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BRAUNER • WERKAUSGABE BAND 2

ERNST BRAUNER

Der Bund

Roman

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Die Herausgabe dieses Buches erfolgte
mit freundlicher Unterstützung der Stadt Wien.

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A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12

Tel. + 43(0)463 370 36, Fax + 43(0)463 376 35

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www.wieser-verlag.com

Copyright © dieser Ausgabe 2015 bei Wieser Verlag GmbH,

Klagenfurt/Celovec

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Josef G. Pichler

ISBN 978-3-99047-030-5

Inhalt

Erster Teil

1. Ein Berufsrevolutionär

2. Ein ungeheuerliches Wort

3. Eine Schamlose

4. Visionen eines Verlegers

5. Familienangelegenheiten eines Revolutionärs

6. Die Kirchenschänder

7. Ein »deutscher« Professor

8. Der Streit

9. Das Ende eines Anarchisten

Zweiter Teil

1. Ein Mensch mit klarem Blick

2. Der Umgang eines Verlegers

3. Phantastische Pläne

4. Ein unerwarteter Besuch

5. Ein gemütlicher Abend

6. Einsamkeit

7. Seltsame Ereignisse

8. Weitere seltsame Ereignisse

9. Das Verhör

10. Ein junger Mann aus gutem Haus läuft Amok

Dritter Teil

1. Gnus

2. Das Bauernhaus

3. Wie man sein Handwerkszeug zurechtlegt

4. Ein feiger Mensch

5. Mythologie

6. Rekonstruktion einer Hinrichtung

7. Ein Narr Gottes

8. Spiritus rector

9. Eine Stilübung

Vierter Teil

1. … worin zu erklären versucht wird, welcher Zusammenhang zwischen Gulliver, dem Bau der Pyramiden und einem gesprengten Hochspannungsmast besteht

2. Was ist eine Tat, was ist ein Täter?

3. Eine unglaubliche Geschichte

4. Die Stimme der Erneuerung bleibt stumm

5. Probleme der Rangordnung

6. Die Kapitäne verlassen das sinkende Schiff

7. Schießen!

8. Das Erbe eines Verlegers

9. »Wir haben gesiegt!«

10. Mutterschaft

11. Die Wollust des Scheiterns

12. Die Hyäne

Dieses Buch ist kein Schlüsselroman. Es besteht allerdings wenig Unterschied zwischen dem Material, aus dem man Geschichte und Zeitungen macht, und jenem, aus dem Träume und Bücher entstehen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind daher zufällig, wenn auch unvermeidlich.

DER BUND

Vorbemerkungen des Berichterstatters anhand eines »Falles«

Wenn man heute einen unserer Mitbürger fragt, womit jene Ereignisse begannen, die manche in so große Erwartung, die meisten freilich nur in stumpfe Bestürzung versetzten, wird man Achselzucken ernten oder Stirnrunzeln oder vages Herumgerede: Große Ereignisse werfen eben ihre Schatten voraus, oder sobald man den Eisberg sieht, ist es auch schon zu spät und was dergleichen Redensarten mehr sind.

Mit den vorausgeworfenen Schatten hat das freilich seine besondere Bewandtnis. Kann etwas, das wir eben jetzt als Gegenwart wahrnehmen, die Wirkung einer erst in Zukunft auftretenden Erscheinung sein? Ist das logisch? Oder sollte erst der Schatten das Gebilde schaffen, das ihn wirft? Erst die Wirkung ihre Ursache gebären? Und haben also die vielen Ereignisse, deren wir uns später als bedeutungsvoll erinnern, diese Bedeutung erst im Nachhinein erlangt, weil Späteres sie in neuem Licht erscheinen ließ – oder haben sie jenes Spätere erst eigentlich bewirkt? Waren diese kleinen glimmenden Lichter mithin nur Widerschein, Reflex, optisches Spiel – oder der glosende Funken, der schließlich alles in Brand setzte?

Eines dieser kleinen glimmenden Lichter oder vielleicht auch einer dieser Funken war zum Beispiel die Ankunft Jedlickas in unserer Stadt. Das geschah gegen Ende Februar, und Jedlicka, der bekannte Industrieanwalt Jedlicka, der damals unmittelbar vor der Berufung auf einen Lehrstuhl für Urheberrecht an der Universität in M. stand, war angereist, um bei uns einen Fall zu übernehmen. Was ist daran Besonderes, wird man fragen. Ist ein Anwalt nicht dazu da, einen Fall zu übernehmen? Und warum soll nicht auch ein Industrieanwalt seine Verhandlungen im ganzen Land zu führen haben? Hier allerdings handelte es sich um einen Fall, der nicht das Geringste mit Patenten, Rechten, ja überhaupt wirtschaftlichen Fragen zu tun hatte. Natürlich gestatten auch bei uns die Gesetze, dass ein Anwalt jeden beliebigen Fall übernimmt. Es ist nur eben ungewöhnlich und bei der weitreichenden Spezialisierung unserer Rechtsprechung selten zweckmäßig, wenn ein Urheberrechtler einen Mörder verteidigt oder ein Scheidungsanwalt die Revision eines Steuerverfahrens übernimmt.

Fanden also die wenigen, die davon erfuhren, keine Erklärung für Jedlickas Erscheinen in unserer Stadt – ich meine sein berufliches Erscheinen, denn privat kam er ja häufig genug hierher –, so nannte Jacobi, der Verleger Kurt Jacobi, es ein Fanal: eine Bemerkung, die jedem, der sie hörte, reichlich überschwänglich erscheinen musste.

Was nun den »Fall« anbelangt, so war die ganze Angelegenheit von unseren Zeitungen zweifellos künstlich aufgebauscht worden – ein willkommener Anlass, politische Ansichten durch angebliche Ereignisse bestätigt zu erhalten. Wer die Berichte dieser Blätter verfolgte, konnte erfahren, dass eine Bande rauschgiftsüchtiger Jugendlicher (oder: Krimineller, oder: von der Polizei Gesuchter … aus geschlossenen Anstalten oder verwahrlosten Elternhäusern Entwischter … Anarchisten, Maoisten usw. usw.) in einer Kirche unserer Stadt monatelang sexuelle Orgien gefeiert hätte. Ein vierzehnjähriges Mädchen – das wusste jedoch nur eines der Blätter zu berichten – wäre sogar während einer Messe vergewaltigt worden, von mindestens drei Mitgliedern der Bande, während die anderen, Burschen und Mädchen, eine Mauer gebildet hätten, sodass die ahnungslosen Besucher der Kirche nichts bemerkt hätten. Zudem wären mit Fäkalien Obszönitäten an die Kirchenwände geschrieben und Hostien in die Geschlechtsteile der weiblichen Bandenmitglieder eingeführt worden.

