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Willkommen in der Fashion School

»Wir haben uns total verfahren – garantiert! Hier sieht’s ja aus wie am Ende der Welt!« Lucy blickte skeptisch aus dem Seitenfenster und machte zum Beweis einen Schnappschuss mit ihrer Kamera von der Landschaft hinter dem Fenster. Das war ja wohl nicht ihr Ernst! Hier war ja gar nichts! Der silberne SUV ihrer Eltern rollte über die Landstraße und alles, was Lucy sehen konnte, waren Felder, Wälder und Wiesen. Fehlen nur noch Kühe oder so was. »Ein verwunschener Landstrich«, hatte ihre Mutter vorhin begeistert kommentiert und tatsächlich ein bisschen geseufzt.

Verwunschen! Für alte Leute vielleicht. Lucy war fünfzehn und konnte mit Idylle nicht viel anfangen. Sie wollte Trubel und Action, echtes Großstadtleben, coole Musik, angesagte Läden und Leute mit Style und neuen Ideen …

Die Pfingstferien waren seit einer Woche vorbei und seit zehn Tagen war Lucy endlich fünfzehn. Quasi fast erwachsen und endlich alt genug, um wie ihre Schwester Hanna Schülerin der Fashion School Bernstein zu werden. Hanna war wie die anderen Schüler schon seit einer Woche wieder im Internat, aber die Neuzugänge kamen jedes Jahr erst ein paar Tage später dazu, wenn alle anderen bereits wieder im Schulalltag angekommen waren.

»Wir sind schon richtig«, beruhigte ihr Vater Lucy und deutete auf ein Schild, das an der nächsten Wegbiegung stand. Fashion School Bernstein war darauf zu lesen. Tatsächlich! Nun wurde Lucy doch nervös, sie konnte es auf der einen Seite nicht abwarten, endlich das Modeinternat zu besuchen, aber auf der anderen Seite hatte sie auch Angst, ob sie den Anforderungen gewachsen sein würde und ob sie zu den anderen Schülern passen würde. Immerhin war die Fashion School die angesagte Schule für Modedesign überhaupt.

»Falls es dich tröstet: Als wir deine Schwester vor einem Jahr herbrachten, war sie im ersten Moment auch vollkommen entsetzt.« Lucys Mutter riss sie aus ihren Gedanken. »Sie konnte gar nicht fassen, dass die Modeschule so weit weg von Berlin liegt. Aber glaub mir: Das ist gut so, damit ihr euch ganz auf die Schule konzentrieren könnt.«

Lucy schnaubte. Wie sollte man sich auf Mode konzentrieren, wenn man nicht mal zwischendurch shoppen gehen, Boutiquen durchstöbern und tolle Schnäppchen in Secondhandläden machen konnte?

Doch auf einmal war alles vergessen: Der Blick raubte Lucy fast den Atem. Zwischen Bäumen und Sträuchern wurde plötzlich die Sicht auf einen riesigen See frei. In der vollkommen ruhigen Wasseroberfläche spiegelten sich die wenigen Wolken auf azurblauem Hintergrund. Der See war die perfekte Kulisse für einen Fantasy-Film und hätte dem Herr der Ringe-Setting alle Ehre gemacht. »Eine geniale Location für einen Shoot von Armani«, dachte Lucy und schoss sofort einige Bilder mit der Spiegelreflexkamera, die sie immer und überall dabeihatte.

Und dann tauchte hinter einer Kurve das Internatsgebäude auf. Unzählige Erker, Sprossenfenster, Türme und Säulen ließen es wie ein Schloss aus einem Märchenbuch erscheinen.

»Der Wahnsinn«, hauchte Lucy und drückte wieder auf den Auslöser. Hanna hatte ihr zwar stundenlang vorgeschwärmt, wie wundervoll Schloss Bernstein und der Bernsteinsee waren, und natürlich hatte sie sich auch die Fotos im Internet angeschaut, aber es zum ersten Mal mit eigenen Augen zu sehen, war viel überwältigender, als Lucy erwartet hatte.

