image

FREITAG • DIE ENTFÜHRUNG DER ANNA NETREBKO

GÜNTHER FREITAG

Die Entführung der
Anna Netrebko

Roman

image

Die Herausgabe dieses Buches erfolgte
mit freundlicher Unterstützung durch das Land Kärnten,
das Land Vorarlberg, das Land Steiermark und die Stadt Graz.

image

image

A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12
Tel. + 43(0)463 370 36, Fax + 43(0)463 376 35
office@wieser-verlag.com
www.wieser-verlag.com

Copyright © dieser Ausgabe 20 15 bei Wieser Verlag GmbH,
Klagenfurt/Celovec
Alle Rechte Vorbehalten
Lektorat: Gerhard Maierhofer
ISBN 978-3-99047-027-5

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

1

Obwohl Mama Verdi und Puccini über alles liebt und keine Premiere in der Staatsoper versäumt, ist sie ein ausgemachtes Ekel. Mit einer entsetzlichen Stimme, der die leisen Töne fremd sind, denke ich, während ich in meinem Zimmer über den Akten eines bedeutungslosen Prozesses hocke und nach einer schnellen Lösung suche. Die würde mir eine kurze Pause bis zu einer weiteren Demütigung verschaffen, wenn Mama mir mit einem hinterhältigen Lächeln den nächsten Fall übergibt, der ebenso lächerlich sein wird wie alle vorangegangenen. Sie führt die aufregenden Prozesse und verdient Unsummen, ich muss mich mit zänkischen Witwen, die einander üble Nachrede vorwerfen, Ehrenbeleidigungen, Testamentsfälschungen und Mietstreitigkeiten herumschlagen.

Selbst Kleinvieh macht Mist, unterbindet sie jeden meiner Versuche, auch einmal einen großen Fall zu übernehmen. Schließlich sei sie die Eigentümerin der Kanzlei und ich noch nicht reif für schwierige Aufgaben. Meinen zaghaften Einwand, ich sei nun über vierzig, in einem Alter also, in dem viele Kollegen bereits ans Aufhören dächten und daran, sich für immer nach Spanien oder in die Toskana abzusetzen, wischt sie mit dem Satz vom Tisch, als Jurist steckte ich noch in den Kinderschuhen, und wechselt vom üblichen Alt in einen bedrohlichen Bariton. Nach einem anstrengenden Tag habe sie keine Lust, sich meine pubertären Fantasien länger anzuhören. Bevor sie mich wegschickt, muss ich für sie noch eine CD einlegen. Danach beachtet sie mich nicht mehr und startet mit der Fernbedienung vom Sofa aus die Musik. Che gelida manina, höre ich und schleiche mit hängendem Kopf in mein Zimmer. Chi son?, fragt Rodolfo, und ich flüstere: Son un idiota!

Manchmal hasse ich Mama und überlege, ob sie das weiß. Selbst wenn sie es wüsste, würde das nichts ändern. Sie würde sich bloß über meine Unfähigkeit amüsieren, mich gegen sie aufzulehnen. Es gebe Siegernaturen und geborene Verlierer, meint Mama und will mich damit nicht trösten, sondern sich jede Diskussion über meine Rolle in der Kanzlei ersparen. Dass aus Siegern Verlierer werden, habe ich oft erlebt, aber nie ist mir ein Mensch untergekommen, der es nach jahrelangen Niederlagen zu den Gewinnern geschafft hat. Ich kenne diese Sätze, die sie mir immer wieder an den Kopf wirft.

Wahrscheinlich sind sie auch der Grund dafür, dass ich noch vor dem Abschlussexamen eine Stirnglatze bekam. Das glaube ich heute, doch vor zwanzig Jahren erschrak ich, als ich eines Morgens im Badezimmerspiegel eine kahle Stelle entdeckte. Über Nacht waren mir Haare ausgefallen, die ich später auf dem Polster fand. Auf meiner Kopfhaut leuchtete ein rosafarbener Kreis.

Statt in die Fakultätsbibliothek fuhr ich in die Ordination eines Dermatologen. Nachdem ich mir von der Sprechstundenhilfe eine Nummer hatte geben lassen, hockte ich in einem überfüllten Wartezimmer zwischen zwei Prostituierten und Menschen mit Ausschlägen, die sich ständig an einem Körperteil kratzten. Am liebsten wäre ich davongelaufen, weil auch mich, kaum dass ich mich gesetzt hatte, ein heftiger Juckreiz plagte, der sich aber nicht wie bei den übrigen Patienten lokalisieren ließ. Einmal spürte ich ihn im Nacken, dann wieder auf den Handflächen oder im Gesicht. Nach ein paar Minuten kratzte ich mich wie die anderen und dachte, die hielten mich nun gewiss für einen besonders schweren Fall. Deshalb sah ich nur mehr in die Richtung der Prostituierten, die gelangweilt in Illustrierten blätterten, während sie wohl auf ihre wöchentliche Routineuntersuchung warteten. Vierzehn Patienten waren vor mir, es würde länger als zwei Stunden dauern, bis ich drankam, rechnete ich aus, nachdem der Arzt die ersten Patienten behandelt hatte. Dem Dermatologen traute ich nicht, weil sich die Leute auch noch kratzten, wenn sie in ihre Jacken und Mäntel schlüpften. Der Arzt hatte ihnen also nicht helfen können, zumindest nicht sofort. Aber vielleicht hatte er ihnen Medikamente verordnet, deren heilende Wirkung sich erst in den nächsten Tagen oder Wochen einstellen würde. Er konnte kein Versager sein, denn ich hatte seinen Namen in Mamas Adressbuch gefunden, in dem sogar noch der Kinderarzt stand, nach dessen Besuchen mich die schrecklichsten Albträume gequält hatten.

