Dr. Angst

Dr. Angst

Fritz Lehner

Seifert Verlag

Inhalt

1. Gloria

2. Rita

3. Carmen & Corinna

4. Melissa

5. Lucia

1

Gloria

Er setzte sich neben sie. Heute Nacht oder nie. Nick bestellte einen Fog Cutter, seine Stimme hatte ihre Wirkung. Gloria sah nicht her zu ihm, aber sie fühlte sich mit Sicherheit augenblicklich wohl an seiner Seite. Das spürte er, anders konnte es gar nicht sein. Der Barkeeper goss in hohen Bögen, schüttelte seinen glänzenden Becher wohl zum millionsten Mal, schenkte ein, Nick zog das Glas an sich heran, trank noch nicht, weil er jeden Augenblick möglichst lange genießen wollte. Wenn alles so gelang und mühelos weiterging, würde die Intermezzo Bar des Hotels sein neues Zuhause werden. Noch heute Nacht gehörte ­Gloria ihm, auch das spürte er. Er wusste es. Mit ihr würde sein neues Leben beginnen.

Heute Nacht oder nie. Ihr Körper interessierte ihn nicht, nur ihre Augen, ihre Seele, ihre Angst. Noch saß sie an der Bar. In wenigen Stunden würde sie ihn anbeten, in ihrer Suite. In wenigen Stunden war Nick der beste Angsttherapeut aller Zeiten. Oder alles kam ganz anders, und er musste sich aus dem 8. Stock seines Hotelzimmers stürzen. Sieg oder Niederlage. Man lebte nur einmal. Nick ohnehin schon 32 Jahre falsch. Bis heute. An seinem Geburtstag. 33. Endlich. Ihm gefielen besondere Ziffern und Zahlen.

Nick könnte Gloria von seinem Geburtstag erzählen. Nach vier Jahren hatte er ihn heute wieder, und sogar das war ihm zu oft. Alle vier Jahre am 29. Februar. Ob sie wusste, dass 2020 ein Schaltjahr war? Sie würde ihn ansehen wie ein Wesen von einem anderen Stern, ihn bedauern, keinesfalls lächeln, dazu war ihre Angst zu groß, sie bemühte sich jetzt schon, gleichmäßig zu atmen, vor allem die aromatische Luft der Bar lange und deswegen richtig aus ihrer Lunge zu pressen, auf keinen Fall zu hyperventilieren, bestimmt hörte sie jetzt in ihrem Kopf, was ihr die Psychotherapeuten immer wieder gesagt hatten. Wie viele mochten es gewesen sein? Sieben, neun? War Nick der zehnte? Und endlich der richtige und ihr Erlöser? Aber vielleicht hasste sie Ärzte und hatte nur Bücher über ihre Krankheit gelesen? Dann würde heute Nacht noch alles einfacher sein, ohne Konkurrenz. Sein Plan musste gelingen, ohne Gerede über seinen Geburtstag, der sie nicht eine Sekunde interessierte, sondern nur mit diesem Stück in seiner Umhängetasche, das er geschickt und wie ohne jede Absicht oder Hintergedanken gleich auf die Theke legen würde. Eigentlich waren es zwei Stück, das eine schwer, sehr schwer, das andere leicht, federleicht.

Nick zwang sich, langsam und lange auszuatmen, um vor Freude und Aufregung über die Eleganz seines Vorgehens und die Raffinesse dahinter nicht selbst plötzlich seine erste PA zu erleben und am Ende noch vom Barhocker zu fallen. Im Kopf der Frau neben ihm nahmen diese zwei Buchstaben bestimmt mehr Platz ein als alles andere, das Wort Panik­attacke wäre für ihr erbärmliches Leben zu lang gewesen, doch gleich würde sie es lesen. Lesen müssen. Ebenfalls zwanghaft. Weil es Nick so wollte, weil er es verstand, Menschen wie Fische an den Haken zu nehmen. Heute angelte er die blonde Gloria. Eigentlich war sie sein erster Fang. Bisher hatte er sich zurückgehalten, doch nach dem Tod seines Vaters war alles möglich. Dazu kam der 29. Februar 2020, die legendäre Intermezzo Bar des Hotels, das er mehr liebte als alle anderen, das Spiel des Pianisten, der eben, wie bestellt, eine Melodie aus Casablanca begann. Nick erkannte sie nach den ersten Anschlägen. Gloria bekam feuchte Augen, auch wenn sie als Angstbesessene wissen musste, dass die Liebe nichts für sie war. Wie zum Trotz bestellte sie einen French 75, änderte ihre Meinung, wurde wieder mutlos, entschied sich für einen Bellini. Der Barkeeper goss enttäuscht Pfirsichmark und Sekt für das Kindergetränk in den Shaker. Nick war es nur recht, denn mit einer Wahnsinnigen, die auch noch betrunken war, hätte Dr. Nick Prevost nicht viel anfangen können. Dr. Nick Prevost. Vor allem Doktor. Er durfte es ihr nicht zu früh sagen, es musste beiläufig aus ihm kommen, als wäre es nicht wichtig. Doch eines war klar, darauf vergessen durfte er nicht. Ob sie ihn dann auch so respektvoll ansah wie die Rezeptionistin beim Einchecken heute morgen?