»Tja, so was findet man eben nicht in der Fußgängerzone – da muss man sich schon hinaus aufs Land wagen«, neckte ihr Vater, während er den Wagen unter einer majestätischen Linde parkte, die wahrscheinlich genauso alt wie das Schloss war. Lucy hätte sich in ein vergangenes Jahrhundert versetzt geglaubt und sich nicht darüber gewundert, wenn plötzlich Ritter auf Pferden und Bauern mit alten Sensen aufgetaucht wären, wäre da nicht der neue SUV ihrer Eltern gewesen.

»Und – willst du jetzt vielleicht die nächsten Jahre hier am Ende der Welt verbringen?«, fragte ihre Mutter sie, während sie ausstiegen.

»Und ob ich das will! Außerdem habe ich auf diesen Tag fünfzehn Jahre gewartet. Das ist mein Traum, das wisst ihr doch«, rief Lucy entschlossen und schulterte wie zur Bekräftigung ihren Rucksack. Alle Einwände waren vergessen, die erst wenige Minuten zurückliegende Meckerei wie weggewischt. Lucy kümmerte es nicht, dass sie sich selbst widersprach – warum auch? »Eines Tages werde ich dann als Modefotografin ganz groß durchstarten! Vielleicht eröffne ich sogar eine eigene Modelagentur und jette als Trendscout durch die Welt!«, schwärmte sie begeistert.

»Genug Gepäck für eine Weltreise hast du jedenfalls jetzt schon dabei«, stöhnte ihr Vater, als er Lucys Reisetaschen aus dem Kofferraum wuchtete. »Das ganze Zeug kannst du doch unmöglich für vier Wochen brauchen.«

»Paps, ich habe doch nicht nur für vier Wochen gepackt«, meinte Lucy lachend, »ich bleibe bis zu den Sommerferien. Ist doch klar. Oder glaubst du etwa, deine Tochter fällt durch die Aufnahmeprüfung?«

So selbstsicher, wie sie klang, fühlte sich Lucy allerdings lange nicht. In Wirklichkeit war sie ganz schön nervös. Die Fashion School Bernstein nahm neue Schülerinnen und Schüler erst dann endgültig auf, wenn sie eine anspruchsvolle Prüfungsaufgabe gemeistert hatten. Lucy lag diese Tatsache bleischwer im Magen, aber sie schob das Gefühl schnell beiseite. Sie wollte es schaffen und sie würde alles für diese Chance tun. Es musste einfach klappen!

Einige neugierige Augenpaare beobachteten die Ankunft der »Neuen« von den vielen Fenstern im Westflügel des Gebäudes, wo die Zimmer der Internatsschüler lagen. Lucy wirkte cool und ein bisschen übermütig. Ihr langes, schwarz gefärbtes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und den Pony mit einer Zebra-Schleifenspange schräg zur Seite gesteckt. Sie trug ein neues schwarzes Kleid und einen pinkfarbenen Bolero, dazu farblich passende Ballerinas. Wenn sie lachte, bildeten sich in ihren Wangen Grübchen und ihre grüngrauen Augen funkelten übermütig.

Der erste Eindruck, den Lucy auf Laetizia machte, war der einer selbstsicheren Schülerin, die wusste, was sie wollte. Sie war selbst erst an diesem Morgen angereist und wartete bereits ungeduldig auf ihre Mitbewohnerin, mit der sie sich ein Zimmer teilen sollte.

Was sie sah, gefiel ihr sofort: ein flippiges, sportliches Mädchen mit glänzendem schwarzem Haar, dem man auf den ersten Blick anmerkte, wie viel Power es hatte. Ganz wie Laetizia selbst, aber vom Styling völlig anders. Und damit war Lucy nicht nur die perfekte Zimmergenossin, sondern auch die ideale Teambesetzung, um die Konkurrenz aus dem Weg zu räumen. Denn Laetizia wusste etwas, wovon Lucy noch nichts ahnte: Im neuen Schuljahr waren nur noch zwei Plätze in der Fashion Class des Internats frei, um die sich neben Lucy und Laetizia noch zwei Jungs bewarben. Mit anderen Worten, es würde sich zwischen den Mädchen und den Jungen entscheiden, wer bleiben durfte und wer nicht. Ihre Informantin war sich in dieser Sache ganz sicher gewesen.

