Zum Buch

 

 

 

Er wollte ein zweiter Bismarck sein – Bernhard Fürst von Bülow, von 1900 bis 1909 deutscher Reichskanzler.

Als Machtpolitiker sah er wie Kaiser Wilhelm II. Deutschlands Platz „an der Sonne“, ein Weltmachtanspruch, an dem er und das Kaiserreich letztlich scheiterten.

Das vorliegende Buch ist das Ergebnis langjähriger Forschung, kritischer Auseinandersetzung und der Auswertung umfangreichen Quellenmaterials, etwa Publizistik, Ego-Dokumente, Korrespondenzen, Geheimpapiere.

Peter Winzen, ausgewiesener Experte, gibt dem Bülow-„Bild“ Schärfe und Kontur. Er führt in die Schaltzentralen deutscher und europäischer Politik und zeichnet prägnant die Situation des Kaiserreichs vor und nach der Jahrhundertwende sowie den Weg Deutschlands in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs.

Das Personenregister liest sich als Who is who der europäischen Politik.

Zur Debatte um die Kriegsschuld Deutschlands und Bülows Anteil daran leistet diese erste wissenschaftliche Bülow-Biographie einen wertvollen Beitrag.

 

Ein Standardwerk!

Zum Autor

 

 

 

Peter Winzen,

Dr. phil., geb. 1943, Historiker; bis 1998 im Höheren Schuldienst, bis 2003 Lehrauftrag am Historischen Seminar der Universität Köln; bis 2002 Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Außenpolitik in der Ära Bülow.

Peter Winzen

 

 

 

Reichskanzler Bernhard von Bülow

 

 

 

Mit Weltmachtphantasien in den Ersten Weltkrieg

 

 

Eine politische Biographie

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Friedrich Pustet

Regensburg

Impressum

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

eISBN 978-3-7917-6005-6 (epub)

© 2013 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Heike Jörss, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2546-8

 

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VORWORT

Wie kaum ein zweiter Politiker hat Bernhard von Bülow (1849–1929), der im deutschen Kaiserreich nach Otto von Bismarck am längsten die Regierungsverantwortung in Berlin trug, es verstanden, durch seine Reden und sein monströses Memoirenwerk von 1931 der damaligen deutschen Öffentlichkeit und den nachfolgenden Historikergenerationen ein Bild von sich und seinem politischen Wirken zu vermitteln, das der Realität keineswegs entsprach. Der Versuch Friedrich Thimmes, nach dem Erscheinen der wohlweislich erst nach dem Tode Bülows publizierten vierbändigen Denkwürdigkeiten die vielen Schattenseiten des vierten deutschen Reichskanzlers aufzudecken, hat unter vielen Historikern Widerspruch ausgelöst. Seither schwanken die Urteile zwischen Anerkennung seines vermeintlich umsichtigen staatsmännischen Wirkens und Aberkennung jeglicher Staatsmannskunst überhaupt. Immerhin, so die Protagonisten eines überwiegend positiven Bülow-Bildes, habe Bülow Ruhe und Stetigkeit in die deutsche Innenpolitik gebracht, den Aktionsradius des unberechenbaren Kaisers eingeengt und dem Staatsstreichgerede der neunziger Jahre definitiv ein Ende gesetzt; in der Außenpolitik habe er unter dem Einfluss Friedrich von Holsteins zwar phasenweise unglücklich operiert, es aber letztlich geschafft, das Reich aus kriegerischen Verwicklungen mit den feindlichen Flügelmächten herauszuhalten. Ja, mancher Historiker hält es noch heute für ausgemacht, dass mit einem Reichskanzler Bülow die Julikrise 1914 einen friedlichen Ausgang genommen hätte – eine Legende, an der Bülow selbst in seinen privaten Aufzeichnungen und Memoiren eifrig gestrickt hat. Andere Historiker wiederum sprechen Bülow jedwede staatsmännische Qualitäten ab, halten ihn für einen Blender und opportunistischen Höfling, der, ohne tragfähige politische Konzepte zu besitzen, in der ihm von der Krone zugedachten Rolle eines „Bülowchen“ ganz nach den Wünschen seines kaiserlichen Herrn agierte. Auch dieses Bild scheint einer Korrektur zu bedürfen, da die Mehrzahl seiner außenpolitischen Handlungen ohne den Leitstern der wilhelminischen Weltmachtansprüche nicht schlüssig zu erklären ist und er den impulsiven, nach Selbstherrschaft dürstenden Hohenzollernkaiser, wie jüngste Untersuchungen zeigen, in wichtigen Entscheidungssituationen gleichwohl zu manipulieren wusste. Zudem wird man bei genauerem Hinsehen sich dem Eindruck nicht verschließen können, dass bis zum Frühjahr 1906 im außenpolitischen Denken des Fürsten Bülow eine bemerkenswerte Kontinuität zu beobachten ist. Dass er, anders als sein farbloser Vorgänger Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, seit Ende 1897 an den wesentlichen Weichenstellungen der deutschen Außenpolitik maßgeblich beteiligt war, wird niemand bestreiten können. Dabei war er in der politischen Hauptausrichtung keineswegs der Erfüllungsgehilfe Kaiser Wilhelms II. oder des langjährigen Vordenkers im Auswärtigen Amt Friedrich von Holstein, wie noch neuere Untersuchungen belegen wollen. Insofern ist Bülow für die deutsche Vorkriegspolitik zwischen 1898 und 1909 voll verantwortlich zu machen. Indirekt, so die These dieser Studie, trägt er auch die historische Verantwortung für die Politik, welche die Reichsleitung in der Julikrise 1914 eingeschlagen hat, so dass der von zeitgenössischen Publizisten des Auslandes erhobene schwere Vorwurf, Bülow sei der eigentliche „Vater des Krieges“ gewesen, nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen ist. Schließlich hat er seinem Nachfolger Theobald von Bethmann Hollweg einen außenpolitischen Scherbenhaufen hinterlassen.

 

An dieser Stelle möchte ich Herrn Prof. Dr. Jost Dülffer danken für die Unterstützung, die er mir bei der Vorbereitung dieser biographischen Studie hat angedeihen lassen. Den vielen engagierten Mitarbeitern der von mir besuchten Archive, die mir bei der Materialsuche behilflich waren, möchte ich hier pauschal meinen Dank aussprechen. Namentlich hervorheben möchte ich dabei Dr. Martin Kröger vom Politischen Archiv des Auswärtigen Amts, der meine Arbeit im letzten Sommer sachkundig begleitet hat. Ein ständiger hilfsbereiter Ansprechpartner war auch Herr Peter Franz vom Bundesarchiv in Koblenz, der mir bei verschiedenen Gelegenheiten geholfen hat, einige Lücken in meiner Materialsammlung zu schließen. Um die sprachliche Seite der Arbeit hat sich wiederum Dr. Wolfgang Miege gekümmert, dem mein ganz besonderer Dank gilt.

