Aus dem Koma zurück an die Universität

Aus dem Koma zurück an die Universität

Was leistet die Natur? Was kann die Medizin? Was kostet ein Mensch? Ein Erfahrungsbericht

Wolfgang Kerber

Michael Zimpfer

Seifert Verlag

Inhalt

Danksagung

Vorworte

Einleitung

1. Wiedererinnern

2. Der Unfall

3. Bergung

4. Frühe Erlebnisse

5. Rückschlag

6. Krisis

7. Der ­Intensivmediziner kommt zu Wort: Die Herz-Lungen-Maschine

8. 13 C2

9. Der Intensivmediziner kommt zu Wort: Wir kaufen nur Zeit

10. Der Intensivmediziner kommt zu Wort: »Only warm and dead is really dead«

11. Erwachen

12. Nahtod

13. Der Intensivmediziner kommt zu Wort: Was kostet ein Mensch?

14. Rekonvaleszenz

15. Warum habe ich überlebt?

16. Literatur

Kapitel 17

Anmerkungen

Allen mir bekannten und unbekannten Helferinnen und Helfern gewidmet, sowie den unzähligen Schutzengeln

Vorworte

Vorwort von Wolfgang Kerber

Die Entstehung dieses Buches ist das Ergebnis meiner Bemühungen, einen Unfall zu verarbeiten, von dem ich bis jetzt nur Vermutungen habe, wie und wieso er passiert ist. Dabei haben mir Gespräche mit der Familie, dem Personal auf der Intensivstation 13 C2 des AKH Wien, den Betreuerinnen und Betreuern im Rehab-Zentrum Hochegg sowie mit Freunden und Bekannten sehr geholfen.

Christian May, ein Mitarbeiter des ORF, wollte vor einiger Zeit für die Serie »Lebensretter« einen Film über einen klinisch Toten und erfolgreich Wiederbelebten drehen. Es hatten sich zahlreiche Gelegenheiten angebahnt, aber jedes Mal, wenn er mit den Aufnahmen beginnen wollte, war der Patient verstorben. So traf ich im Juni 1999, noch im Krankenstand, Herrn May und gab meine Zustimmung zu Dreharbeiten. Meine Amnesie im Allgemeinen störte ihn wenig, wollte er doch meine »Nahtod-Erfahrungen« darstellen. Er hatte vorgehabt, mich in Hypnose bis zum Eintritt des Herzstillstandes erzählen zu lassen. Neugierde einerseits und Bedenken auf der anderen Seite ließen schließlich einen Film über den Unfall selbst entstehen.

In Hochegg war es Frau Helga Jedamski gelungen, eine Hemmschwelle bei mir zu durchbrechen. Sie empfahl mir, weiterhin therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ihre Lehrerin, Dipl.-Soz. Billie Rauscher-Gföhler, begleitet mich seit damals optimal. Bei meiner medizinische Betreuung durch die Professoren Paul Haber, Gerald Wozasek und andere wurde ich genauso nach »meiner Unfallgeschichte« gefragt wie von Kollegen am USI (Universitätssportinstitut) Wien oder von Freunden beim ÖBSV (Österreichischer Behindertensportverband). Eine Kollegin am USI Wien, Veni Labi, ersuchte mich, meine Geschichte vor einer Gruppe unter der Leitung von Wolfgang Biedermann vorzutragen. Dieses Referat samt Fragen wurde aufgezeichnet und bildete eine von mehreren Tonaufzeichnungen über meinen Unfall.

Ohne Univ.-Prof. Dr. Michael Zimpfer, der mich mit dem Team im AKH so hervorragend betreute, hätte dieses Buch jedoch nicht entstehen können.

Letztlich war es auch die Kunst des Seifert Verlags, mit Geschick und sehr viel Beharrlichkeit aus vielen Schilderungen über mein Schicksal ein Buch zu formen.

Wolfgang Kerber, 12. März 2012

Vorwort von Michael Zimpfer

Dieses Buch erzählt die Geschichte eines »österreichischen Urgesteins«, womit ich Leute meine, die, im Gegensatz zu manchen Politikern, korrupten Geschäftemachern und parteiassoziierten Apparatschiks, das Rückgrat unseres Landes bilden.