Nick wandte sich um, bog sich hinunter zur Tasche, die an seinem Hocker hing, zog das schwere Buch hervor, legte die Zeitung darauf, rückte, von Gloria unbemerkt, auch das sensationelle Lesezeichen zwischen den Seiten zurecht, legte den Köder für den heutigen Menschenfang auf die Theke, sah die Enttäuschung im Gesicht der etwa Vierzigjährigen, von der Rezeptionistin hatte er nur ihren Namen erfahren, nicht das Alter. Dass sie attraktiv war, hatten auch die anderen einsamen Jäger der Nacht auf den Drehhockern einer der ältesten American Bars von Wien längst gesehen, und Nick kam sich inmitten der aufgeregten Männer wie auf einem Ringelspiel vor. Doch Gloria war für ihn bestimmt. Zug um Zug. Im ersten Augenblick hatte sie noch ein enttäuschtes Gesicht gemacht, weil er offenbar an ihrer Seite nur lesen wollte, jetzt nahm sie die Sonnenbrille ab, weil sie den Titel auf dem Buchrücken entdeckt hatte, nur einen Teil davon, noch dazu auf dem Kopf stehend. Zug um Zug, nichts wurde von Dr. Nick Prevost dem Zufall überlassen. Nick sah endlich ihre Augen, so nah wie nie zuvor, groß, beweglich, sehr beweglich, bestens für sein Vorhaben geeignet, dazu leuchtendes Weiß, in der Mitte eine Tiefe ohne Ende, erworben durch jahrelange Angst, er hätte nicht glücklicher sein können.

Nick hatte bei einem Geschöpf wie Gloria nur Chancen, wenn er sich zurückhielt. Sie musste den ersten Schritt tun, auch die weiteren, die Patientin ihren Retter suchen und finden. Die Schöne war auch noch kurzsichtig, weil sie die Augenlider verengte, doch mehr als das Wort Therapien würde sie vom Titel nicht zu lesen bekommen, dafür hatte Nick mit der überhängenden Zeitung gesorgt. Enttäuscht würde Gloria ihre Sonnenbrille wieder aufsetzen und sich von ihm abwenden, falls das dicke Buch auf der Theke von Rückenschmerzen oder Herzproblemen handelte. Noch hoffte sie jedoch auf ein einziges Wort. Nick konnte es ihr geben, aber nicht wie ein Stück hingeworfenes Fleisch für einen Hund, sondern sie sollte sich darum bemühen. Er bekam immer mehr Freude an dem Spiel, sie war seine Marionette, er zog die Fäden, schon jetzt, noch vor der großen Nacht.

Nick prägte sich die Lage seines Buches ein, die Zeitung darauf, die den Titel zur Hälfte verdeckte. Neben ihm führte Gloria ihren süßen Cocktail zum Mund, ihre Neugier schien sie fast zu zersprengen, sie hoffte sehnlichst, Nick möge aufstehen und für einen Augenblick irgendwohin verschwinden. Nick konnte ihr diesen Wunsch erfüllen. Er glitt vom Hocker und ging auf sie zu.

Zum ersten Mal in seinem Leben stand er vor dieser Wand voller Gesichter, die er beinahe alle kannte. Ein Bild hing neben dem anderen, und sie alle waren einmal hier gewesen, der eine oder andere berühmte Gast des Hotels vielleicht sogar auf seinem Barhocker gesessen, aber ein jeder unter dem größten Luster der Stadt, Cocktails vor sich, in sich, vor einem Auftritt in der Stadthalle, nach einer Premiere ihres neuesten Filmes im Gartenbaukino, oder todtraurig, weil sie nach ihrem Soloabend im Konzerthaus nicht den erhofften Jubel bekommen hatten. Nick konnte Kirk Douglas kaum erkennen, so jung war er damals gewesen, aber schon ein Stern, Richard Burton sah aus wie immer, mit glänzenden Augen, im Hotel soll er immer einen ganz besonderen Wein getrunken haben. Mick Jagger hinter Glas, fast noch ein Kind, sehr artig, zur Überraschung aller hatten damals die Rolling Stones die Präsidentensuite nicht demoliert. Sharon Stone sah im dünneren Rahmen nicht viel besser aus als ­Gloria. Nur einer fehlte. Er. Aber vielleicht erkannte Nick ihn nur nicht, oder das Foto war zu schlecht, zu hoch oben, nur für das Reinigungspersonal mit Leitern erreichbar, und manche Gläser der Bilder glänzten wie verrückt, der Albtraum eines jeden Spiegelphobikers.

Nick sah sich selbst da und dort seitenverkehrt, doch es gelang ihm nicht, Gloria an der Theke hinter seinem Rücken zu erkennen. Dafür war sie doch zu weit weg, inmitten von Silhouetten, die einiges dafür geben würden, die Nacht mit ihr zu verbringen, in der Suite, die an das einfache Zimmer von Nick grenzte, hoch über der Stadt. Aber doch nicht ganz oben. Einmal jedoch würde er auch im 12. Stock des Vienna Intercontinental wohnen. Und auch an dieser Wand hängen. Als besonderer Gast. Ein Besonderer. Warum sollten Jugendträume nicht in Erfüllung gehen? Als Nick weiterdachte, fing sein Herz an zu jagen, sein Mund trocken zu werden, ein Spiegelbild zeigte ihm seine von Schweiß glänzende Stirn, und alles schien einzutreten, was er über eine PA und all diese hysterischen Gestalten wusste, die bei der kleinsten Aufregung einen Anfall bekamen. Manche sogar aus dem Nichts.

Er atmete durch, tief aus, tief ein, aber ganz flach, damit man in der American Bar in dieser grauenhaften Spielpause des Pianisten nicht sein Röcheln hörte. Er kam zur Ruhe, hatte schon weniger Angst vor der drohenden Zukunft, schöpfte wieder Hoffnung, allen Ankündigen zum Trotz konnte sich das Blatt noch wenden, und das Hotel würde doch nicht abgerissen werden. Sein Hotel. Zerstörung schon nächstes Jahr. Dem Boden gleichgemacht für etwas Neues. Sein Zuhause, das er heute morgen zum ersten Mal betreten hatte.

Er schwankte zurück zur Theke, auf dem dunklen Weg dorthin trocknete er mit einer Serviette seine Stirn, die Wangen, beide Augenlider. Er konnte nur hoffen, dass Gloria keine zu feine Nase hatte und die Austritte aus allen Poren nicht roch, aber die Angstbesessenen erkannten einander auf die größten Entfernungen.