Er hatte einen grauen Vollbart und trug eine Hornbrille mit dicken Gläsern. Immer fixierte er mich mit einem stechenden Blick, unter dem ich verstummte und nicht mehr fähig war, auf seine Fragen zu antworten und meine Schmerzen zu beschreiben, sodass Mama für mich sprechen musste, was sie ja auch heute noch gern macht. Das Schlimmste waren seine feuchtkalten Hände. Berührte er mich, schloss ich die Augen und begann zu wimmern, was ihn aber nicht störte. Er lachte und meinte, ich sei ja kein kleiner Hosenscheißer mehr, sondern ein Mann, und Männer weinten nicht. Von Mama war keine Hilfe zu erwarten, sie wiederholte seinen Satz, doch ihr Tonfall bewies, dass sie ihn nicht als Scherz empfand wie der Arzt und mein Verhalten ein Nachspiel haben werde.

Ich wusste nicht, wohin ich sehen sollte. Vor den Ausschlägen ekelte ich mich, die beiden Prostituierten machten mich verlegen. Obwohl sie mich brennend interessierten, weil ich damals noch mit keiner Frau geschlafen hatte. Außer Mama, die ich manchmal heimlich beobachtete, wenn sie unter der Dusche stand, hatte ich auch noch keine Frau nackt gesehen. Was ich durch die angelehnte Badezimmertür sah, verunsicherte mich, weil Mama so anders aussah als die Frauen in den Pornomagazinen, die von Mitschülern nach den Ferien ins Benediktinerinternat geschmuggelt wurden. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, wusste, dass ich etwas Verbotenes tat, und Angst, dabei entdeckt und bestraft zu werden. Heute wiegt Mama mehr als hundert Kilo, und viel weniger werden es auch damals nicht gewesen sein. Eine imposante Erscheinung, sagen die einen über sie, vor allem Klienten, denen sie eine Verurteilung erspart oder zu einem finanziellen Gewinn verholfen hat. Dampfwalze, Monstrum, Matrone nennen sie die Übrigen. Wenn Mama in ihrer schwarzen Robe, die einem Zelt ähnelt, den Gerichtssaal betritt, sind die meisten ihrer Kontrahenten noch vor dem ersten Wort eingeschüchtert, fürchten vielleicht, sie würde sie mit ihrer Masse erdrücken. Und ich verstehe sie, weil ich mich wie sie fühle, wenn Mama von mir den Bericht über eine abgeschlossene Verhandlung verlangt.

Ich saß auf der Ledercouch, während sie vor mir stand und darauf drängte, dass ich endlich begann. Sie habe nur wenig Zeit, in einer halben Stunde werde sie in die Oper fahren. Maskenball mit einem russischen Tenor, über dessen Stimme sie enthusiastische Kritiken gelesen habe. Der Mann singe zum ersten Mal in der Stadt, und sie werde sich von mir nicht um diesen Genuss bringen lassen.

Flüsternd begann ich von der Verhandlung wegen übler Nachrede am Bezirksgericht zu erzählen. Eine banale Angelegenheit zwischen zwei Witwen, die sich seit vielen Jahren abwechselnd mit den absurdesten Anschuldigungen vor den Richter zerrten. Kaum hatte ich den Namen des Richters genannt, fiel mir Mama ins Wort und nannte ihn einen ausgemachten Idioten, den sie seit ihrem Studium kenne. Der habe sich statt für die Rechtswissenschaften immer nur für Studentinnen interessiert, die ein paar Semester unter ihm gewesen seien. Denen habe der fesche Ferdi den Mann von Welt vorgespielt, und die dummen Puten hätten ihn nicht durchschaut. Wenn er eine von ihnen sattgehabt und sich die nächste angelacht habe, seien die meisten noch einige Wochen mit verweinten Augen in den Vorlesungen gehockt und hätten dann zur Soziologie oder Psychologie gewechselt.

Was meinst du, weshalb dieser Mann noch heute in einem kleinen Bezirksgericht am Stadtrand sitzt?, fragte Mama, und ich wusste, dass sie von mir keine Antwort erwartete, sondern vielmehr zur endgültigen Vernichtung des feschen Ferdi ausholen werde. Der sei auch nicht mehr fesch, bloß vom Alkohol und seinen zahllosen Liebschaften gezeichnet. Ein Wrack!, rief sie, und ich überlegte, ob sie den Mann hasste, weil er sich niemals für sie interessiert hat. Wahrscheinlich habe er die meiste Zeit auf dem Richterstuhl gedöst und sich am Ende von der Protokollführerin sein Urteil zuflüstern lassen. Dass ich den Prozess gewonnen hätte, überzeuge sie nicht, sagte Mama später. Das Urteil eines Alkoholikers zähle nicht, sie hoffe nur, ich werde während der Verhandlung nicht so geflüstert haben wie nun. Wie ungeschickt du bist, spottete sie und scheuchte mich mit einer unwilligen Handbewegung aus dem Raum. Nicht einmal von einem Sieg, wenn auch einem unbedeutenden, könne ich in einer angemessenen Lautstärke berichten.

Während alle übrigen Patienten einzeln in den Behandlungsraum gerufen wurden, gingen die beiden Prostituierten gemeinsam zur Untersuchung. Ein Mann im orangen Overall der Straßenreinigung sagte, er wäre nun gern an der Stelle des Arztes, worauf er als Einziger lachte. Die anderen taten so, als hätten sie die Anzüglichkeit nicht gehört, und vertieften sich in ihre Lektüre. Ich fühlte mich ertappt. Hatte der Mann meine Gedanken erraten und das ausgesprochen, wozu mir der Mut fehlte? Ich sah mich um, wollte herausfinden, ob einer der Patienten meine Verlegenheit registriert hatte. Doch die interessierten sich nur für ihre Krankheiten und hatten wohl die Bemerkung bereits vergessen.

