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Für Ingrid und Martin,

Dorothea und Carola.

Mille grazie!

Lillis Plan

Ein Eiscafé im Regen sieht traurig aus.

Die Blumen, die Rosannas Mutter im Hof gepflanzt hatte, ließen die nassen Köpfe hängen, und Blütenblätter schwammen in den Pfützen. Die übereinandergestapelten Stühle setzten Moos an und auf den Tischen klebte Vogeldreck. Vier Wochen schon tropfte und triefte der Himmel, als würde er nie mehr damit aufhören.

Rosanna saß unter einem klitschnassen Sonnenschirm, kaute auf ihrem Füller herum und wartete auf Lilli. Sie wollten zusammen Schularbeiten machen, aber Lilli kam wieder mal zu spät.

Rosannas fetter Kater Ramses lag auf dem Tisch, die Augen fest geschlossen, die Beine von sich gestreckt. Ärgerlich schubste Rosanna seine Hinterpfoten vom Mathebuch und klappte es auf.

Klatsch, platsch, da kam jemand über den Hof gehüpft. Von einer Pfütze in die nächste.

»Bananeneis, Zitroneneis, Erdbeer, Schokolade!«, sang Lilli. »Mann, ich weiß nicht, was die Leute haben. Mir schmeckt Eis bei Regen ganz besonders gut.«

»Wie viele Kugeln hat Mama diesmal in dich reingestopft?«, fragte Rosanna. Ihre schlechte Laune war nicht zu überhören.

»Nur vier.« Lilli schüttelte ihr nasses Haar wie ein Hund. »Warum sitzt du denn bei dem Wetter hier draußen?«

»Na, bei welchem Wetter denn sonst? Es ist schließlich Frühling, oder?« Rosanna tippte auf ihre Uhr. »Wir haben drei Uhr gesagt.«

»Ja, ja, aber …« Lilli zog sich einen nassen Stuhl heran, legte ihre Schultasche drauf und setzte sich. »Ich musste den hier noch fertig machen. Guck mal.«

Stolz hielt sie Rosanna ihr Ohr hin.

»Schon wieder ein neuer Ohrring? Was soll das sein? Ein Vogel?«

»Nein, eine Hexe natürlich.« Beleidigt zog Lilli ihr Kunstwerk aus dem Ohr und betrachtete es. »Das sieht man doch!«

»Ich nicht. Erkennst du das, Ramses?«

Müde hob der Kater den dicken Kopf, gähnte, sah Lilli an – und schlief weiter.

»Warum guckt dein Kater mich bloß immer so komisch an?«, fragte Lilli.

»Er riecht deinen blöden Hund.« Ungeduldig schob Rosanna Lilli das Mathebuch hin. »Da. Die Aufgabe 3 a bis e. Verstehst du die?«

Lilli zuckte die Schultern und spielte mit ihrem Ohrring herum. »Hier draußen kann ich das sowieso nicht. Der Regen läuft mir schon den Rücken runter. Da«, sie zeigte zum Schirm hoch. »Da leckt es schon durch.«

»Alles klar, schon verstanden!« Rosanna packte ihre Sachen zusammen, schubste den Kater vom Tisch und klappte den Schirm zu. »Du willst rein für die nächste Portion Eis.«

»Stimmt überhaupt nicht!«, rief Lilli. »Ich will was Wichtiges mit dir besprechen!«

»Du hast wieder Ärger mit deinen Schwestern.«

»Nein.«

Durch den strömenden Regen rannten sie zum Haus. Ramses überholte sie auf halber Strecke.

»Dann hast du ein neues, obergeheimes Hexenbuch«, sagte Rosanna und ließ den nassen Kater ins Café. Obwohl ihr Vater es verboten hatte.

»Quatsch, Quatsch, Quatsch.« Lilli hängte ihre tropfende Jacke an die Garderobe und setzte sich an einen der leeren Tische.

Im Café war nur ein einziger Gast. Ein dicker Mann, der seinen Pudel mit Eis fütterte. Aus dem Radio kam italienische Opernmusik. Der dicke Mann summte leise mit. Als Ramses den Hund sah, flüchtete er fauchend zu Rosannas Eltern hinter den Tresen.