Nick hievte sich auf den Hocker. Wenigstens war Gloria bei ihm. Was die Angst betraf, überragte sie ihn haushoch und war damit unter ihm, sie kam aus dem tiefsten Keller, er lebte zumindest jetzt noch ebenerdig. An ihr konnte er sich festhalten. Und an seinem Können. Menschen mit seinen Begabungen wurden Wissenschaftler oder Künstler, bei Nick reichte es zu beidem. Erfolge waren wichtig im Leben eines Menschen, alles andere ein Dahinsiechen. 32 Jahre. Nick trank darauf, spülte sie mit seinem Fog Cutter weg. Beim Abstellen des Glases blühte er auf. Der kleine Erfolg würde zum größeren führen. Die Zeitung auf dem Buch lag anders, verrückt. Nick zog die Fäden, einer feiner gesponnen und ausgelegt als der andere, er war der King. Irgendwann würde sein Foto an der Wand der Intermezzo Bar hängen, von mehr Menschen betrachtet und bewundert als Omar Sharif oder Michail Gorbatschow.

Doch vorerst hing nur Gloria an ihm. Würde sie ihn anbellen, oder war ihre Stimme süß wie das Pfirsichmark im Bellini, den sie wohl aus lauter Aufregung schon ausgetrunken hatte? Nick nahm sich vor, den Fisch an der Leine ein wenig zappeln zu lassen, das Fangspiel auszukosten. Doch Gloria machte es ihm nicht leicht, ihre Stimme war nicht schlechter als seine, anders, er fühlte sich nicht gleich wohl bei ihr, sondern wie in einem Film. Er hatte Sharon Stone in der Originalfassung im Gartenbaukino gesehen, auch Ingrid Bergmann, Gloria lag irgendwo dazwischen, oder sie konnte beides, verstörend und aufregend genug. Beruhigend waren nur diese Good Vibrations, die er schon bei den Patienten seines Vaters unzählige Male gehört hatte. Da er nicht gleich antwortete, fragte sie ihn ein zweites Mal.

»Ist es gut?«

Er durfte jetzt nicht einmal nicken, er dachte an den Angelhaken, an das Aufbäumen der Fische aus dem Wienfluss, er beachtete sein Buch nicht, blickte lange und schweigend auf die Wand der Bilder hinter der Theke. Er musste mit seiner Stimme gleich von Anfang an den richtigen Ton treffen, Gloria umhüllen, verwirren und quälen.

»Er fehlt.«

Nick war zufrieden. Zwei Worte, zweimal Wohlklang, seine nächsten beiden würden noch großartiger werden, doch vorher musste Gloria zeigen, dass er sie aus der Bahn geworfen hatte.

»Ich rede von Ihrem Buch. Wer fehlt?«

Sie schob ihre Uhr auf dem dünnen Unterarm hin und her, eine Cartier in Roségold mit Diamantbesatz. Nick sah Gloria in die Augen.

»Johnny Cash.«

»Der Killer?«

»Wie kommen Sie auf diese Idee? Das ist ja verrückt.«

Nick hätte Gloria am liebsten ins Gesicht geschlagen und sie mit einem zweiten Hieb vom Hocker geworfen.

»Ihr Johnny Cash war doch im Gefängnis, soviel ich weiß nicht nur einmal, sogar in St. Quentin. Vielleicht hängt deswegen sein Bild nicht an der Wand.«

Nick musste einen Augenblick warten, um seine wohlklingende Stimme wiederzufinden.

»Johnny Cash hat in Gefängnissen gesungen. Viermal in St. Quentin. Auftritte für die Häftlinge. Johnny ist kein Killer, er ist der erfolgreichste Country-Musiker aller Zeiten.«

»Jackson, Ring of Fire, Flesh and Blood. Am besten gefällt mir Man in Black. Und Sie sind ja auch schwarz angezogen wie er.«

Nick hätte Gloria am liebsten zart und leicht wie eine Feder ins Gesicht geschlagen und sie dann auf den Mund geküsst. Doch dazu war er zu scheu und außerdem ihr Therapeut, auch wenn sie es noch nicht wusste.

Er reichte ihr die Hand.

»Nick Prevost. Doktor Nick Prevost.«

»Und ein wenig sehen Sie sogar Johnny ähnlich.«

»Ja?«

Nick hätte zwar nichts lieber gehört, aber er musste achtgeben, Gloria war sein Spielball und nicht umgekehrt. Sie hielt immer noch seine Hand, ihr Blick ihm zugewandt, geheimnisvoll, hinterhältig. Wenn man nur seiner Stimme die Aufregung nicht anmerkte.

»Sie haben mir noch immer nicht Ihren Namen gesagt.«

»Gloria. Und Sie haben recht, ich bin verrückt.«

Deswegen sitze ich ja auch neben dir, mein Kleines, dachte Nick, deswegen habe ich dich ja auch auserwählt, deswegen verbringen wir noch in dieser Nacht aufregende Augenblicke in deinem Zimmer, Augenblicke, auf die ich so lange gewartet habe. Du hängst jetzt schon an mir, lass sie los, lass meine Hand los.

»Nick, woran denken Sie?«

»An heute Nacht. Ist es Zufall, dass Sie in einem der Zimmer von Johnny wohnen?«

»Seit einer Woche. Kein Zufall. Und es ist eine Suite. So ganz bescheiden war Mister Cash doch nicht immer, und ich bin es noch viel weniger. Woher wissen Sie meine Nummer?«

»Ich wohne in seinen Zimmern, schon seit Jahren, bei jedem Besuch in Wien. Doch dieses Mal hatte ich kein Glück, schon vergeben, deswegen schlafe ich heute zwei Stock tiefer, im Bett von Lauren Bacall.«

»Nur eine Nacht?«

»Ja, dann geht’s wieder zurück nach London, zur Arbeit, zu meinen Verrückten.«

»Und das Buch?«

»Von einem Kollegen. Ich rate jedem, werden Sie nie Psychotherapeut, eine Schlangengrube, jeder weiß es besser, jeder ist der Größte, und ein Kongress ist die Hölle. Es gehört Ihnen.«

Nick schob ihr das Buch zu, sie strich mit dem Finger über den Titel.

