Cover

INHALT

Vorwort

Kapitel 1: Rio Teil Eins

Kapitel 2: Butterfly, Butterfly

Kapitel 3: Mein Zuhause

Kapitel 4: Schuljahre

Kapitel 5: Hey Joe

Kapitel 6: Anfänge als Sänger

Kapitel 7: Bridges

Kapitel 8: In der Armee

Kapitel 9: In der Band

Kapitel 10: Nærsnes

Kapitel 11: Londoner Bruchbuden

Kapitel 12: Londoner Nächte

Kapitel 13: A&R

Kapitel 14: Unter Vertrag

Kapitel 15: Take On Me

Kapitel 16: I Want My MTV

Kapitel 17: Amerika

Kapitel 18: Hunting High and Low

Kapitel 19: Fans

Kapitel 20: Big In Japan

Kapitel 21: Scoundrel Days

Kapitel 22: On the Road

Kapitel 23: Die liebe Presse

Kapitel 24: Zurück zur Natur

Kapitel 25: Die Welt des Films

Kapitel 26: Stay on These Roads

Kapitel 27: Im Rausch der Geschwindigkeit

Kapitel 28: Familiengründung

Kapitel 29: East of the Sun, West of the Moon

Kapitel 30: Rio Teil zwei

DANKSAGUNG

Morten und Tom danken Håkon Harket, Harald Wiik, Terry Slater, Ingunn Harket, Inez Andersson, Ben Mason, Ed Wilson, Sheila Hayler und Greg Lansdowne für ihre Hilfe und Unterstützung beim Schreiben dieses Buchs.

MORTEN HARKET
Mit Tom Bromley

My Take On Me

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Kapitel 30

Rio Teil Zwei

Es war ein ehrwürdiger Moment an diesem heißen, feuchten Abend in Rio im Januar 1991, ich stand auf der Bühne, vor der sich 198.000 Menschen versammelt hatten, ein starkes, schönes, leidenschaftliches Publikum. Alles, was ich über Brasilien und Südamerika wusste, kam in diesem Stadion zum Ausdruck: Das Gefühl der Gleichheit und Geselligkeit, das ich immer erlebt hatte; VIP-Lounges, die dort anders sind als in anderen Ländern, nämlich irgendwie offen für alle; Brasilianer, die, egal, welchen Job sie haben, im Nullkommanichts zu Menschen werden, Grenzbeamte oder Polizisten kommen hinter ihren Schaltern und Uniformen hervor, um sich dem Geschehen anzuschließen; Menschen, die sich vor lauter Lebenslust kaum zurückhalten können, angetrieben von dem unmittelbaren, impulsiven Wunsch zu feiern, was auch immer es zu feiern gibt.

Ich kam mir ganz klein vor. Die Menschenmenge im Maracanã hatte elf Stunden lang dagestanden und auf unseren Auftritt gewartet. Obwohl es spät war, war es immer noch schwül, auch wenn die Temperaturen nichts im Vergleich zu denen tagsüber waren, als ich ein Wechselbad von Hitze und Kälte zwischen unserem klimatisierten, eiskalten Hotel, dem Auto und der Garderobe durchmachen musste. Aber die Wartenden beschwerten sich nicht, sie waren nicht erschöpft oder sonst was. Sie waren, wie das Publikum in Brasilien stets war: bunt und freundlich. Sie wollten eine gute Zeit haben, und der Entschluss stand fest, alles dafür zu tun.

Ich war beeindruckt, wie die Menge sich verhielt, als wäre sie eins. Das war kein englisches oder norwegisches Publikum, wo jeder seinen eigenen Kopf hatte – diese Tausenden von Menschen bewegten sich wie ein einziger Organismus, und das war wirklich ein imposantes Schauspiel. Ich bat die Leute, sich aus Sicherheitsgründen etwas nach hinten zu bewegen, und die ganze Menschenmenge wogte einfach von mir weg. Man kann nicht verstehen, was für einen Eindruck das macht, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Wie ist so etwas möglich? Bisher kannte ich das nur aus der Tierwelt. Ich erinnerte mich an einen meiner Tauchgänge, bei dem ich beobachtet hatte, wie ein Schwarm Fische einer Harpune ausweichen konnte, die in ihre Mitte geworfen wurde. In der Natur gibt es Formen der Kommunikation, die wir noch nicht wirklich verstanden haben.

Ich schaute von der Bühne hinunter auf das Publikum und wünschte mir, etwas von ihrer Ausgelassenheit und Heiterkeit würde auf mich abfärben. Das Konzert war einer der großartigsten Momente meines Lebens, aber alles, was ich wahrnahm, war dieses erdrückende Gefühl, nicht Teil des Ganzen zu sein; als wäre ich jemand, der nur von außen zuschaut statt im Zentrum zu stehen und mit Leib und Seele dabei zu sein.

Ich blickte hinüber zu Paul und Magne. Wegen der anderen Konzerte, wegen der vielen Vorbands hatte es vor dem Auftritt keinen Soundcheck gegeben: Unseren ersten echten Eindruck von der Situation im Stadion hatten wir bekommen, als wir in dieses Getöse aus Jubel und Applaus hinausgetreten waren. Auf der riesigen Bühne schienen Magne, Paul und ich meilenweit voneinander entfernt zu stehen. Hinter uns war der Bandname mit Bühnengerüsten und Lampen buchstabiert: Paul stand unter dem einen „A“, Magne unter dem anderen, und ich selbst unter dem zentralen „H“. Als ich zu Paul hinüberschaute, wie er da fünfzig Meter zu meiner Linken Gitarre spielte, und Magne an den Keyboards fünfzig Meter zu meiner Rechten, schien mir die Entfernung zwischen uns nicht nur real, sondern auch symbolisch zu bestehen. Wie zu diesem Zeitpunkt unserer Karriere üblich, hatte es vor dem Auftritt keine große Diskussion, keine Teambesprechung gegeben. Die übrigen Mitglieder unserer Band, der Schlagzeuger Per, der Bassist Jøren und der Saxophonist Sigurd waren neu dabei. Wir ließen sie damit wirklich alleine.

