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Titelseite

Prolog

Ich beobachte sie nun schon eine ganze Weile. Sie scheint sich prächtig zu amüsieren, fährt sich immer wieder durch die langen braunen Haare und lässt ihre strahlend weißen Zähne aufblitzen. Das neben ihr ist wohl ihre beste Freundin – die Arme scheint nicht zu wissen, auf wen sie sich da eingelassen hat. Schauspielern kann sie jedenfalls wie keine andere … Bei jedem Jungen, der an ihr vorbeigeht, senkt sie die Lider, als wäre sie schüchtern. Dass ich nicht lache! Die anderen fallen so leicht auf sie herein, aber mir macht keiner etwas vor. Ich weiß, mit wem ich es zu tun habe: mit einer hinterhältigen und gefühlskalten Schlange. Die mit anderen spielt und sich an ihrem Leiden ergötzt. Oder sie zur Strecke bringt. Doch das wird jetzt ein Ende haben.

Du bist lange genug unbehelligt durch die Gegend gelaufen. Das Lachen wird dir schon bald vergehen. Vielleicht für immer.

1

»Und ihr habt wirklich rumgeknutscht? So richtig, mit Zunge?« Ava verschluckte sich beinahe an ihren Worten, so rasch sprudelten sie heraus.

»Ja, richtig«, antwortete Lily und spürte, wie sich schon wieder dieses dämliche Grinsen auf ihre Lippen stahl, als sie an den Abend mit Travis zurückdachte.

»Jetzt lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen«, drängte Ava. »Ich will Einzelheiten!« Sie nahm einen großen Schluck von ihrer Cola und sah Lily erwartungsvoll an. Dazu trommelte sie ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte, eine Angewohnheit, die Lily wahnsinnig nervte. Das war jedoch schon fast das Einzige, was sie an ihrer besten Freundin störte – ansonsten war Ava ein echter Glückstreffer.

Lily nahm einen Bissen von ihrem Burger, um ihre Antwort wenigstens noch kurz hinauszuzögern, ein letzter intimer Moment, der nur ihr allein gehörte.

»Es war einfach total schön … wir waren erst im Kino, irgendein bescheuerter Actionstreifen mit wenig Handlung, na ja, konzentrieren konnte ich mich sowieso nicht …«

»Und weiter? Wer hat dann die Initiative ergriffen?«

»Hm«, machte Lily. »Erst mal keiner. Zumindest nicht im Kino.«

»Wo denn dann? Mensch, Lily, du bist doch sonst nicht so. Hat es dir vor lauter Glückshormonen die Sprache verschlagen?«

»Haha, lustig! Wir waren hinterher in dieser neuen Bar in der Lake Avenue und da … na ja, irgendwie gab eins das andere und dann hat er sich zu mir rübergebeugt und mich geküsst.«

Ava hörte schlagartig auf zu kauen und riss vor Begeisterung die Augen auf. »Echt? Einfach so? Und wie war’s?«

»Mann, geht’s vielleicht noch ein bisschen lauter?«, fragte Lily und sah sich im Diner um. Doch es schien sie niemand wahrzunehmen, die Leute waren alle ins Gespräch vertieft oder saßen schweigend über ihrem Essen. Sie wandte ihren Blick wieder ihrer besten Freundin zu und fuhr beinahe flüsternd fort: »Es war total schön. Okay, diese Bar war vielleicht nicht der optimale Ort für einen ersten Kuss, aber wir haben einfach schnell ausgetrunken und sind dann noch ein bisschen spazieren gegangen.«

»Ohhhhh!«, juchzte Ava begeistert und klatschte in die Hände. »Und weiter?«

Lily kicherte. »Ich kenne wirklich keine neugierigere Person als dich! Was glaubst du wohl, was passiert, wenn ein Mädchen mit so einem gut aussehenden Typen wie Travis Händchen haltend durch die Nacht spaziert? Das konnte man überhaupt nicht Spazierengehen nennen! Wir sind an jeder Ecke stehen geblieben und haben rumgeknutscht, als gäbe es kein Morgen. Bist du jetzt zufrieden?«