 

Bergisch Gladbach, im Juni 2013

 

 

 

AUFSTIEG

 

 

„Der Junge sieht ehrgeizig aus“

 

Otto von Bismarck

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Abb. 1 Bernhard von Bülow zu Beginn seiner Diplomatenlaufbahn; Dezember 1875

1. Jugendjahre

Elternhaus

Bernhard Heinrich Martin Carl von Bülow erblickte am 3. Mai 1849 in Klein Flottbek bei Hamburg im Landhaus seiner Großmutter Emilie Rücker das Licht der Welt. Klein Flottbek lag sieben Kilometer westlich von Altona, gehörte aber damals noch zum unter dänischer Oberhoheit stehenden Herzogtum Holstein. Sein Vater, Bernhard Ernst von Bülow (1815–1879), Spross eines uralten mecklenburgischen Adelsgeschlechts, doch ohne Grundbesitz und von Haus aus wenig vermögend, war 1837, dem Beispiel von Bernhards Großvater Adolph folgend, in den dänischen Staatsdienst eingetreten. Bernhards Mutter Louise Victorina entstammte den führenden Hamburger Großbürgerfamilien Rücker und Jenisch und war auch mit der wohlhabenden Senatorenfamilie Godeffroy verwandt.1 Die Heirat mit Louise Rücker hatte Geld in die Familie gebracht, so dass die Bülows fortan ein ‚standesgemäßes‘ Leben führen konnten. Nach Bernhard wurden noch sieben weitere Kinder geboren: Adolph (1850), Alfred (1851), Waldemar (1853), Christian (1855), Bertha (1858), Karl Ulrich (1862) und Friedrich (1865). Der frühe Unfalltod Waldemars 1855 und noch mehr das Ableben Berthas, die zwölfjährig an Diphtherie starb, trübten das Familienglück nachhaltig, bestärkten den jungen Bülow jedoch in seiner pietistisch geprägten Glaubenshaltung.

Bernhard wuchs in der Freien Stadt Frankfurt am Main auf, da sein Vater 1850 vom dänischen König zum Bundesgesandten für die Herzogtümer Holstein und Lauenburg ernannt worden war und somit die dänischen Interessen im Deutschen Bundestag vertrat. Dort wohnten die Bülows im Stadthaus des jüdischen Barons Willy Rothschild, dessen Witwe Mathilde mit der späteren Kaiserin Friedrich und mit Bernhards späterer Schwiegermutter Donna Laura Minghetti befreundet war. Kaiser Wilhelm II., so betont Fürst Bülow in seinen Denkwürdigkeiten, habe „die durch Wohltätigkeitssinn wie durch musikalische Begabung ausgezeichnete Baronin Mathilde sehr verehrt“. Ihm selbst sei der Garten des Rothschildschen Hauses in angenehmer Erinnerung geblieben, vor allem die Mirabellenbäume: „Ich esse noch heute, als alter Mann, keine Mirabellen, ohne an Frankfurt zu denken.“ In den Türpfosten des Rothschildschen Hauses seien kleine Elfenbeintäfelchen eingelassen gewesen mit hebräischen Lettern. Die Eltern hätten den Kindern erklärt, dass es sich hierbei um die Zehn Gebote handele und es „sehr zu loben“ sei, „dass die Israeliten sich die heiligen Zehn Gebote stets vor Augen hielten“.2 Überhaupt fand der junge Bülow unter Anleitung seines Vaters zu einer insgesamt positiven Einstellung zu den Juden, die „in Frankfurt ein bedeutsames und stark ausgeprägtes gewerbliches und gesellschaftliches Element bildeten“. Neugierig durchstreifte er wiederholt die Judengasse, die zur Nachtzeit und am Sonntag durch Tore abgeschlossen wurde. Sein Vater, so erinnerte er sich später, sei häufig mit dem unterhaltsamen Bankier Anselm Mayer Rothschild spazieren gegangen, dessen Humor sprichwörtlich gewesen sei. Der „freundliche alte Mann“ habe dabei auch immer wieder „hübsch von seiner Kindheit“ erzählt.3

In seinen Erinnerungen hat Bülow ausdrücklich festgehalten, dass er es aus der Rückschau „als ein Glück“ betrachte, die ersten Eindrücke seines Lebens in Frankfurt empfangen zu haben. Diese Stadt, in der „norddeutsche und süddeutsche Art“ sich vorurteilsfrei begegneten, habe ihn „von Kindesbeinen an gegen allen Partikularismus gefeit“ und ihn frühzeitig für den Gedanken der deutschen Einheit reif gemacht. Dementsprechend habe er am 13. Januar 1902 im preußischen Abgeordnetenhaus betont, der Kanzler der Einheit sein zu wollen, der seinen Platz über den Parteien, Konfessionen und bundesstaatlichen Sonderinteressen einnehme. „Für mich als Ministerpräsidenten und Reichskanzler“, so seine damalige Botschaft, die er als sein „politisches Glaubensbekenntnis“ bezeichnet, „gibt es weder ein katholisches noch ein protestantisches, weder ein konservatives noch ein liberales Preußen und Deutschland, sondern vor meinen Augen steht nur die eine und unteilbare Nation, unteilbar in materieller und unteilbar in ideeller Beziehung.“4

So weit war es während seiner Kindheit in der Freien Stadt Frankfurt noch nicht. Die deutsche Nation gab es damals nur auf dem Papier und in der politischen Phantasienwelt der Zeitgenossen, realiter aufgesplittert in viele souveräne Fürstentümer und freie Reichsstädte, angeführt von den beiden rivalisierenden Hauptmächten Preußen und Österreich. Fühlbar wurde der deutsche Partikularismus für den jungen Bülow vor allem auf den jährlichen Fahrten durch Norddeutschland, wie der Fürst in seinen Denkwürdigkeiten nicht ohne ironischen Unterton erzählt. Auf der Anreise nach Hamburg, wo die Bülows in der Flottbeker Villa den Sommer zu verbringen pflegten, habe man schon nach zehn Minuten Eisenbahnfahrt die erste Auszeit in Bockenheim nehmen müssen, da dem Kurfürsten von Hessen anscheinend daran gelegen war, dass in der „jüngsten kurhessischen Stadt“, die in Wirklichkeit nur eine Vorstadt von Frankfurt war, „seiner Landeshoheit gehuldigt“ werde. Weitere Zwangsaufenthalte aufgrund der vielen Grenzen folgten. Traf man dann nach langer Reise des Abends in Hannover ein, war eine Weiterfahrt erst am nächsten Morgen möglich. Dadurch sollten die Reisenden wohl gezwungen werden, in den Gasthöfen des Königreichs Hannover Quartier zu beziehen. Doch die meisten Reisenden verbrachten nach Bülows Erinnerung die Nacht im Wartesaal des Bahnhofs, indem sie den „blinden König Georg von Hannover“ verfluchten.5