»Lesen Sie es, machen Sie sich Hoffnungen, alle umsonst. Ängste kann man heilen, aber nicht so, wie dieser Schwätzer es glaubt, auf sechshundert Seiten alle Phobien dieser Welt. Ihre ist bestimmt dabei. Ihre ist wenigstens faszinierend, dieses Machwerk aber ist eine einzige PA, eine Attacke auf mich, verbrennen Sie den Dreck.«

Nick war sich nicht sicher, ob er nicht zu heftig und ordinär geworden war, trotzdem drängte es ihn fast, noch ausfälliger zu werden, lauter. Seit einigen Monaten wusste er, dass seine Stimme nicht nur ein Erlebnis für jeden Zuhörer war und aus der Kehle und dem Mund von Johnny kommen könnte, sondern auch kräftig, das Klavierspiel wäre leicht zu übertönen gewesen. Wilde Flüche zum Jazz des Pianisten. Nick Prevost war eben nicht mehr das stille Wasser, und warum sollten es nicht alle in der Intermezzo Bar wissen, mit wem sie es am 29. Februar 2020 zu tun hatten.

»Wovor habe ich denn Angst, was ist so faszinierend an mir?«

»Das Zimmer von Johnny Cash. Sein Bett.«

»Sie sind ein Spieler, Nick, ein Blender, Sie bluffen. Welche Phobie habe ich Ihrer Meinung nach? Interessiert mich sehr, ein Wort genügt.«

»Eisoptrophobie.«

Nick brauchte wirklich nicht mehr zu sagen, Gloria verstand es sofort, hatte es tausende Male gehört, gedacht, geträumt, verflucht.

»Wer hat mich verraten? Kennen Sie meinen Arzt? Alle? War einer von ihnen auf dem Kongress?«

Nick nahm Glorias Sonnenbrille, setzte sie auf, erblindete beinahe.

»Achtzig Prozent?«

»Siebenundneunzig.«

»Eine meiner Patientinnen hatte Lichtschutz hundert, auch nachts. Ob sie sich in Bars herumgetrieben hat, weiß ich nicht, aber der Trick ist doch immer derselbe, er hat Sie verraten, Ihr Blick durch den Spalt an der Seite, links, rechts, nie nach vorne, man weiß nie, wann der Nächste kommt, das Leben ist eine blinde Hölle.«

Gloria nahm ihm die Brille ab, berührte dabei seine Wangen, strich mit einem Finger über seinen Mund, als wollte sie ihn versiegeln.

»Es bleibt unser Geheimnis. Absolute Hölle. Man weiß nie, wann und wo der Nächste kommt. Sie sind der beste Angsttherapeut, den ich in meinem Leben kennengelernt habe.«

»Scharlatan. Das sagen meine Kollegen. Meine lieben Kollegen reden, verkaufen Bücher, verschreiben sinnlose Medikamente, treiben mit unzähligen Therapiesitzungen ihre Patienten in den Ruin, haben noch nie etwas von EMDR gehört, während ich damit heile. Meine Männer und Frauen dürfen wieder leben, ich nenne sie auch nicht Patienten oder Klienten, es sind Männer und Frauen, vor allem Frauen.«

»EMDR, den Namen habe ich schon einmal gehört, nicht ernst genommen. Schmerzhaft?«

»Sehr. Nicht für Fleisch und Blut, sondern für die Seele, zuerst die Qualen, dann die Erlösung.«

»Können Sie auch mir helfen? Dass ich wieder die Brille abnehmen kann, die Fenster mit ihren verdammten Glasscheiben unbesorgt aufmache, in Auslagen schaue, in jedes Geschäft gehe. Meine Angst vor … Sagen Sie das Wort, Nick, ich habe mir schon vor Jahren geschworen, es nie wieder auszusprechen.«

»Spiegel. Sie werden Ihre Freunde, ich verspreche es Ihnen.«

»Wann? Nick, wann?«

»Noch heute. Ich sehe ja, wie Sie leiden. Morgen reise ich ab. Wir haben nur die Nacht.«

»Wo?«

»Im Zimmer von Johnny Cash, in seiner Suite.«

»Sind wir allein?«

»Nur wir beide. Und sie natürlich.«

»Sie? Sind Sie mit jemandem hier? Ihre Freundin? Eine Kollegin?«

»Meine Assistentin.«

Nick sah die Enttäuschung in Glorias Augen, die Frau mit Spiegelphobie hatte noch nicht alle ihre Gefühle verloren. Er zeigte auf das Buch, nannte ihr eine Seite, sie schlug sie auf, blickte auf eine grauweiße Feder.

»Eigenartiges Lesezeichen, Nick.«

»Nicht berühren. Ich hebe sie immer zwischen Büchern auf. Für den Fall, dass mir jemand über den Weg läuft wie Sie. Von einer Möwe. Ein Wunderwerk. Mein Zauberstab. Waren Sie schon am Wienfluss spazieren? Oder im Stadtpark? Überall Möwen, hunderte, man könnte sagen, für jeden Hotelgast eine, ein paar Schritte von hier.«

»Ich hasse Möwen, sie hacken einem die Augen aus.«

Nick war zufrieden, alles lief nach Plan, in Glorias Gehirn entstanden jetzt vermutlich Bilder aus Horrorfilmen, Vodoo-Zauber und einem geheimnisvollen Fremden in Schwarz, der sie immer wieder überraschte. Nick gefiel Dr. Nick Prevost immer besser, dieser gutaussehende Kerl saß noch keine halbe Stunde zum ersten Mal in seinem Leben in dieser Bar, und die attraktivste Frau an der Theke sah nur noch ihn, hörte mit großen Augen wie ein Kind seine fantastischen Geschichten, glaubte sie alle, war wie er voller Hoffnung auf ein neues Leben, ohne Angst vor Spiegeln.