*

Wir hatten Südamerika im Rahmen unserer Mammut-Tour 1986 und 1987 nicht besucht. Das erste Mal spielten wir dort während unserer Stay-on-These-Roads-Tournee im März 1989: zwei Termine im Praça da Apoteose in Rio und drei im Estadio de Palmeiras in São Paolo. Diese Termine bedeuteten einen Motivationsschub: Es war schön, an einen neuen Ort zu kommen und mitzuerleben, wie Leute die Band zum ersten Mal entdeckten, Teil zu sein von dieser Begeisterung. Und Südamerika bezauberte auch mich. Die Reaktionen der Fans und Zuschauermengen auf unsere Musik waren überwältigend und einfach mitreißend.

Deshalb gaben wir bei unserer dritten Welttournee, bei der das „Rock-in-Rio“-Konzert eines der ersten Gigs war, zwanzig ausverkaufte Konzerte in Brasilien, Argentinien und Chile. Die Tour gipfelte in einem riesigen Konzert im Obras Stadion in Buenos Aires. Alle Veranstaltungsorte auf dieser Tour waren groß, aber „Rock in Rio“ brach alle Rekorde. In Europa spielten wir in Konzerthallen, aber hier traten wir in Fußballstadien auf und wurden vom Militär, das für uns den Weg frei machte, durch die Stadt eskortiert. Ob das nötig war? Wahrscheinlich nicht, aber es machte eben Spaß.

*

Ob wir auf das Publikum reagierten oder das Publikum auf uns – wir klangen gut auf dieser dritten Welttournee. Zum ersten Mal funktionierten wir als Band wieder besser, viel besser als auf den vorherigen zwei Tourneen. Wir hatten eine starke Besetzung im Rücken: Per Hillestad am Schlagzeug, Jøren Bøgenberg am Bass und Sigurd Køhn am Saxophon. Der Sound auf der Bühne war gut, und auf das Publikum machte das einen starken Eindruck. Trotz allem, was sonst so passierte, vielleicht sogar wegen allem, was sonst so passierte, fühlte ich mich vom Auftakt an bei „Rock in Rio“ stark auf der Bühne. Je öfter die Band in dieser Besetzung spielte, desto mehr rückten wir zusammen. Endlich fingen wir an, wie eine ordentliche Liveband zu klingen: In diesem Sinne hatten wir unsere Stimme gefunden.

Paul schlug die Eröffnungsakkorde von „Hunting High and Low“ auf seiner akustischen Gitarre an. Als ich zu singen begann, wurde meine Stimme von den Stimmen der Zuschauer übertönt. Da standen sie, sangen alle zusammen mit, trafen jeden Ton, wussten jedes Wort. Ich hörte auf zu singen, dirigierte sie mit meinem Mikrofon und versuchte, alles in mich aufzusaugen. Ich sah und hörte diesen wundervollen Menschen zu, die sich verhielten, als wären sie eins, und die es feierten, uns auf der Bühne zu haben. Ich war tief berührt. Es war so beeindruckend: Sie glaubten an sich selbst und kannten sich gut, sie wussten, dass sie einen großartigen Abend haben würden. Sie lebten spontan und genossen den Moment. Und all das, erkannte ich mit einem Schaudern, all das tat ich nicht.

Ich fühlte mich beschämt von ihrer Freude. Ich war traurig, dass ich nicht in der Lage war, mich einzuklinken. „Was ist los?“, fragte ich mich. „Warum hältst du dich zurück? Worauf wartest du, Morten?“ Wie aus dem Nichts kamen Erinnerungen an die Oberfläche: Der Moment, in dem wir erfuhren, dass wir auf Platz eins in den US Billboard Charts waren, wie wir einen Haufen Trophäen bei den MTV Awards einheimsten, der Tag, an dem wir London zum Stillstand brachten, als wir unsere erste Welttournee ankündigten, die ausverkauften Konzerte vor kreischenden Fans in Japan, die Anfrage für den James-Bond-Titelsong.

Eine Erinnerung jagte die nächste, und angesichts von allem, was wir erreicht hatten, fragte ich mich: „Was kommt als nächstes? Was können wir noch erreichen?“ Wenn unsere nächsten zehn Singles auf Platz eins landeten, würde das irgendetwas ändern?

Ich hatte all diese kreative Energie, dieses Potenzial, und nichts davon wurde genutzt. Die Rollenverteilung innerhalb der Band war erstarrt – Paul und Magne waren die Songwriter, ich war der Sänger, übernahm das Händeschütteln und die Interviews. Der Erfolg hatte uns in diese Positionen gedrängt, und keiner von uns hatte die Gefahren dieser Rollenverteilung erkannt. In der Folge war mein Einfluss auf die Angelegenheiten der Band geschwunden, auf ihre musikalische Richtung, das Songschreiben, niemand hörte wirklich auf das, was ich zu sagen hatte. Ich hatte immer die besten Absichten gehabt und einfach weitergemacht.