Hofrat Professor Dr. Wolfgang Kerber, passionierter Physiker, Österreicher aus Leidenschaft, risikoliebender Sportler, erleidet einen furchtbaren Unfall mit Beinahe-Ertrinken und schwerstem Lungenversagen.

Was folgt, ist eine Erfolgsgeschichte unserer Medizin, ein Miteinander von Voraussicht und engster Zusammenarbeit, beginnend mit der äußerst schwierigen und mühsamen Wiederbelebung und Bergung in freier Natur, der ausgezeichneten Betreuung im erstversorgenden Krankenhaus, dem risikoreichen Transport nach Wien, der erfolgreichen Weiterbehandlung an der Universitätsklinik Allgemeines Krankenhaus Wien und schließlich der Rehabilitation.

Ich freue mich unendlich zu sehen, wie gut es ihm heute geht, wie sehr er seine Familie und seine wiederaufgenommenen sportlichen Aktivitäten, inklusive der Besteigung einiger Dreitausender, genießen kann – und dass ich das alles hautnah miterleben durfte.

Michael Zimpfer, 13. März 2012

Einleitung

In den Monaten März bis Juni 1999 war eine ganze Schar von Schutzengeln mit meinem Mann Wolfgang und mit unserer Familie auf das Schwerste beschäftigt.

Sie haben dabei die verschiedensten Gestalten ­angenommen und geholfen, dass mein Mann

überleben konnte.

Danke!

Gabriele Kerber, Ehefrau von Wolfgang Kerber


Am 15. März 1999 fand sich im Chronik-Teil der öster­reichischen Tageszeitung KURIER folgende Notiz:


Notarzt holte klinisch toten Kajakfahrer ins ­Leben zurück

Sportler trieb nach Unfall leblos in der Traisen: Körpertemperatur auf 24 Grad Celsius gesunken


Der Ansturm auf die Tourismusgebiete am Wochenende hatte auch Schattenseiten: Auf den Skipisten waren die Retter im Dauereinsatz. Dazu kamen noch schwere Unfälle anderer Sportler.

In Lilienfeld kämpften nach einem Kajak-Unfall eines 57jährigen Wieners auf der Traisen Ärzte verbissen um das Leben eines Mannes. Der Sportler war bei einem Wehr mit seinem Boot umgekippt und konnte sich selbst nicht mehr umdrehen. Nach der Bergung des leblosen Körpers konnte der Notarzt den Mann, der bereits klinisch tot war, reanimieren.

Das schöne Wetter nützten der 57jährige Wiener Wolfgang K. und sein Bekannter Gerhard N. zu einem Paddel-Training auf der Traisen. Bei einem Wehr passierte dann das Unglück. Als Wolfgang K. über die zwei Meter hohe Staumauer übersetzen wollte, kam er nach der Barriere in einen Strudel. Sein Begleiter beobachtete das Manöver aus sicherer Entfernung. Doch als K. nach der Wehranlage nicht auftauchte, wurde sein Partner nervös. Der Mann stieg aus dem Boot, um nachzusehen.

Er sah in der Flussmitte das gekenterte Boot und wie sein Partner verzweifelt versuchte, an die Oberfläche zu gelangen. Der Mann warf noch ein Rettungsseil, doch den 57-Jährigen verließen die Kräfte. Das Boot trieb ab. Passanten, die das Unglück vom Ufer aus bemerkten, alarmierten mit dem Mobiltelefon den Notarzt. Gerhard N. stieg in das eiskalte Wasser, und es gelang ihm, den Gekenterten ans Ufer zu ziehen. Da traf auch schon der Notfall-Mediziner ein.

Die Körpertemperatur des Sportlers betrug nur noch 24 Grad. Der Notarzt schaffte das unmöglich Scheinende: Er holte den »klinisch Toten« ins Leben zurück. Sonntag Nachmittag schlug der Sportler im Spital Lilienfeld seine Augen auf. »Der Notarzt hat sicher sein Leben gerettet«, erklärt der diensthabende Spitalsmediziner, Othmar Groisz (sic!). Den Zustand des Kajak-Fahrers bezeichnete der Arzt mit einem vorsichtigen »über dem Berg«.