Von Flottbek aus suchten die Bülows regelmäßig Plön auf, den Geburtsort von Bernhards Vater. Bernhards Großvater Adolph von Bülow hatte 1813 die Reichsgräfin Susanne Baudissin (1790–1874) geheiratet, war aber schon zwei Jahre später als Neunundzwanzigjähriger im dänischen Verwaltungsdienst gestorben. Nicht ohne Stolz erinnert sich der greise Fürst, dass sein Großvater Adolph „in seiner Jugend ein Duell gehabt“ habe, „bei dem er seinen Gegner erschoß“. Auch sein Urgroßvater Karl Ludwig Reichsgraf von Baudissin sei als kursächsischer Major aus einem Duell als Sieger hervorgegangen, als er „in einem ritterlichen Ehrenhandel einen Grafen Gersdorff erstochen hatte“. Nach einer längeren Festungshaft in Sachsen in den dänischen Dienst eingetreten, habe Baudissin fünf Jahre als dänischer Gesandter am preußischen Hof fungiert und sei als Gouverneur von Kopenhagen gestorben.6 Dank dieser Vorbilder war Bülow noch als Reichskanzler ein Anhänger des Duellierens.

In Frankfurt habe ihm sein promovierter Hauslehrer Lohr die „Größe, aber auch die Tragik der deutschen Geschichte“ eindringlich vor Augen geführt, konstatiert Fürst Bülow später. Lohr habe ihm den Dom gezeigt, in dem die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gewählt und gekrönt worden seien, und ihn in den Kaisersaal des dreigiebligen Römers geführt, wo er die überlebensgroßen Bilder der deutschen Kaiser bestaunen durfte. Am liebsten habe er vor dem Bild Kaiser Friedrichs gestanden: „Und wenn mir Herr Dr. Lohr von Barbarossa erzählte, der die deutsche Reichsherrlichkeit mit sich hinabgenommen hätte, aber wiederkommen würde mit ihr zu seiner Zeit, so überkam mich eine große Sehnsucht, daß die Raben endlich aufhören möchten, um den Kyffhäuser zu fliegen, daß der Kaiser herausträte aus seinem unterirdischen Schloß und mit ihm des Reiches Herrlichkeit.“ Die Habsburger-Kaiser gefielen dem jungen Bülow weit weniger, sieht man einmal von Karl V. ab: „Dessen ablehnende Haltung gegen unseren teuren Dr. Martin Luther nahm ich ihm zwar übel, aber daß die Sonne in seinem Reich nicht unterging, gefiel mir doch.“7 Diese Kindheitsbegegnungen mit der deutschen Geschichte scheinen die politische Gedankenwelt des späteren Staatsmannes entscheidend geprägt zu haben. Nicht zufällig trat er kurz vor der Jahrhundertwende sein Außenstaatssekretariat mit der Forderung nach dem „Platz an der Sonne“ an und traf damit den Nerv seiner deutschen Zeitgenossen.

Die Wohnstätte der Bülows lag nicht weit von der Frankfurter Wohnung des preußischen Gesandten Otto von Bismarck. Die Bülows und Bismarcks begannen bald freundschaftlich miteinander zu verkehren: Die Frauen trafen sich auf dem Boden des Pietismus, während die beiden Gesandten politische Affinitäten entdeckten. Bismarcks Urteil über den Vater hätte später auch auf den Sohn übertragen werden können. „Herr von Bülow aus Holstein“, schrieb Bismarck 1851 einem hochrangigen Freund aus der Umgebung des preußischen Königs, „gehört […] zu den besten Elementen der Versammlung, er ist ein angenehmer Gesellschafter von liebenswürdigen Manieren, dabei schlau und umsichtig.“8 Als der Vater seinen ältesten Sohn im Alter von 7 oder 8 Jahren dem Gesandten Bismarck vorstellte, soll der spätere Reichsgründer auf die Frage, wie er seinen Ältesten fände, gesagt haben: „Der Junge sieht ehrgeizig aus.“9 1857 schenkte Bismarcks Frau dem kleinen Bernhard ein Christusbild, das bis zum Tod des Fürsten über seinem Bett hing.

Bernhards Eltern verkehrten häufig mit Mitgliedern des Hochadels. So fuhren sie oft zum hessischen Schloss Rumpenheim, das im Besitz des Landgrafen Wilhelm von Hessen war, der es zum dänischen General der Infanterie gebracht hatte. Dessen Tochter Luise, die mit Prinz Christian von Holstein-Glücksburg verheiratet war, hielt sich mit ihren Töchtern einen großen Teil des Jahres in Rumpenheim auf. Mit ihnen spielte Bernhard gern, wenn er seine Eltern zum Schloss begleiten durfte. Prinz Christians Tochter Alexandra sollte die Gemahlin des englischen Königs Eduard VII. werden, während die jüngere Prinzessin Dagmar (als Maria Feodorowna) den späteren Zaren Alexander III. heiratete.

Schulzeit

Bernhards standesgemäße Erziehung vollzog sich zunächst unter der Obhut englischer und französischer Gouvernanten, denen er die frühe Beherrschung der französischen und englischen Sprache verdankte. Seine hessischen Hauslehrer, die ihn bis zum 12. Lebensjahr unterrichteten, weckten in dem Jungen mit dem dänischen Pass das „Verständnis für die deutsche Sage, für unsere gewaltigen nationalen Heldengedichte, vor allem für das Nibelungenlied“.10 Am meisten scheint der Knabe von seinem hochgebildeten, perfekt französisch sprechenden Vater beeinflusst worden zu sein, der ihm die Bibel und, bereits im Alter von 10 Jahren, die Schriften Homers näherbrachte. Von früh an, so Bülow in seinen Erinnerungen, sei er „homerisch gestimmt“ gewesen und habe mit seinem Vater „täglich in der Bibel“ gelesen.11 Während der Vater den Lebensweg seines ältesten Sohnes entscheidend mitbestimmte und die geistigen und emotionalen Bindungen zwischen ihnen sehr intensiv gewesen zu sein scheinen, blieb die hanseatische, anglophile Mutter eher eine Randfigur in Bülows Leben.