»Heißt das, ihr seid jetzt … zusammen?«

Lily spürte, wie ein warmes Kribbeln durch ihren Körper wanderte. »Glaub schon«, antwortete sie knapp. Es war ein komisches Gefühl, das laut auszusprechen, es war alles noch so frisch und zerbrechlich. Das Date mit Travis lag noch keine 48 Stunden zurück, aber in der Zeit hatten sie sich bereits unzählige SMS hin- und hergeschickt und zweimal telefoniert. Es schien also, als wäre es Travis auch ernst, zumal er sie gleich gefragt hatte, wann sie sich das nächste Mal sehen würden.

Ava streckte ihre Hand aus und legte sie auf Lilys. »Das freut mich wirklich total.« Ihre Stimme hatte von kreischend-aufgeregt zu verständnisvoll-mitfühlend gewechselt. »Nach der Sache mit Seth letztes Jahr ist es echt mal wieder an der Zeit für einen Lichtblick …«

Lily war der Appetit schlagartig vergangen. Sie zog ihre Hand unter Avas weg und senkte den Blick. Es ärgerte sie, dass sich noch immer ein dicker Kloß in ihrem Hals bildete, wenn Seth’ Name fiel. Doch die Ereignisse des letzten Frühjahrs hatten bei allen Schülern der Eerie High ihre Spuren hinterlassen und bei Lily ganz besonders. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie die Gedanken daran dadurch vertreiben. »Lass uns nicht mehr darüber sprechen, ja? Zumindest nicht heute.«

Seth war in der Jahrgangsstufe über ihr gewesen und Lily schwer in ihn verliebt. Sie hatten ein bisschen geflirtet und rumgealbert, und es hätte sicher mehr daraus werden können, bis … ja, bis …

»Kannst du glauben, dass niemand etwas gegen Raum 213 unternimmt?«, fragte Ava, die natürlich genau wusste, was gerade in Lilys Kopf vorging. »Ich meine, irgendwie weiß keiner, wie man dieses Klassenzimmer unter Kontrolle bekommt, und ordentliche Nachforschungen werden auch nicht betrieben. Es ist ja wohl echt nicht normal, dass Leute spurlos verschwinden oder sterben oder –«

»Ava, bitte!« Lily hatte ihre beste Freundin lauter angefahren als beabsichtigt und versuchte, sich zu beruhigen. »Ich bin echt froh, dass mich die Sache mit Travis das erste Mal seit Monaten auf andere Gedanken bringt. Bitte lass uns nicht mehr in den alten Geschichten herumrühren, ja?«

Bevor Ava etwas erwidern konnte, kam die Bedienung an den Tisch gerauscht. »Fertig?«, blaffte sie und starrte vorwurfsvoll auf Lilys halb aufgegessenen Burger. Sie wartete gar nicht erst ihre Antwort ab, sondern räumte die Sachen aufs Tablett und verschwand wieder.

Lily sah ihr kopfschüttelnd hinterher, als ihr Blick den eines anderen Mädchens traf. Es war allein und hatte sich in die hinterste Ecke des Diners gesetzt. Lily hatte sie noch nie gesehen, obwohl sie in ihrem Alter sein musste. Und mit den langen roten Haaren und den stechend blauen Augen wäre sie ihr sicher schon mal aufgefallen. Das Mädchen wandte die Augen wieder ab und starrte auf den leeren Tisch vor sich. Komisch, dachte Lily, dass sie gar nichts zu trinken hat. Wartet sie auf irgendjemanden?

