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Lektorat: Josef G. Pichler
ISBN 978-3-99047-035-0
ERNST BRAUNER
Befreiung
Vier Erzählungen
BRAUNER • BEFREIUNG
An seinem 50. Geburtstag beschloss mein Freund Joseph, dass »alles« »anders« werden müsste. (Ich sage hier leichtfertig »Freund«, aber ob ich wirklich sein Freund war oder er der meine, muss sich erst herausstellen.)
Zuerst tauschte er das ihm in seinen Dokumenten mitgegebene zeitbedingte »ph« gegen ein modernes »f« – statt Joseph schrieb er sich fortan Josef. Dann verließ er seine Frau und seinen inzwischen fast zwanzig Jahre alten Sohn und zog zu Alexandra, die sich Alex nannte. Und dann übertrug er, »verschenkte« er die Hälfte seiner Firma, genauer gesagt fast die Hälfte oder noch genauer: 49 Prozent an seine Mitarbeiter, seine bisherigen Angestellten, die jetzt seine Miteigentümer wurden. Und dann begann er wieder zu malen. So fügte sich, gleichsam selbstverständlich, alles zu einem neuen Ganzen.
Dieses »dann« »dann« »dann« spielte sich nicht über einen längeren Zeitraum hinweg ab, sondern ereignete sich tatsächlich innerhalb weniger Tage. So war denn auch, wenn er einerseits zu Alex zog, mit der er erst seit einigen Tagen schlief, und andrerseits »wieder zu malen begann«, Letzteres in dem kleinen Untermietzimmer, das sie bewohnte, nicht wirklich gedeihlich. Also blieb er nur wenige Tage, genau gesagt zwölf Tage bei ihr, bis er wieder davonzog, hinaus aufs Land, in einen kleinen Weiler nahe Grafstetten, wo die von flacher Ebene ins Hügelige changierende Landschaft genug Anregung oder besser gesagt Anregungslosigkeit bot, um seinen Pinsel gleichsam von selbst über die Leinwand fahren oder »toben«oder fast meditativ gleiten zu lassen. Und so kam es, allein schon durch die räumliche Distanz, schnell auch zu einer körperlichen Trennung zwischen seiner neuen jungen Freundin und ihm. Kurz gesagt: Kaum dass diese Liebe – oder war es wieder nur eine »Beziehung«? – begonnen hatte, war sie auch schon wieder zu Ende. Oder doch nicht zu Ende … denn alle zwei oder drei Wochen kam Alex zu Besuch in seine Klause bei Grafstetten oder er verirrte sich (flüchtete?) in die Stadt, zu Alex und ihrer Wärme und Zärtlichkeit.
Wenn man es allerdings genau betrachtet, so standen diese scheinbaren Unvereinbarkeiten in einem zwingenden Zusammenhang, der sich aus Josefs (oder Josephs?) bisherigem Leben ergab. Bis zu dem Augenblick, als Alexandra, Alex also, in sein Arbeitszimmer trat.
Den von seiner Sekretärin mit Alex vereinbarten Termin hätte er am liebsten platzen lassen, weil ihm das Ganze eher lästig war, aber er konnte, wie seine Sekretärin ihn überzeugte, der Sache nicht ausweichen, es sei »wichtig«. Für ihn oder besser gesagt für die »Firma«. Diese hatte Joseph gerade offiziell übernommen, obwohl er sie ja de facto schon seit Jahren allein geführt hatte. Ein Interview also, in einer für ihn (oder für die »Firma«) wichtigen Tageszeitung. »Der Mann der Woche« sollte das heißen. Und dass die Zeitung zu diesem Interview eine sichtlich sehr junge Journalistin geschickt hatte, Alexandra eben, lag wiederum daran, dass die ganze Angelegenheit in Wahrheit auch für dieses Blatt ziemlich uninteressant war, es sich ihr aber aus bestimmten Gründen nicht entziehen konnte. So schickte die Zeitung irgendeine junge Anfängerin. Und diese, von Joseph mit Missvergnügen erwartet, kam jetzt in sein Büro, betrat sein Arbeitszimmer.