Im Herbst 1861 begann Bernhard Bülows öffentliche Erziehung mit dem Eintritt in die Quarta des Frankfurter Gymnasiums. Hier scheint er die dauerhaftesten Impulse von seinem Geschichtslehrer Theodor Creizenach empfangen zu haben, der – wie er später betonte – in Fortführung seines Hauslehrers Lohr „in mir Verständnis für die deutsche Geschichte und damit für nationales Empfinden“12 weckte. Nach etwa 18 Monaten endete dieser Erziehungsabschnitt, da sein Vater Ende 1862 aus Protest gegen die anwachsenden nationalistischen Strömungen im Königreich Dänemark aus dem dänischen Staatsdienst ausgeschieden und einem Ruf des Großherzogs Friedrich Wilhelm von Mecklenburg-Strelitz gefolgt war. „Damit seid ihr ganz und endgültig Deutsche geworden“13, erläuterte Bülow senior seinen beiden ältesten Söhnen die neue Situation nach ihrem Eintreffen in dem kaum 7.000 Einwohner zählenden Städtchen Neustrelitz, von wo aus der Vater das kleine, politisch wie ökonomisch äußerst rückständige Fürstentum Mecklenburg-Strelitz bis 1867 als Staatsminister regierte, um dann 1868 als mecklenburgischer Gesandter nach Berlin zu gehen. Mecklenburg-Strelitz wies noch eine mittelalterlichfeudale Verfassung auf und brachte es 1867 auf nicht mehr als 98.000 Einwohner.14 Er habe, so erklärte Bernhard Ernst von Bülow seiner Familie, den an sich nicht sehr attraktiven mecklenburgischen Posten angenommen, weil in Strelitz ein gutes Gymnasium für die Söhne und „endlich Mecklenburg die Wiege seiner Familie“ sei.15

Als Schüler war Bernhard kein Überflieger, aber aufgrund von Fleiß und außergewöhnlich gutem Gedächtnis arbeitete er sich im Neustrelitzer Gymnasium Carolinum allmählich vom zehnten auf den vierten Platz vor. In seinem Untersekunda-Zeugnis erreichte er gute Noten in Latein, Französisch und Geschichte, aber nur mäßige Noten in Deutsch, Arithmetik und Religion.16 Die Obersekunda beendete er mit der Bestnote in Französisch, aber einer sehr mäßigen Benotung in Religion. Seine bürgerlichen Mitschüler empfand er durchweg als „bieder“ und provinziell; dabei genoss er offensichtlich seine privilegierte Stellung als „Junker“, war er doch neben seinem Bruder Adolph, der die gleiche Klasse besuchte, der einzige Adelige in der Obersekunda. Die Freizeit verbrachte er mit seinem jüngeren Bruder gewöhnlich auf der Reitbahn, wenn er nicht gerade längere Fußwanderungen, etwa nach Rügen, vorzog.17

Der im Januar 1864 über die Schleswig-Holstein-Frage ausbrechende Krieg Preußens gegen das Königreich Dänemark ließ die Strelitzer Untersekundaner nicht unberührt. Als am 18. April 1864 die Preußen die Düppler Schanzen erstürmten, war nach Bülows Erinnerung die Begeisterung in Mecklenburg allgemein. In der Untersekunda seien die „Wogen der Begeisterung“ so hoch gegangen, dass man „aus voller Kehle“ gesungen habe: „Wohin sich der Sinn uns auch wende/ Millionen, sie schlingen die Hände/ Zum großen Bund, dem ein’gen Vaterland.“ In dem „Hochgefühl“, das ihn damals ergriffen habe, „als die Preußen die Dänen überall geschlagen und sie nach Fünen vertrieben hatten“, habe er zu seinem Vater gesagt: „Jetzt sind wir ein großes Volk! Wir sind größer, als es die Engländer und Franzosen sind.“ Dagegen meinte der Vater beschwichtigend, die Deutschen seien noch lange nicht so weit, da ihnen „das Nationalgefühl, der Nationalstolz der Franzosen und Engländer“ fehle: „Wir streiten uns auch viel zu oft untereinander.“18 Nach einem Wort Goethes seien die Deutschen im Einzelnen tüchtig, als Ganzes aber miserabel. Kein Wunder also, dass Bülow 1897 nach seinem Einzug in die Wilhelmstraße in der Überzeugung, dass nur die Einheit Deutschland stark mache, die „nationale Idee“ in den Brennpunkt seiner Politik zu rücken suchte.

Nach dem zweijährigen Neustrelitzer Intermezzo folgte Ostern 1865 als nächste Ausbildungsstation das renommierte Pädagogium zu Halle an der Saale, ein zu den Franckeschen Stiftungen19 gehörendes Internat. Schon im Sommer 1864 hatte Bernhard Ernst von Bülow seinen beiden Ältesten eröffnet: „Ich schicke euch auf eine preußische Schule, da ihr doch wohl einmal euren Weg in Preußen machen werdet, damit ihr euch rechtzeitig an die preußische Art gewöhnt.“20 An jenem Internat, von den etwa zweihundert Schülern liebevoll „Pädchen“ genannt, wirkte damals noch der Geograph und Theologe Hermann Adalbert Daniel (1812–1871), dessen Leitfaden der Geographie zu den erfolgreichsten Schullehrbüchern des 19. Jahrhunderts gehört. Der Einfluss, den dieser etwas exzentrische Lehrer, der selbst kaum über die Grenzen Deutschlands hinausgekommen ist, auf den heranwachsenden Bülow ausgeübt hat, ist schwerlich zu überschätzen. Daniel habe in ihm „den Patriotismus gefördert“, gestand Bülow später freimütig, „die Flamme, die in ihm selbst brannte, die unbegrenzte Liebe zu deutscher Art, deutscher Sprache, deutscher Dichtkunst und Philosophie, deutschem Land und Volk.“ Der sich mit Deutschland beschäftigende dritte Teil von Daniels Handbuch der Geographie wurde für Bülow zur Lieblingslektüre: „Seine Schilderung von deutschem Land, von deutschen Tälern und Höhen, Wäldern und Flüssen, von deutschen Städten in Nord und Süd ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. In dieser Beziehung sehe ich Deutschland mit den Augen meines alten Lehrers an.“21

