilde setzen konnten.

3.

Für einen Augenblick sah Ciara Ní Corra noch dichten Wald um sich, mit mächtigen Laubbäumen, hohen Farnen und von den Ästen herabhängenden Flechten, im nächsten aber blickte sie in ein weites, von dicht bewachsenen Hügeln umgebenes Tal hinab. Eine gute halbe Meile von ihr ragte ihre verlorene Heimat, die Burg der Ui’Corra, über einer vom Fluss gebildeten Halbinsel auf. Bei diesem Anblick hielt es Ciara nicht mehr bei ihren Leuten. Zwar mochten sich immer noch versprengte Engländer im Tal herumtreiben, aber in ihrer Begeisterung schob sie jeden Gedanken an eine Gefahr beiseite und rannte den Hügel hinab. Vor ihr leuchtete der Klee grüngolden im Sonnenlicht. Lachend riss Ciara sich die Schuhe von den Füßen und tanzte selig auf den dichten, weichen Pflanzen.

Sie selbst konnte sich nicht an die Heimat ihres Clans erinnern, die dieser vor fast zwei Jahrzehnten verloren und nun wiedergewonnen hatte. Aber ihre Cousine Saraid, die sieben Jahre älter war als sie, hatte ihr alles genau beschrieben. Nun konnte sie den großen Wehrturm, den ihr Großvater Cahal O’Corra hatte errichten lassen, um sich gegen die Knechte des englischen Königs Heinrich VIII. zu behaupten, mit eigenen Augen sehen und auch die große Halle daneben, die weitaus älter war als der Turm. Dort hatten ihre Vorfahren viele glorreiche Siege gefeiert. Dem Vernehmen nach sollte bereits der ruhmreiche Hochkönig Brian Boru dort seinen Met getrunken haben.

»Einen Mann wie Brian bräuchten wir jetzt wieder«, sagte Ciara leise. Doch einen Brian Boru gab es in ganz Irland nicht mehr. Stattdessen mussten sie auf Aodh Mór O’Néill vertrauen, der vor zwanzig Jahren den Engländern geholfen hatte, ihren Clan von seinem Land zu vertreiben. Nun sollte ausgerechnet dieser Clanführer die verhassten Besatzer aus Uladh vertreiben. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob das gutgehen konnte.

Schnell schob Ciara ihre düsteren Gedanken beiseite, denn dieser Tag war viel zu schön, um sich Sorgen hinzugeben. Lieber genoss sie die Aussicht über das Tal der Ui’Corra: Ein Stück hinter der aus grauen Steinquadern errichteten Burg lag das erste Dorf, und ihr war es, als grüßten die mit Reet gedeckten Häuser der Clanangehörigen zu ihr hinüber. Selbst die bescheidenen Katen der Knechte und Tagelöhner konnte sie erkennen, die sich hinter den größeren Anwesen zu verstecken schienen. Rauch, der aus den Dachöffnungen mehrerer Katen stieg, zeigte an, dass sie bewohnt waren.

Sie werden froh sein, der Herrschaft der Engländer und deren ketzerischen Priestern entkommen zu sein, dachte Ciara zufrieden, während sie sich umdrehte, um nach ihren Leuten zu sehen.

Diese verließen gerade den Wald, dessen dicht stehende Bäume zusammen mit dem üppigen Unterholz verhinderten, dass größere Scharen ihn geschlossen durchqueren konnten. Das erleichterte es den Ui’Corra, die einzige Straße, die durch das Tal führte, mit wenig Aufwand zu verteidigen. Allerdings schützte der Wald sie nicht vor Verrätern. Solche waren schuld daran gewesen, dass der Clan damals den Kampf gegen die Engländer und ihre irischen Verbündeten und damit seine Heimat verloren hatte.

Wieder schob Ciara die traurigen Gedanken von sich. Sie wollte den warmen, sonnigen Tag genießen, an dem sie endlich in ihr Tal und zu den Wurzeln ihrer Familie zurückgekehrt war.