Der Barkeeper notierte die Zimmernummern, Nick lobte den French Cutter, Gloria schwärmte vom Bellini, zwei Hocker blieben leer zurück, ein Paar hatte sich gefunden, war über den dicken Teppich unterwegs zu einer unbekannten Nacht. Nick bemerkte, wie sich Gloria am Klavier vorbeidrückte und dabei den Blick auf den aufgeklappten Deckel vermied, damit der glänzende Lack nicht ihr Ebenbild zeigte. In der Lobby setzte sie die Sonnenbrille wieder auf. Der Weg zum Lift musste ihr wie ein Spiegelkabinett vorkommen, sie wich sogar den Leuchten und Geländern aus Messing aus, den funkelnden Rollwagen für Koffer und Reisetaschen. Was für andere Gäste der goldene Glanz des Intercontinental war, musste für Gloria eine tausendfache Begegnung mit sich selbst sein, mit ihrem Gesicht, vor dem sie sich fürchtete. Nick wusste über die Eisoptrophobie mehr als jeder noch so angesehene Psychotherapeut in der Stadt, und wenn jemand diese grausame Einbildung des Gehirns heilen konnte, dann er. Mit einer Feder. Er hatte sie heute unter einer Bank des Stadtparks gefunden, als er sich noch alles bis ins Kleinste überlegt hatte. Gloria war sein Star. Aufregend schön von Kopf bis Fuß, das sah er jetzt wieder, als er ihr den Vortritt ließ und sie zitternd den Lift betrat. Er würde sich in seinem neuen Leben nur Perlen aussuchen, sie litten unter Ängsten mehr als ohnehin hässliche und vom Leben gezeichnete Menschen, sie wollten um jeden Preis wieder gesund werden, sie klammerten sich an jeden Strohhalm, Gloria an eine Möwenfeder. Die Fahrt in den achten Stock begann sie mit einem Blick in das Buch, Nick hatte für sie beide die Zimmerkarte an den Sensor gehalten, er sah ihre Gestalt in den Messingwänden und Spiegeln der Kabine hundertfach, Gloria hingegen nahm kaum etwas wahr, die Gläser ihrer Sonnenbrille mit 97 Prozent Lichtschutz verschluckten bestimmt jede Schrift, sogar ganze Seiten des Buches, das sie in ihren Händen hielt.

»Gloria, Sie können immer noch allein auf Ihr Zimmer gehen, es ist ein Risiko, für Sie und mich. Ich könnte versagen, EMDR hilft nicht immer, und Sie sind bei Gott kein leichter Fall. Wenn Sie jetzt nicken, bin ich nicht gekränkt.«

Gloria schüttelte verneinend Kopf und Haare. Der Lift hielt an. Die Gänge waren niedrig, Nick hatte heute Vormittag keine Kameras gesehen, sie mussten um eine Ecke, dann um eine weitere, Gloria hielt ihre Karte an die Tür, ging voran, entschuldigte sich für den verhangenen Spiegel im Vorzimmer, legte das Buch auf die Ablage für Koffer. Nick hielt sie für eine sehr mutige Frau, weil sie ja nicht wissen konnte, was jetzt tatsächlich mit ihr passierte. Wenn die Heilung nicht gelang, würde sie enttäuscht sein, auch weil sonst nichts geschehen würde, weder Sex noch Tod. Nick betete zu seiner Stimme, zu seiner Möwenfeder und zu dem, was er schon öfter über sich gehört hatte und man Charisma nannte. Nick Charisma, das wäre der passende Name, die richtige Bezeichnung für den Künstler, der er war. Vielleicht im Frühling oder Sommer, wenn er schon einige Heilungen hinter sich hatte, auch in kleinen Zimmern. Die Präsidenten-Suite wäre das Höchste, noch waren es nur 70 Qua­drat­meter, aber immerhin ein Wohnzimmer extra und zwei Bäder, Gloria musste sehr wohlhabend sein. Was war sie von Beruf? Das wusste er noch nicht. Er würde es auch nie wissen wollen, je weniger umso besser, nur keine Gefühle, keine innerliche Bindung, keine Erinnerung an schöne Seiten einer Schönen mit einem Defekt im Gehirn.

Nick lehnte Glorias Angebot ab, nichts aus der Zimmerbar, auch kein Stilles Wasser, obwohl sein Mund trockener und trockener wurde. Seine Kehle anfing zu kratzen, die Stimme litt bestimmt. Aber es war keine PA, nur Lampenfieber.

»Gloria, warum haben Sie die Vorhänge nicht zugezogen?«

»Wien ist die schönste Stadt der Welt. Ich möchte sie sehen, die Häuser, die Dächer, auch in der Nacht.«

»Gloria, Sie lügen.«

»Nein, warum?«

»Sie möchten gesehen werden.«

»Unsinn. Wozu? Angestarrt werde ich doch dauernd, auf der Straße, in jedem Restaurant, in der Bar bin ich Ihnen aufgefallen.«

»Wenn Sie einen Anfall bekommen, könnten Sie winken, hinaus zu den Häusern, zu den anderen Fenstern, man würde Sie sehen, man könnte Ihnen helfen. Manchmal kommt es auf Sekunden an, und in den Suiten sind die Vorhänge schwer, sogar ich hatte oft meine Mühe, wenn ich sie beiseite gezogen habe.«

»Ein Griff zum Haustelefon genügt.«

»Aber es ist niemand an der Rezeption, niemand beim Service, keine Hilfe, über den Flur schon gar nicht, mein Gott, erst der Lift, voller Spiegel, in der Suite immer weniger Luft, aber bevor Sie ersticken, sterben Sie vor Angst.«

Gloria kam auf Nick zu, war nahe daran, seine Hände in ihre zu nehmen.