Liest man heute die von Daniel in seinem vierbändigen Handbuch der Geographie ausführlich entwickelten Charakterbilder der Deutschen, Engländer, Franzosen, Russen und Italiener, so glaubt man sich in ein nationalistisches Gruselkabinett versetzt. Alles Nicht-Deutsche wird von Daniel klischeehaft abgewertet und mitunter ins Lächerliche gezogen, während das „deutsche Wesen“ idealistisch verklärt wird. „Die Deutschen sind ein sangreiches, poetisches Volk“, heißt es dort lapidar. Dem „deutschen Charakter“, so der Sonderling aus Halle, sei „die tiefere Erfassung aller menschlichen und göttlichen Dinge“ eigen; Deutschland sei „ein ernstes, nachdenkliches, durch Gelehrsamkeit und geschichtliche Kritik classisches Land.“ Vor allem habe „Deutschland es mit dem Heiligen ernst genommen. Trotz aller alte Zucht beeinträchtigenden Einflüsse hat sich der Deutsche ein tiefes Gefühl für Ehre, Recht und Sitte gewahrt“. So fühle „ein lüderlicher Deutscher […] ganz anders einen Stachel im Gewissen als der zügellose Romane“. Die „allseitige Tüchtigkeit des Volkes“ scheine „in eigentümlicher Färbung in seinen Geschlechtern und seinen Altersstufen wieder: der deutsche Mann voll Biederkeit und Treue, der Jüngling, im äußeren Auftreten oft eckig und verschlossen, aber mit Mark in den Röhren und den Kopf voll Ideale, das Herz auf dem rechten Flecke; die deutsche Hausfrau, das Juwel aller Frauen auf Erden, die deutsche Jungfrau, wie eine Blume so hold und schön und rein – das deutsche Haus, ein Haus voll Zucht und Ernst und zugleich eine Stätte traulicher Gemütlichkeit.“22 Freilich sei es in der Vergangenheit oft so gewesen, „daß wir in dem zu ausschließlichen Blicken auf Ideale das Wirkliche und Mögliche übersehen, daß wir vergessen haben, wie eine richtige Verschmelzung von Idealismus und Realismus das Wohl der Einzelnen und der Völker in rechter Weise baut. Schon öfter ist die Welt weggegeben, während wir in Träumen verweilt.23 Aber wenn nun einmal nicht alle Gaben und Gottesgeschenke einer Nation zu Theil werden, so möchte der deutsche Sinn diesen seinen Idealismus durchaus nicht missen und nimmermehr mit der einseitig praktischen Verstandesrichtung oder gar mit dem Materialismus anderer Völker vertauschen.“24

Demgegenüber schneidet bei Daniel der Engländer, obwohl auch germanischen Ursprungs, ausgesprochen schlecht ab. Das „germanische Brudervolk drüben über dem Canal ist anders geartet“, glaubte Daniel 1869 feststellen zu können. „Wir dürfen uns als Aesthetiker und Idealmenschen fühlen, sobald wir den Fuß auf englischen Boden gesetzt haben“.25 Zwar wird dem Engländer Sinn für Häuslichkeit und „ein reges Gefühl für sein Vaterland“ bescheinigt, doch habe sich in den letzten Jahrhunderten, begünstigt durch die insulare Lage, die vorzüglichen Häfen und günstigen Flussmündungen, besonders aber durch den Steinkohlen- und Eisenerzreichtum, „der eigentliche Industrie- und Handelsgeist ausgebildet, der als allgemeine Lust zum Wetten und Wagen durch das ganze Volk verbreitet ist und gar oft den Briten engherzig und eigensüchtig erscheinen lässt, dem in seiner Ausartung, wie jemand bitter bemerkt, das Einmaleins höher liegt als Menschenwohl und Menschenglück.“ „Dem Fremden schließt sich der Engländer nicht leicht an“, heißt es in Daniels Lehrbuch der Geographie für die Oberstufe höherer Lehranstalten, das 1914 in 84. Auflage erschien; „seine Art ist für Fremdes so ungefügig, daß englische Reisende, welche scharenweise die schönen Gegenden des Kontinents bereisen, meist sogleich an ihrem sonderbaren Wesen erkannt werden. Überhaupt gibt es unter keiner Nation so viele wunderliche Sonderlinge; der englische Spleen, eine Art krankhafter Schwermut, ist verrufen genug.“26 „Ganz treffend“, so wird Daniel seinen Schülern mehr als einmal suggeriert haben, „heißt der mit Ochsenfleisch genährte, stierkräftige und stierenergische Brite mit seinem Spitznamen John Bull, Hans Ochse oder Johann Stier.“27

Was waren die Wurzeln für Daniels Anglophobie, mit der er viele Schülergenerationen und namentlich seinen Musterschüler Bülow infiziert hat? Vermutlich war es die vermeintliche Arroganz, die die prosperierende Industrie- und Handelsnation jenseits des Kanals als seebeherrschende Weltmacht gegenüber allen Nichtbriten an den Tag legte, welche den Nationalisten Daniel so in Rage brachte. Der Brite, so räsonierte der Geographieprofessor im zweiten Band seines Geographie-Handbuchs, habe sich „von manchen deutschen Untugenden frei gehalten, aber auch das Gute seiner gemanischen Mitgabe in der That nach manchen Seiten hin carrikirt und ihr Schattenseiten zugesellt, die von dem Aufgehen einer Nation in Handel und Industrie unzertrennlich oder schon mit der Richtung auf das Meer gegeben sind. Die Selbständigkeit wird zur kalten, steifen Abgeschlossenheit. ‚Jeder Engländer ist eine Insel für sich.‘ Hecken und Zäune umschließen sein geistiges Wesen wie seinen Acker. Die bekannte Sucht zur Originalität und Wunderlichkeit, das Verlaufen in die abnormsten Verkehrtheiten hängt mit dieser Eigenthümlichkeit zusammen. Der edle Nationalstolz ist bei dem Engländer zu blindem Hochmuth und Übermuth geworden, der nicht etwa als männliches Selbstbewusstsein oder Unbeholfenheit und Ungewandtheit aufzufassen und zu entschuldigen ist. Sein Mund ist ewigen Rühmens englischer Zustände voll, aber das Auge blind für die so tiefen und dunklen Schatten in dem Lichtgemälde, blind z.B. für die argen Mißbräuche, welche die hochgefeierte Verfassung öfter zum Schatten machen, blind für die nirgends so entsetzlich klaffende Kluft zwischen Armuth und Reichthum, blind für die Mängel der Volksbildung und des Volksschulwesens, die seine ganze Scham erregen müssten. Auf andere Nationen sieht der Engländer von oben herab und fällt Urtheile, bei denen Abgeschmacktheit und Unwissenheit im Streite liegen. Mit den deutschen Verwandten wird durchaus keine Ausnahme gemacht […].“ Es müsse zugegeben werden, dass die Engländer „einen klaren Blick für die Dinge dieser Erde“ hätten und sie „Meister“ darin seien, „ihren eignen Hausstand und den ihres Volkes groß und reich zu machen. Aber es fehlt dem englischen Leben ein Hauch vom griechischen Genius, der die tieferen Harmonien im Weltall vernimmt […]. Der Engländer thut nichts und denkt nichts als für einen praktischen Zweck, damit ist ein guter Theil von dem weggestrichen, was wir Andern Poesie, Wissenschaft, Gemüth nennen. […] Und darin besteht bei aller Verwandtschaft zwischen englischem und deutschem Wesen ein scharfer und nicht zu verwischender Unterschied. England ist das Land eines kräftigen, aber einseitigen Realismus.“28

Besonders interessant für den jungen Bülow war der Blick in die Zukunft, den Daniel schon in den sechziger Jahren wagte. Die Machtverhältnisse zwischen den aufstrebenden Deutschen und den saturierten Engländern könnten sich ändern, deutete er an. Der in dem englischen Volkslied „Rule Britannia“ zum Ausdruck kommende „Stolz auf den oceanischen Weltberuf“ Britanniens sei berechtigt, denn noch nie habe „eine Nation der Erde den Ocean in gleicher Weise dienstbar gemacht, die ganze Erde mit ihren Colonien und Stationen besetzt“. Doch werde England seine weltbeherrschende Stellung behalten können? „Wird es die Herrschaft der Meere anderen Nationen, deren Seemacht riesenhaft wächst, gegenüber behaupten können? Wird sich die Unangreifbarkeit der Küsten gegen eine feindliche, jetzt zumeist aus Panzern und Dampfschiffen bestehende Flotte bewähren?“29 Das waren Fragen, die sich Bülow und Tirpitz als die Hauptpromoter des deutschen Schlachtflottenbaus ein halbes Jahrhundert später immer wieder stellen sollten.