Ich griff nach einer Tageszeitung, gab vor zu lesen, dachte aber nur mehr daran, dass die beiden Frauen nun nackt im Behandlungsraum waren. Ich versuchte mir ihre Körper vorzustellen, doch bevor sie zum Bild geworden wären, sah ich Mama in der Dusche. Da war es plötzlich leicht, die beiden Prostituierten zu vergessen und wieder daran zu denken, weshalb ich in der Ordination des Dermatologen saß.

Der hörte sich später die Beschreibung meines Problems an, nickte ein paarmal abwesend, füllte meine Pausen mit einem wissenden Soso, sah mich zwischendurch kurz an und starrte wieder auf den Bildschirm seines Computers. Von Zeit zu Zeit tippte er einige Wörter und saß mir so teilnahmslos gegenüber, dass ich nicht sicher war, ob seine Notizen mit meinem Haarausfall zu tun hatten. Vielleicht interessierte ihn mein Fall nicht, weil er zu harmlos war.Hätte er sich anders verhalten, wenn ich mit einem Melanom in seiner Ordination aufgetaucht wäre?

Sitzen Sie ruhig!, riss er mich aus meinen Gedanken und hatte eine Pinzette in der Hand. Mit der zupfte er ein paar Haare aus meiner Stirn und betrachtete sie durch eine Lupe. Leiden Sie unter Verdauungsproblemen? Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Auch war mir seine Frage peinlich, ich hatte ihn nicht aufgesucht, weil mich hin und wieder Blähungen quälten, die wohl kaum die Ursache für den plötzlichen Haarausfall sein konnten. Was er mir bestätigte, nachdem ich ihm diese flüsternd geschildert hatte. Haben Sie einen geliebten Menschen verloren, ein Haustier vielleicht? Ich schwieg, weshalb er nachbohrte, ob ich fürchtete, meinen Arbeitsplatz zu verlieren, und mir ein sozialer Abstieg drohe. Ob ich mich überfordert fühlte. Ich nickte, um seinen Fragen ein Ende zu setzen. Dann sei ja alles klar, es verhalte sich so, wie er es schon bei meinem Eintreten vermutet habe. Ich litte unter dem sogenannten kreisrunden Haarausfall, nichts Besorgniserregendes, wenngleich lästig und kosmetisch ein Problem. Damit würde ich fertigwerden, beruhigte mich der Dermatologe, ich sei ja, wie er sofort bemerkt habe, nicht eitel, sondern eher ein schüchterner Mensch, der keinen großen Wert auf sein Äußeres lege.

Während er ein Medikament mit immunsystemstärkender Wirkung notierte und mir zu Entspannung riet, überlegte ich, ob er mich mit seiner Einschätzung hatte trösten oder beleidigen wollen. Wieder verkroch er sich hinter seinem Bildschirm und schien mich bereits vergessen zu haben. Ich war nicht zwei Stunden in dem überfüllten Wartezimmer gesessen, womöglich unter größter Ansteckungsgefahr, um mich mit einem Rezept abspeisen zu lassen, dachte ich und suchte nach Worten, mit denen ich dem Arzt seine Teilnahmslosigkeit vorwerfen wollte. Es war wie bei Mama, wann immer ich sie anzugreifen versuchte, fand ich den entscheidenden ersten Satz nicht und resignierte.

Können Sie …?, stammelte ich, worauf mich der Arzt anherrschte, er sei Mediziner und kein Wahrsager. Ich müsse die Pillen schlucken und die kahle Stelle beobachten. Wenn sich nach einem Monat keine Besserung einstelle, würden wir ein anderes Präparat versuchen. Er sagte tatsächlich wir, als würde auch er diese Pillen nehmen oder zumindest so etwas wie Mitgefühl empfinden. Die Sprechstundenhilfe reichte mir mein Rezept und nannte die Adresse einer Apotheke in der Nähe. Dann keifte sie mich an, Platz für den nächsten Patienten zu machen, weil ich zu lesen begonnen und ihr Pult nicht sofort verlassen hatte.

Vor dem Garderobenspiegel im Korridor fuhr ich mir mit den Fingern durch die Haare und versuchte mit mäßigem Erfolg den kahlen Kreis zu bedecken. Zweifelte ich auch an einer raschen Heilung, war ich im Treppenhaus dennoch erleichtert, weil zumindest der Juckreiz verebbt war, der mich im Wartezimmer gequält hatte. Vor dem geöffneten Fenster einen Halbstock tiefer lehnten die beiden Prostituierten und rauchten. Ich wollte mich an ihnen vorbeidrücken. Als ich schon glaubte, es geschafft zu haben, öffnete eine von ihnen ihre Lederjacke und streckte mir ihre nackten Brüste entgegen. Groß und fest ragten sie ins Treppenhaus. Die Frau lachte, als sie bemerkte, dass ich mich mit gierigen Augen an ihrem Fleisch festkrallte und vor ihr stand, unfähig zu sprechen oder weiterzugehen. Mamas gewaltige Brüste hingen schwer nach unten, wie unförmige Säcke, dieser Busen konnte es mit allen aus meinen Pornomagazinen aufnehmen. Sie wohnten ganz in der Nähe, sagte die zweite Frau mit einem slawischen Akzent und öffnete ihren Mantel, weil sie in mir wohl einen potenziellen Kunden ausgemacht hatte. Ich wusste nicht mehr, wohin ich sehen sollte, sie nannte Preise für bestimmte Leistungen, verwendete dabei vulgäre Ausdrücke, die meine Verlegenheit, wenn das überhaupt möglich war, noch steigerten. Ich hatte Angst vor den beiden, schaffte es aber nicht, mich von ihrem Anblick zu lösen. Ob ich mich endlich entschieden hätte, fragte sie, sie hätten nicht vor, hier zu übernachten. Schließlich hatte ich einen Ausweg gefunden. Ich fasste der ersten mit beiden Händen kurz an die Brüste und lief dann die Stufen abwärts. Noch im Parterre hörte ich sie fluchen, lief auch auf der Straße weiter und fühlte mich erst sicher, nachdem ich mich in der Apotheke in die Schlange der Wartenden gestellt hatte.