Sie war hübsch, ausgesprochen hübsch sogar, das machte die Sache zumindest angenehmer. Und dass sie intelligent zu fragen verstand, über den Anlass hinaus das Gespräch in die Nähe einiger nicht ungefährlicher Klippen führte, ließ ihn diese junge Person erst richtig bemerken. Sein Interesse war geweckt, und auch das ihre.
Es war also keineswegs so, dass nur sie ihn befragte. Vielmehr kam es dazu, dass er Fragen stellte, um etwas über ihr Leben zu erfahren. Aber wie bei solchen Begegnungen üblich, bewegt sich das meiste ja doch auf der Oberfläche. (In die Tiefe gekratzt wird erst später, so es ein »Später« gibt.)
Sie war noch keine dreißig. (Mein Freund Joseph damals schon fünfzig!) Zur Zeitung, die sie zu ihm geschickt hatte, war sie eher auf Umwegen gelangt und leider nicht einmal »definitiv«. Keine fix angestellte Redakteurin, sondern bloß »freie Mitarbeiterin«, nur von Fall zu Fall herbeigerufen und beschäftigt, so wie eben auch für dieses Interview. Studiert hatte sie Soziologie (was sonst?) und vor zwei Jahren hatte sie promoviert. Ihr Dissertationsthema? »Geschlechtsspezifische Akzeptanz von Printmedien«. Also jedenfalls ein Thema, bei dem es um Zeitungen ging, sodass ihr Weg sie nicht zu einem ursprünglich geplanten Ziel führte (in die Forschung?, in die Politik gar?), sondern erst einmal zu einer Zeitung. Und da saß sie jetzt dem »Mann der Woche« gegenüber, den sie interviewen sollte, für ein erbärmliches Zeilenhonorar.
Der Mann der Woche aber hatte sich zu versehen, dass nicht zu ihr gelangte, was keineswegs für eine Zeitung bestimmt gewesen wäre, etwa dass er mit seiner Firma viel Geld verdiente (nun ja: wenn schon nicht »viel«, so immerhin »genug«), aber zweifellos auch viel Unheil anrichtete; und dass er das alles gar nicht selbst gewählt, gewollt und betrieben hatte (das Geldverdienen wie das Unheilanrichten). Weil ihn in all das, zumindest anfangs gegen seinen Willen, sein Vater hineingeritten, hineingezwungen hatte. Denn für sich hatte Joseph ja einen anderen Lebensweg erträumt: als Maler. An die Kunstakademie hätte er gewollt – das hatte ihm sein Vater freilich gründlich ausgeredet, »ausgetrieben« … wie sollte einer »davon« leben können! An die Uni also, Jus natürlich! Wo Joseph dann auch pünktlich alle Vorlesungen belegte, aber zu keiner einzigen Prüfung antrat, während sein Vater für Josephs gesamten damaligen Lebensunterhalt aufkam, inklusive Josephs früher Heirat, eigener Wohnung und frühem Kind – natürlich in der falschen Erwartung, dass Joseph demnächst sein Studium beenden würde, während der ja in Wahrheit nur an seinen Bildern herumkleckste.
Bis die Sache, die zum Himmel stank, weil schon alle davon wussten, endlich auch dem Alten zu Ohren kam, in die Nase stank, in seinem Gehirn, seinen Gedärmen, seinem Herzen brannte. Und er dem Jungen alle Gelder zu streichen drohte, »wenn der nicht …«, keinen Groschen mehr für die Wohnung, »wenn nicht …«, und er mit Frau und Kind also auf der Straße säße, »wenn nicht …« – Nein, Held war mein Freund Joseph keiner, nicht einmal ein Künstler zu sein, traute er sich wirklich zu. Aber einer, den alle Menschen liebten, war er, wo immer er auftauchte. Und einer, der immer einen Weg fand, mit Schwierigkeiten fertigzuwerden. Und dieses »Wenn nicht« des Vaters war ja auch gar nicht so schlimm, er sollte nur kurzerhand in des Vaters Firma eintreten und dort arbeiten, bis er sie eines Tages würde übernehmen können – was schließlich auch passierte, nachdem Joseph (wie schon gesagt und allgemein bekannt) sie nun schon seit Jahren allein geführt hatte, bis er dann mit dem Tod des Vaters zum »Mann der Woche« wurde. So war es zu diesem Interview gekommen.