Nicht zum ersten Mal in meinem Leben fand ich Inspiration in der Welt der Natur. Ich dachte wieder an den Schwarm Fische, die der Harpune entkommen waren, dann an eine Szene aus einem Dokumentarfilm, den ich gesehen hatte: Ein Frettchen duckte sich, um einer Kugel auszuweichen, die aus 200 Metern Entfernung abgefeuert wurde. Das waren Lebewesen, die ihr Potenzial voll ausschöpften und in Verbindung mit ihren Instinkten lebten.

*

Dieser Abend war ein Schlüsselmoment für uns. Für uns als Band, als Team, für unsere Vision. Auf der einen Seite – und das war die einzige Seite, die wir damals sehen konnten – wurden wir grundlegend falsch verstanden. Wir galten als gefeiertes Pop-Phänomen und hatten vieles erreicht, wovon andere nur träumen konnten. Aber es ging uns nicht um den Ruhm, sondern um die Musik. Wir hatten uns über die Musik mit uns selbst und miteinander verbinden wollen, um zu verstehen und zu zeigen, wer wir sind.

Ich stand also vor diesem fantastischen Publikum und wusste, dass die Dinge sich ändern mussten. Und das war die Seite, die ich damals noch nicht sehen konnte: Dass hinter all dem Lärm und den grellen Lichtern des Ruhms eine stetig wachsende Anzahl von Menschen stand, die darüber hinwegschauen konnten und uns sahen.

Als ich an diesem Abend von der Bühne ging, war ich bereit für Veränderungen. Ich begann langsam und gründlich alles loszulassen. Und damit meine ich wirklich alles. Ich musste mich neu sortieren. Mich von allen Wahrheiten verabschieden, an denen ich noch festhielt. Ich versuchte nicht mehr zu verhindern, dass etwas schief ging. Ich hörte auf, in irgendwelche Prozesse einzugreifen. Ich musste mir darüber klar werden, wovon ich gesteuert wurde. Ich gab auch meine Zurückhaltung auf, wenn es darum ging, dass andere Menschen mich feiern wollten oder zu mir aufschauten. Lass ihnen doch das Vergnügen! Sie können schon damit umgehen! Es ist alles nicht so wichtig …

Ich musste herausfinden, was echt und authentisch war. Eine wunderbare Ära der Band ging zu Ende. Und doch waren damals schon Unterströmungen im Gange, die mit einer solchen Intensität und Beharrlichkeit an die Oberfläche drängen sollten, dass sie a-ha auch in den folgenden 25 Jahren ins Studio und auf die Bühne führten. Aber das würde ein weiteres Buch füllen.

An jenem Abend in Rio wurde ich erwachsen. Ich war einunddreißig Jahre alt, aber das war der Moment, in dem ich aufhörte, die Abenteuergeschichte eines Jungen zu erleben, und in dem meine Reise begann, die mich zu einem tieferen Verständnis von mir selbst führte, zu einer stärkeren Verwurzelung in der Welt. Ich sah klar, dass ich alles infrage stellen musste, was ich „wusste“, was auch immer daraus folgen sollte: Die Band, meine Ehe, meine Familie, all meine Beziehungen mussten auseinandergenommen und neu definiert werden. Die Trennung von a-ha Mitte der Neunziger, die Scheidung von meiner Frau, das Bedürfnis, mich selbst über das Songschreiben auszudrücken, all das kann zurückgeführt werden auf diesen Moment auf der Bühne in Rio – als die Welt für mich stillstand und ich gleichzeitig spürte, wie sie sich um ihre eigene Achse drehte.

VORWORT

Dieses Buch ist ein Versuch, mich an die frühen Tage von a-ha zu erinnern. Es erzählt davon, wie meine persönlichen Träume zum Allgemeingut wurden und wie das mein Leben beeinflusst hat. Es schildert die ersten, prägenden Jahre von a-ha bis hin zum „Rock in Rio“-Konzert im Maracanã-Stadion im Januar 1991. Es ist aber kein Rock-’n’-Roll-Tagebuch, sondern eine lose Sammlung von Erinnerungen an jene wechselhafte Zeit. Ich werfe einen Blick darauf, was hinter den Dingen liegt, darauf, was einen Menschen letzten Endes ausmacht. My Take On Me – damit werfe ich auch einen Blick auf mich selbst.

Kapitel 1

Rio Teil Eins

Wendepunkte im Leben eines Menschen werden durch Momente markiert, in denen die Welt plötzlich stillzustehen scheint. Das passierte mir während unseres Auftritts als Headliner auf dem größten Rockfestival des Erdballs.

Es geschah im Januar 1991, a-ha trat in Brasilien im weltberühmten Maracanã-Stadion auf. Beim ersten „Rock in Rio“-Festival 1985 spielten Queen, AC/DC, Rod Stewart und Yes. Das Revival von 1991 ging über neun Abende, und die Liste der Künstler las sich wie ein Who’s Who der Musik der späten Achtziger- und Neunzigerjahre: Die anderen Headliner waren Guns N’ Roses, Prince, George Michael, New Kids on the Block und INXS; unter den Support-Acts fand man klanghafte Namen von Billy Idol bis Carlos Santana. Die Zusammenstellung der Acts am vorletzten Abend war bunt gemixt: Vor uns traten so unterschiedliche Künstler wie Debbie Gibson und die Happy Mondays auf.