Noch während sie sich diesem wunderbaren Gefühl hingab, kam Saraid ebenfalls barfuß und mit gerafftem Rock auf sie zu. In der Hand hielt sie einen langen Stecken, der gleichermaßen als Waffe gegen wilde Tiere wie gegen unerwartete Gegner diente. Nun blieb sie vor Ciara stehen. »Es war sehr unvernünftig von dir, so weit vorauszueilen, Tochter der Ui’Corra. Hätte dieser elende Richard Haresgill ein paar seiner Schurken hier zurückgelassen, wäre ihm mit dir eine wertvolle Geisel in die Hände gefallen. Oder die Kerle hätten dich direkt umgebracht!«

Ciara senkte schuldbewusst den Kopf. »Ich wollte dir keine Sorgen bereiten, Saraid. Aber da Oisin uns mitteilen ließ, Haresgill habe die Burg und das Tal mitsamt seinen Männern verlassen, war ich sicher, dass mir nichts zustoßen könnte.«

»Traue niemals einem Engländer! Dieses Volk ist zu Betrug und Hinterlist geboren«, antwortete Saraid Ní Corra, um ihrer Cousine den Kopf zurechtzusetzen. »Daher wirst du jetzt bei uns bleiben, während Buirre mit zwei Männern vorausgeht und nachsieht, ob dieses Geschmeiß wirklich verschwunden ist.«

Sie drehte sich um und gab ihrem Ehemann einen Wink. Dieser nickte und lief von zwei Gefährten gefolgt in das Tal hinein.

»Man kann nie vorsichtig genug sein«, erklärte sie Ciara. »Etwas anderes wäre es, wenn der Taoiseach bereits eingetroffen wäre und das Tal gesichert hätte.«

Saraid nannte Ciaras Bruder meist den Taoiseach, um zu betonen, was für eine bedeutende Person er sei. Auch was Ciara betraf, achtete sie streng darauf, dass diese sich wie die Schwester des Clanführers benahm.

»Wir Ui’Corra mögen arm sein, aber wir haben unseren Stolz«, hatte Saraid gesagt, als sie den uralten, unbequemen Turm an der Küste von Tir Chonaill verlassen hatten, in der seit ihrer Flucht ihre Wohnstatt gewesen war. Jetzt hoffte sie genauso wie die anderen Angehörigen des Clans auf bessere Zeiten.

Trotzdem war sie nicht zufrieden. »Es ist ein Jammer, dass der Taoiseach sich einem Ui’Néill unterwerfen musste. Wer sind die schon? Doch auch nur Mörder und Brandstifter! Außerdem haben sie sich oft genug mit den Engländern eingelassen und sogar einen Titel von deren Königin erhalten. Aodh Mór O’Néill, der Taoiseach der Ui’Néill, lässt sich von den Engländern Hugh O’Neill, Earl of Tyrone nennen! Obwohl er sich endlich gegen das Gesindel gewandt hat, beharrt er auf diesem Titel.« Saraid spie voller Verachtung aus.

Nun vermochte auch Ciara den Schatten der Vergangenheit nicht mehr auszuweichen.

Doch sie kam nicht zu Wort, denn Saraid sprach mit zorniger Stimme weiter. »Ich habe nicht vergessen, dass Aodh Mór O’Néill diesem dreimal verfluchten Richard Haresgill geholfen hat, unseren Clan von hier zu vertreiben. Dafür hat dieser Verräter ein Drittel unseres Landes als Judaslohn erhalten! Nun muss der Taoiseach das Haupt vor ihm beugen, und du wirst knicksen, wenn du ihm begegnest – was hoffentlich nie geschehen wird! Ich traue keinem Ui’Néill, besonders ihrem Anführer nicht, seit Eachann O’Néill unseren Taoiseach Bran hinterrücks ermordet hat, als dieser ihn dabei erwischte, wie er seinen besten Zuchthengst stehlen wollte.«

»Aber Saraid! Das ist fast zweihundert Jahre her«, rief Ciara kopfschüttelnd.