Die Traisen ist ein Nebenfluss der Donau im südlichen Niederösterreich. Aufgrund ihres sich rasch ändernden Flussbettes hatte sie als Verkehrsweg nie eine besondere Bedeutung, aber die umliegende Gegend ist ein beliebtes Ausflugsziel für Tagesreisende, und der Fluss bietet Wassersportlern interessante Bedingungen. Für mich hielt er eine Schicksalswendung bereit.

Es war am 13. März 1999. An diesem Tag, an dem sich mein weiteres Leben entscheiden sollte, hatte es mich hinaus aufs Land gezogen. Meine Frau war gerade mit ihren Schülern auf Skikurs gefahren, auch der Älteste, ein passionierter Snowboarder, war mit einer Skigruppe unterwegs, und nur unsere beiden jüngeren Kinder, Sohn und Tochter, waren zu Hause. Ich wollte das schöne Wetter nutzen und brach mit einem Freund zu einem Ausflug mit dem Boot auf.

Wir wollten die Traisen befahren. Gerhard und ich hatten noch keine Erfahrungen mit dem Fluss, aber ich war sicher, es würde keine Probleme geben. Dass wir uns zuvor über die Verhältnisse informieren sollten, war mir nicht notwendig erschienen. Fast Zahmwasser, hatte ich einer Arbeitskollegin gegenüber noch gemeint und von einem eher langweiligen Wochenende gesprochen, das mir bevorstehen würde.

Als Zahmwasser bezeichnet man stehendes oder langsam fließendes Gewässer mit einer Strömungsgeschwindigkeit von bis zu zwei Stundenkilometern. Man kann dabei mühelos gegen die Strömung schwimmen, und die Sicht ist frei. Wir waren erfahrene Sportler, durchtrainiert, geübt, bei sehr guter Kondition. Voller Tatendrang und Zuversicht. Vielleicht hielten wir uns an jenem Tag für beinahe unbezwingbar, aber das weiß ich nicht mehr. Die Amnesie wirkt – Gott sei Dank, würde ich fast sagen – ausgezeichnet. Alles ist gut verschlossen, ich kann mich nicht mehr erinnern.

Oder doch …

1

Wiedererinnern

… Ich kann mich erinnern, dass Eiszapfen von den Bäumen hingen.

Es war ein bitterkalter Tag. Wir fuhren entlang der Traisen, und wo das nicht möglich war, gingen wir zu Fuß zum Fluss. Bei Dickenau erreichten wir ein Wehr.

Ein Wehr ist eine Anlage, um Wasser zu stauen. Wehre dienen Bewässerungszwecken, der Bereitstellung von Trinkwasser und Brauchwasser, der Schiffbarmachung, der Flussregulierung u. Ä. Für einen Wassersportler aber stellen sie eine besondere Herausforderung dar, oft auch eine besondere Gefahr, sie steigern den Reiz einer Fahrt, und damit den Nervenkitzel.

Jedes Flusswehr besitzt einen anderen Gefahrenbereich. Die Stärke der Strömung ist vom Wasserstand abhängig. Man kann eigentlich nie genau vorhersagen, welche Situation man vorfinden wird. Über das Wehr, von dem hier die Rede ist, führte eine Stahlkonstruktion, sodass man es zu Fuß überqueren konnte. Aber sonst war daran nichts Besonderes; außer vielleicht, dass es von Vornherein unbefahrbar war, weil gar kein Wasser mehr darüberfloss.

Irgendwann in Türnitz kam eine Brücke in Sicht. Sie erinnerte mich in ihrer Bauweise an den Stil ­Friedensreich Hundertwasser. Eine wirklich sehr markante Brücke.

Jetzt ist meine Erinnerung wieder sehr vage, oder besser, ich erinnere mich in einer besonderen Weise, fast so wie eine Ahnung: Da ist etwas, das könnte so gewesen sein … Da waren diese Eiszapfen, die kommen mir jedes Mal in den Sinn.

Immer wieder kreisen meine Gedanken um diesen Tag und diese Stunden. Zum Beispiel waren wir auf der Fahrt entlang der Traisen nicht allein. Ein Freund aus Tschechien hatte uns begleitet: Peter Schier. Aber interessanterweise fehlt dieser dritte Mann in meiner Erinnerung vollkommen. Ich kann mich absolut nur an Gerhard Neuwirth erinnern.