Es verblüffte uns immer und erstaunt mich bis heute noch, wie gut a-ha in Brasilien ankam. Unser Erfolg dort setzte erst später ein, weit nach unserem Durchbruch in den USA und Europa, wo „Take On Me“ es auf Platz eins in den Charts geschafft hatte. Auf unserer ersten Welttournee, auf der wir 150 Konzerte gaben, blieb Südamerika außen vor. Erst 1989, gerade als der erste Aufschwung abzuebben begann, hatten wir in Brasilien eine Reihe von Auftritten, mit denen wir wieder auf Erfolgskurs kamen. Wir spielten mehrere riesige Konzerte in Rio und Sao Paulo und schafften es sozusagen aus dem Stand von 0 auf 90.000 Besucher.

Die große Zahl und die Herzlichkeit der brasilianischen Fans überraschten uns komplett. Was gefiel Lateinamerikanern an a-ha? Die Menschen dort sind so temperamentvoll, die Sambamusik voller Bewegung und Rhythmus. Ein Freund von Magne hatte folgende Theorie: „A-ha macht Tanzmusik für die Seele.“ Ich weiß noch, wie ich ihn auslachte. „Also, wir machen definitiv keine Tanzmusik für den Körper“, spottete ich.

Aber vielleicht steckt ein Körnchen Wahrheit in dem, was er sagte. Vielleicht machte gerade die Verschiedenheit in Mentalität und Kultur es in gewisser Weise leichter, unsere Musik wahrzunehmen. Als wir Anfang der Achtzigerjahre von Norwegen nach London zogen, um mit a-ha unseren ersten Plattenvertrag zu ergattern, waren wir auf der Suche nach einer Identität, mit der wir in die damalige Musikszene hineinpassten, und uns gleichzeitig von ihr abhoben. Es ging um die vielen kleinen äußerlichen Unterschiede, die eine Band besonders machen. Weit entfernt von der europäischen Musikszene, wie etwa in Brasilien, verlieren diese Details an Bedeutung. Aus der größeren Distanz ist es wahrscheinlich leichter, die Seele der Musik zu erkennen.

Als wir für die „Rock in Rio“-Konzerte in Brasilien ankamen, wussten wir, dass ein Riesenevent auf uns wartete. Trotzdem verschlugen uns die Ausmaße des Ganzen dann doch die Sprache. Ein paar Tage vor unserem Auftritt hatte ich mich ins Stadion geschlichen, um vom Bühnenrand aus die Show von Guns N’ Roses vor 160.000 Menschen zu erleben. Ich mag diese Musik und stehe zum Beispiel auf Hendrix und Led Zeppelin. Guns N’ Roses waren für meinen Geschmack ein bisschen zu abgeklärt, aber dennoch erlebte ich einen tollen Gig und bekam einen ersten Eindruck von der Größe des Stadions. Vor einer solchen Menschenmenge würden wir in ein paar Tagen auch spielen – ziemlich beeindruckend.

***

Zwei Jahre zuvor hatte ich zusammen mit einem Freund, dem Journalisten Jan, und Martin, einem britischen Reisenden, der fünfsitzigen Cessna nachgesehen, die uns auf einer kleinen Lichtung im Herzen des Amazonas-Regenwaldes abgesetzt hatte und nun wieder abhob. Unsere Augen folgten der Silhouette, die vor der leuchtend roten Abendsonne immer kleiner wurde, und wir lauschten auf das Geräusch der Doppelmotoren, bis es nicht mehr vom Summen der Insekten zu unterscheiden war. Da standen wir nun mit unserem Gepäck – vom Guide, der uns hier erwarten sollte, keine Spur. Wir sahen uns im Dämmerlicht an. O.K. und was machen wir jetzt?

Der Trip war ein Spontaneinfall gewesen. A-ha hatte eine ganze Reihe von großen Konzerten in Südamerika absolviert, und ich brauchte eine Pause. Ich wollte einfach weg von allem, weg vom Druck und dem Stress, immer in der Öffentlichkeit zu stehen, weg von den freundlichen Fans und den weniger freundlichen Journalisten, die mir ständig auf den Fersen waren. Jan und ich waren mit mehreren Flugzeugen quer durch Brasilien geflogen, um die Presse abzuschütteln. Wir legten gigantische Strecken zurück – man vergisst leicht, dass Brasilien kaum kleiner ist als die USA oder Europa – und waren uns bei jeder Landung bewusst, dass die Presse uns spätestens eine Stunde später mit dem nächsten Flug wieder eingeholt haben würde.

Erst nachdem ich die Cessna gemietet hatte, wusste ich, dass wir den Kameras endlich entwischt waren. Wir hatten nicht viel Zeit gehabt, eine Maschine zu finden, aber der Pilot roch immerhin nicht nach Alkohol, was ich als gutes Zeichen wertete. Stundenlang flog er mit uns über den dunkelgrünen dichten Urwald hinweg bis zu unserem Ziel in der Nähe von Rio Branco an der bolivianischen Grenze. Dort an der winzigen Landebahn mitten im Wald sollten wir einen Pflanzenexperten treffen, der beim Wandern und Kanufahren in der Einsamkeit des Regenwalds unser Guide sein würde. Die Natur war schon immer ein Zufluchtsort für mich – als Jugendlicher sammelte ich zum Beispiel wilde Orchideen. Und auch auf dem Gipfel des Erfolgs mit a-ha konnte ich mich durch den Rückzug in die Natur wieder auf mich selbst besinnen.