Und jetzt saßen die beiden einander gegenüber: sie, die Fragen stellte, denen er auswich, und er, der die Interviewerin erkunden wollte; die mittellose Vollakademikerin und der wohlhabende Studienabbrecher. Sie, die in ihr Leben wollte. Und er, der sich im falschen wusste.
Wie falsch dieses war, Josefs oder Josephs bisheriges Leben, lag an der Firma, die sein Vater gegründet und aufgebaut hatte. Und das hatte mit Bratislava zu tun, das früher Preßburg hieß und gleichzeitig Pozsony, wo einst die Könige Ungarns gekrönt worden waren und wo es heute viele Fabriken und hässliche Plattenbauten gibt, aber aus früheren Zeiten ein Theater, an dem damals der ehemalige Zahnarzt und später berühmt-berüchtigte Bühnenzauberer Georg Megerle von Mühlfeld gewirkt hatte. In diesem Preßburg oder Bratislava nämlich war Josephs Vater, der wie der Sohn hieß, Joseph Karmanski also, geboren worden und aufgewachsen. Und hier war der nicht nur zu Vermögen, sondern auch zu einem nie geklärten zweifelhaften Ruf gekommen. Was aber nichts mit dem damals schon hundert Jahre toten Theaterdirektor Megerle von Mühlfeld zu tun hatte, sondern vielmehr mit keinem Geringeren und keinem Schlimmeren als Adolf Eichmann, dem Schreibtisch-Judenschlächter.
Josephs Vater, der damals noch junge Karmanski, hatte trotz seiner Jugend eine führende Position in der deutschen Landsmannschaft inne, deren Vertretung ganz offiziell die NSDAP war. Da war soeben das Sudetenland »heim ins Reich« geholt worden, die restliche Tschechoslowakei zerschlagen und unter dem strammen Deutschenfreund Tiso als selbstständige Slowakei auf die Bühne der Nazi-Satelliten getreten. Und der alte, damals noch junge Joseph Karmanski in der ersten Reihe.
Natürlich hatte er gewusst, dass die Juden mit nicht mehr als einem kleinen Köfferchen aus ihren Wohnungen geschleppt und in finstere Viehwaggons gestopft wurden. Natürlich hatte er gewusst, wohin diese menschlichen Viehtransporte gingen. Dass er geholfen hätte, sie zu organisieren und mit Menschen zu füllen, war nach dem Krieg Gegenstand eines gegen ihn angestrengten Kriegsverbrecherprozesses, konnte aber nie bewiesen werden, und so verließ er das Gericht nach zwei Jahren Untersuchungshaft als freier Mann. Gewiss auch hätte er weder die Verhaftungen noch die Transporte verhindern können. Aber dass er nicht versucht hatte, die Bedrohten rechtzeitig zu warnen, um ihnen eine Flucht zu ermöglichen, bleibt unbestritten. Und unbestritten ist auch, dass diese Nicht-Gewarnten, Bedrohten, Verschleppten und später Ermordeten ihm sehr nahegestanden hatten.
Denn der alte, damals noch junge Joseph Karmanski hatte in Bratislava, das schon wieder Preßburg hieß, viele jüdische Freunde. Auch seine Frau und die jüdischen Gattinnen seiner Freunde waren befreundet. Gewarnt hat er sie nicht. Und nicht zu vermeiden war, dass er sehen musste, wie sie davongetrieben und in die Viehwaggons gepfercht wurden. Da hat er sich, wie er später erzählte, in seinem Zimmer eingeschlossen und bitterlich geweint. Kurze Zeit – so erzählte er – habe er sogar überlegt, ob er sich nicht – ein Revolver gehörte ja zu seiner Uniform – erschießen sollte. Aber das wird wohl nur eine Inszenierung in seinen Gedanken, eine Inszenierung vor sich selbst und für sich selbst gewesen sein. (Hätte vom alten Megerle von Mühlfeld, dem Theaterdirektor, ausgedacht gewesen sein können!) Und mit dem gefährlichen Spiel mit der Pistole war die Sache dann erledigt. Bis auf die Kleinigkeit, eine durchaus erfreuliche Kleinigkeit, dass er damals irgendwie auch zu Geld gekommen war, zu viel Geld: von der Deutschen Landsmannschaft, der NSDAP oder doch von den verschwundenen Freunden. Das schaffte er rechtzeitig, bevor der Krieg die Russen herbeiführte, aus der Slowakei zuerst nach Deutschland und noch vor der Währungsreform, jedenfalls rechtzeitig, in die Schweiz.