»Die Ui’Néill waren damals üble Schurken, sind es jetzt noch und werden es für alle Zeit bleiben!«

Damit hatte Saraid ihr Urteil über den mächtigsten Clan in Uladh gefällt. Dabei wusste sie, dass ihr Clan ohne Aodh Mór O’Néills Unterstützung niemals in die Heimat hätte zurückkehren können. Trotzdem fand sie noch ein Haar in der Suppe.

»Ich sagte bereits, dass der O’Néill sich von Haresgill ein Drittel unseres Landes für seine Unterstützung geben ließ. Gibt er es uns jetzt etwa zurück? Als Buirre mit der Nachricht des Taoiseachs kam, wir könnten in unsere Heimat zurückkehren, und ich ihn danach fragte, ist er mir ausgewichen. Also behält der O’Néill seinen Raub, während uns nur der Anteil bleibt, den sich dieser verfluchte Ketzer Haresgill damals angeeignet hat.«

Saraids Gekeife wurde Ciara langsam zu viel. »Wir können froh sein, dass wir überhaupt nach Hause kommen dürfen! Du weißt, wie wir an der Küste gelebt haben, mit Äckern, auf denen kein Halm wachsen wollte, und mageren Wiesen, auf denen kein Schaf und keine Kuh auch nur eine Unze Fett ansetzen konnten.«

»Trotzdem ist es nicht gerecht«, murrte Saraid, für die zuerst Gott kam, danach in absteigender Reihenfolge ihr Anführer Oisin, dessen Schwester Ciara, sie selbst und mit gewissem Abstand ihr Ehemann Buirre und die anderen Angehörigen des Clans. Erst weit dahinter war sie bereit, die Anführer befreundeter irischer Clans anzusiedeln. Ein Aodh Mór O’Néill stand in ihrem Ansehen gerade noch über den Engländern, und sie würde ihm so lange keinen höheren Stand zubilligen, wie er auch nur einen Morgen ehemaliges Ui’Corra-Land besaß.

Ciara gab es auf, mit Saraid zu diskutieren, und deutete nach vorne. »Buirre und die anderen haben die Burg erreicht, und es sind keine Feinde zu sehen.«

»Wenn etwas die Hinterhältigkeit der Engländer übertrifft, so ist es ihre Feigheit«, schnaubte Saraid.

Sie blickte jedoch ebenso angespannt auf das Burgtor wie Ciara und atmete auf, als ihr Mann nach einer Weile heraustrat und ihnen zuwinkte, dass sie kommen sollten. Nun liefen sie, so schnell sie konnten, auf die Burg zu und waren völlig außer Atem, als sie das Tor erreichten.

Dort stand Buirre gegen die Wand gelehnt, einen Grashalm zwischen den Zähnen, und zeigte auf einen Wagen, den sie vom Hügel aus nicht hatten sehen können. »Haresgill schien es so verdammt eilig gehabt zu haben, von hier wegzukommen, dass er den vollbeladenen Karren dort hat stehen lassen.«

Rasch warf Ciara einen Blick auf das Gefährt und sah kunstvoll gedrechselte Möbelstücke auf ihm liegen, deren Verlust Haresgill arg schmerzen würde. Dabei wusste sie selbst nicht, ob sie das Zeug verwenden konnten. In dem alten Turm am Meer hatten sie nur das Nötigste besessen, und selbst das hatten die Clanleute aus Treibholz schreinern und schnitzen müssen.

Saraid hingegen sah die Möbel als willkommene Beute an. »Die sind zwar nicht so schön wie jene, die wir damals zurücklassen mussten, als Haresgill und die Ui’Néill uns überfallen haben, aber wenigstens können wir damit unseren Gästen zeigen, dass wir Ui’Corra nicht vom Erdboden essen müssen.«

Sie nickte ihrem Mann kurz zu und durchschritt hoch erhobenen Hauptes das Tor.

Ciara betrat ebenfalls die Burg und sah sich in dem kleinen Innenhof um. Dort lagen etliche Gegenstände herum, die von Haresgills Leuten aus dem Wohnturm und der Halle herausgeholt worden waren und die sie dann doch nicht hatten mitnehmen können. Das meiste davon hatten die Engländer jedoch zerstört.