Wir waren ein seltsames Trio, Jan, Martin und ich – in gewisser Weise eine genauso schräge Konstellation wie Paul, Magne und ich in der Band. Jan hatte sich gerade von seiner Freundin getrennt, wollte also aus anderen Gründen Abstand gewinnen. Er war außerhalb von Europa noch nicht viel gereist und hatte nach eigener Aussage „totalen Schiss“ vor unserem Trip. Ständig las er uns Passagen aus seinen Büchern über den Amazonas vor, nach dem Motto: „Ihr wisst, dass man diese Region die ‚grüne Hölle‘ nennt, oder?“. Und neben den Gefahren der wilden Natur lauerten auch überall Gefahren von Menschenhand, wie Jan uns ständig einbläute. Nur zwei Monate vor unserer Reise war in der nahe gelegenen Stadt Xapuri der Umweltaktivist Chico Mendes ermordet worden. Er hatte sich gegen die Abholzung des Regenwalds und die Ausweitung der Viehzucht eingesetzt. Im Dezember 1988 wurde er von einem Viehzüchter umgebracht – womit sich die Zahl der ermordeten Aktivisten in jenem Jahr auf neunzehn erhöhte.

Als ich Jan davon erzählte, wurde er natürlich noch panischer. Schließlich waren wir unbewaffnet und schutzlos unterwegs im tiefsten Urwald. Unser Reisebegleiter Martin war positiver gestimmt. Nach dem Ende eines Arbeitsprojekts reiste er schon eine ganze Weile durch Südamerika, war ein netter Kerl und besaß darüber hinaus Sprachkenntnisse, die uns anderen fehlten. Wo wir hinreisten, sprachen die Leute nämlich ausschließlich Portugiesisch, das Martin zwar ebenso wenig wie Jan und ich beherrschte, doch sein fließendes Italienisch half uns immer weiter. Die beiden Sprachen scheinen genug Gemeinsamkeiten zu haben, um eine Verständigung möglich zu machen. Also luden wir ihn ein, sich uns anzuschließen.

Als die Sonne hinter den Bäumen versunken war, konnten wir nichts anderes tun, als auf der Lichtung zu hocken und zu warten. Etwa eine halbe Stunde nachdem der letzte Laut des Flugzeugs verklungen war, hörten wir endlich das Geräusch eines herannahenden Autos – es stotterte und knatterte, als würde es jeden Moment den Geist aufgeben. Der Fahrer war, wie sich herausstellte, nicht unser Guide, sondern ein einheimischer Taxifahrer: Seine Frau hatte das Flugzeug gehört, ihren Mann aus dem Bett gezerrt und ihn überredet, nachzusehen, ob jemand eine Fahrgelegenheit brauchte. Ein Glück für uns. Der Taxifahrer war ein riesiger schwarzer Typ, so groß, dass für uns kaum noch Platz im Wagen blieb. Aber wir waren hocherfreut, ihn zu sehen, und quetschten uns so gut es ging rein.

So verrückt und surreal wie der erste Tag unseres Amazonas-Trips waren auch die folgenden Ereignisse. Am nächsten Tag tauchte ­Jefferson, ein Freund des verschollenen Guides, auf und bot an, unser neuer Begleiter zu werden. Er erklärte uns, dass der ursprüngliche Guide am Abend zuvor ein Mädchen kennengelernt und mit ihr abgehauen war. Jefferson rief mich im Hotel an, um mir das alles zu erklären – aber sein Englisch und mein Portugiesisch waren so schlecht, dass er fast eine geschlagene Stunde brauchte, um mir begreiflich zu machen, dass er mich vom Empfang aus anrief – keine zehn Schritte von meinem Zimmer entfernt. Dann lud er Jan, Martin und mich zu sich nach Hause zum Essen ein, um alles Weitere zu besprechen. Als wir die Mahlzeit beendet hatten, wollte ­Jefferson seine Gastfreundlichkeit ausweiten: Er beugte sich über den Tisch zu mir und fragte, ob ich seine Frau für die Nacht haben wolle. Die saß mit am Tisch und lächelte gequält, als ich das Angebot dankend ablehnte. Ich glaube, Jefferson verstand meine Ablehnung nicht – „Sie ist sehr gut“, sagte er immer wieder und wiederholte sein Angebot mehrfach.

Am nächsten Tag brachen wir endlich auf, um das zu erleben, wofür wir hergekommen waren: die faszinierende Welt des Regenwalds. Jefferson organisierte ein Kanu, und wir paddelten auf den kühlen Gewässern des stolzen Amazonas dahin. Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte ich mich entspannen und mir eine Auszeit von allem nehmen. Ich konnte meine übliche Alarmbereitschaft abstellen, runterkommen und die Ruhe der Umgebung genießen.

Leider hielt dieser Zustand himmlischer Entspannung nur wenige Stunden an. Als wir von unserem Ausflug flussaufwärts zurückkehrten, bemerkten wir am Ufer einen Menschenauflauf, der immer näher kam. Unser Kanu legte an, ich stieg aus und hörte mit Schaudern einen Lärm, der mir nur allzu bekannt war. Auch ohne Portugiesischkenntnisse konnte ich meinen Namen und den meiner Band aus den Rufen heraushören. Begleitet von einem dumpfem Beben gepaart mit spitzen Schreien stampfte eine Gruppe von dreißig, vierzig, fünfzig Frauen in vollem Tempo auf uns zu.

Ich war gefangen. Weil ich mich entspannt hatte, war mein Schutzschild unten. Der Fluss lag hinter mir, es gab kein Entkommen vor der Menge, die auf mich zustürmte. Die Frauen waren so aufgeregt, dass sie nicht mal abbremsten, als sie uns erreichten. Ein Teenager an der Spitze der Gruppe, ein großes Mädchen, stürzte sich geradewegs auf mich. Ich hob den Ellbogen, um den Aufprall abzuwehren, und – Bämm! –, sie rannte voll dagegen. Chaos brach aus. Der Gegensatz zu der Ruhe, die ich nur wenige Minuten zuvor genossen hatte, hätte nicht grausamer sein können.