Die Wahrheit, die sich – ich möchte sagen: innerhalb weniger Stunden – hätte feststellen lassen, war vergleichsweise dürftig. Der junge und unerfahrene Kaplan der Egydiuskirche, also eines Gotteshauses in einem als ruhig und bürgerlich geltenden Vorort unserer Stadt, hatte einen längeren Krankenhausaufenthalt seines Pfarrers und die Zeit, da er die Gemeinde zu führen hatte, dazu benützen wollen, »die Kirche ins zwanzigste Jahrhundert zu tragen«, wie er sagte. Vielleicht geschah alles auch nur aus einer seltsamen, ein wenig verworrenen Romantik. Jedenfalls hatte er Jugendlichen seine Kirche tagsüber als Aufenthaltsraum oder gewissermaßen als Klublokal angeboten. Es war ein besonders strenger Winter, und er erklärte später, er habe nur als Mensch gehandelt (er sagte nicht einmal: als Christ), als er die Jugendlichen ermuntert hätte, ihre Zusammenkünfte lieber in der Kirche, sozusagen unter der Aufsicht Gottes abzuhalten als in der eisigen Kälte auf den Stufen des Poseidontempels im Stadtpark, wo sie in der warmen Jahreszeit stundenlang herumzulungern pflegten, oder unter irgendeiner Brücke oder in den Kaschemmen hinter dem Lunapark.

Im Übrigen war die Idee nicht neu. Ich erinnere mich an einen Bildbericht in einer Illustrierten nur kurze Zeit vor den Ereignissen in unserer Stadt, wonach die Moses- und-Aaron-Kirche in Amsterdam tagsüber als Bleibe für vagabundierende Jugendliche eingerichtet worden war, die dort ihre Decken und Schlafsäcke auslegten, auch schliefen und aßen, stundenlang vor sich hindösten, bis am Abend die Kirche geschlossen wurde und sie wieder auf der Straße standen.

Dieser Bericht mochte auch dem jungen Kaplan unserer Egydiuskirche zu Ohren gekommen sein, oder vielleicht hatte er ihn in der gleichen Zeitschrift gefunden wie ich. Er hatte auch Mühe gehabt, für seine Idee Interessenten zu finden. Wie erwähnt, ist der Stadtteil rund um die Kirche ein ruhiges, hauptsächlich von kleinen Angestellten und Gewerbetreibenden bewohntes Viertel. Langhaarige, Provos, Hippies und Chaoten sind hier seltener anzutreffen als irgendwo sonst in unserer Stadt, und tatsächlich stammte kein einziger junger Mann, kein einziges Mädchen der schließlich in der Kirche ausgehobenen Gruppe aus der näheren Umgebung der Kirche. Drei kamen aus anderen Bezirken, vier waren nicht einmal aus unserer Stadt, sondern nur zufällig dazugestoßen, und mehr als diese sieben gab es überhaupt nie. Tatsache blieb jedoch, dass diese sieben sich auf irgendeine Weise einen Schlüssel verschafft oder eine Möglichkeit gefunden hatten, das abends versperrte Tor zu öffnen und sich wieder in die Kirche zurückzuschleichen.

Ob der junge Kaplan davon wusste oder es zumindest ahnte und dennoch geschehen ließ, wurde im weiteren Verlauf der Angelegenheit nicht mehr oder zumindest nicht öffentlich zur Sprache gebracht. Die jungen Leute jedenfalls verbrachten auch die Nächte in der Kirche. Sie besaßen einen kleinen Spirituskocher, auf dem sie Essen bereiteten; Wasser holten sie vom Waschbecken in der Sakristei, das sie auch als Ausguss verwendeten, wenn sie ihre Speiseabfälle genügend zerkleinert hatten. Und einige Male, wenn die Tür von der Sakristei in die dahinter liegende Pfarrkanzlei abgeschlossen war, was eigentlich jede Nacht hätte der Fall sein müssen, und der Zugang zu dem auf dem Korridor vor der Pfarrkanzlei befindlichen Abort versperrt, hatten sie auch in den Abguss in der Sakristei uriniert.

Ihre Schlafsäcke und Decken hatten sie ihrer Bestimmung entsprechend benutzt, nämlich zum Schlafen, aber sie gaben zu, dass sie auf den Stufen vor dem Altar gelagert hatten, weil die mit einem Teppich belegt waren und sie hier weicher und wärmer lagen als auf den Fliesen oder Bänken. Und sie bestritten auch nicht, dass sie manchmal zu zweit unter einer Decke geschlafen hatten und nicht nur geschlafen – eben ganz so wie andere Menschen auch. In jedem Ehebett wären sie früher unter dem Kruzifix oder einem Bild der Muttergottes gelegen. Und von der Immissio penis bis zum Orgasmus hätte sich jahrhundertelang alles unter den Augen des Gekreuzigten oder der Jungfrau mit dem Schwert im Herzen abgespielt, und Gott und die Heiligen wären besser als die Menschen, die deren Abbilder an die Wände hingen. Und ein Mädchen sagte, sie habe die Anwesenheit Gottes gespürt, wenn sie in der Kirche mit ihrem Freund geschlafen hätte (sie sagte: gebumst) – als etwas besonders Reines, sie könnte es nicht richtig in Worte fassen … Wie es in einem Elternhaus sein müsste, wenn man ein Elternhaus besäße, bei verständnisvollen Eltern natürlich, die nichts dabei fänden, dass zwei Menschen einander lieb hätten in dem grenzenlosen Elend dieser Welt.

Wie sehr die ganze Angelegenheit von den Zeitungen übertrieben worden war, mag man schon daran erkennen, dass die jungen Leute, nachdem sie nachts in der Kirche aufgestöbert worden waren, nur wenige Stunden in der Wachstube des nächsten Kommissariats festgehalten und dann gleich wieder auf freien Fuß gesetzt wurden.

Natürlich hatte man sie verhört, und bei diesem Verhör mag sich nun tatsächlich einiges Schlimmes und für unsere Polizei nicht gerade Ehrenhaftes zugetragen haben. Jedenfalls behaupteten die jungen Leute später, sie wären von den Beamten mit Fäusten traktiert und mit Stöcken geschlagen und sogar in den Bauch getreten worden, brutal und schmerzhaft, aber so routiniert (»weich«!), dass nachher außer einigen blutunterlaufenen Stellen und kleinen Rissquetschwunden nichts zu sehen gewesen wäre. Dies hätte auf Verlangen der Jugendlichen auch ein Amtsarzt konstatiert, doch konnten die Polizisten glaubhaft machen, dass die Teenager, als man sie aufgestöbert und aufs Kommissariat gebracht hatte, randaliert und Widerstand geleistet und sich zu Boden geworfen hätten, um den Abtransport zu vereiteln; daher, und als sie wild um sich schlugen, wären dann eben jene Prellungen entstanden. Sehr wahrscheinlich wären sie auch betrunken gewesen oder in einem leichten Drogenrausch, sodass sie gar nicht merkten, wie sie gegen Wände, Kanten und Stiefel stießen – daher die eine oder andere kleine Schramme –, »Rissquetschwunde« wäre wirklich schon zu viel gesagt.