Saraid trat mit zornglühendem Gesicht zu einer zerschlagenen Harfe. »Das hier war die Clanharfe der Ui’Corra. Auf der haben unzählige Barden unserer Sippe gespielt. Oh, hätten wir sie damals doch nicht zurückgelassen!«

»Wer hätte sie tragen sollen?«, fragte ihr Mann. »Unsere Krieger standen im Kampf, wir Jungen mussten das Vieh treiben, und die Frauen und Mädchen haben alles mitgenommen, was sie tragen konnten. Du selbst hast die kleine Ciara all die Meilen bis zum Meer geschleppt, weil keines der älteren Mädchen die Hände frei hatte.«

Das war zwar richtig, dennoch empfand auch Ciara beim Anblick der zerstörten Harfe tiefen Schmerz. Auf das eingeschnitzte Clansymbol der Ui’Corra hatte jemand sogar seine Notdurft verrichtet.

»Engländer, sage ich nur! Das ist ein Volk ohne Kultur und Manieren.« Saraid schnaubte und wies ihre Leute an, als Erstes hier im Hof aufzuräumen.

Ciara war klar, dass ihre Base ebenfalls kräftig zupacken würde, und ärgerte sich darüber, dass sie ihr einziges gutes Kleid trug. Es war zu wertvoll, als dass sie darin hätte mithelfen können. »Bringt die Truhe mit meinen Sachen gleich in eine Kammer, damit ich mich umziehen kann«, befahl sie, kam damit aber bei Saraid nicht gut an.

»Das kommt überhaupt nicht in Frage! Du bist die Tochter der Ui’Corra und kannst weder deinen Bruder noch dessen Gäste in einem Kleid empfangen, das höchstens für eine Magd geeignet ist.«

»Aber wir wissen doch gar nicht, wann Oisin kommt«, wandte Ciara ein.

»Der Taoiseach hat uns hierhergerufen und wird gewiss nicht lange auf sich warten lassen.« Für Saraid war die Sache damit erledigt. Das Mädchen nahm nach ihrem Bruder den zweithöchsten Rang im Clan ein und hatte sich entsprechend zu verhalten.

Ciara ärgerte sich, dass sie auf einmal an Konventionen gebunden war, die es in dem alten Turm am Meer nicht gegeben hatte. Missgelaunt durchquerte sie den Burghof und wich dabei dem Gerümpel aus, das die Engländer hier verstreut hatten. Auf einmal entdeckte sie einen kleinen Flecken Grün in einer Ecke. Als sie näher kam und sich niederbeugte, sah sie ein kleines Büschel Klee dort wachsen. Das erschien ihr als gutes Omen für ihre Rückkehr.

4.

Saraid sollte recht behalten. Noch am selben Nachmittag erreichte ein Reitertrupp das Tal und trabte auf die Burg zu. Über den Männern flatterten die Clanstandarten der Ui’Corra und der Ui’Néill lustig im Wind. Für Ciara war es ein denkwürdiger Augenblick, denn sie erinnerte sich nur an drei Begegnungen mit ihrem Bruder. Das erste Mal war er drei Jahre nach ihrer Flucht in dem alten Gemäuer am Meer aufgetaucht. Bis zum zweiten Mal vergingen gut sechs Jahre, in denen Oisin auf dem Kontinent dem König der Franzosen als Söldner diente, und weitere vier Jahre danach suchte er die alte Burg in Tir Chonaill noch einmal auf. Damals war er mit einem Freund aus Deutschland nach Irland gekommen, um zu sehen, ob die Zeit für einen Aufstand reif war.

Zu jener Zeit hatte Ciara sich weniger für die Kriegspläne ihres Bruders interessiert als für den fremden Gast. Simon von Kirchberg war ein junger, gutaussehender Mann gewesen, der immer fröhlich war und anregend zu erzählen wusste. Schon am ersten Abend hatte sie sich in ihn verliebt.