Sie sah das Mädchen noch einen Moment lang an und wandte sich dann wieder Ava zu. Hoffentlich war das Gespräch über Seth und Raum 213 nun beendet. Doch wenn Ava sich einmal an etwas festgebissen hatte, dann war sie nur schwer zu bremsen. »Ich weiß, wie schlimm das für dich war, das war es für alle. Wieso musste er auch unbedingt dieses verfluchte Klassenzimmer betreten? Das war absolut dämlich.«

Lily knetete nervös ihre Hände, sie wollte, dass Ava endlich aufhörte, in der Vergangenheit herumzustochern. Niemand wusste, was genau mit Seth geschehen war, ob er sich wirklich in Raum 213 aufgehalten hatte. Aber eines wusste Lily ganz genau: An dem Abend, bevor Seth tot vor dem Klassenzimmer aufgefunden worden war, das Gesicht kreideweiß und zu einer Maske des Schreckens verzerrt, hatte sie noch mit ihm herumgealbert. Sie waren total überdreht gewesen und hatten sich die schlimmsten Geschichten über Raum 213 erzählt. Der eine hatte versucht, den anderen zu übertrumpfen, und jeder hatte noch ein schlimmeres und gruseligeres Gerücht auf Lager. Die irre Party mit Todesfall. Ethan, der Psycho aus der Klapse. Melissa, die kein Wort mehr redete, seit sie Raum 213 von innen gesehen hatte.

Irgendwann hatte Lily Seth gefragt: »Würdest du dich reintrauen, wenn die Tür offen stünde?«

»Klar!«, hatte er geantwortet.

»Dann beweis es!«

Dann beweis es. Nie hatte Lily drei Worte mehr bereut als diese. Nie hatte sie sich mehr gewünscht, ihre Klappe gehalten zu haben, als nach diesen drei Worten.

Am nächsten Tag lag Seth tot vor Raum 213, und niemand wusste, was geschehen war. Doch die Vermutung lag nahe, dass er sich Zugang zum verbotenen Klassenzimmer der Eerie High verschafft und es nicht mehr lebendig herausgeschafft hatte.

Lily wusste, dass sie keine Schuld traf, aber sie fühlte sich dennoch schuldig. Ohne ihre dumme Bemerkung wäre Seth heute noch am Leben.

Sie schluckte den dicken Kloß in ihrem Hals hinunter und versuchte, sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Es war Sonntagabend, sie saß zusammen mit ihrer besten Freundin im Diner und in ihrem Bauch wimmelte es nur so von Schmetterlingen. Sie sollte die Schatten der Vergangenheit ein für alle Mal abschütteln und in die Zukunft blicken.

»Trinken wir noch was?«, fragte sie Ava, um sie endlich vom Thema abzulenken.

Lily war froh, dass die Botschaft offensichtlich angekommen war, denn Ava nickte und studierte die Getränkekarte, als müsste sie sich erst noch überlegen, was sie trinken sollte. Dabei trank Ava immer Cola.

»Ich nehme eine Cola«, verkündete sie und legte die Karte wieder auf den Tisch. Dann grinste sie und sagte: »Aber dann erzählst du mir wirklich alles von deinem Abend mit Travis, in allen Einzelheiten. Versprochen?«

»Versprochen. Aber lässt du mich vorher noch kurz aufs Klo gehen? Falls die Bedienung vorbeikommt, bevor ich zurück bin, bestell mir ein Mountain Dew mit, ja?«

»Dieses eklige Zeug?«

»Ja oder ja?«

»Ja.«

Lily schob den Stuhl zurück und schlängelte sich zwischen den anderen Tischen durch Richtung Toilette. Als sie an der Rothaarigen vorbeikam, fixierte diese Lily wieder mit ihrem Blick. Irgendwie war der unheimlich, als würde etwas Böses darin liegen und jeden Moment auf Lily losgehen. Das Mädchen bewegte sich nicht, saß einfach nur ganz starr da und betrachtete Lily, als hätte sie irgendetwas Ekelerregendes an sich. Kannte das Mädchen sie von irgendwoher? Die Gedanken in Lilys Kopf rasten, sie ging verschiedene Orte und Situationen durch, doch am Ende war sie sich sicher, dass sie die andere noch nie gesehen hatte. Ein leichtes Unbehagen kroch über ihre Haut wie Ameisen, am liebsten hätte sie sich geschüttelt, um es loszuwerden. Sie rieb sich mit den Händen über die Arme und ging weiter. Doch sie hatte plötzlich das Gefühl, verfolgt zu werden – nicht von einer Person, sondern von stechenden Blicken, die sich wie Messer in ihren Rücken bohrten.