In seinen Erinnerungen betont Bülow nicht ohne Stolz, dass er sich mit Erfolg um die Anerkennung seines von ihm verehrten Geschichts- und Geographielehrers Daniel bemüht habe: „Er ist wohl der Mann gewesen, der mich neben meinem Vater in meiner Jugend am stärksten beeinflusst hat.“30 Daniels Gedankengut findet sich denn auch in seinen späteren Reden als Staatssekretär des Äußeren und Reichskanzler sowie in seiner Privatkorrespondenz wieder. Vor allem, wenn es um die Verurteilung des deutschen „Partikularismus“ und der Assimilationsbereitschaft der deutschen Auswanderer ging, konnte er sich auf Daniel berufen. „Kaum ein anderes Volk ist so oft unter sich gespalten, ja gegeneinander in den Waffen gewesen“ wie die Deutschen, beklagte Daniel. Die unter seinen Landsleuten häufig zu beobachtende „Bewunderung des Ausländischen“ sei mitunter ekelhaft. Am bedenklichsten sei es aber, „daß die Deutschen infolge ihrer leichten Anpassungsfähigkeit sehr schnell im fremden Volkstum aufgehen und so dem Deutschtum für immer verloren sind.“31 Aber auch in seiner Auffassung von der hohen militärischen Leistungsfähigkeit der Deutschen wusste sich der Reichskanzler mit seinem früheren Geschichtslehrer einig: „Die Deutschen, sagt man, sind phlegmatischen Temperaments und haben Fischblut in den Adern. Manches scheint das zu bestätigen – aber auf einmal wandelt der nicht ganz verschwundene furor teutonicus die ruhigen Leute an, und ihre Wuth ist gefährlicher als das Schreien und Toben der Romanen.“32

Das Kollegium des Hallensischen Pädagogiums, auf dem Bernhard Bülow sich offenbar sehr wohlgefühlt hat, das 1872 aber wegen rapiden Schülerrückgangs seine Pforten schließen musste, war in den 60er Jahren entschieden antiliberal und preußisch-konservativ eingestellt. Als Zeitungslektüre erlaubte der Direktor seinen Zöglingen lediglich die Neue Preußische Zeitung („Kreuzzeitung“), deren Wahlspruch „Vorwärts mit Gott für König und Vaterland“ bei den damaligen Internatsschülern gut ankam. „Wir waren alle ganz rechts gesinnt“, bekannte Bülow später; diese ultrakonservative Gesinnung hätten adelige und bürgerliche Klassenkameraden gleichermaßen an den Tag gelegt. So war es nur folgerichtig, dass die Primaner bei einem Ausflug nach der nördlich von Halle gelegenen Burgruine Giebichenstein im Frühjahr 1866 in das Fremdenbuch einer den historischen Ruinen gegenüberliegenden Bergschenke schrieben: „Nur Roß, nur Reisige / Sichern die steile Höh’, / Wo Fürsten stehn. / Nicht Demokraten, Juden und Freischärler, / Denn wer auf die getraut, / Der hat auf Dreck gebaut.“33 Der junge Bülow hat diesen Eintrag unterschrieben, obgleich er, wie wir oben gesehen haben, nicht antisemitisch eingestellt war. Das hatte er schon auf dem Frankfurter Gymnasium bewiesen, als er zusammen mit seinem Bruder Adolph Partei für den jüdischen Geschichtslehrer Theodor Creizenach ergriff. Seinetwegen prügelten sich die beiden Bülows mit ihren Klassenkameraden sogar, als sie während einer Pause auf der Wandtafel eine „hässliche Karikatur“ entfernen wollten, die eine Anspielung auf die jüdische Herkunft ihres Lehrers enthielt.34 Bekanntlich förderte Bülow während seiner Reichskanzlerzeit den Großindustriellensohn Walther Rathenau (1867–1922) trotz dessen jüdischer Abstammung35 und berief 1906 den aus einer jüdischen Gelehrtenfamilie stammenden Bernhard Dernburg (1865–1937) zum Leiter der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt und wenig später zum Kolonialstaatssekretär.

Im August 1867 legte Bülow in Halle das Abitur ab. Sein Reifezeugnis wies in Religion, Deutsch, Französisch und Geschichte/Geographie jeweils die Note „Vorzüglich“ auf, in Latein und Griechisch „Gut“, während seine Leistungen in Mathematik lediglich mit „Im Ganzen Befriedigend“ bewertet wurden. Die Begründung für die Erteilung der Bestnote in Geschichte/Geographie lautete: „Er hat für diese Disziplin immer eine besondere Vorliebe gehabt und ihr den tüchtigsten Fleiß zugewandt, auch mehrere classische historische Werke mit Gewinn für sich gelesen. Seine Kenntnisse auf dem ganzen Felde der Geschichte sind sicher und ausgedehnt, und für manche Teile gehen sie auch ins Einzelne. Die geographischen Kenntnisse genügen mäßigen Ansprüchen.“36 Auf dem Kopf des Zeugnisses befindet sich folgende Einschätzung seines Gesamtverhaltens: „Während der ganzen Zeit seines Schulbesuches hat er sich ebenso sehr durch eifrigen Fleiß als durch sein freundliches Wesen und in jeder Beziehung lobenswertes Betragen seinen Lehrern und Mitschülern wert gemacht […]. Die Gesamtbildung, die er sich erworben, ist sehr erfreulich, und wird sich um so mehr geltend machen, je mehr er sich einer ruhigen und besonnenen Überlegung befleißigt.“37 Wie später im Verlauf seiner politischen Karriere entwickelte sich Bülow bereits in der Schulzeit durch sein überaus freundliches Auftreten zu Everybody’s Darling, wodurch er die dunklen Seiten in seinem Wesen erfolgreich kaschieren konnte. So sah sich die Haller Prüfungskommission am 12. August in der Lage, ihm mit gutem Gewissen das begehrte Zeugnis der Reife zu erteilen und ihn „unter Anwünschung des göttlichen Segens für seine künftige Laufbahn“ zum Jurastudium zu entlassen.