Nun ertappte sie sich dabei, dass sie hoffte, Simon von Kirchberg würde ihren Bruder begleiten. Doch als sie aus einem der oberen Fenster blickte, entdeckte sie nur Iren. Einige waren Clanangehörige, die Oisin nach Frankreich gefolgt waren, und andere trugen das Zeichen der Ui’Néill an ihren Kleidern. Darunter war auch der O’Néill selbst. Zwar hatte Ciara Aodh Mór O’Néill nie zuvor gesehen, doch so wie dieser Reiter saß nur ein Mann zu Pferd, der sich seiner Macht bewusst war. Sogar im Sattel wirkte er groß und breit. Sein Alter vermochte sie nicht zu schätzen, denn sein Gesicht verschwand unter einem Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. Ihr Bruder hatte sich nur einen kurzen Kinnbart stehen lassen, und auf seinem Kopf saß ein in ihren Augen lächerlicher, randloser Hut nach englischer Mode.

»Was machst du denn noch hier? Du musst hinuntergehen und die Gäste begrüßen! Versuch wenigstens, ein freundliches Gesicht zu machen, wenn du vor dem O’Néill stehst. Er ist es zwar nicht wert, aber wir sind auf ihn angewiesen.« Saraid war zu ihr getreten und scheuchte sie nun resolut aus dem Zimmer.

»Können wir unseren Gästen ein ausreichendes Mahl vorsetzen?«, fragte Ciara.

»Leicht wird es nicht werden, denn die Engländer haben vor ihrem Abzug in die Tonne mit dem Mehl gepinkelt und auch andere Sachen verunreinigt. Aber ich werde schon etwas finden, das ich auf den Tisch bringen kann.«

Saraid nahm ihre Aufgaben als Wirtschafterin der Burg ernst, und auch sonst lag ihr das Wohl des Clans, insbesondere das ihrer jüngeren Cousine, am Herzen. Als Schwester des Clanherrn hätte Ciara längst verheiratet sein müssen, doch diese Pflicht hatte Oisin O’Corra bisher vernachlässigt. Nun hoffte Saraid, dass es unter seinen Begleitern einen jungen Mann gab, der für Ciara als Ehemann in Frage kam.

Während Saraid die Zubereitung des Festmahls zu Ehren des Herrn dieses Landstrichs überwachte, trat Ciara auf den Burghof und stand nun ihrem Bruder und dessen Gästen gegenüber.

Oisin O’Corra, ein schlanker Mann mit ernster Miene, musterte seine Schwester kritisch. »Du bist seit dem letzten Mal noch ein ganzes Stück gewachsen, Maighdean!«

Das war nicht unbedingt die Begrüßung, die er sich vorgenommen hatte, doch die Schönheit und die hochgewachsene Gestalt seiner Schwester hatten ihn überrascht. Sie war nicht mehr das kleine, spitznasige Mädchen aus seiner Erinnerung. Während die meisten Mitglieder ihrer Familie rötliche oder blonde Haare hatten, war sie mit pechschwarzen Haaren geboren worden und hatte davon ihren Namen erhalten. Zwar waren ihre Haare immer noch dunkel, doch im hellen Sonnenschein schimmerten sie rot. Aus der dürren Vierzehnjährigen, die er in Erinnerung hatte, war eine junge Frau mit hellgrauen Augen, einem herzförmigen Gesicht und einer tadellosen Haltung geworden.

Als er auf sie zutrat, bemerkte er, dass sie nicht ganz so groß war, wie er auf den ersten Blick befürchtet hatte, denn sie reichte ihm gerade bis zur Nasenspitze. Nur ein klein gewachsener Mann würde von ihr überragt werden, und das vergrößerte die Anzahl möglicher Ehemänner beträchtlich. Er wusste allerdings immer noch nicht, wem er einmal ihre Hand geben sollte.

»Schön, dich wiederzusehen, Kleines«, sagte er, als sie ihn stumm anschaute.