Mit diesem Vorwissen war Laetizia besonders gespannt auf ihre Mitbewohnerin gewesen und nun mehr als erleichtert. Zumindest hatte diese Lucy ein Auge für stylishe Outfits und trug nicht Stangenware vom letzten Jahr.

Ein paar Zimmer weiter beobachtete auch Mona Lucys Ankunft. Sie hatte sich Hannas jüngere Schwester völlig anders vorgestellt – elfenhafter irgendwie. Klassischer gekleidet. Eine zweite Hanna eben. Okay, die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen: Beide waren um die 1,65 groß und hatten die gleiche schlanke Figur, was ihnen eine gewisse Ähnlichkeit mit Audrey Hepburn verlieh; mit dem Unterschied, dass Hanna einen Mittelscheitel trug, ihr kastanienbraunes Haar zu einem Longbob geschnitten war und sie feingliedriger als ihre eher sportliche Schwester war. Und der Stil der beiden war komplett unterschiedlich. Hanna war der klassische Typ, dezent und mit schlichter Eleganz gekleidet, meist in gedeckten Farben oder in Schwarz und Weiß. Lucy dagegen schien es auffallender zu lieben und keine Angst vor knalligen Farben zu haben. Mona seufzte und zwirbelte gedankenverloren eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass die Neue ihr die beste Freundin wegnehmen würde, sah sie auch noch super aus und wirkte wie ein Energiebündel. Wie sollte sie da nur mithalten?

Wie aufs Stichwort kam Hanna ins Zimmer gestürmt. »Ist sie endlich da?«, rief sie aufgeregt.

»Wenn das Emo-Mädel da unten deine Schwester ist, dann ja«, gab Mona betont gut gelaunt zurück und hoffte, Hanna würde ihr ihre Fröhlichkeit abkaufen.

Lilian Eastbrook hatte Lucys Ankunft ebenfalls erwartet. Wie immer hielt sie es für ihre Pflicht als Direktorin, neue Schüler persönlich in Empfang zu nehmen. Schwungvoll öffnete sie die Eingangstür und erschien auf dem Stufenportal. In ihrem silberblonden Pagenschnitt steckte eine dunkle Sonnenbrille, in der rechten Hand trug sie ein Klemmbrett. Eine kühle Ausstrahlung umwehte die ehemals berühmte Modedesignerin, die vor fünf Jahren die Fashion School Bernstein gegründet hatte, um sich persönlich um die Ausbildung des Nachwuchses im Fashion Business zu kümmern. Lucy hatte schon vieles über Miss E. gehört, von der ihre Schwester immer sehr ehrfurchtsvoll sprach. Sie wusste, dass Lilian Eastbrook sehr hohe Ansprüche an ihre Schüler stellte und von ihnen forderte, stets ihr Bestes zu geben.

Mit bewundernswerter Leichtigkeit schwebte Lilian Eastbrook in einem anthrazitfarbenen Ensemble und auf halsbrecherischen High Heels die Eingangstreppe herunter, als wäre dies ihre leichteste Übung. Lucy selbst liebte flache Stiefel und konnte nicht mal im Traum auch nur einen Meter auf 14-Zentimeter-Absätzen laufen, geschweige denn eine Treppe hinabsteigen.

»Willkommen in der Fashion School Bernstein«, sagte Lilian Eastbrook professionell. »Du musst Lucy sein. Schön, dass du da bist! Du wirst gleich von Frau Chang, deiner Vertrauenslehrerin, auf dein Zimmer gebracht werden, während deine Eltern noch einige Formalitäten in meinem Büro erledigen müssen.«

Die Direktorin bedeutete ihnen zu folgen und trat durch das Eingangsportal des Schlosses. Kaum waren sie in das große Foyer eingetreten, da hörten sie auch schon eilige Schritte auf der Treppe und kurz darauf eine freundliche Stimme: »Hallo, Lucy, herzlich willkommen! Ich bin Sondra Chang, Lehrerin für Schneiderei und Textiltechnologie an der Fashion School und gleichzeitig auch Vertrauenslehrerin für den Westflügel. In dem übrigens auch dein Zimmer liegt.« Die kleine Asiatin hatte glattes schulterlanges Haar und einen stumpf geschnittenen Pony. Ihr zierlicher Körper steckte in einem figurbetonten Sommerkleid mit Blumenprint. Frau Chang nickte allen in der Runde zu und bedeutete dann Lucy, ihr zu folgen.

