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Copyright © by Jesper Juul

Übersetzung & Lektorat: Nuka Matthies, Berlin

Verlagsredaktion: Mathias Voelchert GmbH

Umschlaggestaltung: Mathias Voelchert GmbH

Typografische Bearbeitung und Satz: Sead Mujić

Herstellung BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Printed in Germany

ISBN 978-3-935758-57-4

Dieses Buch ist auch als Hörbuch erhältlich,

gesprochen von Claus Vester ISBN 978-3-935758-58-1

Wie auch als eBook mit der ISBN 978-3-935758-57-4

Copyright für die deutsche Ausgabe 2014

© by Jesper Juul und Mathias Voelchert GmbH Verlag, München, edition + plus 1.

1.Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten. Reproduktion, Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, Wiedergabe auf elektronischen, fotomechanischen oder ähnlichen Wegen, Funk und Vortrag, auch auszugsweise, gerne mit schriftlicher Genehmigung der Copyrightinhaber.

Kontakt: mvg@mathias-voelchert.de

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Inhalt

Vor einigen Jahren habe ich mich während eines Vortrags sehr kritisch zu einer in Mode gekommenen Erziehungsmethode geäußert, die nach dem Grundsatz verfährt, gehorsame und folgsame Kinder zu belohnen. ... Fast beschämt erzählte mir in der Pause die Leiterin eines kleinen Kindergartens, dass sie in Absprache mit den Erzieherinnen ebenjene Methode eingeführt habe, die ich so deutlich kritisiert hatte. Der Grund: „Wir waren nicht in der Lage, die Kinder am Ende des Tages dazu zu bringen, die Spielecke aufzuräumen“. Meine Antwort lautete: Wenn es den Erwachsenen in einer Tageseinrichtung nicht gelingt, in einer Gruppe von Drei- bis Sechsjährigen eine Atmosphäre und Kultur von Mitarbeit und Teilnahme zu erzeugen, müssen sie dringend ihre zwischenmenschlichen Kompetenzen überdenken und sie zusammen mit ihrem Führungskonzept grundlegend ändern. Mit einer primitiven Methode, Kinder zu manipulieren, ist es jedenfalls nicht getan.

Jesper Juul

In dieser familylab-Schriftenreihe finden Sie zeitlose Gedanken zu Beziehung und Familie von Jesper Juul, und anderen Autoren. Die Überlegungen können Eltern, Lehrern, Mitarbeitern, Menschen in Leitungsfunktionen, wie auch Fachleuten dazu dienen, die Qualität ihrer Beziehungen zu reflektieren und zu modifizieren.

Der Autor

Jesper Juul, 1948 in Dänemark geboren, ist Lehrer, Gruppen- und Familientherapeut, Konfliktberater und Buchautor. Er war bis 2004 Leiter des »Kempler Institute of Scandinavia«, das er 1979 gründete. Mit 16 Jahren fuhr er zur See, jobbte später als Bauarbeiter, Tellerwäscher und Barkeeper. 1972 schloss er sein Studium der Geschichte, Religionspädagogik und europäischen Geistesgeschichte ab. Statt die Lehrerlaufbahn einzuschlagen, nahm er eine Stelle als Heimerzieher und später als Sozialarbeiter an und bildete sich in Holland und den USA bei Walter Kempler zum Familientherapeuten weiter. Seit Anfang der 1990er Jahre arbeitet er in Kroatien mit Flüchtlingsfamilien. Er lebt heute in Dänemark. 2006 gründete er das familylab, das mit Elternkursen und Schulungen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und vielen weiteren Ländern aktiv ist. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt.

Einleitung

In den siebziger Jahren hat die traditionelle westliche Kernfamilie im Zuge der antiautoritären Bewegung und des Kampfes der Frauen um Gleichberechtigung begonnen, sich aufzulösen – seitdem steckt das Konzept elterlicher Führung in einer Art Identitätskrise. Wie jede Krise bringt auch diese sowohl Leid als auch Potential für Wachstum und Veränderung mit sich.

Es besteht kein Zweifel, dass die Auflehnung gegen den autoritären Führungsstil von Staatsoberhäuptern, Regierungen, Bürokraten, Lehrern, Eltern und anderen unumgänglich war. Sie hatte zahlreiche positive Auswirkungen, sowohl auf die Gesellschaft als auch auf das Individuum. Vor allem aber sorgte sie dafür, dass das grundsätzliche Konzept von Macht unter die Lupe genommen und seine innere Logik in Frage gestellt wurde. Als diese politisch motivierte Bewegung von Menschen weitergeführt wurde, deren Rollen nicht durch Politik, sondern durch psychologische und existentielle Phänomene geprägt waren – beispielsweise von Lehrern und Eltern, die Verantwortung für die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen trugen –, warf das eine Menge Fragen auf und führte zu tiefer Verunsicherung. In den achtziger und neunziger Jahren wurde deutlich, dass die politische Alternative zur Autokratie – die Demokratie – zwar eine konstruktive Zusammenstellung von Werten darstellte, dass sie aber nicht ausreichte, um die Menschen an der Macht mit neuen und besseren Leitlinien, Werten und Verhaltensweisen zu versorgen.