Da nun Aodh Mór O’Néill neben ihren Bruder trat, versank Ciara in einen tiefen Knicks, wie er dem mächtigsten Mann in Uladh und womöglich in ganz Irland angemessen war. Auch wenn sie ihre Jugend in einem abgelegenen Turm an der öden Küste von Tir Chonaill verbracht hatte, sollte der O’Néill sehen, dass sie sich wie eine Edeldame zu benehmen wusste.

Der Earl of Tyrone, den die Engländer Hugh O’Neill nannten, betrachtete das junge Mädchen so, als habe er eine junge Stute vor sich, deren Wert er abschätzen musste.

Schließlich nickte er zufrieden. »Ihr habt ein prächtiges Füllen in Eurem Stall, O’Corra. Da werden die jungen Hengste bald herbeikommen und um Eure Schwester freien. Ich rate Euch dringend, bei der Wahl ihres Bräutigams sehr gut achtzugeben. Mir erscheint der Sohn eines Stammesführers in An Mhuma oder im Süden von Chonnacht am besten für sie geeignet zu sein.«

Obwohl seine Worte im freundlichen Ton gesprochen waren, entging Oisin O’Corra die Warnung nicht, die in ihnen lag. Aodh Mór O’Néill hatte ihm soeben deutlich klargemacht, dass er keine Verbindung zwischen den Ui’Corra und einer Familie in Uladh oder aus der direkten Nachbarschaft seines Herrschaftsgebiets wünschte.

»Ich habe mir noch keine Gedanken über einen möglichen Schwager gemacht, Sir«, antwortete er ausweichend. Über Ciaras Stirn huschte ein Schatten, als ihr Bruder den Gast mit einem englischen Titel anredete. Gerüchteweise hatte sie bereits vernommen, dass Aodh Mór O’Néill sogar stolz auf seine englischen Ränge sein sollte, die ihn über die Rís und Taoiseachs der anderen Clans hinaushoben. Doch davon durfte sie sich ebenso wenig beeindrucken lassen wie von der Tatsache, dass ihr Gast diese Burg hier vor knapp zwanzig Jahren als Verbündeter ihres Todfeinds Richard Haresgill betreten hatte.

»Seid mir willkommen im Heim der Ui’Corra«, begrüßte sie den O’Néill und wies mit einer einladenden Geste auf die Eingangstür der Halle.

Obwohl der Earl of Tyrone zustimmend nickte, eilten mehrere seiner Gefolgsleute voraus, um sicherzustellen, dass sie nicht doch ein Hinterhalt erwartete. Ciara fragte sich, vor wem sich Aodh Mór O’Néill am meisten fürchtete, vor den Engländern, auf deren Seite er so lange gekämpft hatte und die ihn nun als Verräter ansahen, oder vor den Iren, denen jene Zeit im Gedächtnis geblieben war. Doch es brachte nichts, die alten Rechnungen aufzutischen. Wenn ihr Clan seine Heimat behalten wollte, mussten sie so manche Kröte schlucken, selbst wenn sie so groß war wie das Oberhaupt der Ui’Néill.

Beim Betreten der Halle kniff der Earl verwundert die Augen zusammen, denn er konnte sich gut vorstellen, in welchem Zustand Richard Haresgill die Burg zurückgelassen hatte. Saraid und ihren Mitstreiterinnen war es jedoch gelungen, die Halle in der kurzen Zeit zu säubern. An den Wänden aufgehängte Büschel mit Heidekraut sorgten für einen angenehmen Duft, auf der frisch polierten Tafel standen Hammeleintopf und Lammbraten, und eben füllte eine junge Magd die Becher mit schäumendem Met.

Ciara bewunderte die Findigkeit ihrer Cousine, denn die Engländer hatten die meisten Vorräte verschmutzt und unbrauchbar gemacht. Auch viele der Met- und Bierfässer im Keller hatten die Abziehenden vorher noch zerschlagen. Saraid hatte kurzerhand die meisten Mägde und Tagelöhnerinnen, die Haresgill zurückgelassen hatte, um sie nicht durchfüttern zu müssen, zur Arbeit eingeteilt und mit ihnen ein Wunder vollbracht. Diese Frauen wirkten scheu und verhuscht und schienen sich vor ihrem eigenen Schatten zu fürchten. Auch daran war zu erkennen, dass Sir Richard Haresgill, Squire of Gillsborough, wie er die Burg der Ui’Corra genannt hatte, die Leute schlecht behandelt hatte. Zudem hatte sein Priester versucht, den Leibeigenen den katholischen Glauben mit dem Stock auszutreiben.

