Bindung – Scheidung – Neubeginn

Möglichkeiten der Begleitung, Beratung, Psychotherapie und Prävention

Herausgegeben von Karl Heinz Brisch

Impressum

Die Beiträge von Jessica L. Borelli, E. Mark Cummings und Kathleen N. Bergman, Carol George, Dimitri Mortelmans und Andrea Perry wurden von Ulrike Stopfel aus dem Englischen übersetzt.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-98150-6

E-Book: ISBN 978-3-608-19149-3

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-29147-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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Vorwort

Vom 5. bis 7. Oktober 2018 wurde von der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie vom Early Lifecare Institut der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg eine internationale Konferenz mit dem Titel »Bindung – Scheidung – Neubeginn« (»Attachment – Divorce – Newbeginning«) durchgeführt. Das Interesse an dieser Konferenz und die positiven Rückmeldungen waren für den Veranstalter außerordentlich ermutigend, so dass er die Beiträge dieser Veranstaltung mit der Herausgabe dieses Buches einer größeren Leserschaft zugänglich machen möchte. Die Thematik des vorliegenden Konferenzbandes umfasst eine Vielzahl von Aspekten aus den Bereichen »Bindung«, »Trennung«, »Scheidung«, »Umgangskontakte«, »Mediation«, »Psychotherapie« und »Neubeginn in Patchworkfamilien«.

Die Qualität der elterlichen Bindung hat großen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder. Wenn es zu einer Scheidung der Eltern kommt, sind sowohl die Bindungsbeziehung der Eltern auf der Paarebene, als auch die Bindung der Kinder zu den Eltern oftmals sehr aktiviert. Nicht selten entwickeln die Eltern wie auch die Kinder psychosomatische Symptome wie Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Essstörungen, aber auch Ängste, Depressionen sowie (bei den Kindern) Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten. Bei den Kindern sind solche Phänomene häufig ein Ausdruck des Stresses, den sie im Rahmen der Auseinandersetzungen um die Scheidung der Eltern miterleben. Die Kinder sind in ihren Bindungsloyalitäten zwischen den geschiedenen Eltern hin- und hergerissen. Auseinandersetzungen um das Sorgerecht, Besuchs- und Umgangskontakte und neue Patchworkfamilien sind bei allen Beteiligten eine große Herausforderung für die Bindungsentwicklung.

Welche Bindungserfahrungen helfen Eltern und Kindern, das im Zusammenhang mit Trennung und Scheidung Erlebte zu bewältigen? Wie können traumatische Scheidungserfahrungen verarbeitet werden? Wie können Sorgerecht, Wohnformen, Umgangs- und Besuchskontakte je nach Alter der Kinder bindungssicher gestaltet werden? Welche Rolle spielt die Bindung zwischen den Geschwistern? Wie beeinflussen Scheidungserfahrungen früherer Generationen die Bindung in neuen Paarbeziehungen der Eltern sowie in neuen Patchworkfamilien? Welche Bindungserwartung entwickeln Kinder mit Scheidungserfahrung später in Bezug auf zukünftige eigene Paarbeziehungen und Kinder? Wie können sichere Bindungsbeziehungen unter allen Beteiligten entstehen? Welche Formen der Begleitung, der Beratung, Therapie und Prävention sind für Menschen in Trennungs- und Scheidungskonflikten hilfreich, damit traumatische Erfahrungen vermieden bzw., wenn vorhanden, bearbeitet werden können?

Die Beiträge dieses Buchs setzen sich mit helfenden, heilenden wie zerstörerischen Aspekten im Kontext von Bindung, Trennung, Scheidung und Neubeginn auseinander. Führende, international renommierte Fachleute, Kliniker und Forscher geben hier Antworten auf diese Fragen und berichten über die neuesten Erkenntnisse und Ergebnisse aus ihren Studien, die uns für die Problematik sensibilisieren sowie neue Entwicklungen, auch in Therapie und Prävention aufzeigen sollen.

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes haben ihre Vorträge aus der Konferenz niedergeschrieben und ausgearbeitet und für die Publikation zur Verfügung gestellt – dafür gilt ihnen ein großer Dank. Herzlich danke ich Frau Ulrike Stopfel, die wiederum, wie in den vergangenen Jahren, die englischsprachigen Beiträge in exzellenter Qualität übersetzt hat. Ein besonderer Dank gilt auch der hervorragenden Arbeit von Herrn Thomas Reichert, der die einzelnen Manuskripte rasch und sorgfältig editiert hat. Ich danke sehr Herrn Dr. Heinz Beyer sowie Frau Ulrike Wollenberg vom Verlag Klett-Cotta, die mit großem Engagement die Herausgabe dieses Buches beim Verlag ermöglicht und die rasche Herstellung gewährleistet haben.