Im ersten Stock angekommen, klopfte Sondra Chang an einer pflaumenfarbenen Zimmertür und öffnete sie. »Ich darf dir deine Mitbewohnerin vorstellen: Laetizia la Roche. Laetizia, das ist Lucy Kaufmann, Hannas Schwester, ebenfalls eine neue Mitschülerin auf Probe.«

Laetizia erhob sich von ihrem Platz vor dem Fenster, wo sie bis eben auf ihrem Laptop im Internet gesurft war.

»Hallo! Schön, dass du endlich da bist, ich war schon neugierig auf dich«, sagte sie.

»Frag mich mal!« Lucy musste lachen und Laetizia fiel mit ein.

»Ich sehe, ihr beiden kommt wunderbar ohne mich klar«, verabschiedete sich Sondra Chang. »Bis später beim Abendessen.« Und weg war sie.

»Das Bett neben der Tür ist noch frei. Dein Schrank ist dieser hier – falls du auspacken willst.«

Das Zimmer war mit modernen hellen Möbeln eingerichtet. Über den Betten hing sogar ein halb transparenter fliederfarbener Himmel, mit dessen Seitenschals man eine Seite des Bettes komplett zuziehen konnte.

»Mach ich später«, entschied Lucy und warf sich auf ihr Bett. »Sehr bequem«, stellte sie zufrieden fest. Dann stand sie sofort wieder auf. »Ich bin viel zu nervös, um mich jetzt auszuruhen. Das ist alles so cool! Ich bin total gespannt auf die anderen Mitschüler. Und natürlich auch auf die Lehrer – Hanna sagt, Clarissa Schiller soll ganz anders sein als im Fernsehen.«

»Habe ich auch schon gehört. Sie unterrichtet angeblich englische Konversation und überwacht das Catwalk-Training. Passt ja zu einem ehemaligen Topmodel. Aber unsere täglichen Einheiten werden wohl von ihrem Assistenten geleitet: Boris Schulz«, erklärte Laetizia, die es sich inzwischen auf einem apfelgrünen Sofa in der Ecke des Zimmers bequem gemacht hatte. Falls man den Lotossitz bequem fand, eine klassische Yoga-Sitzhaltung.

»Wow, bist du gelenkig«, staunte Lucy und griff wie automatisch nach ihrer Kamera. Laetizias lange Beine, die in einer engen Jeans steckten, schienen regelrecht miteinander verknotet zu sein – sie gab ein super Motiv ab, auf dem hellen Sofastoff kam der Kontrast zu den Beinen gut zur Geltung. Laetizia schien sich als Fotomotiv nicht unwohl zu fühlen. »Eine meiner leichtesten Übungen«, stellte sie ungerührt fest und fuhr sich durch die lockigen, erdbeerblonden Haare. »Aber du wirst schon noch sehen, dass ich in vielen Dingen ziemlich gut bin.«

»Aha.« Lucy ließ sich neben ihr aufs Sofa plumpsen. An einem mangelnden Selbstbewusstsein schien ihre neue Mitbewohnerin nicht zu leiden. »Echt schön hier.«

»Ich wünschte, wir hätten die Aufnahmeprüfung schon hinter uns. Wir müssen es einfach schaffen! Koste es, was es wolle – und nicht diese …« Laetizia biss sich auf die Zunge. Fast hätte sie sich verplappert. Dabei wollte sie ihre Information eigentlich erst mal für sich behalten.

Lucy legte ihre Kamera beiseite und schaute Laetizia neugierig an. »Nicht diese …? Was wolltest du sagen?«

»Ach, na ja, das ist bloß ein blödes Gerücht und ich weiß nicht, wie viel Wahrheit dahintersteckt«, winkte Laetizia ab.

»Ein kleiner Funken Wahrheit steckt meistens hinter Gerüchten. Also los, erzähl es mir«, ließ Lucy nicht locker.