Was die Beamten freilich so in Wut versetzt hatte, wenn sie sich jene Übergriffe wirklich hatten zuschulden kommen lassen, blieb nachgerade unverständlich. Es kann nicht ernsthaft die Verletzung ihrer religiösen Gefühle gewesen sein – also diesbezüglich darf man unsere Beamten wirklich nicht überschätzen! – und das ganze Verhör war doch eher eine Routineangelegenheit, nichts von wirklicher Bedeutung war herauszuholen; keine alarmierenden Hintergründe, keine verdächtigen Motive waren zu vermuten. Nichts, nichts, nichts, was auf einen verbissenen Kampf zwischen Verhörenden und Verhörten hinausgelaufen wäre. Dennoch sickerte später durch, die Beamten hätten sich von den jungen Leuten so ungeheuerlich provoziert gefühlt, dass sie bald nur noch rot gesehen hätten. Und es wäre ein wahres Glück gewesen, dass sie die Kinder gleich wieder hätten laufen lassen, denn »Meiner Seel!«, sagte später einer, »wenn wir nicht so besonnen gewesen wären« – (besonnen!) –, »hätten wir sie totgeschlagen!«

Woher diese Wut? Und wohin mit ihr? Jacobi fragte das, der Verleger. Die Frage schien ihm so wichtig, dass er ein Buch darüber herausbringen wollte, zumindest einen »Report«, eine Bestandsaufnahme, jedenfalls eine Dokumentation des »Falles«, und er beauftragte mich, eine solche zu schreiben.

Ja, ich lebe, wie es so schön heißt, vom Schreiben. Ich höre es nicht gerne, wenn man mich einen Journalisten nennt, aber dafür, dass ich mich so nennen lasse, werde ich bezahlt – nicht dafür, dass ich mir einbilde, manchmal vielleicht mehr zu sagen zu haben. Was den Auftrag betrifft, einen Report oder eine Dokumentation über den »Fall« zu schreiben, so hätte sich damit zweifellos Ehre einlegen lassen – in jenem höheren Sinn, für den einem selten jemand etwas bezahlt. Ich hätte also durchaus mit echtem Engagement an den Stoff herangehen müssen. Doch seltsamerweise war dies nicht der Fall, zumindest war meine Einstellung zu der mir erteilten Aufgabe vom ersten Augenblick an zwiespältig. Ich begriff die Herausforderung, hätte mich ihr aber gerne, aus Gründen, die mir selbst nicht bekannt waren, entzogen.

Vorwände hätten sich finden lassen. Schon eine Woche nach Anhaltung und Verhör und der ganzen Hysterie in den Zeitungen krähte kein Hahn mehr nach den »Kirchenschändern« und »Prügelpolizisten«. Auch die Anatomie einer »Hexenjagd«, wie die Presse sie veranstaltete, hätte keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken können. Und es war auch nicht zu erwarten, dass es eine interessante Fortsetzung, irgendein Nachspiel geben würde, das den Fall neuerdings ins »Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit« hätte rücken können. Nicht einmal die Behörden erwarteten das, übrigens so gut wie vom ersten Augenblick an nicht, sonst hätten sie die jungen Leute ja nicht laufen lassen, obwohl sie damit rechnen mussten, sie im Falle einer Anklageerhebung gar nicht so leicht wieder ausfindig machen zu können. Tatsächlich verschwanden die vier, die nicht aus der Stadt waren, im weiteren Verlauf völlig von der Bildfläche. Die drei Ansässigen, zwei Burschen und ein Mädchen, unternahmen keinen Versuch unterzutauchen, ja es schien beinahe, als warteten sie geradezu auf die Eröffnung ihres Prozesses.

Viele Besonnene – soweit Besonnene je zu vielen zählen – waren der Meinung, dass bei dem ganzen Verfahren nicht mehr herauskommen konnte als eine Verurteilung wegen Hausfriedensbruchs, allenfalls wegen Besitzstörung, und dies mag ja auch der Grund gewesen sein, warum die Untersuchung keine Fortschritte machte und im Sand zu verlaufen drohte.

Ich betrieb also die Recherchen wie die bruchstückhafte Niederschrift eher lustlos, bis ich auf Verknüpfungen stieß, die mich stutzig machten. Ich erwähnte schon, dass die Vertretung in dem zu erwartenden, eher belanglosen und nur formalen Verfahren gegen die »Kirchenschänder« nicht irgendein im Strafrecht routinierter Verteidiger übernehmen sollte, sondern ein Industrieanwalt. Ein ziemlich prominenter und arrivierter Mann, wie betont wurde. Ich muss nun hinzufügen, dass ich mit Jedlicka von Kindheit an persönlich befreundet war. Er war in unserer Stadt geboren, wir gingen die ganze Schulzeit über in dieselbe Klasse und studierten sogar noch die ersten Semester gemeinsam an der Universität. Viel später erst, nach seiner Promotion, als er sich in einer anderen Stadt niedergelassen hatte, war unser Kontakt immer dürftiger geworden. Allerdings kam er nach wie vor einige Male im Jahr in unsere Stadt: Seine Mutter, schon über siebzig, eine kleine, lebhafte Frau, wohnte hier, völlig allein und in den bescheidenen Verhältnissen, in denen sie sich ihr Leben lang bewegt hatte und in die auch Jedlicka hineingeboren war. Warum Jedlicka, als er sich bereits einen Namen gemacht hatte und zweifellos zu einem wohlhabenden Mann geworden war, seine Mutter nicht zu sich nach M. geholt hatte, oder ob die alte Frau vielleicht sich weigerte zu kommen, wurde dabei nie recht klar.

Natürlich habe ich Jedlicka gefragt, was ihn auf die ausgefallene Idee gebracht hatte, als angesehener Industrieanwalt einen noch dazu etwas anrüchigen Strafrechtsfall zu übernehmen. Seine Antwort war so diffus, dass mir die Wiedergabe schwerfällt. Er sprach von Bedürfnis nach Abwechslung und beruflichem Engagement und faselte von einem »Anwalt«, der nicht nur »verwalten« dürfte, sondern endlich »walten« müsste, im Sinne von etwas in Bewegung setzen, also nachgerade »schalten und walten«. Hier geriet er geradezu in Ekstase und schwelgte in Doppeldeutigkeiten (»Schalten«) und etymologischem Tiefsinn (»Welt kommt von Walten!«).

Noch verwunderlicher indessen war der wahre Grund für Jedlickas Auftreten in unserer Stadt und seinen Entschluss oder sein Anerbieten, den »Fall« zu übernehmen. Wenn ich sage, der »wahre Grund«, ersetze ich nur ein Fragezeichen durch ein anderes: Unser gemeinsamer Freund Ermar hatte ihn gerufen. Vielleicht wäre es richtiger zu sagen: mein und Jedlickas Freund Ermar hatte ihn für den Fall interessiert. Dies aber schien eng mit der Art und Weise verkettet, wie der »Fall« überhaupt an die Öffentlichkeit gelangt war.