Bisher hatte es immer Zufluchtsorte gegeben, private Fleckchen irgendwo auf diesem Planeten, an denen ich ungestört meine Batterien aufladen konnte. Jetzt fühlte es sich plötzlich an, als gäbe es keinen solchen Ort mehr.

***

Der Promifaktor als Sänger einer Popband hat mich nie besonders gereizt. A-ha war keine Band, die Journalisten bewusst mit Aktionen bediente, die uns auf die Titelseiten bringen würden. Wir waren nie auf der Suche nach dem Medienzirkus, aber mit zunehmendem Erfolg suchte der Medienzirkus uns. Das gehörte dazu, und als Frontmann der Band lastete ein Großteil des gnadenlosen Drucks auf meinen Schultern. Ich hatte mein Bestes gegeben, um damit fertig zu werden, aber nach dem Vorfall am Ufer des Amazonas konnte ich spüren, wie die Belastung sich allmählich in jeden Aspekt meines Lebens hineinfraß.

In der Öffentlichkeit war ich ein anderer Mensch. Ich wurde wie ein Tier, lauerte auf Signale, verließ mich auf meinen Instinkt. Ich gewöhnte mir einen Stechschritt an, der etwa 50 Prozent schneller als mein normaler Gang war. Wenn ich einen Raum betrat, überprüfte ich als Erstes, wie ich wieder rauskommen konnte. Ich lernte, die Stimmung in einer bestimmten Situation blitzschnell zu deuten, beobachtete Menschen in ihren Spiegelbildern auf Radkappen oder anderen reflektierenden Oberflächen. Ich sah den Moment voraus, in dem jemand mich erkennen würde, was mir den entscheidenden Vorteil von einem Bruchteil einer Sekunde verschaffte, während die Person noch überlegte, wer ich war. Das alles hört sich vielleicht banal an, aber ich habe schon so oft erlebt, wie solche kleinen Auslöser sich plötzlich aufbauen. Du wirst von einer Person angehalten, und einen Augenblick später bist du schon von einer ganzen Menschenmenge umringt.

Oft hatte ich Bodyguards dabei, aber das war in vielen Fällen eher kontraproduktiv. Sobald man von solchen Muskelmännern begleitet wird, zieht man Aufmerksamkeit auf sich und ist viel weniger agil. An manchen Orten, zum Beispiel in Brasilien, war Security aber notwendig. Weniger zu meinem als vielmehr zum Schutz der Fans: Die Männer stellten sicher, dass keine Massenpanik ausbrach und sich niemand verletzte.

Mein Haupt-Bodyguard war ein Typ namens Jerry Judge: ein witziger, wortgewandter Ire, den ich zugleich liebte und hasste. Ich liebte ihn, weil es Spaß machte, mit ihm abzuhängen, und ich hasste ihn, weil er die Personifizierung meines Mangels an Freiheit war. Jerry ist einer der Besten in seiner Branche – „Du weißt, er würde eine Kugel für dich abfangen“, sagte der Promoter von „Rock in Rio“ einmal zu mir. Die Notwendigkeit dazu gab es bei mir glücklicherweise nicht, aber Jahre später stellte er seinen Mut unter Beweis, als er für David Bowies Frau Iman arbeitete. Auf einer Reise nach Afrika wurden Jerry und Iman beschossen, während sie in einem Jeep saßen. Der Fahrer ergriff im Kugelhagel die Flucht, aber Jerry stieß Iman zu Boden und warf sich schützend über sie.

Jerry war stinksauer, als er erfuhr, dass ich am Amazonas gewesen war, ohne ihn zu informieren. Als wir für die „Rock-in-Rio“-Konzerte nach Brasilien zurückkehrten, war er fest entschlossen, mich keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Wo auch immer ich hinging oder hingehen wollte: Jerry stand mit verschränkten Armen da und schrieb mir vor, was ich tun oder lassen sollte. Die meiste Zeit vor dem Konzert war ich praktisch in unserem Hotel gefangen. Liebend gern hätte ich ein paar Gigs der anderen Bands gesehen, aber mir war nur allzu bewusst, was für einen Aufwand es bedeutete, einfach nur sicher zum Stadion zu kommen.

Eines Abends „brachen wir aus“, um in einem Restaurant zu essen. Als wir das Lokal verlassen wollten, hatten sich draußen bereits mehrere Hundert Menschen versammelt, durch die wir uns drängen mussten, um zum Auto zu kommen. Als wir anfuhren, hingen sich Dutzende von Leuten an das Fahrzeug (um solche Szenen zu verhindern, wurden die Türgriffe unserer Wagen später so präpariert, dass sie Elektroschocks verursachten). Danach ging ich nicht mehr aus.

Diese ganze Woche vor dem Konzert war irgendwie seltsam. Aber schließlich kam der Samstag. Die Fahrt vom Hotel zum Stadion wurde von einer Polizei- und einer Militäreskorte begleitet. Das hört sich vielleicht ganz amüsant an, aber inmitten einer solchen Horde von Polizisten in kompletter Kampfausrüstung inklusive Helm zu hocken ist auch immer ziemlich peinlich! Ich erinnere mich an die Atmosphäre und den zunehmenden Lärm, als wir uns dem Maracanã näherten – dem damals größten Stadion der Welt. Natürlich stieg mein Adrenalinpegel, als es in Sichtweite kam. Die Temperaturen an diesem Abend waren extrem: zum einen die Hitze und Schwüle draußen, zum anderen die eiskalte Luft der Klimaanlage. Man musste ständig zwischen Autos und Räumen hin und her springen, was sich anfühlte als würde jemand einen Temperaturknopf an- und ausschalten.