Schließlich gab ihre Zimmergenossin nach: »Na gut, es heißt, dass nur zwei Plätze in der Schule frei sind. Aber es gibt vier Bewerber. Uns beide und zwei Jungs.«

»Das klingt aber nicht gut«, stellte Lucy fest und spürte sofort wieder ein flaues Gefühl in ihrer Magengegend. »Und ich dachte, wir müssen die Aufnahmeprüfung einfach bestehen und alles wäre gut.«

»Ach, vielleicht ist es auch gar nicht wahr. Am besten machen wir uns nicht verrückt und warten erst mal ab.«

In diesem Moment wurde die Zimmertür aufgerissen und ein Mädchen in einem weißen, gerade geschnittenen Midikleid aus feiner Wolle kam herein. Obwohl sie fast zwei Jahre älter als Lucy war, hätte man Hanna für ihre Zwillingsschwester halten können. Dicht hinter ihr folgte ein brünettes Mädchen in einem beigefarbenen Minirock und einer dunkelblauen Seidenbluse, deren Knopfleiste sich am Rücken befand.

»Lucy, endlich bist du da! Habt ihr euch schon kennengelernt? Hast du schon ausgepackt? Gefällt’s dir hier?«, überhäufte Hanna ihre Schwester mit Fragen.

»Ja, nein und ja«, gab Lucy grinsend zurück und stand auf. »Auspacken kann ich auch später noch.« Dann ging sie auf Hannas Begleiterin zu und streckte ihr die Hand entgegen: »Hi, ich bin Lucy. Coole Bluse, übrigens!«

»Danke. Ich bin Mona. Schön, dich kennenzulernen.«

Hanna schien nicht zu bemerken, wie zurückhaltend diese Antwort klang. »Mona ist meine Zimmergenossin und beste Freundin. Aber das weißt du ja schon. Wir wohnen auf demselben Flur wie ihr. Cool, was?«

»Sehr cool. Wir haben uns gerade über die Aufnahmeprüfungen unterhalten.«

»Ach, das schafft ihr beide schon, da habe ich keine Zweifel«, meinte Hanna unbekümmert. »Bei mir war es damals gar nicht so schlimm. Wisst ihr denn schon, in welchem Fach ihr geprüft werdet?«

»Geschichte der Mode, hat Miss E. gesagt.«

»Autsch!«, kommentierte Mona und zog eine Grimasse, als hätte sie Zahnschmerzen. »Dieses Fach unterrichtet Alba Santiago. Die ist superstreng – und bekannt dafür, dass sie gerne mal Leute durchfallen lässt.«

»Ach, Mona, nun mach sie doch nicht noch nervös!«, ermahnte Hanna ihre Freundin.

Lucy warf Laetizia einen kurzen Blick zu, mit dem sie ihr zu verstehen geben wollte, das Gerücht um die zwei freien Plätze für sich zu behalten. Lucys rechte Hand spielte unruhig an ihrem Bettelarmband herum. Was wäre, wenn sie tatsächlich die Prüfung nicht schaffen würde? Dann müsste sie wieder zurück in ihre alte Schule und könnte nicht mit Hanna gemeinsam hierbleiben … daran durfte sie gar nicht denken.

Da ertönte ein tiefer Gong.

»Zeit fürs Abendessen«, erklärte Hanna.

»Super. Ich hab nämlich echt Hunger. Ich hab gar nicht gemerkt, wie spät es schon ist«, sagte Lucy nach einem Blick auf ihre Taschenuhr und schob die beunruhigenden Gedanken beiseite.

»Was ist denn das für ein altmodisches Teil?«, fragte Mona stirnrunzelnd und wies auf die Uhr.

»Altmodisch? Die ist echt antik! Ich habe sie von meiner Oma – sie hat sie mir als Glücksbringer mitgegeben.«

»Ich wusste doch gleich, dass sie mir bekannt vorkommt«, rief Hanna aus und lächelte. »Wie lieb von ihr, dass sie sie dir geschenkt hat.« In Hannas Stimme war nicht die geringste Spur von Neid.

»Glück wirst du auch brauchen, wenn du hier länger als vier Wochen bleiben willst«, unkte Mona, die es offenbar nicht lassen konnte. Oder wusste sie etwa auch, dass es weniger freie Plätze als Bewerber gab?