Hier verdanke ich meine Information Kastner, Ressortchef für Lokales bei der größten Zeitung unserer Stadt, die als erste über den »Fall« berichtet hatte, wenn auch nur mit einem Zweispalter auf der dritten Seite. Erst tags darauf, als sich bereits die Agenturen und der Rundfunk der Nachricht bemächtigt hatten, war dann Kastners Blatt groß »in die Sache eingestiegen«, wie man dies im Journalistendeutsch zu nennen pflegt, wobei die derbe Phrase ungewollt an einen Einbruch, an Diebstahl und Gewalt erinnert.

Umso erstaunter war ich, als mir Kastner – es war in dem kleinen Gasthaus nahe seiner Redaktion, in dem auch ich manchmal zu Mittag aß – gestand, dass weder er noch einer seiner Reporter die Geschichte »aufgetan« hätte – auch dies eine jener gewalttätigen Phrasen seines Berufs. Vielmehr wäre ihm die in der Nacht vorher erfolgte Verhaftung oder richtiger Anhaltung der Jugendlichen ganz einfach anlässlich eines der routinemäßigen Anrufe bei den einzelnen Polizeiwachzimmern durch den diensthabenden Journalbeamten des zuständigen Kommissariats zur Kenntnis gebracht worden. Wieso mit einem Vorsprung von fast vierundzwanzig Stunden ausgerechnet nur ihm und nicht auch anderen Journalisten, die über ebenso gute Verbindungen zu den Kommissariaten verfügten wie Kastner … wieso überhaupt, wo doch sogar eine ausdrücklich entgegengesetzt lautende Anweisung eines Vorgesetzten vorlag, womit der Hinweis jenes Beamten keineswegs nur mehr eine Indiskretion war, sondern schon eine Verletzung des Dienstgeheimnisses … all dies bezeichnete Kastner als nicht zur Sache gehörig und unerheblich.

Aber jedenfalls hatte nicht Kastner die Polizei auf die Fährte der »Kirchenschänder« gesetzt, sondern umgekehrt die Polizei Kastner. Wer aber hatte die Polizei alarmiert?

Neher, antwortete Kastner.

Ermar Neher? Mein Freund Dr. Ermar Neher, derselbe, der nun Jedlicka für den »Fall« interessiert hatte?

Kastner nickte mit grimmiger Miene.

Diese Vorstellung war so absurd, dass wir beinahe in Streit gerieten, umso mehr, als sich Kastner in Andeutungen erging, die keinen Sinn ergaben. Schließlich jedoch ließ Kastner die Geheimnistuerei beiseite und sagte: »Ich habe es von Gernot!«

Gernot war eben jener Journalbeamte, von dem Kastner den Hinweis auf den »Fall« erhalten haben wollte. Ich muss hinzufügen: Auch ich kannte Gernot, und ich kannte ihn als ehrenwerten Mann, zudem als pflichteifrigen Beamten, dem das Aussprechen einer Verleumdung ebenso wenig zuzutrauen war wie das Übertreten einer Dienstanweisung durch die vorzeitige Preisgabe eines Falles, über den Nachrichtensperre verhängt ist.

Es fügte sich, dass ich wenige Tage später mit Gernot zusammentraf. Als ich ihn auf Kastners Behauptung hin ansprach, bekam er einen roten Kopf und begann zu schimpfen. Natürlich wäre kein Wort davon wahr! Weder hätte er Kastner einen Hinweis gegeben noch wäre daher in diesem Zusammenhang der Name Ermar Nehers gefallen.

Welchen Grund aber hätte Kastner gehabt, solche Behauptungen aufzustellen? Gernot schwieg und zuckte ärgerlich die Achseln, als wollte er sagen: Halten Sie die beiden – nämlich Neher und Kastner – für Freunde? Und in der Tat: Dass sie es nicht waren, wusste jeder, der in ihrem Kreis verkehrte. Kreis ist hierbei ein reichlich verschwommener Begriff. Wenn man so will, ist unsere ganze Stadt ein »Kreis«: groß genug, um sich darin fremd und verloren zu fühlen; klein genug, dass innerhalb einer gewissen Sozialschicht und insbesondere in tangierenden Berufsgruppen jeder jeden kennt, und sei es auch nur gerüchtweise.

Die geringe wechselseitige Zuneigung Ermars und Kastners war also stadtbekannt. Übrigens datierte diese Spannung erst seit etwa ein oder eineinhalb Jahren. Bis dahin waren die beiden beinahe Freunde gewesen. Plötzlich jedoch gingen sie einander aus dem Weg, und was Kastner betrifft, so lässt sich nachweisen, dass er seither einige Male versucht hatte, Neher zu schaden, wobei er sich so weit vergriff, sich dabei sogar seiner Zeitung zu bedienen. Über den Grund des Zerwürfnisses kursierten allenfalls Vermutungen. Kastners um viele Jahre jüngere Schwester hatte eine Zeit lang als Ermars Sekretärin gearbeitet, und manche behaupteten, die beiden hätten auch nach Dienstschluss gemeinsame Interessen gefunden. Kastners Schwester war sehr hübsch oder vielleicht sollte man besser sagen: galt als sehr hübsch. Denn in Wahrheit waren es weniger die ästhetischen Qualitäten ihrer Erscheinung als vielmehr eine gewisse natürliche Sinnlichkeit, die die Männer herausforderte – oder herauszufordern schien. Mochte man also Kastners Schwester in dieser Richtung einiges zutrauen, so war Ermar, wie ihr Bruder um einiges älter als sie, alles eher als der Typ, der sein Privatleben vor den Augen anderer ausgebreitet hätte.

Abgesehen von einem etwa ein Jahr lang währenden eheähnlichen Zusammenleben mit der Mutter eines von ihm stammenden Kindes, das später starb, wäre dies auch die einzige länger dauernde Verbindung gewesen, von der man gewusst oder zu wissen geglaubt hätte.

Wie auch immer: Eines Tages war Kastners Schwester aus der Stadt verschwunden, ihre Stellung hatte sie Knall und Fall aufgegeben. Was geschehen war, wo es geschehen war, im beruflichen oder im privaten Bereich, wer das Geschehen ausgelöst hatte – Kastners Schwester, Ermar oder gar ein Dritter – wurde niemals geklärt. Später hieß es, Kastners Schwester wäre in M. gesehen worden, ziemlich heruntergekommen, ja richtiggehend verwahrlost. Die einen wollten wissen: krank, die anderen: in Gesellschaft von Kriminellen. Irgendetwas daran musste jedenfalls zugetroffen haben; irgendetwas musste Kastner wissen, an irgendetwas Ermar die Schuld gegeben haben.

Tatsache ist nun, dass Kastner, zumindest wo es um seinen Beruf ging, eine etwas zwielichtige Natur war, und darum schien es mir richtig, Ermar vor den Gerüchten zu warnen, die jener über ihn in Umlauf gesetzt hatte.