»Rosanna!«, rief ihr Vater. »Schaff den Kater hier raus.«

»Gleich, gleich.« Rosanna warf ihm eine Kusshand zu. Das stimmte ihn meist friedlich.

»Ist dein Kater immer so feige?«, fragte Lilli.

»Der hat sogar Angst vor Vögeln. Wieso?«

»Wegen Freitagnacht!«, flüsterte Lilli geheimnisvoll.

Rosanna verstand kein Wort.

»Na, die Walpurgisnacht!«, zischte Lilli und zeigte auf ihren Ohrring. »Da brauchen wir auf jeden Fall einen Kater. Und deiner ist besser als gar keiner. Selbst, wenn er ein Feigling ist.«

»Fallpurkisnacht. Was soll das denn sein?«

»Pssst!«, zischte Lilli.

Mit einem freundlichen Lächeln und einem großen Becher Erdbeereis kam Rosannas Mutter auf sie zu.

»Da, kleine Lilli!«, sagte sie. »Lass es dir schmecken.«

Rosannas Mutter nannte Lilli immer nur die kleine Lilli, obwohl sie selber nicht allzu groß war. Rosannas Mutter war Italienerin, aber Rosanna hatte leider nur die schwarzen Haare von ihr geerbt. Ansonsten war sie käseweiß wie ihr deutscher Vater und die große Nase hatte sie auch von ihm. Er bestritt das allerdings.

Die kleine Lilli verschlang ihr Eis so schnell, dass Rosanna schon schlecht vom Zusehen wurde. Ramses schlich hinter dem Tresen hervor und sprang neben Lilli auf den Stuhl. Ramses liebte Eis ebenso sehr wie Lilli.

Seufzend zog Rosanna wieder ihr Mathebuch aus der Schultasche und betrachtete Aufgabe 3 a bis e. Ohne Erfolg.

Sobald Rosannas Mutter wieder hinter dem Tresen stand, stieß Lilli sie an. »In der Walpurgisnacht tanzen die Hexen«, flüsterte sie. »Das machen wir auch!«

»Was?«

»Na, tanzen. Mit Besen und Kopftüchern. Um ein Feuer und einen Kessel herum. Wie richtige Hexen!«

Lilli war so begeistert von ihrer Idee, dass sie sogar ihr Eis vergaß. Besorgt sah Rosanna sie an. Seit einem Monat hatte Lilli diesen Hexentick. Von ihrer größten Schwester abgeguckt, vermutete Rosanna. Lilli las nur noch Hexenbücher, beklebte ihre Zimmerwände mit Hexenbildern und schleppte ständig ein Hexenkartenspiel mit sich herum, das sie ihrer Schwester geklaut hatte. Aber so was Verrücktes wie diesen Hexentanz hatte sie noch nie vorgeschlagen.

»Und wozu brauchst du Ramses?«, fragte Rosanna. »Soll das der Hexenbraten werden?«

»Quatsch!« Lilli zog Ramses’ Pfote aus ihrem Eis. »Ich hätte lieber meinen Hund dabei. Das kannst du mir glauben. Aber Hexen haben nun mal Katzen. Leider.«

»Aha, und was machen die so, diese Katzen?«

Der dicke Mann mit dem Pudel stand auf. Mit einem Satz verschwand Ramses unter dem Tisch und fauchte.

Lilli winkte lässig ab. »Ach, die müssen gar nichts machen. Nur da sein eben. Ein bisschen rumschleichen und vielleicht mal miauen oder so.«

»Das schafft er gerade noch.« Rosanna fischte Ramses unter dem Tisch hervor und kraulte ihn zärtlich hinter den Ohren. »Aber …«, mit spöttischem Lächeln schob sie Lilli das Buch hin, »wir zwei machen nur mit, wenn du Aufgabe 3 a bis e rauskriegst.«

»Ich wusste, dass du das sagst!« Kichernd zog Lilli einen Taschenrechner aus ihrer Schultasche. »Von meiner größten Schwester. Die Aufgabe hab ich mir auch von ihr erklären lassen. Ist nur eine Frage von Minuten.«

Viel länger dauerte es wirklich nicht.