»Was ist nur los mit dir?«, wandte sich Hanna leicht genervt an ihre beste Freundin und schüttelte verständnislos den Kopf. »Es bringt doch nichts, Lucy Angst zu machen.«

»Pah, ich hab keine Angst. Schon gar nicht vor irgendeiner Prüfungsaufgabe«, behauptete Lucy und hoffte, dass die Mädchen ihr ihre Unsicherheit nicht anmerkten. »Wir schaffen das schon! Selbst wenn wir einen Aufsatz über schreckliche Hüte beim Pferderennen in Ascot schreiben müssen …«

Und damit hatte sie die Lacher auf ihrer Seite.

Ausgerechnet die Achtziger

Nach dem Abendessen war Lucy noch auf eigene Faust mit ihrer Kamera durch die verwinkelten Gänge des Schlosses gestreift. An den Fenstern hingen schwere olivfarbene Vorhänge, die Wände waren mit Gemälden bedeckt, die Lucy spontan in die Kategorien »teuer und alt« oder »teuer und moderne Kunst« steckte. Auf den steinernen Fensterbänken standen Bonsai-Bäume und Orchideen. In einem Erker entdeckte sie eine Ritterrüstung und daneben eine altertümliche Holztruhe mit dunklen Beschlägen, die sie spontan fotografieren musste. Dann ruckelte sie neugierig an dem Deckel der Truhe, jedoch vergeblich: Die Kiste war fest verschlossen. Schade, einen Goldschatz hätte ich gut brauchen können, dachte Lucy und grinste vor sich hin. Mit lautlosen Schritten lief sie einen nicht enden wollenden Gang mit glänzendem Marmorboden und vertäfelten Wänden zur Rechten entlang, der sie zuerst an Gemeinschaftsräumen, mehreren Workrooms und dann geradewegs zur Internatsbibliothek führte. Vor der geschlossenen Glastür der Bücherei blieb sie stehen und las, was auf der Infotafel neben dem Eingang stand: Bücherausleihe, montags bis samstags von 11 bis 19 Uhr, sonntags von 10 bis 12 Uhr. Lucy lugte neugierig durch die Glasscheibe und bestaunte die deckenhohen, mit Büchern vollgestopften Regale, an denen mobile Bibliotheksleitern befestigt waren, als plötzlich eine Stimme hinter ihr erklang. »Mist! Jetzt bin ich zehn Minuten zu spät. Ausgerechnet heute macht Frau Bley mal pünktlich Feierabend. Die ist sonst auch immer länger da!«

Lucy fuhr erschrocken herum. Ein etwa gleichaltriger Junge stand vor ihr, bepackt mit einem Stapel Bücher, den er zwischen seinen Händen und dem Kinn balancierte. Er trug ein weißes ROCKBOX-T-Shirt, dazu eine beige Cargohose und helle Stoffturnschuhe. Um sein Handgelenk baumelte ein Lederarmband, an dem ein silberner Totenkopf-Anhänger befestigt war. Lucys Blick glitt weiter über den wirren Bedhead-Look seiner weizenblonden Haare, die wirr in alle Richtungen abstanden, und blieb an seinen leuchtenden graugrünen Augen hängen, die im nächsten Moment bräunlich schimmerten. Fasziniert starrte sie ihn an wie eine exotische Pflanze und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Der Typ sah aus wie das Model einer Burton-Werbekampagne.

»Äh? Kannst du auch sprechen oder so?«, fragte der Junge nun und musterte sie mit unverhohlener Neugier, während ein schelmisches Grinsen seine Mundwinkel umspielte. Seine Verärgerung einige wenige Augenblicke zuvor schien vergessen zu sein.

»Was? Oh, ähm … ja, natürlich«, stotterte Lucy und schulterte den Gurt ihrer Kamera, um ihre plötzliche Verlegenheit zu überspielen. Reiß dich zusammen! Der Typ muss ja sonst was von dir glauben, wenn du ihn mit offenem Mund wie das achte Weltwunder anstarrst. Wie peinlich! Lucy spürte Hitze in ihren Wangen aufsteigen. »Lucy«, sagte sie schließlich und versuchte, ganz cool zu klingen. Fast wäre es ihr gelungen, doch dann streckte sie dem Jungen eine Hand entgegen – und zog sie sofort wieder zurück, weil sich der Bücherstapel in seinen Armen nicht auf wundersame Weise in Luft aufgelöst hatte. »Ich bin übrigens neu hier.«

»Aha. Gut zu wissen. Ich bin Lasse«, sagte der Junge und deutete ein Nicken an, das den Stapel gefährlich ins Wanken und die oberen Bücher ins Rutschen geraten ließ.