Und klar herausgesagt: Dieses Geld war es, mit dem er, sobald er den Kriegsverbrecherprozess heil überstanden hatte, die »Firma« gründen und betreiben konnte.
Aber eines muss man ihm lassen: Er wirtschaftete überlegt und sparsam. Alles für die Familie, für den Sohn vor allem, auch wenn ihn der – wir haben’s gehört – übel aufs Kreuz gelegt hat, bis er diesen schließlich doch »zur Vernunft«, sprich in die Firma gebracht hatte. Sich selbst aber gönnte er kaum etwas. Und wie er doch damit anfing (Opern- und Konzertbesuche, Urlaub in Kitzbühel, dann in Mallorca, auf Mauritius gar), begannen sich seine Gedanken zu trüben, sein Gehirn zu verschleiern, bis er im Laufe weniger Jahre in totale Demenz verfiel – gut, dass zu dieser Zeit Josef, damals noch Joseph, schon so eingearbeitet war, dass er die Führung der Firma übernehmen konnte.
Es kann jetzt nicht länger um den heißen Brei herumgeredet werden. Nicht länger wegschieben lässt sich die Frage, was es mit dieser Firma auf sich hatte, was für eine Firma das war. Die Antwort ist einfach und klingt unverfänglich: ein Branchendienst. Ein Branchendienst für die Werbe- und für die Medienwelt. Für Wissende jedoch – und Joseph war ein Wissender, war es doch er selbst, der es betrieb – für Wissende war es … eine Schlangengrube.
Die Redaktion, das heißt Auswahl der Themen und deren Darstellung, diente der kommerziellen Basis des Unternehmens, also der Geldbeschaffung. Das funktionierte ganz einfach: Wer zahlte, wurde zum Thema und fein herausgeputzt. Wer sich zu zahlen weigerte, vernichtet.
Neben Geld ging es dabei auch um Verbindungen, Einfluss, Macht. Das System schuf Freunde und natürlich auch Feinde, aber das Geschick des Chefs, des alten Josephs und später des jungen, bestand darin, dass Feindschaften automatisch andere Freundschaften generierten; es galt bloß, die beiden nicht nur in Balance zu halten, sondern zu gewährleisten, dass Freundschaften den Ausschlag gaben. Das Ganze bewegte sich in einem Feld, das man allgemein Public Relations nannte.
Die beiden Karmanskis, der alte Joseph und allmählich und zuletzt allein der junge, waren darin wahre Meister. Irgendwie brachten sie es immer zuwege, dass man sie mochte, sei es bei beruflichen oder nur privaten Kontakten. Dieses geheimnisvolle Fluidum nennt man Charisma. Mit Charisma also betrieben sie ihre Geschäfte, die bisweilen auch Leichen zurückließen. Das lag gewissermaßen in der Natur der Sache. Aber damit musste man leben können, auch wenn man bisweilen, wie der Alte seinerzeit in Preßburg oder Bratislava, zum Revolver griff, den man dann natürlich doch nicht abdrückte.
Das also war die Welt, in der »der Mann der Woche« jetzt seiner jungen Interviewerin begegnete, in der Joseph Alexandra gegenübersaß und er zu Josef und sie zu Alex mutierte. Und was anderswo manchmal oder sogar meistens Wochen, Monate oder sogar Jahre dauert, spielte sich hier, nicht nur weil sie sehr hübsch war und sehr intelligent fragte, bohrte und streichelte, sondern weil er nach diesem Angebohrt- und Gestreicheltwerden verlangte … spielte sich hier in der kurzen Zeitspanne eines einzigen Spätnachmittags ab, sodass er vor der üblichen Zeit seine Arbeit liegen und sie einen anderen Termin einfach sausen ließ und sie gemeinsam sein Büro verließen, um noch irgendwo einen Drink zu nehmen und weiterzuplaudern. Bis sie unversehens in einem Hotelzimmer gelandet waren.