Die Bilder, die in mir auftauchen, haben einen zumeist sehr spontanen Charakter: Ich erreiche das Gasthaus, von diesem Punkt aus zieht sich die Allee dahin, die Plätze sind da, und dann kommen die Kinder. Dass mein Freund diese in mir auftauchenden Wahrnehmungsbruchstücke später bestätigte, war für mich sehr wichtig. Ich wertete diese Tatsache als Erfolg. Und ich dachte mir: »Aha, ich komme jetzt an diesen Bereich heran, der lange Zeit in meinem Gedächtnis zugedeckt war.«

Es war Christian May, der mir empfahl, mich in Hypnose versetzen zu lassen, um den Ereignissen von damals wirklich unmittelbar nahe zu kommen.

Sigmund Freud hatte bekanntlich die Hypnose als therapeutische Maßnahme noch abgelehnt. Seither hat sich aber eine neue Generation in der Medizin dieser Form der Behandlung angenommen und auch erstaunliche Ergebnisse damit erzielt. Allerdings hat diese Form der Hypnose mit der Hypnose als Zirkusnummer, die manchmal in der Trivialliteratur herumgeistert, nichts zu tun.

Einfach gesprochen, ist Hypnose ein Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Im EEG werden Alpha-Wellen sichtbar, die auf Wachheit des Gehirns und dennoch Entspanntheit deuten. Mediziner nutzen sie heute meist dazu, das Schmerzempfinden zu unterbinden. Man setzt sie dabei sogar bei Operationen als Narkosemittel ein, und manche Zahnärzte ersparen ihren Patienten dadurch die herkömmliche Lokalanästhesie durch Spritze.

Im Bereich der Psychotherapie wird die Hypnose gerne bei Angstpatienten und Zwangsneurotikern angewendet. Der Patient befindet sich zu keinem Zeitpunkt in tiefer Trance, sondern er verfolgt das Therapie­geschehen mit. Er ist also keineswegs willenloser Befehlsempfänger. Körperlich und seelisch völlig ruhig, kann er miterleben, wie der Therapeut in seinem Inneren die einzelnen Erinnerungslagen Schicht für Schicht abträgt und Traumata interpretiert bzw. uminterpretiert.

In meinem Fall rieten mir aber die Ärzte schließlich doch davon ab. Denn es ist zu bedenken, dass der Körper den Mechanismus des Vergessens spontan auch aus Selbstschutz entwickelt, damit, so sagte man mir, der traumatisierte Mensch nie in die Nähe jener Geschehnisse kommt, die ihn belasten könnten.

Auch meine Therapeutin Billie Rauscher-Gföhler teilte diese Ansicht: Ich möge mich darauf lieber nicht einlassen. Was die Natur so tief verschlossen habe, das solle man nicht mutwillig heraufholen. Und irgendwie glaube ich, dass sie recht hatte, obwohl es mich in Gedanken immer wieder zu jenem Ereignis zurückzieht.

Wenn ich diese Allee heute sehe, taucht ein konkretes Bild auf, das ich sogar eine kurze Weile nach dem Vorfall bereits richtig beschreiben konnte. Ich erzählte plötzlich eines Tages, was sich abgespielt hatte. Entscheidend für mich war, wie gesagt, die Überprüfung durch meinen Freund; denn diese Erinnerung hätte ja genausogut Teil eines anderen Geschehens sein können.

Aber Gerhard Neuwirth konnte und kann die Richtigkeit meiner Angaben bestätigen. Alle Touren, die ich je unternommen habe, sind seither wie in einem Film wieder und wieder vor meinem inneren Auge abgelaufen:

Ich denke etwa an die Seebachwalze auf der Lieser, an die Rennstrecke, unmittelbar nach der Seebach-Brücke, die erste Rechtskurve, alles bei relativ hohem Wasser und mit sehr vielen Felsen. Ich war damals mit einer Gruppe unterwegs, in der auch unsere Söhne Wolfgang und Mike fuhren. Es ist einfach ein fantastisches Erlebnis, diese Strecke zu durchfahren. Es gibt teilweise keinen Fluss zu sehen, weil zu viel Gischt die Sicht behindert, nur Paddel hoch, ein wenig balancieren; wenn man hineinfällt, ist man sowieso unter Wasser, wenn man nicht hineinfällt, kommt schon wieder eine Welle und so weiter. Diese rasche Abfolge von Aktionen, mit dem Ziel, im Boot zu bleiben und nicht zu kentern – ein extrem spannender Prozess! Sportarten wie Laufen oder Judo, die ich ebenfalls betreibe, finde ich nicht annähernd so faszinierend wie das Bootfahren oder auch das Bergsteigen und Klettern. Außer man fährt ein Zahmwasser auf der Traisen, wie wir damals.