Als sie zurückkam, entdeckte Lily ein paar Tische weiter Heather und Madison – zwei Mädels, mit denen sie zusammen Algebra hatte – und winkte ihnen zu. Sie überlegte, kurz rüberzugehen und Hallo zu sagen, aber eigentlich fühlte sie sich in der Gegenwart der beiden seit einer geheimnisumwitterten Party in Raum 213 ein bisschen unwohl. Lily schimpfte mit sich selbst, als ihr bewusst wurde, dass sie schon wieder an Raum 213 dachte.

Aus einem Reflex heraus blickte sie sich noch einmal zu der Rothaarigen um, doch sie war nicht mehr da.

»Hast du gesehen, wohin das rothaarige Mädchen verschwunden ist?«, fragte Lily, als sie sich wieder auf ihren Stuhl fallen ließ.

»Welches Mädchen?«

»Na, die da drüben an dem Tisch saß und die ganze Zeit zu uns rübergestarrt hat.« Lily deutete in Richtung Toiletten.

Ava schüttelte verständnislos den Kopf. »Keine Ahnung, wen du meinst.«

»Also, ich bin doch nicht bescheuert. Die musst du doch gesehen haben!« Lily spürte Panik in sich aufsteigen. Seit der Sache mit Seth hatte sie des Öfteren Aussetzer, ihr wurde schwarz vor Augen oder sie sah plötzlich Szenen vom Unglückstag vor sich. Aber es war noch nie vorgekommen, dass sie sich Leute einbildete, die gar nicht da waren.

»Jetzt beruhig dich mal wieder. Was machst du denn so einen Aufstand deswegen?« Ava nahm einen Schluck von ihrer Cola.

»Hast ja recht. ’tschuldigung. Bin irgendwie ein bisschen neben der Spur.«

»Das meine ich aber auch«, sagte Ava mit strengem Blick, doch dann stahl sich sofort wieder ein Grinsen auf ihr Gesicht. »So, und jetzt bitte die Fortsetzung!« Sie richtete sich erwartungsvoll in ihrem Stuhl auf.

Lilys anfängliche Euphorie, mit der sie Ava von ihrem Date mit Travis erzählt hatte, war inzwischen verflogen, aber sie bemühte sich, die Ereignisse trotzdem ein wenig auszuschmücken. Das war sie ihrer sensationslüsternen besten Freundin einfach schuldig.

»Also gut, wir sind dann spazieren gegangen und haben ziemlich heftig rumgeknutscht. Ich kann nur sagen: Zum Glück war es stockdunkel! Wenn uns irgendjemand gesehen hätte – ich weiß ja nicht …«

»Und dann? Ich meine, habt ihr …«, fragte Ava hektisch und machte eine Handbewegung, als würde sie blitzschnell die Seiten eines Liebesromans vorblättern.

»So gut solltest du mich inzwischen kennen. Meinst du, ich steige gleich am ersten Abend mit irgendjemandem in die Kiste?« Lily spielte gedankenverloren an der Speisekarte herum; sie merkte, dass sie überhaupt nicht bei der Sache war und ihren Blick unbewusst immer wieder durch den Raum gleiten ließ. Sie wurde das Gefühl nicht los, von irgendjemandem beobachtet zu werden. Von der unheimlichen Rothaarigen vielleicht?

Jetzt hör auf, schalt sie sich selbst. Warum hat dich dieses Mädchen so aus dem Konzept gebracht? Es gibt überhaupt keinen Grund, weshalb sie dir böse Blicke zugeworfen haben soll.