Das Buch richtet sich an Ärzte und Ärztinnen aller Fachrichtungen sowie an Psychologinnen und Psychologen, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Sozialarbeiterinnen, Pädagoginnen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendhilfe, Richterinnen und Richter, Umgangspflegerinnen und Umgangspfleger; ebenso an alle, die sich mit der gesunden Entwicklung von Kindern und Eltern im Kontext von Trennung, Scheidung und Neubeginn beschäftigen sowie in Beratung und Therapie mit der Diagnostik und Behandlung von psychischen Störungen befasst sind, die aus der Belastung aufgrund von Trennung und Scheidung entstanden sind.

Ich hoffe sehr, dass dieses Buch allen hilft, die im Kontext von Begleitung, Beratung und Therapie sowie sozialer Arbeit für Familien in Trennungs- und Scheidungskonflikten tätig sind. Es soll auch denjenigen wichtige Anregungen geben, die mit der Prävention in Bezug auf Störungen in diesem Zusammenhang beschäftigt sind, die Präventionsprogramme entwickelt bzw. einen Beitrag dazu geleistet haben, dass solche Störungen durch eine frühzeitige, primäre Prävention erst gar nicht entstehen, dass vielmehr auch nach einer Trennungs- und Scheidungserfahrung Eltern sowie auch Kinder in neuen, beginnenden Bindungsbeziehungen weiter seelisch wachsen und sich entwickeln können.

Karl Heinz Brisch

Einleitung

Das vorliegende Buch enthält Beiträge aus den Bereichen »Forschung«, »Klinik« und »Prävention«, die sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven mit dem thematischen Zusammenhang von Bindung, Trennung, Scheidung und Neubeginn beschäftigen. Entsprechend werden Ergebnisse aus der Forschung vorgestellt, aber auch – u. a. anhand von Fallbeispielen – Erfahrungen aus der klinischen und praktischen therapeutischen Arbeit vermittelt, um die therapeutischen Möglichkeiten und die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie, Begleitung und Beratung bei Menschen aufzuzeigen, die aufgrund von Trennungserfahrungen im Kontext der Scheidung ihrer Eltern vielfältige Symptome entwickelt und große psychische Probleme bekommen haben, ja sogar durch diese Erfahrungen traumatisiert wurden. Weiterhin werden Interventionen, die dem Elternpaar hilfreich sein können, das jetzt auf der Paarebene wesentliche Aspekte seiner Konflikte besprechen und klären muss, vorgestellt; dasselbe gilt für Therapien und Präventionsmöglichkeiten, die den betroffenen Kindern und Jugendlichen in ihrer Situation nützlich sein können.

Der vorliegende Band beginnt mit einem Beitrag von Dimitri Mortelmans über »Elternschaft und Erziehungsverhalten nach der Scheidung«. Mortelmans und sein Team haben in einer großen Studie in Flandern untersucht, wie sich nach einer Scheidung das Erziehungsverhalten der Eltern ändert und in welcher Weise sie unterschiedlich, je nachdem, wie sie die Scheidung verarbeitet haben, als Vater oder als Mutter auf die Kinder reagieren und sich die Erfahrung der Scheidung auf unterschiedliche Erziehungsstile auswirken kann.

Eine Scheidung der Eltern kann sich bei den Kindern langfristig bis ins junge Erwachsenenalter auswirken und Einfluss auf die Gesundheit Jugendlicher bzw. junger Erwachsener haben. Violetta Schan und ihre Co-Autoren berichten von einer Studie, die herausfinden wollte, welche Auswirkungen eine Scheidung der Eltern auf das Gesundheitsverhalten und die Gesundheit im jungen Erwachsenenalter hat. Weiter geben sie Hinweise, wie die Langzeitkonsequenzen durch Interventionen verhindert werden könnten.

Mark Cummings hat sich seit vielen Jahren mit dem Thema »Scheidung« beschäftigt. Er hat auf Basis der Bindungstheorie eine neue Theorie der emotionalen Sicherheit entwickelt. Dieses Modell wendet er auch auf Familien mit großen Scheidungskonflikten an und zeigt in seinem zusammen mit K. Bergman verfassten Beitrag auf, wie die Symptomentwicklung bei Kindern verstanden werden kann und welche Möglichkeiten der Intervention es für diese Familien gibt.

Wenn Eltern sich trennen, ist es immer eine große Herausforderung – besonders bei hochstrittigen Paaren –, eine Form des Umgangskontaktes zu finden, die dem Wohl des Kindes dient. Hierzu sind in der Regel gutachterliche Einschätzungen der unterschiedlichen Bindungsbeziehungen zwischen den hochstrittigen Eltern und ihren Kindern von großer Bedeutung. Heinz Kindler – der lange in diesem Feld als Gutachter tätig ist – berichtet über seine Erfahrungen und die kritischen Punkte bei hochstrittigen Paaren.