Allein deswegen ist es gut, dass wir zurückgekehrt sind, sagte Ciara sich. Allerdings würden sie bald einen eigenen Priester brauchen, der den wahren Glauben predigte und nicht die englische Häresie.

»Ihr habt Euch schon ganz gut eingerichtet«, wandte Aodh Mór O’Néill sich an ihren Bruder, als habe dieser all das veranlasst, was hier getan worden war.

Ciara stieß ein leises Schnauben aus, weil sie Saraids Leistung geschmälert sah – und auch ein wenig ihre eigene. Obwohl sie nicht direkt hatte mit anpacken können, war sie daran beteiligt gewesen, die noch brauchbaren Vorräte herauszusuchen. Lange würden diese nicht reichen, doch sie hoffte, mit Fischen aus dem See und essbaren Wurzeln und Pilzen aus dem Wald bis zur nächsten Ernte durchzukommen.

In ihre Planungen vertieft, überhörte sie beinahe die Antwort ihres Bruders. »Das Lob gebührt weniger mir als vielmehr meiner Schwester und meiner Cousine Saraid. Ich habe erwartet, hier Unordnung und Verwüstung vorzufinden. Umso mehr freut es mich, dass dies nicht der Fall ist.«

»Es gab sehr viel Unordnung und Verwüstung hier! Allein dafür gehören dieser elende Haresgill und seine Engländer an den nächsten Baum gehängt!«, stieß Ciara wuterfüllt aus.

Aodh Mór O’Néill wandte sich ihr lachend zu. »Keine Sorge, Jungfer Ciara! Wir werden Richard Haresgill und allen anderen Engländern auch Eure Rechnungen vorlegen, zusätzlich zu all jenen, die hier in Uladh noch zu begleichen sind. Schon bald werden wir dieses Volk von unserer Insel hinweggefegt haben und endlich wieder als brave Christenmenschen unsere Gesichter nach Rom wenden können, wo der Nachfolger des heiligen Petrus als Oberhaupt unseres Glaubens herrscht.«

»Dies erinnert mich daran, dass wir einen neuen Priester brauchen, der den Geruch der englischen Ketzerei aus diesem Tal vertreibt.«

Ciaras Worte waren für ihren Bruder gedacht gewesen, doch Aodh Mór O’Néill bezog sie auf sich. »Keine Sorge, Tochter der Ui’Corra! Vor wenigen Tagen ist ein Schiff aus Spanien in Béal Atha Seanaidh gelandet. Neben Waffen hat es auch in Rom ausgebildete Priester an Bord. Die Stimmen der englischen Häretiker und ihrer Ketzerkönigin werden ein für alle Mal auf unserer Insel verstummen.«

Und doch hast du dich von dieser Ketzerkönigin zum Earl of Tyrone ernennen lassen und ihr den Lehenseid geschworen, dachte Ciara verächtlich, rief sich aber sofort zur Ordnung. Saraids Abneigung gegen Aodh Mór O’Néill durfte ihr Handeln nicht beeinflussen. Daher bat sie den Mann, Platz zu nehmen und zuzugreifen.

Mit einer höflichen Geste überließ ihr Bruder dem Gast den Ehrenplatz an der Stirnseite der Tafel. Ciara ärgerte sich darüber, denn als Oberhaupt der Ui’Corra stand Oisin auf gleicher Stufe mit Aodh Mór O’Néill, mochte dessen Clan auch größer sein und über mehr Land und Krieger verfügen.