»Nick, kann man vor Angst sterben? Man kann es nicht, hat man mir immer gesagt. Alle lügen, Sie nicht. Die Wahrheit ins Gesicht. Auch das ist es, was mir an Ihnen so gut gefällt. Sie kennen mich schon hundert Jahre.«

»Tausende. Länger. Ängste hat es schon immer gegeben. Oder vielleicht war zuerst die Angst da und erst dann der Mensch.«

Gloria nahm seine Hände, küsste sie. Menschen mit Angst werden zu Tieren, sein Vater hatte recht gehabt. Nick streichelte den Hundekopf, er berührte die Perlenkette, ein Halsband mit Leine war nicht notwendig. Er nahm Gloria an den Schultern und schob sie durch das große Wohnzimmer zu einem der rotfarbenen Polstersessel. Doch sie entwand sich ihm, lief weg, zog alle Vorhänge zu, kam wieder, ließ sich in den Fauteuil fallen, lehnte sich zurück, es fehlte nur noch, dass sie die Beine öffnete. Hatte sie ihn deswegen mitgenommen, den Latin Lover aus der Bar? Nick fielen wieder die Vorträge und Tiraden seines Vaters ein, Angstbesessene seien zu allem fähig, manche gingen sogar auf die Straße, eine Stunde Sex war eine Stunde ohne Panik, und Gloria war zudem an die vierzig. Er war blind gewesen, sie brauchte seinen Körper, nicht den größten und besten Therapeuten der Stadt, mit dem attraktiven Man in Black war sie mitgegangen, von einem Augenblick zum anderen. Jetzt war es an der Zeit, und er hatte auch die unbändige Lust dazu, es war auch ehrlich und angebracht, er schlug ihr ins Gesicht, einer Frau, zum ersten Mal in seinem Leben. Aber es wirkte gekonnt, ihr Kopf fiel wie in seinen Vorstellungen zur Seite, und sie machte auch das, was er sich immer gewünscht hatte, Gloria lachte, war weder gekränkt noch wütend auf ihn, sie blickte sogar auf zu ihm, er stand über ihr. Mächtig. Doch nicht als einer, der aus St. Quentin kam. Nick war eine zarte Seele, das wusste er von sich.

Gloria entschuldigte sich, schwor, ihm zu gehorchen, die vielen Tabletten seien schuld, und sie habe schon vor seiner zufälligen Begegnung mit ihm in der Bar einen Latin Lover getrunken, mit einem Schuss Tequila extra.

»Als Psychiater haben Sie es doch oft mit Menschen zu tun, die am Ende sind«, sagte sie jetzt unvermittelt.

»Angsttherapeut. Man darf sich nur auf eine Sache konzentrieren, wenn man gut sein will.« Es hatte keinen Sinn, Gloria lange einzuführen, ihr etwas vom REM-Schlaf und seiner heilenden Wirkung zu erzählen, Rapid Eye Movement hatte sie vielleicht schon gehört, und es klang auch gut. Doch dann müsste er noch die Brücke zu EMDR bauen, und eine wie sie wollte die Dinge am eigenen Körper erleben, in ihrem Innersten war sie noch ein Kind, anfällig für Märchen und Magie, warum sonst hätten Spiegel Macht über sie bekommen können. Er holte den Stuhl vom Schreibtisch, auch dort war der Messingfuß der Stehlampe mit einem Handtuch verdeckt. Nick befand sich tief in der Hölle einer verzweifelten Seele, er hätte seine erste Patientin nicht schlagen dürfen. Er erblickte auch durch die offenstehende Tür zum Schlafzimmer etwas, das er noch nie in einem Hotel gesehen hatte, über dem Doppelbett hing ein Bild, ein Porträt des Gastes, es zeigte Gloria in jüngeren Jahren, berauschend schön.

Er setzte sich ihr gegenüber, wie ein HNO-Arzt bei der Untersuchung entzündeter Mandeln oder eines milchigen Rachens. Doch er war für Augen zuständig. Ginge es nach ihm, dürften Menschen nur aus diesen kleinen Äpfeln in den Gesichtern bestehen, der Rest war ohnehin nichtsagend und uninteressant. Um Gloria musste er sich keine Sorgen machen, der Schlag war bestimmt vergeben und vergessen. Sie beobachtete ihn die ganze Zeit, aufmerksam, und er legte Wert auf jede Handbewegung, auf die Choreografie der heilenden Sitzung, gleich würde er ein Dirigent sein.

»Gloria, ich bin nichts, auf Sie kommt es an.«

»Keine Hypnose?«

»Ich hasse Menschen mit geschlossenen Augen, sie erinnern mich an Tote.«

Nick hatte Leichen bisher nur in Filmen gesehen, aber es half, wenn ihn jetzt auch ein wenig der Hauch des Todes umgab, denn es hatte schon EMDR mit Lachanfällen von Patienten gegeben, und Gloria war ja auch eine Hysterikerin, die sich statt Spinnen oder Schlangen leichter anzutreffende Spiegel ausgesucht hatte.

»Gloria, Sie stellen sich jetzt Ihr schrecklichstes Erlebnis mit einem Spiegel vor. Mit offenen Augen. Ihren größten Horror mit einem Bild im Spiegel. Schonen Sie sich nicht, ich bin ja bei Ihnen, Sie sind in den besten Händen, Sie sind meine beste Frau. Das grauenhafte Spiegelbild, ist es schon da?«

»Viele.«

»Nur eines.«

»Augenblick. Ja. Ich habe es. Schrecklich. Muss das sein?«

»Machen Sie die Augen wieder auf! Glauben Sie mir, es geht, das Äußere und das Innere Auge, beide offen, dazu Ihre Ohren, gefällt Ihnen meine Stimme?«

»Sehr.«

»Wie von Johnny?«

»Reden Sie weiter.«

»Eine Skala von eins bis zehn. Eins ist harmlos, zehn der denkbar größte Horror. Wo sind Sie jetzt, mit Ihrem Spiegelbild?«

»Bei acht.«

»Sehr gut, Gloria, sehr gut, man muss Sie lieben, weiter, strengen Sie sich an, mit mir zu den höchsten Höhen.«

»Neun.«

Nick sah ein von Angst verzerrtes Gesicht und wunderbar geweitete Augen, er beugte sich vor, um ganz auf seine Kosten zu kommen, das Sterben vor Angst mit aller Aufmerksamkeit zu beobachten, denn lange konnte Gloria ihren Trip nicht durchhalten, bald würde sie die Hände vor ihre Grimasse schlagen.