Ärgerlich guckte Rosanna sich die Ergebnisse an. »Sieht richtig aus«, murmelte sie. »Na, dann müssen wir wohl mitmachen bei diesem Waldpurkisdingsbums. Was sagst du dazu, Ramses?«

Der Kater sah nicht sehr begeistert aus. Aber das konnte auch daran liegen, dass Lilli ihn nicht mal ihren Eisbecher auslecken ließ. Das übernahm sie selber.

Rote Haare

Stattfinden sollte der Hexentanz in Lillis Garten. Zwischen wilden Rosen, im kniehohen Gras. Seit Lillis Vater beim Rasenmähen eine Kröte überfahren hatte, hielt er nichts mehr davon. Und die Wiese wuchs, wie sie wollte. Absolut hexenmäßig fand Lilli das. Aber wie sie in dem feuchten Urwald ein Feuer ankriegen wollte, war Rosanna schleierhaft.

Am Donnerstagnachmittag besuchte sie Lilli wegen der letzten Vorbereitungen. Was immer damit gemeint war. Lilli hatte sich da sehr geheimnisvoll ausgedrückt.

Natürlich regnete es wieder. Wie gestern. Wie vorgestern. Wie vor drei Wochen. Rosanna stieß das gusseiserne Gartentor auf und kämpfte sich durch triefende Zweige und Rosenranken zur Haustür durch. Wenn es nicht gerade regnete, war Rosanna sehr gern in Lillis Garten. Wie ein verwunschenes Land war er, voller Überraschungen und geheimnisvoller Geräusche. In diesem Frühling war er einfach nur nass.

Wie immer klingelte Rosanna und machte dann hastig zwei Schritte zurück. Lautes Bellen, die Tür flog auf, und sie hatte zwei Pfoten auf den Schultern und eine Riesenzunge im Gesicht.

»Komm rein!«, rief Lilli von irgendwo her, aber das war leichter gesagt als getan.

Rosanna hatte dem Hund – sie nannten ihn grundsätzlich nur »Hund«, obwohl er Zorro hieß –, Rosanna hatte dem Hund schon tausendmal gesagt, dass sie ihn nicht mochte. In die blöden Schlappohren hatte sie es ihm gebrüllt. Aber das schien seine Liebe nur noch heftiger zu entfachen. Und einfach wegschieben wie Ramses ließ er sich nicht. Zehn feuchte, stinkige Hundeküsse bekam Rosanna verpasst, bevor er endlich seine Pfoten von ihren Schultern nahm und sie durch die Tür ließ. Schwanzwedelnd lief er ihr zu Lillis Zimmer voraus, vorbei an den Türen von Lillis drei älteren Schwestern, vorbei an der Küche, in der Lillis Vater gerade eins seiner berüchtigten Gerichte kochte.

»Hallo!«, rief er. »Lilli ist in ihrem Zimmer. Willst du nachher mitessen? Spinatkuchen mit Tomatenmousse. Ich probier ein neues Rezept aus.«

Das tat er immer. »Nein, danke«, sagte Rosanna. »Ich bin auf Diät.«

»Was? Wirklich?« Lillis Vater guckte überrascht. Er war sehr nett, ja, wirklich sehr, sehr nett. Aber ständig kochte er Sachen, die Kinder nicht zu schätzen wissen. Und er kochte jeden Tag, denn Lillis Mutter war Ärztin und kam immer erst abends nach Hause. Rosanna konnte verstehen, dass Lilli ständig Hunger hatte.

Lässig stieß Zorro mit seiner dicken Schnauze Lillis Tür auf und trottete ins Zimmer. Für Rosanna blieb nicht mehr viel Platz.

Lilli saß an ihrem Schreibtisch und summte »Der Mai ist gekommen« vor sich hin.

»Ich dichte uns gerade ein Hexenlied«, sagte sie. »Bis morgen Abend musst du es auswendig können.«

Erst tanzen und jetzt auch noch singen!

»Ich kann nur brummen«, sagte Rosanna. Entschlossen drängte sie sich an Zorro vorbei und ließ sich auf Lillis Bett fallen. Schmatzend legte der Hund sich neben sie.

»Hau ab!« Aber sosehr Rosanna auch schubste und schob, Zorro gab ihr nur einen entsetzlich nassen Kuss und blieb liegen.