Das Essen war gut, der Met schmeckte allen, und so herrschte bald eine ausgelassene Stimmung, der sich auch Ciara nicht entziehen konnte. Aodh Mór O’Néill machte ihr einige Komplimente, kümmerte sich dann aber nur noch um ihren Bruder, denn er wollte den erfahrenen Söldnerführer ganz auf seine Seite ziehen. Seine eigenen Männer waren tapfer, doch um den Krieg mit England zu gewinnen, brauchte er Offiziere, die sich bereits in großen Schlachten bewährt hatten. Schließlich legte er den Arm um Oisin und zog ihn näher zu sich heran.

»Ihr seid ein Mann ganz nach meinem Sinn, O’Corra, und Euer Rat wird mir stets teuer sein.«

»Ich fühle mich geehrt«, antwortete Oisin, da er nichts anderes zu sagen wusste. Er war in dem Glauben nach Irland zurückgekehrt, als Oberhaupt seines Clans eine bedeutende Rolle zu spielen. Doch der Earl of Tyrone hatte ihm rasch deutlich zu verstehen gegeben, dass hier in Uladh nur einer etwas zu sagen hatte, und das war er selbst. In dieser Hinsicht handelte Aodh Mór O’Néill nicht wie ein irischer Taoiseach, sondern wie ein englischer Lord.

Oisin war sich dessen bewusst, dass sein Gast sich nicht aus Freiheitsliebe gegen die Engländer gewandt hatte, sondern weil Königin Elisabeth seine Rechte hier in Uladh beschneiden und ihm einen ihr genehmen Gouverneur vor die Nase hatte setzen wollen. Hätte die englische Herrscherin stattdessen den O’Néill zu ihrem Statthalter in Uladh ernannt, hätte dieser ihr mit Begeisterung gedient. In dem Fall hätte er selbst weiterhin Soldaten für fremde Könige auf dem Kontinent ins Feld geführt und Ciara würde noch immer in einem entlegenen Winkel von Tir Chonaill, das die Engländer Donegal nannten, in einem windumtosten alten Turm hausen müssen.

Aodh Mór O’Néill wurde mit jedem Becher Met gesprächiger, und schließlich gelang es ihm dank seiner leutseligen Art, Oisins Unmut und auch Ciaras Missstimmung zu vertreiben. Er versprach den Ui’Corra weiteres Land, das derzeit noch von den Engländern besetzt war, ließ sich etwas nebulös über seine weiteren Pläne aus und kam schließlich auf das zu sprechen, was ihm bei diesem Besuch am wichtigsten erschien.

»Ihr seid ein tapferer und erprobter Anführer im Krieg, O’Corra. Männer wie Euch brauchen wir, um die Engländer aus Uladh und möglichst aus ganz Irland zu vertreiben. Aber selbst der tapferste General kann keine Schlachten ohne Soldaten gewinnen. Ich hoffe, die Zahl Eurer Clankrieger und Söldner ist Eurer würdig!«

»Ich bin mit fünfzig Mann in Irland gelandet«, antwortete Oisin, wissend, dass diese Zahl dem O’Néill zu gering erscheinen würde. Daher setzte er seine Aufzählung rasch fort: »Mein Stellvertreter Aithil wird in wenigen Tagen mit dem Rest meiner Männer in Béal Atha Seanaidh landen und zu uns stoßen. Das sind noch einmal dreihundert kampferfahrene Krieger und etwa die gleiche Zahl an Rekruten, die wir in Frankreich unter den dort lebenden Iren anwerben konnten. Und das ist noch nicht alles. Mein deutscher Freund Simon von Kirchberg hat vom Heiligen Vater in Rom den Auftrag erhalten, zwei Söldnerkompanien aufzustellen und uns gegen die englischen Ketzer zu unterstützen. Daher werden bald mehr als eintausend Männer der Fahne der Ui’Corra in die Schlacht folgen.«

»Das ist eine stattliche Zahl«, antwortete Aodh Mór O’Néill leicht säuerlich. Mit einer solchen Streitmacht würde Oisin O’Corra eine größere Bedeutung erlangen, als er ihm zubilligen wollte. Dennoch lobte er dessen Vorhaben, eine kriegsstarke Truppe auf die Beine zu stellen, und wechselte dann zu einem anderen Thema über.