»Zehn.«

Gloria hatte ihn angeschrien, er musste seine Stimme auf leise und eindringlich stellen, Hypnose hin oder her, es kam darauf an, in die verborgensten Windungen ihres Gehirns vorzudringen und zugleich das Schreckensbild am Leben zu erhalten.

»Was hören Sie?«

»Ihre Stimme. Und Musik. Eine Gitarre. Wild. Wie Schreie. Jimi. Die amerikanische National-, National- …«

»… Nationalhymne, Jimi Hendrix, Woodstock.«

Nick war enttäuscht. Er hatte auf eine Ameise oder einen Borkenkäfer in ihrem Ohr gehofft, am besten wäre eine elektrische Bohrmaschine in einem Gehörgang gewesen. Er zog die Möwenfeder aus seinem schwarzen Sakko, nahm sie am Kiel zwischen Zeigefinger und Daumen, führte die Fahne mit ihrer breiten Seite bis auf einen Fuß an Glorias Gesicht heran, one foot, er hielt sich exakt an die Vorschriften für das Zaubertheater aus Amerika.

»Gloria, ich flehe Sie an, bleiben Sie bei zehn, machen Sie mir keine Schande, helfen Sie mir, Ihnen zu helfen, zehn, zehn, und jetzt sehen Sie auf meine Feder, lassen Sie sie nicht aus den Augen, keine Sekunde, auch nicht Ihren Spiegel.«

Nick war zu aufgeregt, um alles zu erfüllen, was die Dame aus New York in ihrem Buch geschrieben hatte, und vielleicht war er sogar besser als Francine Shapiro, voller Einfälle und Eigensinn, die Erfinderin von EMDR hatte sich ja noch mit ihrem nackten Finger begnügt, was ihm ekelig und ordinär vorgekommen wäre. Er führte die Möwenfeder an Glorias Gesicht vorbei, zuerst einen Millimeter, dann Zentimeter für Zentimeter, wie einen langsam vorbeifliegenden Vogel. Und die vierzigjährige Barfly erfüllte Nicks Wunsch, er hatte zwar von der Angstbesessenen Hingabe erwartet, doch sie folgte seinem Zauberstab mit ihrem Blick nicht nur wie angeheftet, als er langsam zurückglitt, sondern auch, als er immer schneller wurde, minutenlang wie das lange Pendel der Standuhr seines Vaters bis an die äußersten Grenzen ihrer Augen hin- und herschwang, dann sogar hektisch werden durfte wie ein Ball bei einem Tennismatch, doch immer präzise geführt, mit mehr und mehr Schmerzen in seinem Arm. Er ließ ab, von sich und Gloria, er wollte ja auch nicht, dass ihr die Augen aus dem Kopf fielen und durch das große Wohnzimmer der Suite rollten.

Er hatte alles gegeben, trotzdem kam er sich vor wie ein Anfänger oder ein Schauspieler, der zum ersten Mal auf der Bühne stand und gleich eine Hauptfigur aus einem ­Shakespearestück zu übernehmen hatte. Er war sich nicht sicher, ob Gloria ihn und seine Feder jetzt nicht mehr fürchtete als jeden Spiegel. Ihre Augen waren noch nicht zum Stillstand gekommen, irrten umher, fingen sich, fingen ihn, starrten ihn an. Nick musste ihr vorkommen wie ein Geistlicher, zuständig für die Austreibung von Dämonen, er war mehr außer Atem als seine Patientin. Sie beide hatten nicht eine Behandlung mit EMDR hinter sich, wie er sie in dem Buch gelesen und einstudiert hatte, sondern ein Massaker für Arm und Augen. Doch Gloria lächelte ihn an. Bestimmt war noch kein Psychotherapeut derart gewaltig über sie hergefallen wie die vermeintliche Zufallsbekanntschaft aus der Intermezzo Bar. Sie nickte, bejahte wortlos, schien begeistert.

So musste es sein, wild und heftig, wie eine Umarmung von einem Latin Lover, kein stundenlanges Gerede und Gloria unzählige Male allein auf der Couch. Es ging ja auch um etwas, das keine Kleinigkeit war und ihr das Leben seit Jahren zu Hölle gemacht hatte, eine Axt musste her, um ihre Spiegel zu zertrümmern. Nick kam sich trotzdem vor wie ein Fleischer, der einen chirurgischen Eingriff an einem menschlichen Gehirn vorgenommen hatte. In Zukunft würde er seine Behandlungen ruhig angehen, ohne Hektik und Ekstase, souverän wie ein Pianist im Konzerthaus. Oder wie Johnny Cash bei seinen stillen Liedern. Er dachte an den Spiegel in seiner Wohnung, er würde vor ihm noch mehr üben, sein Spiel mit fremden Augen musste leicht werden wie die Feder.

»Wie fühlen Sie sich, Gloria?«

»Stiche im Kopf.«

»Sehr gut. Was nicht schmerzt, wirkt auch nicht.«

Nick war erstaunt über seine Antwort, er hatte sie sich nicht zurechtgelegt. Bei Francine Shapiro waren körperliche Beschwerden nie vorgekommen, doch irgendwann musste er die alte Dame ohnehin abschütteln und seine eigene Methode entwickeln. Aber vielleicht kam jetzt sein Tod, wenn er die entscheidende Frage stellte und die enttäuschende Antwort bekam.

»Gloria, Ihr Schreckensbild, noch immer zehn? Oder schon etwas weniger?«

Nick glaubte, seinen Herzschlag nicht mehr zu hören, eine seiner abnormen Fähigkeiten, die er oft verfluchte, und die Stille wurde länger, gleich würde er vor Angst sterben. Er zwang sich zur Geduld, zählte die Sekunden, richtig atmen konnte er auch später.

»Weniger, Nick.«

Gloria strengte sich an, suchte mit ihrem inneren Auge den Horror, doch Nick war schon erleichtert. Das eine Wort aus ihrem Mund bedeutete, dass er kein Scharlatan war, kein Bluffer oder Blender, und dass er nicht aus der Suite gejagt würde.