Von den anderen Bands bekam ich nicht allzu viel mit, denn sobald ich aus meiner Garderobe trat, bildete sich eine Traube von Menschen, die mir auf Schritt und Tritt folgte und sich um mich kümmerte. Ich brauchte etwas Raum für mich, also blieb ich in meinem Zimmer hoch oben im Stadion, während unsere Support-Acts Debbie Gibson und die Happy Mondays ihre Gigs spielten. Zu diesem Zeitpunkt unserer Karriere hatten Paul, Magne und ich getrennte Garderoben. So mochten wir es. Vor Konzerten war die Warterei zäh, und wir wollten betretene Stille vermeiden und uns nicht gegenseitig nervös machen.

Kurz vor unserem Bühnenauftritt nahm Mel Bush, der Promoter, mich beiseite. „Wir zählen noch“, sagte er, „aber wir haben wahrscheinlich heute einen neuen Weltrekord für ein zahlendes Publikum aufgestellt. Wir nähern uns der 200.000-Marke, das liegt über dem bisherigen Rekord. Das ist ein großer Moment, Morten.“

„O.K.“, sagte ich, und versuchte, die Info gelassen aufzunehmen.

Als wir auf die Bühne hinaustraten in die schwüle Hitze von Rio und uns der Lärm der Menge umfing, spukten mir die Worte des Promoters im Kopf herum. Das ist ein großer Moment, Morten. Mel sollte Recht behalten, aber anders, als er gedacht hatte. Rio war das größte Konzert unseres Lebens, aber ich erinnere mich aus anderen Gründen an diese Nacht. Nicht nur Rio bebte. Meine Welt tat es auch.

Auf dem ersten a-ha-Album gibt es einen Song, der mein Leben bis zum Maracanã-Konzert ziemlich gut zusammenfasst: „Living a Boy’s Adventure Tale“. Das war die Reise mit a-ha bis dahin gewesen: ein berauschendes Abenteuer, eine Achterbahnfahrt. Und das war ich bis jetzt gewesen: ein Junge. In jener denkwürdigen Nacht in Rio änderte sich mein Leben. Ich erkannte und akzeptierte einige Wahrheiten. Ich wurde erwachsen.

Fast ein Vierteljahrhundert später sind Paul, Magne und ich wieder vereint und spielen erneut bei „Rock in Rio“. Und zwar genau 30 Jahre nachdem unsere Debütsingle weltweit auf Platz eins landete und das Festival zum ersten Mal stattfand. Ich blicke normalerweise eher nach vorne als zurück, aber das alles hat viele Erinnerungen in mir wachgerufen. Darum geht es in diesem Buch: die Abenteuergeschichte des Jungen zu erzählen, meine Version, meinen „take on me“ anzubieten. Die Geschichte erreichte ihren Höhepunkt im berühmtesten Stadion der Welt, aber sie fängt drei Jahrzehnte früher und Tausende von Kilometern entfernt auf einer Wiese in Südnorwegen an.

Kapitel 2

Butterfly, Butterfly

Eine meiner frühesten Erinnerungen stammt aus der Zeit, als ich etwa zwei oder drei Jahre alt war. Ich befinde mich auf der Blumenwiese vor unserem Haus in Kongsberg. Die Sonne scheint, feine Gräser umhüllen mich sanft, ich bin wunderbar dösig und doch vollkommen präsent. Ein Gefühl von Ruhe und Frohmut umgibt mich, Schmetterlinge flattern an mir vorbei. Ich bin ein Entdecker, bin wie eine straff gespannte Saite bereit zu reagieren. Die Insekten um mich herum faszinieren mich. Wie unterschiedlich sie alle aussehen, obwohl sie doch ganz klar miteinander verwandt sind – eine vollkommen andere Welt, die dennoch auch Teil meiner Welt ist!

Dass all das existierte, beeindruckte mich sehr. Es erfüllte mich mit Stolz und Freude. Ich weiß nicht genau, wann ich zum ersten Mal die wunderschönen wilden Stiefmütterchen entdeckte, die dort wuchsen. Ich erinnere mich nur, wie ich dastand und in dieses überwältigende, prächtige Leuchten eintauchte, das alle Dinge umfasste und ein intensives, lang anhaltendes Hochgefühl in mir auslöste. Für mich ist dieser ausgedehnte Moment der Maßstab für jegliches sinnliche Empfinden geblieben. Hierher rührt mein tief empfundener Respekt für die überwältigende Kraft der Natur.

Diese Erfahrung führte auch zu einer Einstellung, die ich seitdem beibehalten habe: Nichts wird mich daran hindern, die Dinge selbst zu entdecken! Ich möchte nicht, dass mir etwas beigebracht wird – ich möchte die Dinge selbst entdecken! Gute Lehrer wissen das. Sie führen ihre Schüler in eine bestimmte Richtung und lassen sie die Entdeckungen dann selbst machen. Nur so kann man Mathematik begreifen: indem man zulässt, dass die Mathematik sich einem offenbart. Aber vielleicht wünscht man sich, dass jemand einem währenddessen die Hand hält. Die wilden Stiefmütterchen offenbarten sich mir von ganz allein – nur durch ihr pures Dasein.