Lucy konnte ein Buch gerade noch rechtzeitig auffangen, als es vollends vom Stapel glitt. »Das war knapp.«

»Danke. Jetzt muss ich die Bücher wieder zurück in mein Zimmer schleppen«, seufzte Lasse, wandte sich schon zum Gehen um, blieb dann aber stehen. »Was ist? Begleitest du mich oder willst du noch länger vor der verschlossenen Bibliothek warten?«, fragte er und Lucy konnte am Klang seiner Stimme hören, dass er sich schon wieder prächtig über sie amüsierte.

»Äh … klar komme ich mit«, antwortete sie möglichst lässig. Sie wäre am liebsten schreiend weggerannt. So ungeschickt benahm sie sich doch sonst nie!

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher den Flur entlang Richtung Haupttreppe.

»Bist du schon lange hier? Ich meine im Internat?«, durchbrach Lucy die Stille, als sie um die nächste Ecke bogen.

»Nee. Noch nicht so lange.«

»Ich dachte, wegen der Bücher.«

»Ach so, die. Nee, die meisten habe ich mir während der Pfingstferien ausgeliehen. Mit irgendwas muss man sich ja schließlich beschäftigen, wenn hier schon nix anderes los ist.«

»Du warst während der Ferien im Internat? Warum das denn?«

»Du bist ziemlich neugierig«, stellte Lasse lachend fest. »Ja, ich war in den Ferien hier, weil meine Eltern geschäftlich in der Weltgeschichte rumreisen mussten und keine Zeit für mich hatten. Und da sie Miss E. schon seit Urzeiten kennen, haben sich mich kurzerhand im Internat geparkt.«

»Ah. Cool.« Cool?

»Na ja, wie man’s nimmt, ne. Ich hätte mir auch was Interessanteres vorstellen können, als die ganze Zeit hier allein rumzuhängen und mich aus purer Langeweile durch die halbe Bibliothek zu lesen.«

Mist! In Lasses Gegenwart benahm sie sich völlig tollpatschig und ließ keine Peinlichkeit aus.

Lucy und Lasse waren am Treppenabsatz angekommen, als Hanna unten in der Empfangshalle auftauchte. »Da bist du! Ich hab dich schon überall gesucht. Gleich ist Open-Air-Kino im Schlosspark«, erklärte sie, ohne von Lasse Notiz zu nehmen. »Sie zeigen Der Teufel trägt Prada. Kommst du?«

»Ich gehe dann mal. Meine Arme sind schon ganz lahm. Wir werden uns ja mit Sicherheit noch häufiger über den Weg laufen.« Lasse zwinkerte Lucy zu. »Also dann. Tschö.«

Lucy winkte ihm nach. »Tschö.« Tschö? Was war nur mit ihr los? Normalerweise benutzte sie »ciao« oder »tschüss«, wenn sie sich verabschiedete. Das Wort »tschö« hatte sie bisher noch nie gehört, geschweige denn gesagt. Sie blickte Lasse hinterher, der um ein Haar mit einem Zwillingspärchen zusammengestoßen wäre, weil sie von links in seinem toten Winkel auftauchten.

Hanna verschränkte die Arme und grinste. »Erde an Lucy. Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«

»Klar! Ich komme.«

Es war ein ungewöhnlich warmer Frühsommerabend. Die Grillen zirpten um die Wette und auf dem Rasen des Schlossparks saßen die Schüler auf bunten Decken im Licht der untergehenden Sonne. Lucy und Hanna setzten sich zu Laetizia auf eine im Burberry-Stil karierte Picknickdecke. Den Film mit Anne Hathaway hatte Lucy zwar schon gefühlte hundertfünfzig Mal gesehen, aber ihn unter freiem Himmel auf einer Leinwand zu schauen, war noch mal ein besonderes Erlebnis. Die Atmosphäre im Park wirkte so magisch, dass sie sie unbedingt mit ein paar Schnappschüssen festhalten musste.