»Singen müssen wir auf jeden Fall«, sagte Lilli. »Je falscher, desto hexenmäßiger.«

»Die Hexen in den Märchen singen aber nie«, stellte Rosanna fest. »Da singen immer bloß die Prinzessinnen. Oder Rumpelstilzchen.«

»Ach, das sind doch keine richtigen Hexen«, sagte Lilli. »Die sind alle hässlich und fressen Kinder und so was. Alles Quatsch! Hexen sind toll. Ganz toll.« Lilli senkte die Stimme. »Ich glaub, in einem früheren Leben war ich auch mal eine. Echt!«

Rosanna verdrehte nur die Augen. »Hatte eine von deinen Schwestern nicht mal einen Hexenfimmel?«

»Mit meinen Schwestern hat das gar nichts zu tun«, sagte Lilli schnippisch. Knallrot wurde sie.

Ihre Schwestern waren ein wunder Punkt. Wenn Rosanna Lilli ärgern wollte, brauchte sie nur zu sagen: »Genau wie deine Schwestern.« Schon war für ein paar Minuten Funkstille. Und weil Lilli manchmal pausenlos redete, konnte das ganz angenehm sein.

Auch diesmal war es nicht anders. Stumm und schmollend dichtete Lilli ihr Hexentanzlied weiter. Als Rosanna ihr über die Schultern gucken wollte, hielt sie ihre Hand auf das Blatt und schob es in ein Heft.

»Ist noch nicht fertig. Aber komm, du musst mir bei was helfen.« Sie fischte eine schmale Schachtel unter ihrem Bett hervor und zog Rosanna ins Bad. Zum Glück wollte Zorro nicht mit.

»Guck mal, hab ich heute besorgt!«, flüsterte Lilli und zog eine große Tube aus der Schachtel. »Mein halbes Taschengeld ist dafür draufgegangen. Da. Es reicht für uns beide. Obwohl ich nicht weiß, ob es bei schwarzen Haaren wirkt.«

»Was ist das denn?« Ratlos drehte Rosanna die Tube hin und her. Aber Lilli hielt schon ihre ellenlangen Haare unter die Dusche und hörte nichts mehr.

»Komm her!«, sagte sie. »Schmier mir die Hälfte auf die Haare. Wie Shampoo.«

»Du willst dir die Haare färben!«, rief Rosanna entgeistert. »Bist du verrückt geworden? Deine schönen blonden Haare!«

»Hexen haben aber nun mal rote Haare!« Ärgerlich riss Lilli Rosanna die Tube aus der Hand. Schnell wie der Blitz, als hätte sie so was schon hundertmal gemacht, schmierte sie die dunkle Masse in ihr Haar.

Als Lilli das geföhnte Ergebnis betrachtete, wurde sie weiß wie ihr Badetuch. Rosanna konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen.

»Man muss sich erst mal dran gewöhnen«, gab Lilli zu. »Aber es sieht ziemlich hexenmäßig aus, oder?«

»Es sieht ziemlich karottenmäßig aus«, stellte Rosanna fest.

Wütend kniff Lilli die Lippen zusammen. »Ich zeig es jetzt Papa«, sagte sie.

Lillis Vater schnitt gerade Zwiebeln. Mit triefenden Augen sah er sie an. »Wo hast du denn die scheußliche Perücke her?«, fragte er. »Spielt ihr Pippi Langstrumpf?«

»Das sind meine eigenen Haare«, sagte Lilli. »Ich habe sie gefärbt.«

»Du hast was?!« Zack, war das Messer im Finger.

Nachdem Lilli ihren Vater mit einem Pflaster versorgt hatte – wobei er sie die ganze Zeit entsetzt anstarrte –, gingen die Mädchen leicht bedrückt in Lillis Zimmer. »Mag deine Mutter rote Haare?«, fragte Rosanna.

Lilli antwortete nicht. »Wir haben noch nichts anzuziehen«, stellte sie nur fest. »Komm, wir gucken mal bei meinen Schwestern.«

»Wie meinst du das?«, fragte Rosanna beunruhigt. Ihre Nerven waren von der Haarfärberei schon etwas angegriffen.