Natürlich nahmen wir den Fluss, soweit er parallel zur Straße floss, vom Auto aus gründlich in Augenschein. Man sieht von der Straße her sehr viel: den Fluss­verlauf, eventuelle Hindernisse im Wasser wie umgestürzte Bäume, die Wehranlagen. Bei manchen Wehren machten wir auch Halt. Das weiß ich noch, es war ja vor dem Unfall. Wir sahen, dass der Fluss reichlich Wasser führte. Als er nur noch so breit war wie ein Paddel lang ist, wollten wir starten.

An dieser Stelle befand sich eben jenes Gasthaus. Als wir hinkamen, trafen wir auf eine Familie mit zwei Kindern, die gerade ein Picknick veranstaltete. Eines der Kinder, ein Junge, erwies sich als ungeheuer neugierig, er wollte unbedingt das Boot näher besichtigen. Er probierte Helm und Paddel aus. Als ich ihn aufforderte, doch einmal eine kurze Fahrt zu versuchen, hielt ihn der Vater zurück. So setzte der Kleine sich zwar hinein, aber das Boot blieb auf dem Trockenen.

All das, was ich jetzt geschildert habe, spielt für mich eine wichtige Rolle, weil es Ereignissplitter sind, die eng mit Amnesie und Wiedererinnern zu tun haben: Es sind Teile des letzten Bildes, das ich aus der Zeit unmittelbar vor dem Unfall im Gedächtnis behalten habe bzw. das durch eine entsprechende Assoziation unversehens wieder zurückgekehrt ist.

Die Amnesie, der Verlust des Gedächtnisses, wird nicht zu Unrecht als etwas bezeichnet, das an den Grundfesten des Ichs rüttelt. Sie bedeutet den partiellen Verlust der eigenen Identität. Ein Stück Lebenszeit, ein Stück Persönlichkeit ist plötzlich verschwunden.

Nicht immer ist ein Unfall die Ursache: Auch Herzinfarkt, Epilepsie, Migräne, Alkohol- bzw. Medikamentenmissbrauch oder auch Stress u. a. können den Gedächtnisverlust verursachen. Und ebenso vielfältig wie die Auslöser sind die Erscheinungsformen.

Während man früher annahm, dass Amnesie einen Menschen prinzipiell unfähig macht, neue Informationen zu speichern und alte abzurufen, trifft man heute genauere Unterscheidungen. So gibt es die psychogene Amnesie, meist hervorgerufen durch ein Trauma oder extremen Stress, oder vorübergehende Gedächtnisstörungen, die nicht länger als 24 Stunden dauern, schließlich auch Amnesien, die nur Teile des Gedächtnisses beeinträchtigen.

In meinem Fall ist es so, dass die Zeit vor meinem Unfall bis etwa dreißig, vierzig Tage danach durch eine Totalamnesie mehr oder weniger komplett aus meinem Gedächtnis verschwunden ist. Diese Phase liegt im Dunkeln und scheint, abgesehen von wenigen Eindrücken, völlig gelöscht zu sein.

Irgendwann dazwischen muss ich wohl kurz zu Bewusstsein gekommen sein, darauf nehme ich jedoch später noch Bezug.

Im Wesentlichen weiß ich aber von allem nur das, was mir Gerhard Neuwirth oder meine Kinder, meine Frau und meine Schwester erzählten oder was punktuell in einem vagen Erinnerungsbild auftaucht. Und irgendwie lässt mir das keine Ruhe. Ich versuche nach so vielen Jahren immer noch, mir die Minuten und Sekunden vor dem Unfall ins Gedächtnis zurückzurufen.