Das Thema seiner Abiturklausur im Fach Deutsch passte zu dem konservativen Geist der Erziehungsanstalt: „Unsere mittelalterlichen Volksepen – ein großes und herrliches ‚Lied von Treue’.“ Das Ergebnis des Aufsatzes war durch die Aufgabenstellung schon vorweggenommen, es ging hier lediglich um das Abrufen eines möglichst profunden Wissens zur Thematik der deutschen Volksepen des Mittelalters. Und hier konnte der Abiturient Bernhard Bülow glänzen. Ausgehend von einem Zitat des Historikers Barthold Niebuhr (1776–1831), wonach die Deutschen mit Fug und Recht die Griechen der Neuzeit genannt werden könnten, verglich er zunächst die Geschichte, Kultur und Mentalität der beiden Völker. Schon die ersten Passagen verraten, wie umfassend der Schüler die Gedankengänge seines Lehrers Daniel verinnerlicht hatte. „Wir wollen hier nicht von der Geschichte beider Völker reden, die uns in gleicher Weise das traurige Bild innerer Kämpfe, inneren Streites und Haders bietet. Wir wollen nichts davon sagen, daß bei beiden Völkern ganz besonders ein Hang zur Zersplitterung, eine Abneigung vor Einigkeit, vor Centralisation, wenn ich mich dieses modernen Ausdruckes hier bedienen darf, innewohnt. Daß aber auf der anderen Seite ihnen vor allen anderen es gegeben ist, in Ideen zu leben und für Ideen zu kämpfen, daß sie, wenn ich so sagen soll, die philosophischen Völker sind, ist unbestreitbar – der Fremde mag über uns faseln und witzeln, was er will.“ Im Übrigen besäßen „nur die Deutschen und die Hellenen […] ein wahres und ächtes Volksepos“. Während aber bei den griechischen Volksepen kein Grundgedanke zu erkennen sei, ziehe sich durch „unsere mittelalterlichen Epen […] ein roter Faden“, nämlich die Verherrlichung der „Treue“: „Es ist die Gattentreue, es ist die Treue des Königs gegen seine Mannen und der Mannen gegen ihren Herren. Es ist die Treue des Freundes gegen den Freund.“ Nach Aufführung zahlreicher Belege für die Gültigkeit der Treue-These kommt der Abiturient zu dem wenig überraschenden Schluss, dass „unsere mittelalterlichen Volksepen“ in der Tat „ein großes und herrliches Lied von Treue“ seien, ja dass sich „in ihnen die ganze Treue unseres Volkes“ widerspiegele und Schillers Wort immer noch Gültigkeit besitze: „Und die Treue sie ist kein leerer Wahn!“38 Die Kontinuität in Bülows politischem Denken ist frappierend. Man denke hier nur an das von ihm geprägte Wort von der „Nibelungentreue“, mit dem er im Reichstag am 29. März 1909 das Verhältnis des Deutschen Reiches zu dem einzigen verbliebenen Bundesgenossen Österreich-Ungarn zu charakterisieren suchte. Er habe „irgendwo ein höhnisches Wort gelesen über unsere Vasallenschaft gegenüber Österreich-Ungarn“, führte er als Reichskanzler vor dem Hohen Haus aus. „Das Wort ist einfältig! Es gibt hier keinen Streit um den Vortritt wie zwischen den beiden Königinnen im Nibelungenliede; aber die Nibelungentreue wollen wir aus unserem Verhältnis zu Österreich-Ungarn nicht ausschalten, die wollen wir gegenseitig wahren.“39

Fast hätte Bülow die Abiturprüfung nicht auf Anhieb geschafft, weil er an einem Täuschungsversuch beteiligt war. Auf die Bitte eines Mitschülers entwarf er für diesen ein Konzept für den Abituraufsatz, das der Aufsichtsführende Daniel während der Deutschklausur bei dem Mitschüler entdeckte. Daraufhin wurde die Abiturklausur abgebrochen und ein neues Thema gestellt. Nach Abgabe der Prüfungsarbeiten erklärte der Mitschüler Puppel, das eingezogene Konzept „auf wiederholtes Drängen durch Zeichen von dem Abiturienten von Bülow, der in seiner Nähe saß, erhalten zu haben.“ Die Strafe folgte auf dem Fuße: Puppel wurde von dem weiteren Prüfungsverfahren ausgeschlossen und der Schule verwiesen. „Dieselbe Strafe“, so heißt es im Protokoll des Abiturientenexamens vom 25. Juli 1867, „hätte allerdings nach dem Wortlaut der betreffenden Verfügung auch von Bülow treffen müssen, indessen glaubte die Kommission die Entschuldigung desselben annehmen zu dürfen, daß er, weil von dem Direktor bei der vor Beginn der Prüfung geschehenen Ankündigung, jede Täuschung werde den Abbruch der Prüfung zur Folge haben, nicht ausdrücklich hervorgehoben sei, der Mithelfer werde von derselben Strafe betroffen werden, sich nicht zum klaren Bewußtsein gebracht habe, welcher Gefahr er sich durch sein unbesonnenes Nachgeben gegen das Drängen des Puppel aussetze. Denn sie war nach dem Charakter des von Bülow und seinem während der ganzen Zeit seines Schulbesuches bewiesenen in jeder Beziehung musterhaften Betragens überzeugt, daß wirklich eine augenblickliche Unbesonnenheit, nicht eine prämeditierte Betrügerei vorliege. Sie glaubte unter diesen Umständen es verantworten zu können, wenn sie ihn für diese seine Teilnahme an der vorgegangenen Täuschung in anderer Weise strafe.“40

Auf Betreiben Daniels kam der junge Bülow mit einer zwölfstündigen Karzerstrafe und einem entsprechenden Vermerk im Maturitätszeugnis davon.41 Die ungleiche Behandlung der beiden des Täuschungsversuchs überführten Prüflinge hatte im Sommer 1905, unmittelbar nach der Erhebung Bülows in den Fürstenstand, noch ein publizistisches Nachspiel, das aber Bülows Reichskanzlerstellung in keiner Weise zu tangieren vermochte.42 Dagegen ging Bülows Vater, der von der Entgleisung seines Sohnes ganz und gar nicht erbaut war, mit seinem ältesten Spross härter ins Gericht. In einem langen Schreiben hielt er dem Filius vor, dass die unerlaubte Hilfe während der Abiturprüfung „doch ein Unrecht und unmoralisch“ gewesen sei, „denn die Prüfung ist ein Stempel, den der Staat erteilt als Bürgschaft und Beweis guter Schulbildung und mit dem Auszeichnungen und Vorteile verbunden sind. Wer nun einem Unwürdigen durchhilft, täuscht oder hilft täuschen und nimmt also an einer Unwahrheit teil, die keine guten Folgen haben kann.“ Er legte seinem Sohn „dringend“ nahe, sich „an die tüchtigen, ordentlichen und in ihrem Umgang Dir förderlichen Juvenes zu halten statt an die schwachen Brüder.“43 Dieser Aufforderung ist Bülow während seiner Studien- und Diplomatenjahre denn auch nachgekommen.