Ermar reagierte ziemlich zornig, aber ohne Überraschung, zudem galt seine Erbitterung nicht Kastner, sondern vielmehr Gernot. Denn das Unglaubliche erwies sich als wahr: Die Anzeige stammte tatsächlich von Ermar. Freilich stellte sich dabei folgender Sachverhalt heraus:

Ermar hatte Kenntnis von den nächtlichen Vorgängen in der Egydiuskirche erhalten, und zwar durch wiederholte Hinweise, dies schließlich sogar mittels eingeschriebener Briefe. Ihm persönlich – so weit müsste ich ihn kennen – wäre der Tatbestand völlig gleichgültig gewesen, seinetwegen könne man in der Kirche Wäsche waschen, Ochsen schlachten, Karate üben oder Bridgeturniere veranstalten. Aber durch die wiederholte Mitteilung, von deren Richtigkeit er sich habe überzeugen können, war er in die unangenehme Situation geraten, handeln zu müssen. Schließlich war er Beamter, in jenen Briefen auch ausdrücklich als solcher angesprochen worden, und hätte er nicht Anzeige erstattet, wäre er wahrscheinlich selbst in die Sache hineingezogen worden, als Mitwisser, wenn nicht sogar als einer, der durch sein Wissen oder zumindest durch sein Schweigen Vorschub leistet … und die Folgen für ihn persönlich wären also gar nicht absehbar gewesen. Selbstverständlich habe er die jungen Leute gewarnt beziehungsweise warnen lassen. Aber aus ihm unverständlichen Gründen hätten sie sich geweigert, die Kirche zu räumen. Ja, es habe beinahe ausgesehen, als erwarteten sie geradezu das Einschreiten der Behörde, sodass er sich zuletzt gefragt hatte, ob die an ihn gerichteten Hinweise nicht gar von ihnen selbst provoziert worden waren. Jedenfalls habe es schließlich keinen anderen Weg mehr gegeben als den zu Gernot, genauer: zu Gernots Vorgesetzten, den er dringend um Diskretion in dieser ganzen Angelegenheit gebeten hatte, das heißt um Stillschweigen gegenüber der Presse, was dann aber leider nicht eingehalten worden war.

Und das sei auch der Grund, warum er, Ermar, da alles nun schon einmal gegen seinen Willen so weit gediehen war, den törichten jungen Leuten wenigstens nach ihrer Verhaftung meinte helfen zu müssen, und warum er sich – zuerst nur um Rat – an Jedlicka gewandt hatte. Denn weder hätte er sich erlauben können, einen unserer Anwälte mit der Verteidigung der jungen Leute zu betrauen, ohne dass – Verschwiegenheitspflicht hin, Verschwiegenheitspflicht her – in Kürze unsere ganze Stadt davon gewusst hätte, noch wollte er die jungen Leute, in deren Schicksal er ohne sein wirkliches Dazutun vielleicht doch radikal eingegriffen hatte, ihrer eigenen herausfordernden Ungeschicklichkeit überlassen. Jedlicka aber habe an der Angelegenheit ein ganz unerklärliches Interesse genommen und sich geradezu aufgedrängt, den Fall selbst zu übernehmen.

So weit mein Freund Ermar.

Jetzt hatte ich ihn, den Grund, den ich instinktiv gesucht und nie gefunden hatte, den Grund oder meinetwegen auch nur den Vorwand, warum ich an Jacobis Auftrag, einen Report über den »Fall« zu schreiben, nicht froh werden konnte. Und das war die Gelegenheit, den Auftrag ehrenvoll zurückzulegen und loszuwerden: In einer so undurchsichtigen Angelegenheit, in die zwei meiner engsten Freunde auf zumindest seltsame Weise verwickelt waren, konnte ich nicht recherchieren und möglicherweise enthüllen. Ich hatte mich für befangen zu erklären. Und Jacobi hatte das einzusehen!

Was dann also der »Fall«, über den es nun kein Buch, keinen Report, keine Dokumentation geben würde, mit den Ereignissen zu tun hat, die »manche in große Erwartung«, die meisten freilich nur »in stumpfe Bestürzung« versetzten, wie zu Beginn dieses Berichts angedeutet worden war? So viel jedenfalls, als auch ich nicht zu sagen wüsste, wann und wie es zur Entstehung jenes Gebildes kam, das ich und viele andere später »den Bund« nannten, wann und wie zur Entfaltung seiner zuletzt nur noch blindwütigen Aktivitäten.

Und vielleicht müsste man antworten: Mit einem allmählichen, anfangs kaum merkbaren Aus-dem-Rhythmus-Geraten ganz nebensächlicher Einzeldaten, mit einer gewiss nicht messbaren Verdickung im Raum-Zeit-Kontinuum, mit einer Art Verklumpung im Blutstrom unserer Stadt.

Erster Teil

1

Ein Berufsrevolutionär

»Eine Verklumpung im Blutstrom unserer Stadt …« Die Diagnose stammte nicht von mir. Jacobi hat das ausgesprochen, als ich ihn aufsuchte, um den mir unheimlich gewordenen Auftrag endlich mit gutem Grund loszuwerden.

Dem war ein Telefonat vorausgegangen, aus dem ich nicht recht klug wurde. Zuerst schien sich Jacobi überhaupt nicht zu entsinnen, um welches Buch es sich da handelte, welchen Auftrag ich zurücklegen wollte; auch er, ließ er durchblicken, wollte nichts mehr mit Büchern zu tun haben – jedenfalls eine reichlich seltsame Einstellung für einen Verleger. Ein Zurücklegen meines Auftrags, auch nur ein Zurückstellen käme aber überhaupt nicht in Frage. Auf mein Beharren reagierte er mit Ärger und Ungeduld, ja er wurde nachgerade heftig. Es fiel das Wort »Desertion«, viel zu bedeutungsschwer für eine geschäftliche Abmachung wie die unsere. Aber wenn der Report nicht als Buch veröffentlicht, ja überhaupt nichts mit Büchern zu tun haben sollte, wozu brauchte er dann das Manuskript? Erstens, erwiderte er, hätte er nicht gesagt, er wollte den Report nicht veröffentlichen, sondern nur, dass es im Augenblick Wichtigeres gäbe, als Bücher herauszubringen. Als gäbe es nicht andere, strategisch wirksamere Formen von Veröffentlichung! Zweitens käme es auch nicht auf die Veröffentlichung an sich an, sondern auf die Gesinnung, wenn ich begriffe, was das sei. Drittens wäre dies offenbar kein Gespräch fürs Telefon. – So hatten wir schließlich einen Termin für eine persönliche Aussprache vereinbart.