Mama stört alles an mir. Meine Körpersprache findet sie linkisch, an jeder meiner Gesten und Bewegungen sei die Unsicherheit des geborenen Versagers zu erkennen. Meine Stimme sei zu leise, noch dazu in einer unangenehmen Tonlage, von der Sprechmelodie ganz zu schweigen. Gegen die sei ja die Zwölftonmusik der reinste Belcanto, was mir nichts sagen werde, denn ich verstünde von Musik ja noch weniger als von der Rechtsprechung.

Heute begnügt sie sich mit solchen Sätzen, aber vor Jahren zwang sie mich, Unterricht bei einem ehemaligen Burgschauspieler zu nehmen. Der sollte mein Auftreten korrigieren, damit ich im Gerichtssaal nicht länger eine lächerliche Figur abgäbe. Sie habe sich manchmal, ohne dass ich es bemerkt hätte, unter die Zuseher gemischt und schon bei meiner ersten Wortmeldung in Grund und Boden geschämt. Zu leise hätte ich gesprochen, flüsternd beinahe, sodass der Vorsitzende oft nachgefragt habe, worauf mein Gesicht wie das eines überführten Verbrechers rot angelaufen sei. Mit meinen Versprechern hätte ich für Heiterkeit in den Gerichtssälen gesorgt, Minuten habe es dauern können, bis es dem Richter gelungen sei, für Ruhe zu sorgen und die Verhandlung fortzusetzen, behauptet sie.

Als Mama zum ersten Mal über den Schauspieler sprach, glaubte ich nicht, dass sie es ernst meinte. Für mich war das einer ihrer üblichen Schachzüge, mit denen sie mir meine Abhängigkeit vor Augen führen wollte. Als sie aber in immer kürzeren Abständen fragte, ob ich endlich einen Termin für die erste Unterrichtsstunde vereinbart hätte, war klar, sie würde sich durch nichts von ihrer absurden Idee abbringen lassen. Der Mann sei eine Kapazität ersten Ranges, eine Burgtheaterlegende, und ich könne mich glücklich schätzen, dass sich eine Größe wie er für mich Versager Zeit nehme. Morgen gehst du hin!, bestimmte sie und nannte mir die Uhrzeit, zu der ich den Schauspieler aufsuchen sollte. Sie habe ja sofort bemerkt, dass ich mich vor den Stunden drücken möchte, statt ihr dafür dankbar zu sein, dass sie endlich einen Weg gefunden habe, das Komödiantische und Karikaturhafte in meinem Auftreten zu bekämpfen. Figuren wie ich hätten in der Stummfilmzeit zu den bejubelten Stars gezählt, heute würde man über sie bloß noch mitleidig lächeln und ihre Kapriolen langweilig finden.

Mama hatte also bereits mit der Burgtheaterlegende über mich gesprochen, es gab keinen Ausweg, ich musste zu dem Mann. Was wird der über mich wissen? Wenn sie ihm dieselben Gründe für die ihrer Meinung nach notwendigen Korrekturen wie mir genannt hatte, würde er mich für einen ausgemachten Idioten halten. Halten müssen! Meine einzige Hoffnung war, dass sie kein Interesse daran haben konnte, mich vor einem Fremden so darzustellen, wie sie mich sah, denn dann fiele ja auch ein Schatten auf sie. Und das würde ihre Eitelkeit verletzen. Wahrscheinlicher war, dass sie von meiner Nervosität, meiner ständigen Anspannung oder meiner Unsicherheit erzählt und als möglichen Grund für diese Störung genannt hatte, dass ich ohne Vater aufgewachsen bin.

Lange schon interessiert mich mein Erzeuger nicht mehr, den ich darum beneide, dass es ihm gelungen ist, Mama zu verlassen. Er sei noch vor meiner Geburt bei einem Autounfall gestorben, hat sie meine Fragen nach ihm stets abgewürgt. Sie besitze auch kein Foto mehr, habe alle nach seinem Tod verbrannt, um nicht mehr an ihn erinnert zu werden. Im Internat machte ich aus dem Autounfall einen Flugzeugabsturz in den Anden, weil sich dadurch die Mitschüler beeindrucken ließen, was mir sonst nie gelang. Ich war ein schlechter Sportler und ein mittelmäßiger Schüler, den nicht nur die Kollegen, sondern auch die Patres meist übersahen. Aus meinem toten Vater wurde ein großer Naturforscher, der auf einer Südamerikaexpedition umgekommen ist. Manche bezweifelten meine Geschichte und hielten mich für einen Angeber. Nachweisen konnten sie mir meine Lügen aber nicht, denn ich hatte mir aus der Stiftsbibliothek einen Bildband über die Anden besorgt und die Fotos so lange angesehen, bis ich sie in allen Details beschreiben konnte. Ich erzählte von seinen letzten Tagen, berichtete von Orten und Menschen mit fremden Namen, genoss es, dass mir die anderen endlich einmal zuhörten, und steigerte mich so in meine Geschichte hinein, dass ich manchmal selbst an sie glaubte. Der Erfolg war spätestens dann verblasst, wenn die anderen am letzten Schultag von ihren Eltern abgeholt wurden, während ich über den weiten Platz vor dem Benediktinerstift zu meiner walkürenhaften Mama schleichen musste, die ungeduldig neben einem Taxi stand. Damals hoffte ich, dass sie keiner der Mitschüler entdeckte, weil ich fürchtete, sie würden sich nach den Ferien über ihr Aussehen lustig machen. Doch Mama war nicht zu übersehen. Aber das störte nur mich, während sie es bestimmt genoss, dass sie alle anstarrten. Auf der Heimfahrt ließ sie sich über die spießigen Gaffer mit ihren Kleinbürger- und Bauernvisagen aus, die gewiss Vermutungen darüber anstellten, wie viel die Taxifahrt in die Hauptstadt kostete.