Im Abiturzeugnis hatte ihm sein Lieblingslehrer Daniel für das Fach Deutsch bescheinigt: „Die trefflichen, meist des ersten Censurgrades würdigen Klassenaufsätze boten neben reichem und durchdachtem Inhalt, der ein reiches Wissen und eine umfängliche Belesenheit zur Geltung brachte, vornehmlich auch durch die gewandte Herrschaft über die Form dem Leser einen wirklichen Genuß. Der Examensaufsatz schließt sich diesen Arbeiten würdig an.“44 Dagegen fielen seine Leistungen in den naturwissenschaftlichen Fächern deutlich ab. Er habe „keinen Zahlensinn“ besessen, gestand er später ein.45 So verwundert es kaum, dass er nach bestandenem Abitur seine verhasste Logarithmentafel verbrannte.

Universitätsstudium

Im Herbst 1867 nahm Bernhard Bülow ein ziemlich zielloses Universitätsstudium auf, in dessen Verlauf er weniger ein bestimmtes Studienfach als akademische Persönlichkeiten studierte: Im schweizerischen Lausanne (1867/68) war es der Romanist Gay, in dessen Haus er wohnte, in Leipzig (1868/69) der Nationalökonom Wilhelm Roscher (1817–1894) und in Berlin (1869/70) der Rechtsgelehrte und nationalliberale Landtags- und spätere Reichstagsabgeordnete Rudolf Gneist (1816–1895). Von Roscher, der als Begründer der älteren historischen Schule der deutschen Volkswirtschaftslehre gilt, lernte der junge Student, „daß der Sozialismus und der Kommunismus keine unerhörten, nur der neuesten Zeit eigentümlichen Erscheinungen sind, wie die blinden Gegner und die blinden Anhänger glauben, sondern eine Krankheit, die sich fast regelmäßig bei hochkultivierten Völkern in einer gewissen Lebensperiode einstellt.“46 Und an dem Verwaltungsjuristen Gneist, dem Mitbegründer und ersten Präsidenten des Vereins für Sozialpolitik („Kathedersozialisten“), schätzte er neben der „scharfsinnigen Dialektik“ vor allem dessen politische Gesinnungsentwicklung vom liberalen Oppositionellen zum „strengen Monarchisten und Unitarier“, vom Wortführer des preußischen Linksliberalismus zur „brauchbaren parlamentarischen Stütze“ des „großen“ Bismarck, den schon der Student glühend verehrte.47

Als Student war Bernhard Bülow zweifellos ein Einzelgänger, der keine dauerhaften freundschaftlichen Bindungen suchte und unterhielt, vielleicht weil er davor zurückschreckte, sich anderen mitzuteilen und zu offenbaren. Während seiner Studentenzeit reiste er überwiegend allein, und die langen einsamen Spaziergänge oder Ausritte gehörten bis ins hohe Alter zum festen Bestandteil seines Tagesablaufs. Schon in jungen Jahren las er viel und hielt das, was er für erinnerungswürdig hielt, in seinen Merkbüchern fest. Historische und nationalökonomische Werke verschlang er mit Leidenschaft, doch mitunter griff er auch zu zeitgenössischen französischen, russischen oder englischen Romanen. Dem prallen Leben hielt er sich bewusst fern, war er doch überzeugt, alles Wissenswerte über das menschliche Zusammenleben aus Romanen beziehen zu können: „Wer ins Leben eintritt“, schreibt Bülow in seinen Denkwürdigkeiten, „lernt, wie ich glaube, für Menschenbehandlung, für das praktische Leben mehr aus Romanen, wird durch sie weltkundiger und weltläufiger als durch das Studium der gelehrtesten Kompendien.“48 Auch dem studentischen Verbindungswesen vermochte er während seiner Studienzeit wenig abzugewinnen. In Leipzig war er einmal zusammen mit seinem Bruder Adolph zu einem Kneipabend des renommierten „Meißner Korps“ eingeladen worden. „Der übermäßige Biergenuss an jenem Abend“, so erinnert er sich später, „widerte uns an, die Kneipwitze sagten uns nichts, der banausische Ton missfiel uns, wir sind nicht wiedergekommen.“49 Er habe es vorgezogen, seine freie Zeit zum Turnen, Fechten und zu langen Spaziergängen zu verwenden und am Abend das während der Vorlesung Niedergeschriebene zu überdenken. Damit löste er auch das dem Vater vor Studienantritt gegebene Versprechen ein, nie in ein studentisches Korps einzutreten. Überhaupt erwiesen sich die familiären Bande in Bülows Leben weit stärker und prägender als außerfamiliäre Einflüsse oder Beziehungen. Nach dem Tod seiner Eltern waren es vor allem seine Brüder Alfred und Karl Ulrich, denen er sich rückhaltlos anvertraute und auf die er immer wieder zurückgriff, wenn es um heikle politische Missionen oder um die Bewältigung privater Probleme ging.

Wie diese jüngeren Brüder hat auch Bernhard Bülow zeitlebens mit homophilen Neigungen zu kämpfen gehabt, die er geschickt vor seiner Umgebung und der Öffentlichkeit zu verbergen wusste. Auch in seinen Denkwürdigkeiten gleitet er über diesen aus damaliger Sicht wunden Punkt in seiner Autobiographie geschickt hinweg. Homosexualität galt in der bismarckischen und wilhelminischen Gesellschaft als abartig und wurde kriminalisiert. Ein wissenschaftliches Forum für die Auseinandersetzung mit dem uralten Phänomen der gleichgeschlechtlichen Liebe gab es im 19. Jahrhundert noch nicht, und so ist es kein Zufall, dass Meyers Konversations-Lexikon in seiner Ausgabe von 1878 die Liebe zwischen Personen männlichen Geschlechts, damals noch Päderastie genannt, unter dem Eintrag „Unzuchtsverbrechen“ führt und sie als „widernatürliche Unzucht“ in ihrer strafrechtlichen Relevanz der Sodomie gleichsetzt.50 Um dem Gefängnis oder der gesellschaftlichen Ächtung zu entgehen, gingen damals die meisten homosexuellen Adeligen im Interesse ihrer – meist militärischen – Karriere und der Bewahrung ihrer abgehobenen sozialen Stellung eine heterosexuelle Lebensgemeinschaft ein. So auch Bülow, dessen kinderlose Ehe mit Maria Gräfin von Dönhoff eindeutig eine Vernunftehe war. Dabei flogen dem „charmanten, gutaussehenden jungen Mann“ die Frauenherzen nur so zu, wie Bülow in seinen Denkwürdigkeiten nicht ohne Stolz schildert.51 Doch die leidenschaftlichen Gefühle dieser Frauen blieben unerwidert, so dass seine Liebesaffären in der Regel kurzlebig waren.52

Meyers Konversations-Lexikon 53545556