Im Laufe meiner Kindheit lernte ich die Natur weiter kennen und lieben; eine Pflanze hat es mir dabei besonders angetan: die Orchidee. Diese Begeisterung entspringt einem Roman, den ich vor langer Zeit las: Er handelt von einer älteren Frau, die in Nepal lebt, einer Aquarellmalerin, die die einheimischen Pflanzen des Landes für eine Publikation malt. Die Frau sitzt im Rollstuhl und schickt einen Jungen los, der für sie die Pflanzen sucht, die sie malen möchte. Eines Tages bringt er die Pflanze mit, die die Frau von allen am meisten malen will – eine Orchidee. Als ich das las, löste es etwas in mir aus. Ich verspürte den unbändigen Wunsch, eine Orchidee zu sehen.

Mein Interesse an Orchideen weitete meinen Wissensdurst über die Natur Norwegens hinaus auf die Tropen aus. Ich fing an, mich mit exotischeren Biotopen zu befassen, darunter Regenwälder und Korallenriffe. Ich las über diese Orte und fühlte mich irgendwie heimisch. Obwohl es auch norwegische Orchideen gibt, verfiel ich also eher den tropischen Exemplaren, zum Beispiel der Phalaenopsis, einer fernöstlichen Orchidee, die man heute überall findet, die in den Siebzigerjahren aber eine ziemliche Rarität war. Oder der Cattleya, die in Mittel- und Südamerika wächst. Diese Blumen haben eine Ausstrahlung, die mich fasziniert.

Ich besorgte mir Pflanzen, wenn nötig aus dem Ausland, und verbrachte viele Stunden damit, sie zu hegen und zu pflegen. Einen Raum in unserem Keller verwandelte ich in eine Art Gewächshaus: Dorthin karrte ich Erde und Steine, um eine Urwaldatmosphäre zu erschaffen, in der die Pflanzen sich wohlfühlen würden. Ich setzte auch Moos und Farne und installierte zusätzliches Licht und einen Dampfkochtopf, um die Luft zu befeuchten. Meine Eltern waren rückblickend sehr verständnisvoll. Ich hörte kein „Hey, Morten, was zum Teufel machst du da?“ Sie erkannten meine Leidenschaft und ließen mir freien Lauf.

Meine allererste Orchidee war eine Eulophia guineensis aus Afrika. Als ich sie bekam, fand ich keine Zeit mehr, etwas für die Schule zu tun. Stattdessen saß ich einfach da und sah diesem Ding beim Wachsen zu. Dabei lernte ich, dass man die Pflanze in Ruhe lassen sollte. Die Versuchung war groß, sich an ihr zu schaffen zu machen, aber am besten überlässt man sie sich selbst. So viele Zimmerpflanzen werden unwissentlich von uns gekillt, indem wir die armen Dinger zu Tode gießen oder erst austrocknen lassen und dann ertränken, sodass sie schließlich im Topf verfaulen. Diese erste Orchidee war der Anfang einer ganzen Sammlung, aber weil ich kein richtiges Gewächshaus hatte, konnte ich die unterschiedlichen klimatischen Bedingungen nur bedingt nachahmen. Mit zunehmendem Wissen verschwand mein Wunsch, Orchideen selbst zu besitzen. Seitdem liebe ich sie für das, was sie sind, und will sie dort gut versorgt sehen, wo sie von Natur aus wachsen.

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Meine Faszination für Orchideen war nur ein Teil meiner Liebe zur Natur: Ich verehrte nicht nur Pflanzen, sondern auch Insekten und andere Tiere. Schmetterlinge fand ich einfach wunderschön – ich liebte ihre Zartheit und Komplexität, die Tatsache, dass sie so leicht, fast schwerelos sind.

Als ich dreizehn oder vierzehn war, machte meine Familie eine Europareise: meine Eltern, mein älterer Bruder Gunvald, mein jüngerer Bruder Håkon und ich. Das war meine erste Auslandsreise überhaupt, und ich war sehr aufgeregt. Meine Eltern planten, uns einige der kulturellen Highlights des Kontinents zu zeigen, aber ich hatte andere Dinge im Kopf. Zu den Karten und Reiseführern, die sie neben das Familienzelt in den Kofferraum stopften, fügte ich nur einen einzigen Gegenstand hinzu, der meine persönlichen Reiseziele verkörperte: mein Schmetterlingsnetz.

Ich wollte einfach nur Schmetterlinge sehen, und meine Erwartungen diesbezüglich waren gigantisch. Wir starteten unsere Reise in Schweden, von dem ich immens enttäuscht war, weil es dort – aus meiner jugendlichen Sicht – nicht viel anders aussah als in Norwegen. Auf keinen Fall würde ich dort die tropischen Schmetterlinge zu Gesicht bekommen, die mich am meisten interessierten. Meiner Familie muss ich auf dieser Reise unglaublich auf die Nerven gegangen sein. Ich erinnere mich noch, dass ich in Versailles mit dem Schmetterlingsnetz in der Hand durch das Schloss wanderte, das so viel Geschichte atmet. Aber ich hatte kaum Augen für all die Säle voller Bilder und Ornamente: Ich wollte so schnell wie möglich die Gärten erreichen. Weiß der Himmel, was die Wärter von diesem seltsamen Jungen mit seinem Netz dachten. Als ich endlich im Schlosspark war – der zu den schönsten in ganz Europa zählt – dachte ich nur: Wie, das war’s? Ich konnte weder die Historie noch die Gartenarchitektur mit ihren berühmten Orangenbäumen und den akkuraten Beeten würdigen. Wo waren die Pflanzen, die Schmetterlinge anzogen, hinter denen ich her war? Was für ein blöder Garten.