Der Hinweis auf die Gesinnung war ganz schön scharf geschossen und lag gar nicht auf Jacobis sonstiger Linie. Zwar konnte er schon mal unhöflich werden, aber er blieb stets gewinnend. Gewinnend – vielleicht war dieses Wort überhaupt der Schlüssel zu seiner Person. Denn immer wollte er gewinnen: Freunde, Mitarbeiter, Frauen; bei einer Versteigerung, in Umsatzstatistiken, ja sogar beim Spiel. Und weil er gewinnen musste, konnte er nicht verlieren, am wenigsten Zuneigung. Nicht einmal die von Konkurrenten, Feinden oder sogar Beleidigern.

In letzter Zeit war indes eine Veränderung mit ihm vorgegangen. Das mochte damit zusammenhängen, dass er vor etwa fünf oder sechs Wochen – das war ungefähr seit den Ereignissen in der Egydiuskirche – begonnen hatte, eine vielseitige Aktivität zu entfalten. Widersprüchliches war darüber zu hören. Zuerst hieß es, er suche einen Käufer für seinen Verlag, den er vor etwa zehn Jahren von seinem Onkel geerbt und von einer unbekannten Provinzklitsche (Bauernkalender, Heimatliteratur und eine Reihe »Der perfekte Waidmann«, »Der perfekte Schachspieler«, »Der perfekte Automechaniker«) zu einem Unternehmen von einer weit über das Lokale hinausgehenden Bedeutung gemacht hatte. Dies war Jacobi mit einem Programm progressiver Belletristik, vor allem aber mit einer Serie von Sachbüchern gelungen, die vor zehn Jahren mit Naturwissenschaften begonnen hatte und seither immer mehr zu Soziologie und Politologie abgeschwenkt war, mit zunehmender Radikalisierung der Stimmen, denen hier Gehör verschafft wurde. Indessen schien sich ein geeigneter Käufer nicht zu finden, was jedoch nicht an einem Mangel an Interessenten gelegen haben dürfte, wie sich später herausstellte. Vielmehr betrieb Jacobi stattdessen plötzlich und sehr hektisch die Umwandlung seines Unternehmens in eine »Kurt Jacobi und Genossen AG«; es ließ sich später nicht ermitteln, wer die Genossen, wer die Aktionäre hätten sein sollen.

Gleichzeitig bemühte sich Jacobi, an dessen solider finanzieller Basis damals kaum jemand Zweifel hegte, in jenen turbulenten Märztagen sehr ernsthaft um eine Mehrheitsbeteiligung an einer nicht mehr ganz modernen, aber über gute Ausbaumöglichkeiten verfügenden Rotationsdruckerei, und schließlich verlautete, Jacobi trage sich mit dem Gedanken, eine Zeitung zu gründen. Wenn auch viele dieser Nachricht keinen Glauben schenken wollten, so wies doch mein Telefongespräch mit ihm wieder sehr deutlich in diese Richtung. Zweifellos wollte er den Report über den »Fall« für die Zeitung, an die er dachte. Und das Wort Gesinnung war in unserem Gespräch gewiss nicht zufällig gefallen. Denn neben all den hektischen Aktivitäten dieser Wochen fand Jacobi noch Zeit zum Besuch zahlreicher Versammlungen und Diskussionen, meist linker Gruppen, wenngleich er dort fast stets schweigender Zuhörer blieb; auch unternahm er einige Reisen ins Ausland, eine davon mit Ermar, zwei in Begleitung von Thea Bosch, seiner Sekretärin, oder als was immer man sie bezeichnen wollte.

Welche Unruhe peinigte ihn? Wovon, von wem wurde er gejagt?

Unser gemeinsamer Freund Ermar pflegte zu behaupten, es wäre Thea Bosch gewesen, die Jacobi zum Radikalen gemacht hätte. Aber hier erhebt sich schon die erste Frage: Radikal – in welcher Richtung? Und war Ermar selbst nicht ebenso sehr ein Radikaler, zumindest wenn man radikal mit kompromisslos gleichsetzt. Und was Thea Bosch betrifft, so ließ sich belegen, dass Kurt Jacobi sie zumindest ebenso antrieb, einem noch unbekannten Ziel entgegen, wie sie ihn.

Als ich mich zwei Tage nach unserem Telefonat bei Jacobi meldete, erwartete er mich auf dem Korridor vor seinem Arbeitszimmer.

Kurt Jacobi war damals eben vierzig Jahre alt geworden, gerade noch schlank, wenn er auch aus Veranlagung eher zur Vierschrötigkeit neigte, und mit einem zweifellos ausdrucksvollen Gesicht, in dem ein stark entwickeltes, energisch vorspringendes Kinn und ein wenig wässrige Augen seltsam kontrastierten: Man konnte ihn für einen Täter halten – oder für einen Träumer. Manche spöttelten, besonders Frauen gefiele dieser Gegensatz. Jedenfalls – und das habe ich bereits angedeutet – verstand er mit untrüglicher Sicherheit, um Sympathie zu werben, Sympathie zu wecken … und Sympathie auszunutzen. War es ein Fluidum, eine angeborene Begabung, ein Trick? Er handhabte es jedenfalls wie eine erotische Praktik, routiniert, aufmerksam und erfolgsgewohnt.

Jacobis Arbeitszimmer lag zusammen mit einigen anderen Büroräumen im ersten Stock eines villenartigen Hauses. Büros gab es auch im Hochparterre; im Keller befanden sich ziemlich große Lagerräume und – eines von Jacobis Hobbys – ein betonierter Schießstand; im zweiten Stock sodann Jacobis Privatwohnung, die er auch für Empfänge benutzte. Und darüber schließlich noch eine Mansarde, in der er sich eine kleine Funkstation einrichten wollte – ein Vorhaben, zu dem es nicht mehr kam und das im Übrigen von Anfang an eher absurd erschien, wenn man weiß, wie dürftig Jacobis Beziehungen zur Technik oder jedenfalls zur technischen Seite der Elektronik stets gewesen waren. Und zu Nachrichten, welcher Art immer, hätte er auf anderen Wegen schnelleren und einfacheren Zugang gehabt, insbesondere wenn er seinen Plan, eine Zeitung zu gründen, verwirklichen hätte können.

Die einzelnen Stockwerke waren, wie häufig in Häusern, die um die Jahrhundertwende erbaut worden waren, durch eine aufwendige Treppe verbunden, die in der Mitte des Hauses eine dreigeschossige Halle schuf. Sowohl in der Wohnung als auch in den Büroräumen und im Treppenhaus hingen moderne Grafiken, die Jacobi regelmäßig austauschte. Später stellte sich heraus, dass sie gar nicht ihm gehört hatten, sondern einem mit ihm befreundeten Galeriebesitzer, der auf diese Weise Jacobi gefällig war und sich selbst zugleich ein Lager ersparte. Und wenn hier schon Inventur gemacht wird: Auch das Haus war nicht, wie die meisten angenommen hatten, Jacobis Eigentum, sondern gleichfalls nur gemietet.