Unvorbereitet wollte ich nicht vor der Burgtheaterlegende stehen, der Mann sollte mich, um es in seiner Sprache auszudrücken, für keinen Schmierenkomödianten halten. Auch fragte ich mich, warum er, den Mama für einen bedeutenden Künstler hielt, was bei ihr selten genug vorkam, ihr Ansinnen nicht rundweg abgelehnt hatte. Er als ehemaliger Starschauspieler wollte sich mit einem Kleineleuteanwalt abmühen? Hatte der Mann im Alter Geldsorgen? Ich konnte mir seine Zustimmung nur so erklären, dass er Mama verpflichtet war und aus Dankbarkeit den Unterricht übernahm. Wahrscheinlich hatte sie ihn einmal vor Gericht erfolgreich vertreten oder verhindert, dass er bei einer Vertragsunterzeichnung über den Tisch gezogen wurde. Was immer seine Gründe gewesen sein mochten, ich musste ihn aufsuchen.

Eine Weile grübelte ich, wie ich mich vorbereiten könnte, dann fand ich in den Akten Protokolle meiner letzten Verhandlungen und las sie laut, wobei ich mich bemühte, nicht schon nach dem ersten Halbsatz ins Flüstern zu verfallen. Besonderen Wert legte ich darauf, keine Endsilben zu verschlucken. Nachdem ich denselben Text ein paarmal gelesen hatte, lernte ich ihn auswendig und probte vor dem Spiegel im Badezimmer weiter, brach aber bald ab. Zurück am Schreibtisch, dachte ich, der Mann war Künstler und ließe sich mit Juristendeutsch schwerlich beeindrucken. Ich hatte einen Abend vergeudet, stand wieder am Beginn meiner Überlegungen.

Am nächsten Vormittag, Mama war längst zum Gericht gefahren, stöberte ich in ihrer Bibliothek nach einem geeigneten Buch und entschied mich für eine Gesamtausgabe der Rilke-Gedichte. Den Autor kannte ich nicht, hatte nach dem Band nur gegriffen, weil er der einzige war, in dem ein Lesezeichen steckte. Mama las Gedichte, staunte ich, weil das so gar nicht zu ihr passte. Eher hätte ich vermutet, dass sie in den Memoiren von Diktatoren oder Feldherren blätterte. Der Panther gefiel mir, wahrscheinlich erinnerte mich sein Schicksal an mein eigenes Leben. Bald beherrschte ich den Text und probte wieder im Badezimmer. Ich feilte an Betonungen, auch verschiedene Rhythmusvarianten versuchte ich und änderte Pausen; was immer ich machte, es stellte mich nicht zufrieden. Je länger ich übte, desto lächerlicher kam ich mir vor.

Der Schauspieler wohnte im Mezzanin eines Gründerzeithauses, vor dem ich viel zu früh stand, weil ich die Zeit falsch eingeschätzt hatte, die ich für den Weg aus der Innenstadt benötigen würde. Außerdem war ich zu schnell gegangen und verschwitzt in der Josefstadt angekommen. In einem Café wollte ich mich frisch machen, die Burgtheaterlegende sollte mich nicht in diesem aufgelösten Zustand sehen.

Ich wechselte auf die andere Straßenseite, ging wieder stadteinwärts und achtete darauf, nicht mehr außer Atem zu geraten. Aber das war schwierig, weil ich grübelte, was der Schauspieler mit mir vorhatte. Als ich wenig später vor den Schaukästen des Theaters stand und die Szenenfotos studierte, versuchte ich mir die Posen der Akteure einzuprägen. Vielleicht entlässt mich der Mann ja früher, wenn ich ihm wie die Schauspieler auf den Bildern gegenübertrete. Ein paarmal wechselte ich zwischen den Schaukästen hin und her, die Fotos stammten aus einer Goldoni-Komödie und einer Tragödie von Hebbel. Ich erinnerte mich an den verächtlichen Tonfall, in dem Mama über das Komödiantische in meinem Auftreten gelästert hatte, und konzentrierte mich nur noch auf die Fotos der Hebbel-Aufführung. Zum Glück handelte es sich bei der um eine neuere Inszenierung, der Feldherr Holofernes trug einen schwarzen Businessanzug, mit ein wenig Fantasie konnte man in ihm einen Anwalt sehen, was es mir leichter machte, seine Posen auf dem Gehsteig nachzustellen.

Einige Zeit kopierte ich ihn, dann registrierte ich, dass inzwischen Menschen stehen geblieben waren und mich beobachteten. Eine Rotznase mit Baseballkappe äffte mich hinterhältig grinsend nach. Seine Mutter, Mama würde sie als Proletentussi abkanzeln, konnte ihren einfältigen Stolz nicht verbergen. Statt das kleine Monster zurechtzuweisen, spornte sie es weiter an, was dazu führte, dass die Rotznase immer verrücktere Verrenkungen vollführte und dazu Grimassen schnitt. Mich schienen die Menschen vergessen zu haben, das Monster hatte mich an die Wand gespielt, was mir die Gelegenheit gab, unbemerkt zu verschwinden. Ich überquerte die Straße und setzte mich in ein Café.