»Guck mal unauffällig nach links«, wisperte Laetizia neben ihr und machte eine Kopfbewegung in die Richtung zweier Jungen, die bei einer rothaarigen Schülerin mit Hochsteckfrisur auf einer Decke saßen. »Siehst du den Typen mit dem blonden Strubbelhaar und den mit dem blauen T-Shirt? Das ist unsere Konkurrenz. Die zwei Nachwuchs-Versaces müssen wir aus dem Rennen kicken«, fügte sie erklärend hinzu und schien wieder bestens informiert zu sein. Lucy hingegen starrte bloß entsetzt zu dem blonden Jungen in hellem T-Shirt mit türkisfarbenem »Fuck Yeah« Message-Print, bei dem es sich um keinen Geringeren als Lasse handelte.

»Aha«, brachte Lucy nur hervor und beäugte unauffällig das ungleiche Paar. Mit einem Schlag war ihre gute Laune verflogen.

»Der Blonde ist Lasse und der andere heißt Ben«, raunte ihr Laetizia verschwörerisch zu.

Fast wäre Lucy ein »Ich weiß« herausgerutscht.

»Tja, wie du siehst, ich bin immer up to date«, lobte sich Laetizia selbst, die Lucys Sprachlosigkeit als Staunen ob ihrer ach so tollen Insider-News wertete.

Lucy räusperte sich. »Könnte man so sagen.« Dass sie keinesfalls erstaunt, sondern vielmehr entsetzt über die Tatsache war, ausgerechnet Lasse aus dem Rennen kicken zu müssen, um einen der verbleibenden zwei Plätze zu ergattern, behielt sie lieber für sich.

»Aber keine Sorge. Ich habe bereits ihren schwachen Punkt gefunden und auch schon einen Plan, wie wir die beiden todsicher eliminieren können«, flüsterte Laetizia siegessicher und tätschelte dabei Lucys Arm.

Lucy versuchte unauffällig Lasse und Ben zu beobachten. Der schmächtige Ben trug eine schwarze Hornbrille und ein ausgewaschenes T-Shirt, dessen Farbe wohl mal Marineblau gewesen sein sollte. Er hockte mit hängenden Schultern auf der Decke, blies sich alle paar Sekunden Haarsträhnen seines zu langen Ponys aus dem Gesicht, zog dabei die Nase kraus, um danach seine Brille etwas höher zu schieben. Rein optisch war Ben nicht gerade der Prototyp eines Schülers am renommierten Modeinternat, sondern erinnerte Lucy eher an eine 08/15-Ausgabe von Sheldon Cooper – ein waschechter Nerd. Vielleicht war das genau die Schwachstelle, die Laetizia meinte, um sich gegen die Jungs zu behaupten.

Lasse hingegen hatte den Look eines coolen Cover-Boys aus einem Surfer-Magazin und passte mit seinem stylishen Aussehen perfekt in ein Modeinternat. Allein sein Anblick führte zu einer Beschleunigung ihrer Pulsfrequenz. Und das, obwohl er einige Meter weit weg und dazu noch ihr Konkurrent war. Unter anderen Umständen wäre ich bestimmt zu ihm rübergegangen und hätte mich mit ihm unterhalten, dachte sie traurig. Vorausgesetzt, ich hätte mich nicht wieder in Miss Ungeschickt persönlich verwandelt. Doch zwangloses Plaudern ging ja jetzt nicht mehr. Als Lasse unverhofft zu ihr herüberschaute, senkte sie rasch den Blick und drehte den Kopf zur anderen Seite.

»Es geht los.« Hanna stupste sie an und nickte Richtung Leinwand, auf der schon der Vorspann lief. Sie schien Lucys Stimmungswechsel nicht zu bemerken und darüber war Lucy ganz froh. Sie konnte sich ihre Traurigkeit selbst nicht erklären, sie kannte Lasse ja eigentlich gar nicht. Lucys Gedanken schweiften immer wieder vom Film ab. Sie war endlich angekommen, eine Schülerin an der Fashion School Bernstein. Der