Dennoch habe ich die Beschaffenheit des Hauses und seiner Räume nicht etwa darum ausführlich geschildert, weil diese im weiteren Verlauf der Geschehnisse noch eine besondere Rolle spielen würden – das tun sie nur am Rande –, sondern weil dieses Haus über Jacobi vielleicht mehr Aufschluss gibt als eine Biografie. Es muss ihm nämlich schon mehr als eine Marotte, nämlich gleichsam ein existenzielles Bedürfnis gewesen sein, Dinge, Ereignisse, ja selbst Menschen austauschbar zu halten und als Mehrzweckdinge, Mehrzweckereignisse, Mehrzweckmenschen zu gebrauchen. Ein Büro, das zugleich Galerie, eine Wohnung, die Büro, ein Treppenhaus, das Filmvorführraum war und ein Schießstand, der zugleich als Magazin diente und umgekehrt. Eine Druckerei, die eine Zeitung finanzierte, oder eine Zeitung, die eine Druckerei beschäftigen sollte. Gefälligkeiten, die man erwies und aus denen man zugleich Vorteile zog, Freunde, die man beschenkte und zugleich ausnutzte, die Sekretärin, die auch Geliebte war -und all dies, ohne dass eins dem anderen Abbruch getan hätte.

Jacobi begrüßte mich also vor seinem Arbeitszimmer, und meine Hand in der seinen behaltend, flüsterte er: »Wir werden nicht allein sein. Er ist schon da!«

»Wer?«

»Kastner!«

Kastner, das war der Mann, der die Geschichte mit der Egydiuskirche an die Öffentlichkeit gebracht hatte. Was sollte er bei unserem Gespräch? Aber ich verstand jetzt, warum mich Jacobi vor der Tür abgefangen hatte.

»Was halten Sie von ihm?«, fragte Jacobi, schon die Hand auf der Klinke.

»Als Journalist?«

Er lächelte finster. »… als Landsknecht!«

Es war klar, dass Kastner irgendwie in Jacobis Pläne einbezogen werden sollte. Aber mehr wollte Jacobi jetzt nicht sagen; oder vielleicht war es auch die Zeit, die ihn drängte.

»Wir sprechen nachher noch allein weiter!«

Er fasste mich unter dem Arm und zog mich ins Zimmer.

Kastner saß in einem Fauteuil vor Jacobis Schreibtisch, tief in den Sitz gerutscht, mit weit ausgestreckten und gespreizten Beinen, den einen Arm als Kissen halb unter den Kopf geschoben – mit einer demonstrativen Ungezogenheit, hinter der sich angespannte Neugierde und Aufmerksamkeit verbargen. Wie ich später erfuhr, wollte Jacobi Kastner als Lokalchef gewinnen, unter Zusage einer generösen Erhöhung seiner bisherigen Bezüge. Kastner hingegen machte sich Hoffnungen auf den Stuhl des Chefredakteurs. Ich halte Kastner für einen ausgezeichneten Journalisten, einen leidenschaftlichen Rechercheur, einen flinken Schreiber, für einen ganz passablen Ressortchef – aber damit ist er wohl am Zenit seiner Kompetenz angelangt. Zum Chef eines Blattes wird er sich aus vielerlei Gründen nicht profilieren können.

Im Übrigen war Kastner alles eher als ein dummer Mensch – nur an irgendeinem Punkt seines Wesens seltsam geknickt, verbogen, vielleicht gebrochen, was ihn in manchen Situationen unerwartet unklug handeln ließ.

Derselbe Knick, derselbe Bruch zeigte sich auch, wenn man so will, an seiner äußeren Erscheinung. Er war ein gut aussehender Mann, mittelgroß und schlank, mit einem leidlich hübschen Gesicht, sofern das bei einem Mann von Belang ist. Aber um seinen Mund lag ein seltsam verkniffener Zug, ein schon zur Gewohnheit gewordenes schiefes Lächeln, das sein Gesicht manchmal geradezu verunstaltete. Und ich bin kaum jemand begegnet, der an diesem Lächeln nicht Anstoß genommen hätte, mochten es die einen dreist oder zynisch nennen, die anderen tölpelhaft, idiotisch oder schlicht unangenehm.

»Sie kommen gerade zur rechten Zeit!«, rief Kastner, nachdem er sich lässig nur halb aus seinem Sitz erhoben hatte, um mir seine Hand entgegenzustrecken, die ein wenig feucht war, wohl von versteckter Aufregung, und ohne Druck. »Tatsächlich wie gerufen«, fügte er hinzu, als wäre er hier der Hausherr, der mich erwartet hatte. »Man hat mir eben eine skurrile Frage gestellt«, erläuterte er. Sein auf Jacobi gerichteter Zeigefinger ließ nicht im Unklaren, wer »man« war. »Eine überaus skurrile Frage: Wie kommt ein Mensch eigentlich zur Zeitung?«

Er brach in ein unfrohes Lachen aus. Alles, sein Lachen, seine Frage, seine Anwesenheit versetzten mich in eine unbestimmte Wut. »Wahrscheinlich, weil er zu keinem anderen Beruf getaugt hat!«, antwortete ich.

»Sehr gut!«, lobte er hämisch. »Sehr gut! Aber im Ernst: Wir kennen diese blödsinnigen, stereotypen Antworten: Weil er in der Schule gute Aufsätze geschrieben hat! Oder weil er sich für Politik interessierte, aber sich nicht genug Ellenbogen zutraute, mitzustoßen! Oder weil er Schriftsteller werden wollte und über dem Schreiben von Kurzgeschichten unversehens in die Gerichtssaalberichterstattung geraten war. Weil er sich zum Musiker berufen fühlte, aber bei einem Unfall den kleinen Finger der linken Hand eingebüßt hatte. Vielleicht auch, weil er meinte, man müsste den Leuten endlich die Wahrheit sagen. Die Wahrheit – wie finden Sie das? Ausgerechnet die Wahrheit!«

Er begann abermals laut zu lachen, aber als er sah, dass Jacobi keine Miene verzog, brach er sein Gelächter unvermittelt ab – »Als hätte er einen Bogen Papier mit einem angefangenen, aber misslungenen Satz aus der Schreibmaschine gezogen und zerknüllt in den Papierkorb geworfen«, beschrieb Jacobi später Thea die Szene.

»Wozu reden wir überhaupt davon?«, fragte Kastner übel gelaunt. »Ist es nicht völlig gleichgültig, wie jemand zur Zeitung gekommen ist und warum er diesen Weg gesucht hat oder darauf gestoßen worden ist? Gehört er einmal dazu, dann ist es, als wäre er bei einem Orden. Das ist der Punkt!«

»Bei einem Orden mit reichlich freien Regeln!«, warf Jacobi ein.

»Regeln?«, rief Kastner. »Wer fragt nach Regeln? Auf seine Realität kommt es an. Und ich will Ihnen sagen, was ich unter der Realität eines Ordens verstehe!« Er machte eine kunstvolle Pause und sagte feierlich: »Die Realität eines Ordens ist nicht das Gesetz, das er sich selbst gibt. Sondern das Gesetz, das die anderen in ihm vermuten! Nicht die Macht, über die er verfügt. Sondern die Macht, die ihm die anderen zutrauen! Nicht seine Predigt, sondern sein Geheimnis!«

Jacobi sah ihn aufmerksam an, erwiderte aber nichts.