»Hallo!« Ava wedelte mit der Hand vor Lilys Augen herum. »An was denkst du denn? Hattest du vielleicht doch eine heiße Nacht mit Travis und verschweigst es mir?«

»Nein, es ist nur … Ach egal, vergiss es.« Lily trank in einem Zug ihr Mountain Dew leer. »Wäre es okay, wenn wir abhauen? Ich fühl mich irgendwie nicht so besonders.«

»Ts, ts, ts«, machte Ava. »Klarer Fall von akuter Verknalltheit, wenn du mich fragst.«

»Sehr witzig«, antwortete Lily und ärgerte sich, dass der Abend so ein abruptes Ende nahm. Normalerweise hätte sie mit Ava noch ein, zwei Stunden hier gesessen, wäre mit ihr die Tops und Flops von Jungen in ihrer Stufe durchgegangen, hätte die Leute im Diner unter die Lupe genommen, und irgendwann wären sie beide in solch lautes Gekicher ausgebrochen, dass alle sie komisch angeguckt hätten. »Tut mir leid. Lass uns doch die Woche irgendwann noch mal was machen. Dann bin ich auch wieder besser drauf, versprochen.«

»Hey, kein Problem«, sagte Ava. »Manchmal steckt man eben nicht drin.« Sie gluckste in Anbetracht ihrer doppeldeutigen Bemerkung.

Lily zog ihre Jacke an und folgte Ava Richtung Ausgang. Ein letztes Mal ließ sie ihren Blick durch das Diner schweifen, doch von dem rothaarigen Mädchen war nichts zu sehen. Wahrscheinlich war alles ganz harmlos gewesen.

Ava war schon zum Auto vorgegangen, während Lily noch gedankenverloren eine SMS an Travis tippte.

Muss die ganze Zeit an dich denken. Wär jetzt gern bei dir. XXX.

Sie drückte gerade auf »Senden«, als ein Motor gestartet wurde und Reifen auf dem Schotter durchdrehten. Lily blickte hoch und wurde von grellen Scheinwerfern geblendet. Sie kniff die Augen zusammen und realisierte einen Sekundenbruchteil später, dass das Auto genau auf sie zuraste. Der Fahrer musste das Gaspedal voll durchgetreten haben und hielt direkt auf Lily zu. Im letzten Moment gelang es ihr, zur Seite zu springen. Ihr Handy flog in hohem Bogen über den Parkplatz und landete hinter irgendeinem Wagen. Lily konnte nicht glauben, wie knapp sie an einem Unfall vorbeigeschrammt war! Das Auto bremste mit quietschenden Reifen einige Meter entfernt und die Scheibe der Beifahrertür wurde heruntergelassen. Am Steuer saß das rothaarige Mädchen und verzog die Lippen zu einem teuflischen Grinsen.

2

Lily wünschte, sie wäre im Bett geblieben. Montag war generell der schlimmste Tag der Woche, aber heute war es besonders schrecklich. Nach dem Horrorerlebnis auf dem Parkplatz gestern hatte Lily nicht nur verzweifelt ihr Handy gesucht und nicht gefunden, sie hatte auch die ganze Nacht kein Auge zugetan. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um den Abend, das seltsame rothaarige Mädchen und den Vorfall auf dem Parkplatz.

Doch wie sie es auch drehte und wendete – sie wusste nicht, woher sie die Rothaarige kennen sollte und warum sie sie überfahren wollte. Erstaunlicherweise hatte Ava von dem Vorfall auf dem Parkplatz überhaupt nichts mitbekommen und Lily schließlich geraten, den Ball lieber flach zu halten. Vielleicht hatte sie recht, vielleicht hatte Lily sich da nur etwas eingebildet, was in Wirklichkeit völlig harmlos war.

Als sie die schwere Tür zum Haupteingang der Eerie High aufzog, spürte sie plötzlich eine Hand auf ihrem Rücken. Im ersten Moment versteifte sie sich, doch als die Hand sanft ihre Wirbelsäule auf und ab fuhr, drehte sie sich um und ließ sich in Travis’ Arme fallen. Die Anspannung der letzten Stunden fiel sofort von ihr ab, als sie sich an ihn schmiegte.

»Hey, das nenn ich mal eine stürmische Begrüßung«, sagte Travis und streichelte Lily über den Kopf. Genau das brauchte sie jetzt. Am liebsten hätte sie ihn gar nicht mehr losgelassen. Doch es drängten sich bereits andere Schüler an ihnen vorbei und machten blöde Bemerkungen, weil sie mitten im Weg standen.