»Auf der Skala noch oben oder schon in der Mitte?«

»Weg, Nick. Vollkommen weg. Das ist nicht möglich!«

»Doch.«

Er durfte sich seine Überraschung nicht anmerken lassen, seine erste Patientin wandte sich nicht enttäuscht ab von ihm oder lachte ihn aus, sie strahlte ihn an.

»War nie anders, Gloria, bei allen meinen Frauen und Männern, EMDR ist ein Wunder. Aber Sie waren auch nicht schlecht, es haben eben zwei dazugehört, Gloria und Nick.«

Nick steckte die Feder in sein durchgeschwitztes Sakko, stand auf, überlegte sich all die Antworten, die er sich zurechtgelegt hatte, ein paar Geldscheine oder ein Travellerscheck waren leicht abzulehnen, eine Koryphäe wie er verdiente ja gut, doch Sex als Dank wäre kaum glaubwürdig auszuschlagen.

»Gloria, gehen wir aufs Ganze?«

»Was meinen Sie damit?«

Sie gab sich unschuldig, verstellte sich, dachte natürlich an das Eine, wie sonst konnte sie in der Suite von Johnny Cash wohnen, flesh and blood needs flesh and blood, sie hatte seine erotischen Liebeslieder im Kopf.

»Gloria, haben Sie den Mut?«

Sie nickte, stand auf, kam an ihn heran, blieb stehen, vielleicht hatte sie doch Angst vor einem nächsten Schlag, sie überließ es ihm, er müsste anfangen und alles Weitere tun. Nick nahm sie an der Hand, führte sie durch das Wohnzimmer zu dem einen Bad, dessen Tür halb offenstand, vor den verhangenen Spiegel über dem holzgetäfelten Waschbecken. Der Augenblick der Wahrheit. Gloria gehörte zu den schwersten Fällen der Eisoptrophobie, über jemand wie sie hatte er nur in der englischsprachigen Literatur gelesen.

»Gloria, andere nehmen Handtücher, warum nicht Sie?«

»Nicht groß genug.«

»Ein Badetuch. Hier liegen jede Menge.«

»Vielleicht nicht immer, was manche ich dann?«

»Sie sind in einem Hotel mit 5 Sternen.«

»Meine Tücher sind besser, bei Frottee scheint immer etwas durch.«

»Sie haben sie in Ihrem Koffer? Immer mit?«

»Nicht viele, höchstens sieben. Und ein paar kleine für das glitzernde Zeugs überall, hier kann man sich sogar in den Wasserhähnen sehen.«

»Und die Bilder, mit den Gläsern davor?«

»Lege ich unters Bett.«

»Eines nicht, im Schlafzimmer.«

»Ein Gemälde. Ein Ölbild. Ohne Glas. Es spiegelt nicht. Es gehört mir. In jedem Hotel behaupte ich immer, dass ich von meinen eigenen Bildern umgeben sein will, lieber eigensinnig als krank. Bin ich Ihre interessanteste Patientin? Jetzt wissen Sie alles über mich und haben alles gesehen.«

»Noch nicht, was hinter Ihrem kleinen Vorhang ist.«

»Der Spiegel, was sonst.«

»Und im Spiegel?«

»Ich, Sie.«

»Keine Angst mehr?«

»Sie sind ja bei mir, Nick.«

Er zog das Tuch langsam weg, den dünnen, aber undurchsichtigen Stoff nahm er an sich, auch er war edel und ausgesucht, wie so vieles an Gloria. Er rechnete jetzt bei ihr mit allem, doch ein Aufschrei blieb aus. Nick konnte sich nicht vorstellen, dass eine dilettantische und viel zu stürmische Behandlung mit der ohnehin fragwürdigen EMDR-Methode aus einer Verrückten einen normalen Menschen gemacht haben sollte. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung, ihre Augen keine Angst, und sie weiteten sich auch nicht. Vielleicht war Gloria nach so langer Zeit blind für ihr Spiegelbild?

»Wenn Sie wollen, verhänge ich ihn wieder. Es ist genug, Sie sind schon sehr mutig gewesen, meine anderen Patientinnen haben tagelang dazu gebraucht.«

Nick war vielleicht auch zu weit gegangen, ohne Not hatte er sein erstes Opfer der härtesten Konfrontation zugeführt, vielleicht sogar schon Explosionen im Gehirn von Gloria ausgelöst, aus einer Eisoptrophoberin eine Verstummte und gänzlich Lebensunfähige geschaffen und sich als Angsttherapeut lächerlich gemacht. Oder sie war eine Betrügerin, hatte ihm die ganze Zeit etwas vorgespielt.

»Sieben Jahre, Nick, sieben Jahre habe ich mich nicht gesehen.«

»Auch nicht beim Schminken? Alles an Ihnen ist perfekt. Verführerisch.«

»Ohne fremde Hilfe, ich würde nie jemanden an mein Gesicht lassen. Ein Make-up aus dem Gefühl und aus der Erinnerung, es geht, Sie sagen es ja, perfekt. Warum habe ich mich nicht früher gesehen, so viele Jahre verloren. Wenn ich mich betrachten wollte, bin ich zu meinem Bild gegangen, in Öl, ohne Glas, über meinem Bett. Ich werde es Ihnen zeigen.«

»Ich habe es schon gesehen, Gloria.«

Nick hatte in seinen Vorbereitungen vergessen, sich eine Ausrede zurechtzulegen, falls diese Frau im Spiegel mehr von ihm wollte. Gloria war ihm schon jetzt fast unerträglich nah, und wie sie ihren Körper angesichts einer gealterten Frau wiegen konnte, verstand er noch weniger.

»Gloria, Ihr Porträt ist sehr schön. Ein wenig kindlich. Jetzt sind Sie vollendet.«

»Um ehrlich zu sein, Nick, das finde ich auch. Jetzt sind wir schon zwei, die das sagen. Und der Spiegel, auch er ist ehrlich. Ich liebe Spiegel.«