»Langweile ich Sie?«, rief Kastner besorgt. »Schwenke ich zu sehr ab? Keine Sorge, ich bleibe bei der Sache, durchaus bei der Sache, ich bleibe bei unserem Orden. Nach außen hin sieht das aus wie die Berufskumpanei, die sich zum Ethos stilisiert. Den Orden macht also scheinbar der banale Alltag: morgens um halb fünf aufstehen und in die Redaktion fahren wie zum Morgengebet … oder der perverse Dauerrausch, den jeder von uns kennengelernt hat: dass man gehasst und trotzdem umbuhlt wird!«

Er lächelte schief, aber Jacobi blieb unbeeindruckt, und Kastner sprach schnell weiter: »Mit der Zeit merkt jeder in diesem Orden, dass er über Macht verfügt. Er merkt, dass er die Welt verändern kann, zumindest die kleine Welt einer Stadt, eines Bezirks, einer Straße. Und er verändert sie, ob er nun seine Nachricht bringt oder ob er sie unterdrückt. Er kann tun, was immer: Er hat etwas bewirkt! Er hat – auch durch Verschweigen – etwas in die Welt gesetzt. Schweigend wächst es wie ein Samenkorn, doch manchmal kann man es auch ticken hören wie eine Höllenmaschine.«

»Also Macht!«, sagte Jacobi endlich. »Ich habe verstanden! Aber was fängt man an mit dieser Macht?«

»Genau!«, fiel ihm Kastner scheinbar erleichtert ins Wort. »Sie haben mich verstanden! Was fängt man an mit dieser Macht? Weiß man, wie man die Welt verändern soll? Weiß man, wie man sie verändern will? Wissen Sie es?«, wandte er sich abrupt an mich.

Ich zuckte die Achseln.

»Und Sie?«, fragte Jacobi.

»Anfangs wusste ich es!«, erwiderte Kastner. »Das heißt, anfangs dachte ich, ich wüsste es! Ein junger Mann, der zu einer Fahne eilt! Was für eine glückliche Zeit! Aber wo ist die Fahne geblieben? Wo? Das wäre eine lange Geschichte, und Sie kennen sie genauso wie ich! Also kurz und gut: Die Fahne ist weg – nur die Waffen sind geblieben. Das ist wie bei den Condottieri der Renaissance. Die hatten die Macht, keine Frage! Aber was fingen sie damit an? Sie verkauften sich. Sie wurden Berufssoldaten!«

»Sie fühlen sich also als Berufssoldat?«, ließ sich Jacobi vernehmen.

»Nicht Soldat!«, rief Kastner. »Nicht Soldat! Was mich betrifft, so wollte ich – nach meiner Lehrzeit im Orden – Revolutionär sein. Keine Frage, dass die Welt wert war, verändert zu werden. Keine Frage, dass ich die Macht hatte, sie zu verändern – wie gesagt, in dem winzigen Winkel, über den ich verfügte, aber immerhin …! Aber was für eine Revolution sollte das sein? Die Fahne … es gab ja keine mehr! Welche neuen Lügen sollten also die alten ersetzen? Mit einem Wort: Ich bin Berufsrevolutionär! Nicht Berufssoldat, sondern Berufsrevolutionär! Sie sehen, ich mache Ihnen nichts vor!«

Er lehnte sich zurück, ein wenig selbstgefällig über diese Bemühung um Objektivität. Ich fragte mich, was Kastner zu dieser Selbstentblößung veranlasste, und Jacobi, ihn dazu herauszufordern, und vor allem, warum er mich dieser Vorstellung zugezogen hatte. Jedenfalls nickte Jacobi zu Kastners Worten. Ich verstand nicht, was ihn daran so befriedigte, aber Kastner merkte die Zustimmung und fuhr fort:

»Es gibt keinen Idealismus ohne Illusionen. Ich jedoch habe meine Illusionen zu Grabe getragen. Bald schmerzlich gebeugt, bald in stolzer Trauer. Der Hinterbliebene darf jetzt behaupten: Tränen kennt er schon lange nicht mehr! Und wer nichts mehr zu verlieren hat, wird leichten Herzens bereit sein, reinen Tisch zu machen. Vielleicht wird das zur letzten, zur einzigen Faszination, der er noch erliegen kann: dass die Welt, das Leben noch einmal von vorne anfangen muss, am absoluten Nullpunkt!«

»Aber das ist doch auch wieder nur eine Illusion!«, rief ich.

»O gewiss!«, erwiderte Kastner zynisch. »Die Illusion, die sich auch ein Maschinengewehr macht … die Illusion einer Atombombe! Und weil wir von Idealismus sprachen: Idealismus kann die Welt aus den Angeln heben, da haben Sie recht!« – Ich hatte das gar nicht behauptet. – »Aber nur für kurze Zeit. Dann plumpst die Welt wieder in ihre alte Achse zurück. Das ist das Problem des Idealisten! Wo ist er dann geblieben? In der Luft hängend? Oder mit der alten Welt in die alte Grube gefallen? So ist das, wenn Sie ein Heer von Idealisten in den Kampf schicken. Anfangserfolge. Und dann? Der große Katzenjammer! Berufssoldaten sind verlässlicher. Die rücken langsam vor, säubern das Gelände, Schritt für Schritt, warten auf den Tross, bevor sie weiterziehen. Vor allem: Sie lassen nichts hinter sich, was gefährlich werden könnte – und gefährlich werden kann alles! Darum – Tabula rasa!«

Das Wort schien ihn in Ekstase zu versetzen. Seine Augen glühten, und er musste einige Male schlucken – »Wie ein Perverser bei der Vorstellung einer wehrlosen, nackten Frau!«, höhnte Jacobi später Thea gegenüber.

Als hätte er Jacobis Gedanken erraten, wurde Kastner jedoch plötzlich ärgerlich und rief: »Lachen Sie nicht! Ich weiß, was ich sage! Wie der Berufssoldat hat auch der Berufsrevolutionär sein Handwerk gelernt. Das unterscheidet ihn vom Idealisten, der nichts in Händen hält, wenn er auf die Barrikaden steigt, nichts als Träume. Was mich betrifft: In zwanzig Jahren Dienst bei der Zeitung habe ich gelernt, wie man mit einem Minimum an Aufwand eine Schiene aufreißt, wie man Sprengsätze anbringt, die keiner entdeckt, und wie man sie aus der Ferne zündet. Ich verstehe mich auf Nervengas ebenso wie auf Molotow-Cocktails, wenn es sein muss. Das sind natürlich nur Metaphern, aber Sie begreifen, was ich meine. Und all das mit einem Nichts an Ausrüstung: ein Telefon und eine Schreibmaschine – c’est tout!«