Das Lokal war fast leer, außer der Bedienung standen nur zwei Trinker mit ihren Weingläsern an der Theke, an einem Tisch neben dem Fenster zur Straße las eine alte Frau mithilfe einer großen Lupe ihre Zeitung. Hier wird mich niemand beachten, dachte ich, nachdem ich einen Espresso bestellt hatte. Ich sah auf die Uhr, noch blieb genügend Zeit. Als die Bedienung meinen Espresso servierte, beugte sie sich so weit vor, dass ich tief in ihren Ausschnitt sehen konnte. Sie trug einen durchsichtigen BH, riesige dunkle Warzenhöfe zeichneten sich deutlich ab. Schauen sei gratis, alles Übrige koste, flüsterte mir die Frau zu. Ich bin nicht deshalb …, stammelte ich und sah sofort weg. Natürlich nicht, lachte die Frau und kehrte hinter die Theke zurück. Wahrscheinlich hatte sie den Säufern meine Verlegenheit beschrieben, denn die beiden prosteten mir mit einem schäbigen Grinsen zu. Auf Ihre Gesundheit und alle Frauen der Welt!, lallte einer und wurde von einem Lachanfall durchgeschüttelt. Ich hoffte, er würde stockbetrunken im nächsten Augenblick vom Barhocker stürzen. Aber nichts geschah, die Bedienung füllte ihre Gläser, danach verloren sie ihr Interesse an mir. Auf der verdreckten Toilette wusch ich mir mit kaltem Wasser Hände und Gesicht. Meinen Kaffee hatte ich nicht angerührt, an der Theke bezahlte ich und sagte, um mich für ihr Grinsen zu rächen, einen Liter der zwei Idioten übernähme ich. Doch die beiden Säufer gönnten mir nicht einmal einen kleinen Triumph, sie lächelten mich mit wässrigen Augen an und wünschten mir ein langes Leben und Glück bei den Frauen.

Als der Schauspieler die Wohnungstür öffnete, zweifelte ich an Mamas Verstand. Die Burgtheaterlegende stand in Filzpantoffeln und einem Hausmantel aus dickem Frottee vor mir. Fragend sah er mich an, mein Name sagte ihm nichts. Er hielt mich wohl für einen Zeugen Jehovas, denn nachdem ich Mama erwähnt hatte, flüsterte er mit seiner zitternden Altmännerstimme, für ihn sei es zu spät, sich mit dem Ende der Welt auseinanderzusetzen, ihn interessiere nicht einmal sein eigenes Ende. Auch lasse er sich keine Broschüre aufschwatzen, überall in seiner Wohnung lägen Stapel von Werbeprospekten, die er mir alle liebend gern überlasse, wenn ich ihm nur verspräche, nicht mehr an seiner Tür zu läuten, und ihn mit meinem Wissen über das Leben nach dem Tod verschonte.

An diesem Nachmittag stolperte ich von einer Peinlichkeit in die nächste, ohne dass mir zwischen ihnen die Zeit geblieben wäre, mich zu erholen. Ich dachte, während ich vor dem Schauspieler stand und seine nackten Unterschenkel anstarrte, deren Weiß von violetten Krampfadern durchzogen war, an die Rotznase beim Josefstädter Theater, die mich vor wildfremden Menschen lächerlich gemacht hatte. Die ordinäre Bedienung im Café fiel mir ein, diese grauenvolle Person mit ihrem prächtigen Busen, auch die beiden Säufer, die meinen gierigen Blick in den Ausschnitt der Kellnerin bestimmt bemerkt hatten. Und nun die Burgtheaterlegende, die mich wie einen aufdringlichen Versicherungsagenten im Treppenhaus stehen ließ und keine Anstalten machte, mich einzulassen. Wahrscheinlich hatte ich den Mann aus seinem Nachmittagsschlaf geweckt, er musste den Termin vergessen haben, den er mit Mama für meine erste Unterrichtsstunde vereinbart hatte.

Während ich krampfhaft überlegte, wie ich ihn dazu bringen könnte, dass er mich einließ, kam eine junge Frau mit ihrem Säugling im Tragetuch hochgestiegen und fragte den Schauspieler, ob er Hilfe benötige. Mich beachtete sie nicht, sondern stellte sich zwischen mich und die Burgtheaterlegende, als müsste sie die vor mir beschützen. Dann begann auch noch der Kleine zu schreien, weil er seinen Schnuller verloren hatte. Eine Weile suchte die Frau in den Falten des Tuchs nach ihm, als sie ihn endlich gefunden und dem Baby in den Mund gesteckt hatte, war sein Gesicht rot angelaufen. Da sehen Sie, was Sie mit Ihrer Impertinenz angerichtet haben!, herrschte sie mich an und verlangte, dass ich ging und den alten Mann keine Sekunde länger belästigte. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, schlug sie mir die Tasche mit den Einkäufen gegen die Schienbeine und wäre beinahe gestürzt, weil sie zu viel Schwung in ihre Attacke gelegt und das Kind vor die Brust geschnallt hatte. Ich biss die Zähne aufeinander und spielte den Unbeeindruckten, um die Stimmung im Treppenhaus zu beruhigen. Aber die Frau sah nur das, was sie sehen wollte. Für sie war ich vom ersten Augenblick an ein Eindringling, der dem alten Mann Übles wollte, eine Bedrohung, die sie durch ihren mutigen Einsatz gerade noch hatte abwehren können. Und als Höhepunkt der Missverständnisse beschuldigte sie mich nun, da sie fast gestürzt wäre und dabei ihr Kind verletzt, wenn nicht getötet hätte, sie angegriffen zu haben. Was sind Sie bloß für ein Mensch?, schrie sie und küsste ihr Kind, während ich mich bückte und ein paar Orangen einsammelte, die aus ihrer Einkaufstasche gefallen waren, als sie mir die gegen die Schienbeine geknallt hatte. Zum Glück hatte sich das Baby beruhigt, aber das hysterische Geschrei hatte andere Mieter alarmiert. Einige kamen nun ins Mezzanin und fragten, was denn geschehen sei und ob sie helfen könnten. Ihnen erzählte die Frau, dass es ihr im letzten Moment gelungen sei, diesen Verbrecher daran zu hindern, wobei sie wieder mit ihrer Tasche nach mir schlug, in die Wohnung des Herrn Burgschauspielers einzudringen. Noch schmerzten meine Beine von ihrem ersten Angriff, ich war gewarnt und konnte dem Schlag ausweichen. Dann stellte sie die absurdesten Vermutungen über meine Pläne an, wobei sie mich abwechselnd Einbrecher und Raubmörder nannte. Als einer der Bewohner nachfragte, was eigentlich vorgefallen sei, warf sie ihm einen giftigen Blick zu und schrie: Da fragen Sie noch?