Erst als er sie in seinen Armen hielt, bemerkte er die vielen blonden Härchen auf ihrer Oberlippe, und als er sie entkleidet hatte, ihre verwunderlich großen und weichen Brüste über ihren mädchenhaft schlanken, fast mageren Hüften. Und wie aus dem Namen Alexandra der Name Alex wurde und aus Alex wieder Alexandra, hatte denselben geheimnisvollen Zauber, der ihn in eine Welt schob, die ihm bisher verschlossen gewesen war und die er nun mit ihr zusammen betrat. Das war aber keineswegs nur der seltsame androgyne Reiz dieses hübschen jungen Körpers, den er in seinen Armen hielt, sondern … ja was?
Erst in den Tagen, Wochen, Jahren danach verstand er, dass es wirklich eine andere Welt war als die, in der »der Mann der Woche« bisher gelebt hatte und von der er sich befreien wollte für eine vorerst nebulose Zukunft.
Zeit vergeht nicht immer im gleichen Tempo. Das heißt, sie »vergeht« überhaupt nicht, sie »läuft ab«. Nicht indem sie verschwindet, sondern indem etwas (alles?) anders wird. Und das geschieht manchmal mit wahrhaft rasender Geschwindigkeit. Aber manchmal wie in Zeitlupe oder gar, als wäre alles, Menschen, Dinge, Gedanken, Ereignisse eingefroren in einem Panzer aus Eis oder gefrorenem Lehm.
So schnell Joseph damals aus seinem Büro in jenes Hotel gekommen war und aus seiner Wohnung in Alex’ winziges Untermietzimmer und dann in die vieldeutigen Hügel hinter Grafstetten, so lange dauerte es natürlich, bis das notwendige Rundherum erledigt war: die Übertragung der halben Firma (oder nahezu der halben) an seine bisherigen Mitarbeiter … ungezählte Wege zu Rechtsanwälten, Notaren, Banken und Behörden … Papier und noch mehr Papier … Unterschriften … schnell vollgestopfte Koffer und langsam gepackte Kisten … nur wenig wieder in Grafstetten ausgepackt, der große Rest in verschiedenen Depots gebunkert.
Es ist schon klar. Vor allem Joseph oder dann eben Josef war es klar, was es bedeutete, dass er die Firma, die halbe Firma jedenfalls verschenkte. Eine Auflehnung gegen seinen Vater war es, der ihn zu all dem gezwungen hatte: in die Firma, in den Branchendienst, zu einem Leben fern der Kunst, der Malerei, in ein Leben voll mit Ziffern und »Public Relations«, dieser verlässlichen Methode der Geldbeschaffung, Gelderpressung. Um all dies von sich zu werfen … musste er dazu fünfzig Jahre alt werden? Und war es das wirklich, was er jetzt so gewaltsam demonstrierte: Befreiung?
Aber was immer es tatsächlich war, ein neues Leben oder nur eine neue Lebenslüge, das brauchte seine Zeit, die gar nicht mit Uhr, Kalender und Bankauszügen zu messen war. Und noch etwas war zu installieren, bevor er seine Firma, sein altes Leben hinter sich ließ:
Er veranlasste, dass Alex in seiner Firma, im Branchendienst also, eine feste Anstellung bekam: als Redakteurin mit einem fixen Monatsgehalt. Also Schluss mit sogenannter »freier Mitarbeit« und tatsächlich höchst unfreiem Bangen von Auftrag zu Auftrag gegen erbärmliches Honorar. Natürlich musste ihre Anstellung auch einen Namen und Alex eine bestimmte zugeteilte Aufgabe haben. Und es war Joseph, das heißt jetzt schon Josef, oder vielleicht sogar schon Alex, die diesen Namen und diese Aufgabe fand: Aufbau und Betreiben einer Online-Sparte für den Branchendienst. Als eine neue »eigene« Abteilung. Freilich: »Abteilung« hört sich gut an, aber die Abteilung bestand aus einer einzigen Kraft: Alex selbst. (Später erst kam eine zweite dazu, Fritzi Holzmüller, eine junge Person wie Alex; gerade mit dem Studium an der Hochschule fertig, aber ehrgeizig und darum wohl richtig arbeitswütig.)