Was dann geschah, war, dass sowohl die öffentliche Debatte als auch die eher persönlichen Überlegungen von Erwachsenen in einer gegensätzlichen Begrifflichkeit gefangen waren: Es gab autoritär als das eine Extrem und faire oder „freie“Zusammenarbeit als das andere. Und „demokratisch“ lag irgendwo dazwischen. Die Wahrheit ist jedoch, dass nichts innerhalb dieser beiden Pole das grundlegende Bedürfnis nach Nähe sowie nach persönlicher und gemeinschaftlicher Entwicklung sowohl von Erwachsenen als auch von Kindern abdecken kann. Das bedeutet, dass wir quer denken mussten, um eine wirkliche Alternative formulieren zu können. Wir mussten einen anderen Blickwinkel einnehmen und ein neues Paradigma schaffen.

In den letzten dreißig Jahren sind die Werte und der Kern dieses Paradigmas immer klarer geworden – dank der Millionen Eltern und Pädagogen, die ihr Leben und ihre Arbeit der Aufgabe gewidmet haben, herauszufinden, wie Kinder und Erwachsene besser zusammenleben und arbeiten können. Das Feedback der Kinder – sowohl ihre Aussagen als auch ihr Verhalten – hat dabei einen unverzichtbaren Beitrag geleistet. Parallel dazu wurden insbesondere in der Neurowissenschaft, in der Familientherapie und in der Entwicklungspsychologie wichtige Erkenntnisse gewonnen, die Daten und Perspektiven von unschätzbarem Wert liefern.

Ich hatte das Privileg, bei dieser Veränderung sowohl aufgrund meines Berufes als auch als Vater und Großvater dabei zu sein. Und obwohl der Veränderungsprozess gerade erst begonnen hat, möchte ich in diesem Essay versuchen, einige Erkenntnisse und Leitlinien zu formulieren. Ich hoffe, dass diese allen, die sich mit der Führungsaufgabe von Erwachsenen beschäftigen – egal ob sie Erfahrene oder Neulinge sind –, als Inspiration dienen.

Falls Sie die Hoffnung haben, dass ich in dem folgenden Text irgendeine Methode beschreibe, werden Sie enttäuscht werden. Es gibt kein Patentrezept, wenn es um menschliche Beziehungen geht, und die Leute, die das behaupten, sind eher gute Marketingleute als Menschen mit Beziehungs- oder Fachkompetenz. Kein Muster und keine Methode kann jemals den moralischen Konsens, der unser Denken so lange Zeit beherrscht hat, ersetzen oder uns ein vergleichbares Gefühl von Sicherheit und Gewissheit geben.

Aber – am Ende entscheiden Sie! Wir leben in einer Welt, in der es nicht nur möglich geworden ist, persönliche Entscheidungen zu treffen – es ist notwendig geworden! Entscheidungsfreiheit bringt persönliche Verantwortung mit sich, und ich hoffe, dass Sie ein bisschen mehr über sich selbst wissen, wenn Sie die folgenden Seiten gelesen haben.

Kinder brauchen Erwachsene, die die Führung übernehmen

Woher wissen wir das? Wir wissen es aus Erfahrung: Kindern, die in Familien aufwachsen, in denen es keine oder nur ungenügende Führung durch Erwachsene gibt, geht es nicht gut, und sie können sich nicht richtig entwickeln. Dafür scheint es zwei Gründe zu geben. Der eine ist, dass Kinder ihre Wünsche und Gelüste zwar gut kennen, sie sich aber ihrer grundlegenden Bedürfnisse nicht bewusst sind. Der andere Grund ist, dass man qualifizierte Anleitung braucht, um sich an eine Kultur anzupassen – an welche Kultur auch immer, sowohl in der Gesellschaft als auch innerhalb der Familie. Mit anderen Worten: Kinder werden mit großer Weisheit geboren, aber ihnen fehlen praktische Lebenserfahrung, Überblick und die Fähigkeit vorauszudenken. Um diese Kompetenzen zu erlangen, brauchen sie Erwachsene.

Wir müssen unbedingt begreifen, dass Führung und Erziehung völlig unterschiedliche Dinge sind, auch wenn die beiden Begriffe ständig miteinander verwechselt und im täglichen Sprachgebrauch sogar synonym verwendet werden. Um ein Kind aufzuziehen und zu erziehen, muss der Erwachsene die Führung übernehmen. Wenn er oder sie das nicht kann beziehungsweise nicht will oder wenn Führung auf destruktive Art und Weise ausgeübt wird, wird niemand Erfolg haben – der Erwachsene wird seine Ziele nicht erreichen, und das Kind wird nicht in der Lage sein, sich zu entfalten und seine Persönlichkeit zu entwickeln.Exakt formuliert müsste die Überschrift dieses Kapitels folgendermaßen lauten: Um fruchtbare und tragfähige Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern aufzubauen, müssen die Erwachsenen die Führung übernehmen.