»Könnt ihr nicht woanders rumknutschen?«

»Habt ihr kein Zuhause?«

Lily löste sich von Travis und nahm ihn an der Hand. Sie zog ihn von der Tür weg und steuerte eine Bank an, auf die sie sich setzten.

»Ich hab dich so vermisst«, sagte Lily lächelnd. »Ich würde am liebsten sofort da weitermachen, wo wir am Freitag aufgehört haben.«

»Von mir aus gerne«, entgegnete Travis, beugte sich zu ihr rüber und begann, sie langsam vom Hals abwärts zu küssen. Seine Hand schlich sich bereits heimlich unter Lilys Jacke, als das erste Klingeln zum Unterrichtsbeginn ertönte. Lily umschloss Travis’ Finger und schob sie beiseite.

»Wie wär’s, wenn du heute Abend zu mir kommst?«, fragte sie zwischen zwei Küssen. »Ich habe sturmfreie Bude.«

»Das klingt gut«, antwortete Travis und knabberte an Lilys Ohrläppchen. »Ich kann es kaum erwarten.«

»Na los«, sagte Lily und stand auf. »Bringen wir erst mal den öden Schultag hinter uns. Jetzt haben wir ja was, worauf wir uns freuen können.«

Travis lachte. »Genau. Das sind sonnige Aussichten trotz der Wolkendecke da oben.« Er deutete mit dem Kopf gen Himmel. »Danke übrigens für deine süße SMS gestern, hab mich total gefreut.«

»Tja, damit wird’s wohl erst mal nichts mehr. Ich habe gestern mein Handy verloren.«

»Echt? Wie das denn?« Travis nahm Lilys Hand und gemeinsam gingen sie ins Gebäude.

»Ach, erzähl ich dir später. Davon kriege ich nur wieder schlechte Laune. Aber vielleicht können wir heute Abend noch kurz in die Mall und ein neues kaufen? Ich denke nicht, dass ich das alte wiederfinde.«

»Klar, warum nicht? Hauptsache, ich bin in deiner Nähe … dafür würde ich dich sogar in das miese Tex-Mex-Lokal begleiten, mir ein Orgelkonzert anhören oder deiner Grandma beim Kreuzworträtsellösen zuschauen.«

Er zog Lily in eine Ecke beim Eingang zur Cafeteria und drängte sie sacht gegen die Wand. Lily hatte das Gefühl, er presste seinen Körper so dicht an ihren, dass sie fast eins waren. Er sah sie mit seinen tiefblauen Augen an und strich ihr mit der Hand über die Wange. Dann legte er seine Lippen auf ihre und küsste sie so leidenschaftlich, dass sie glaubte, ihr würden jeden Moment die Beine wegsacken. Doch Travis hielt sie fest, ganz fest, und das hätte er nach Lilys Geschmack den ganzen Tag tun können. Mit ihm zusammen war sie glücklich, und sie konnte sich nicht erinnern, jemals so geküsst worden zu sein. Doch jeder schöne Moment hat irgendwann ein Ende und dieser wurde durch ein lautes »Na, na, na, was ist denn hier los?« beendet.

Ava, wer sonst. Taktgefühl war leider keine ihrer Stärken. Genauso wenig wie Zurückhaltung oder Diskretion. Lily hätte es nicht gewundert, wenn sie gleich ein Foto vom knutschenden Pärchen geschossen und auf ihrer Facebook-Seite gepostet hätte.