Die Burgtheaterlegende schien die groteske Szene zu amüsieren, der Menschenauflauf vor ihrer Wohnung erinnerte sie vielleicht an jene Zeit, als sie noch auf der Bühne gestanden war. Ich dachte an Mama und wusste, dass ich Klarheit schaffen musste, bevor jemand auf die Idee kam, die Polizei zu rufen.

Einspruch!, rief ich und erkannte, dass ich in meiner Aufregung ein unpassendes Wort gewählt hatte, das aber seine Wirkung nicht verfehlte. Die Verrückte verstummte schlagartig, ich fischte meine Brieftasche aus dem Sakko und verteilte Visitenkarten. Rechtsanwalt sind Sie also, stellte einer erstaunt fest, worauf sich die Stimmung im Treppenhaus zu meinen Gunsten änderte. Das bedeute gar nichts, unternahm die Frau einen letzten Versuch, die Leute gegen mich aufzuwiegeln. Schließlich bemerkte sie, dass ihr niemand zuhörte, und machte sich mit einem beleidigten Gesicht davon.

Als ich mit dem Schauspieler wieder allein war, studierte er meine Visitenkarte und wirkte plötzlich verändert. Hat es sich Peymann doch anders überlegt?, fragte er und entschuldigte sich dafür, dass er mich im Hausmantel empfangen hatte. Nach all den Jahren der Demütigung hätte er nicht mehr damit gerechnet, dass ihn Peymann …

Woran denkt er?, Peymann hatte das Burgtheater vor mehr als zehn Jahren verlassen. Mir fiel ein, dass ihn Mama nur den arroganten Lispler nannte, weil er einige ihrer Lieblingsschauspieler aus dem Ensemble geworfen hatte. Keine Ahnung vom Theater, ein Sprücheklopfer, der mit seinen kindischen Provokationen gegen das Alter kämpfe. Ein selbstverliebter Greis, den niemand außer dem Kunstminister ernst nehme, dem er wahrscheinlich als Dank für die Rückendeckung hin und wieder einen jungen Schauspieler in sein Ministerbett schicke. War die Burgtheaterlegende einer von ihnen und hoffte nun, ich sei mit einem neuen Vertrag gekommen?

Treten Sie ein, wir werden die Verhandlungen doch nicht im Stiegenhaus führen!, sagte er mit einem Verschwörerblick und schob mich durch einen finsteren Gang vor sich her. Im Wohnzimmer sollte ich warten, während er sich umzog, es werde bloß ein paar Minuten dauern. Ich sah mich nach einer Sitzgelegenheit um, alle Stühle und auch die Couch waren belegt mit Büchern, Zeitschriften, Theaterplakaten, Kleidungsstücken, Weinflaschen, Geschirr und Obst. Ich wollte nichts anfassen und ging zum Fenster, was meine ganze Aufmerksamkeit erforderte, denn das Chaos auf den Möbeln setzte sich auf dem Fußboden fort. Als ich endlich am Fenster stand und auf die Josefstädter Straße hinuntersah, entdeckte ich zwischen den Doppelfenstern zwei aufgequollene Joghurtbecher und einen verschimmelten Emmentaler. Wie kann ein Mensch in diesem Dreck leben?, fragte ich mich und überlegte, ob sich der Schauspieler keine Putzhilfe leisten konnte oder die Unordnung und den Gestank nicht bemerkte. Jeder Schritt über die Hindernisse muss für den alten Mann schwierig sein, bei der kleinsten Unachtsamkeit würde er stürzen, mit gebrochener Hüfte vielleicht nicht mehr auf die Beine kommen und zwischen den Erinnerungen an seine große Zeit auf der Bühne krepieren.

Ich öffnete einen Flügel des Fensters und sah dem Treiben auf der Straße zu, um die Wartezeit zu überbrücken und frische Luft in den Raum zu lassen. Von ein paar Minuten hatte die Burgtheaterlegende gesprochen, nun wartete ich länger als eine Viertelstunde, und noch war aus dem Nebenraum nichts zu hören, was darauf hingedeutet hätte, dass der Alte endlich auftauchen werde. Er wird mich doch nicht vergessen haben, wenn er glaubt, dass mich Peymann geschickt hat?

Während ich dachte, dass die Verwirrtheit des Schauspielers für mich ein echter Glücksfall war, denn ich konnte Mama gegenüber behaupten, die Stunden bei ihm zu besuchen, und war auch in der Lage, seine Wohnung in allen Details zu beschreiben, was sie beruhigen sollte, weil alles so lief, wie sie es geplant hatte, während ich also daran dachte, es bei diesem einen Besuch zu belassen, entdeckte ich plötzlich das kleine Ungeheuer, das mich vor dem Theater nachgeäfft hatte. Ich fischte die Joghurtbecher aus dem Fensterzwischenraum und wartete, bis die Rotznase mit seiner Proletenmutter näher kam. Als sie direkt unter mir anlangten, warf ich sie nach ihnen. Das Monster traf ich am Rücken, das zweite Geschoss landete auf dem Gehsteig vor der Mutter, platzte und spritzte ihre Hose mit dem verdorbenen Joghurt voll. Sie tobte vor Wut, der Gnom kicherte schadenfroh und fing sich dafür ein paar Ohrfeigen ein, erst danach schaute sie nach oben und brüllte. Es wäre ein Leichtes gewesen, mich zu verstecken, ein Schritt zurück hätte genügt, aber ich wollte, dass sie mich sah und daran dachte, wie sie vor dem Theater über mich gelacht hatte. Erst als sie gestenreich Passanten den Vorfall schilderte, schloss ich das Fenster.