Travis machte sich von Lily los und grinste. »Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, Ava.« Er gab Lily noch einen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich. »Ich überlasse dir Lily für den Vormittag. Aber die Pause verbringen wir dann zusammen in der Cafeteria, okay?«

»Abgemacht«, sagte Ava und klatschte mit Travis ab. Sie war für die meisten Jungen wie ein guter Kumpel, was vielleicht an ihren kurzen Haaren lag und daran, dass sie in der Mädchen-Fußballmannschaft der Eerie High spielte. Ava selbst betonte zwar immer, dass ihr das nichts ausmachte, aber Lily wusste, dass sie sich tief im Innern auch nach einem Freund sehnte. Sie hatten schon alles Mögliche ausprobiert – waren auf Partys gegangen, auf denen sie niemanden kannten, hatten ein paar Typen im Internet aufgetan oder hatten Stunden auf den Tribünen an irgendwelchen Football-, Baseball- oder Basketballfeldern zugebracht. Aber der Richtige war noch nicht dabei gewesen – vielleicht interessierte sich Ava deshalb für das Liebesleben anderer, als wäre es ihr eigenes.

Lily hakte sich bei Ava unter, und zusammen gingen sie die Stufen in den ersten Stock hoch, wo sich der Chemieraum befand.

»Tut mir leid wegen gestern Abend«, sagte Lily. »Ich hätte gern noch ein bisschen mit dir gequatscht, aber irgendwie war ich echt durcheinander, nachdem wir über Seth gesprochen hatten und ich diese merkwürdige Begegnung mit diesem …«

»Ach Mensch, jetzt fang nicht schon wieder mit diesem Mädchen an. Das ist doch der totale Quatsch. Außerdem hätte ich es doch mitbekommen, wenn meine allerbeste Freundin in Gefahr schwebt, weil eine unheimliche rothaarige Hexe mit einer dicken Warze im Gesicht grüne Blitze auf sie abfeuert. Grrrrr.« Sie verzog das Gesicht zu einer hässlichen Fratze und streckte ihre Hände wie Klauen vor sich aus.

Lily musste lachen und stieß Ava in die Seite. »Du bist echt doof.«

Im Chemieraum setzten sie sich auf ihren Platz in der hintersten Reihe. Außer ihnen saß niemand dort, Lily konnte nicht verstehen, warum es so viele Streber gab, die sich offenbar nichts Schöneres vorstellen konnten, als dem Lehrer direkt vor der Nase zu hocken.

»Mal sehen, ob Mr Watts wieder sein Montagshemd anhat«, witzelte Lily. Ava und ihr war irgendwann aufgefallen, dass ihr Chemielehrer beinahe jeden Montag dasselbe karierte Hemd trug.

»Wollen wir wetten?«, fragte Ava. »Ich sage, er trägt heute mal was anderes.«

»Stehst du auf Verlieren, oder was?«

Noch bevor sie über den Wetteinsatz verhandeln konnten, betrat Mr Watts den Raum. Lily lächelte siegesgewiss, denn unter seinem Sakko verbarg sich das Montagshemd! Doch das Lächeln gefror ihr auf den Lippen, als sie sah, wer hinter ihm das Zimmer betrat. Es war das rothaarige Mädchen von gestern.

»Ach du Scheiße«, entfuhr es ihr, woraufhin sich Oberstreberin Tessa umdrehte und missbilligend den Kopf schüttelte.

Lily wurde gleichzeitig kalt und heiß, vor ihrem inneren Auge blitzten die Scheinwerfer auf, sie hörte das Durchdrehen der Reifen, spürte die Panik, als das Auto auf sie zugerast kam.

»Guten Morgen. Ich darf euch heute eine neue Mitschülerin vorstellen. Das ist Kendra Black und sie wird das letzte Jahr der Highschool hier bei uns in Eerie absolvieren. Kendra, möchtest du noch etwas sagen?«

Normalerweise waren neue Schüler immer schüchtern, standen unbeholfen da und waren froh, wenn sie sich schnell hinsetzen konnten, aber bei Kendra war es offensichtlich anders. Sie baute sich neben Mr Watts auf und ließ ihre stechenden blauen Augen durch den Raum gleiten. Lily wurde fast schlecht, als ihr Blick kurz an ihrem hängen blieb und dann zu Ava rüberschwenkte.

»Ich freue mich, hier zu sein, und bin mir sicher, dass es an der Eerie High einen Haufen netter Leute gibt. Das trifft sich gut, denn ich bin eigentlich auch ziemlich nett.«