Kurz darauf kam die Burgtheaterlegende aus dem Nebenraum. Sie trug nun einen schwarzen Anzug mit einem Schnitt, der längst aus der Mode gekommen war, und schien sich nicht an mich zu erinnern. Kein Wort über Peymann, lächelnd nickte mir der alte Schauspieler zu und öffnete sein Sakko, nachdem er bemerkt hatte, dass es falsch zugeknöpft war. Auf Hemd und Schuhe hatte er vergessen, das zerknitterte Unterleibchen war in den Hosenbund gestopft. Nicht verzichtet hatte er auf eine Krawatte, die schief sitzend seinen faltigen Hals einschnürte. Ich überlegte, ob er nicht sprach, weil er zu wenig Luft bekam oder bloß nicht wusste, worüber er mit einem Unbekannten reden sollte, denn dass er sich nicht vorstellen konnte, weshalb ich ihn aufgesucht hatte, war klar. Mit einer kaum merkbaren Geste winkte er mich zu sich. Als ich vor ihm stand, flüsterte er ein paar Wörter, die ich erst verstand, nachdem ich mich zu ihm gebeugt hatte. Wo die Souffleuse sei, fragte er, die Direktion spare ja überall, aber auf eine Souffleuse dürfe nicht verzichtet werden. Ja, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel, es sei bedauerlich, ein Skandal geradezu, dass selbst das Burgtheater an allen Ecken und Enden spare. Es werde noch so weit kommen, dass man wegen der hohen Strompreise die Beleuchtung weglasse und auf einer finsteren Bühne spiele. Und obwohl mir bewusst war, dass ich Unsinn daherredete, fuhr ich munter fort. Ohne Licht wären die Schauspieler ja auf ihre Stimme beschränkt, das Publikum auf seine Ohren. Es gehe doch kein Mensch wegen eines Hörspiels ins Theater, die Besucher wollten gaffen, schöne oder hässliche Figuren auf der Bühne sehen, Charakterköpfe und Charakterkörper, Gesten und Bewegungen möchten sie bewundern, die sie in Ämtern oder Supermärkten nicht fänden …

Ich sehe, Sie verstehen mich, fiel mir der Schauspieler ins Wort und bat mich, Platz zu nehmen, den ich mir erst schaffen musste, indem ich die gestapelten Textbücher von der Sitzfläche auf den Boden neben dem Fauteuil legte. Er selbst hockte sich zwischen Tellern mit Speiseresten auf die Couch, und ich war nicht sicher, ob er dabei seinen ohnehin ramponierten Anzug nicht weiter bekleckerte.

Nach dem überaus erfreulichen Prolog könnten wir nun mit dem eigentlichen Gespräch beginnen, meinte er, nachdem er sich mehrmals geräuspert und den Sitz seiner Krawatte geprüft hatte. Dann wollte er wissen, für welche Zeitung ich schriebe, und sagte, nachdem ich ihm die erste, die mir eingefallen war, genannt hatte, dass er mit Kritikern dieses Blattes immer am liebsten gesprochen habe. Das seien durchwegs gebildete Menschen gewesen, denen es um die Kunst gehe, während bei den übrigen Zeitungen fast ausschließlich Banausen die Kulturredaktionen bevölkerten, denen man per Gerichtsbeschluss verbieten müsste, über Fragen der Kunst zu schreiben. Sein Gesicht war rot angelaufen, ein paarmal holte er tief Luft und rief dann so laut, dass ich in meinem Fauteuil zusammenzuckte, schreiben sei ein falsches Wort für dieses Gekritzel, das sich die Schulabbrecher in ihren kranken Gehirnen ausdächten. Nichts begriffen sie, und dieses Nichts kotzten sie mit ihren mangelhaften Grammatikkenntnissen aufs Papier, und das mit einem infantilen Wortschatz, für den sich Lokalpolitiker aus den hintersten Alpentälern schämen würden … Er geriet außer Atem und meinte, nachdem er sich beruhigt hatte, zum Glück gehörte ich nicht zu diesen Kretins, wie sehr er sich auf das Gespräch mit mir freue und dass er nun bereit sei, auf meine erste Frage zu antworten.

Doch dazu kam es nicht, denn während ich noch überlegte, wie ich das Gespräch beginnen könnte, erzählte der Schauspieler, der mich dabei nicht ansah, sondern seinen Kopf in den Nacken legte und den Kronleuchter fixierte, wie er zur Bühne gekommen war. Als Kind habe er wie die meisten anderen Buben davon geträumt, Panzerkommandant oder ein berühmter Kampfflieger zu werden. Eine dunkle Zeit sei das gewesen, über die er nicht mehr sprechen möchte, flüsterte die Burgtheaterlegende und bat mich, ihm diese schrecklichen Erinnerungen zu ersparen. Sie hätten auch nichts zu tun mit seinem Entschluss, Schauspieler zu werden. Den habe er gefasst, nachdem er im Apollo den Film Kronprinz Rudolfs letzte Liebe gesehen habe. Ein oberflächliches, rührseliges Machwerk, an dem die meisten Kritiker kein gutes Haar gelassen hätten. Die weiblichen Besucher seien wegen Rudolf Prack in die Kinos gepilgert, der den Kronprinzen gespielt habe, obwohl er bei den Dreharbeiten bereits fünfzig Jahre alt gewesen sei, um drei Jahre älter als der Darsteller seines Vaters Franz Joseph.

Der Schauspieler legte eine Pause ein und dachte wohl an den Film, denn er lächelte zufrieden und schien mich vergessen zu haben. Ich stand auf und wollte mich gerade verabschieden, als er in die Gegenwart zurückkehrte und sagte, wir müssten uns den Film unbedingt gemeinsam ansehen, dann würde ich seine Entscheidung für den Schauspielerberuf besser verstehen. Er sei täglich in die Nachmittagsvorstellung gegangen, aber nicht, wie ich wahrscheinlich annähme, wegen des Hauptdarstellers, sondern um Attila Hörbiger in einer Nebenrolle zu bewundern. Der habe Josef Bratfisch gespielt, den Leibfiaker des Kronprinzen. Nockerl,Burgtheaterlegende