Eltern streben heute meist das gemeinsame Sorgerecht an. Viele Eltern bevorzugen auch ein sogenanntes Wechselmodell, bei dem das Kind über einen bestimmten Zeitraum (etwa eine Woche) bei dem einen und darauf für die gleiche Zeit beim anderen Elternteil, also in zwei Haushalten, lebt. Dabei wird in der Forschung unterschiedlich diskutiert, ob ein solches Übernachtungsmodell mit wechselnden Lebensmittelpunkten besonders für kleine Kinder und Säuglinge der Bindungsentwicklung eher förderlich ist oder ob dadurch Bindungsprobleme entstehen können. Eine ausgewiesene Forscherin auf diesem Gebiet ist Carol George. Sie berichtet aus ihrer Forschung zur Bindungsentwicklung bei Säuglingen und Kleinkindern mit getrennt lebenden und geschiedenen Eltern. Dabei widmet sie sich besonders der Frage, ob Übernachtungsbesuche bei demjenigen Elternteil, der nicht der Lebensmittelpunkt des Kindes ist, für die Bindungsentwicklung zu diesem Elternteil förderlich sind oder nicht, ja vielleicht sogar schädlich oder traumatisierend sein könnten.

Jessica Borelli hat sich sowohl im Bereich der Klinik als auch der Forschung damit beschäftigt, welche Wege Paare nach einer Scheidung gehen und welche Auswirkungen unterschiedliche Wege nach einer Trennung für die Bindungsentwicklung des jeweiligen Partners haben können.

Ob eine Scheidung fair erfolgen kann oder sehr destruktive oder sogar gewaltvolle Szenen zur Trennung oder Scheidung führen, hängt nach den Forschungen von Katharina Klees sehr davon ab, ob die Partner traumatische Erfahrungen aus ihrer eigenen Vorgeschichte mit in eine Ehe gebracht haben. Gerade bei diesen unverarbeiteten traumatischen Erfahrungen kann es sogenannte »Triggerpoints« geben, d. h. unbewusst und ohne Absicht berühren die Partner beim jeweils anderen wunde Punkte und bereiten sich wechselseitig gerade da Stress, wo sie früher traumatische Erfahrungen gemacht haben. Diese werden dann oftmals auf den jeweiligen Partner projiziert, und nicht selten versucht man, sie dort zu bekämpfen. Es entstehen destruktive partnerschaftliche Bindungen, die dann zur Trennung bzw. Scheidung führen können. Eine traumasensible Paartherapie kann den Paaren und letztendlich der gesamten Familie helfen, im Wissen um traumatische Erfahrungen, die es im Hintergrund gibt, durch entsprechende Beratung und Therapie eine adäquate Hilfestellung zu finden, welche eine gesündere Entwicklung und einen Neubeginn ermöglicht.

In jedem Trennungs- und Scheidungskonflikt wird die Frage des Betreuungsmodells für die Kinder von den Eltern in der Regel hoch emotional diskutiert. Jeder Elternteil möchte in der Regel möglichst viel Zeit mit »seinen« Kindern verbringen, während der andere Elternteil nicht selten das Gefühl hat, zu kurz zu kommen, oder den Eindruck hat, die Kinder würden ihm »vorenthalten«. Um diese Dynamik aufzugreifen, sind in den letzten Jahren verschiedene Betreuungsmodelle entwickelt worden, die jeweils unterschiedliche Auswirkungen auf das Wohlergehen von Kindern haben. Sabine Walper und ihr Team haben sich in einer groß angelegten Studie damit beschäftigt, wie die Beziehung zum getrennt lebenden Elternteil und das Wohlergehen von Kindern je nach Betreuungsmodell bestmöglich realisiert werden können.

Aus seiner Erfahrung als Pädagoge kennt Claus Koch die Situation, dass Lehrpersonen oftmals in der Kita oder der Schule als Erste wahrnehmen, dass es Kindern nicht gut geht und dass sie Symptome entwickeln, noch bevor den Pädagogen bekannt ist, dass die Kinder gerade unter einem Trennungs- und Scheidungskonflikt der Eltern leiden. Würden sich Pädagoginnen und Pädagogen dieser Thematik bewusst werden und auch eine Aufgabe darin sehen, den Kindern in ihrer Problematik – wozu Lernprobleme und weitere Symptome wie Schulangst und Trennungsprobleme gehören – gerecht zu werden, so könnten sie Kindern sehr frühzeitig in dieser schwierigen Situation eine Hilfestellung geben, wie Claus Koch eindrücklich aufzeigen kann.

Nicht selten schwebt den Eltern vor, dass es trotz aller Differenzen doch zu einer respektvollen und für alle lebbaren Scheidung kommen kann, an deren Ende der Wunschsatz steht: »Lass uns Freunde bleiben!«. Andrea Perry zeigt die Probleme, aber auch die Möglichkeiten auf, durch Beratung und Therapie Paare dabei zu unterstützen, dass nach einer Trennung bzw. Scheidung zwischen den einstigen Partnern eine »Freundschaft« entstehen kann. Gelingt dies, ist es sicherlich zum Wohle aller, besonders aber zum Wohle der Kinder.

Aus ihrer langjährigen therapeutischen Arbeit mit Paaren berichten Sabine und Roland Bösel. Seit vielen Jahren führen sie Workshops mit Paaren sowie auch Einzeltherapien durch, in denen sie den Fragen nachgehen, wie ein Paar sich über seine destruktiven Schutzmuster in eine Krise manövriert und wie ein Scheidungspaar sich vom Täter-Opfer-Prinzip lösen kann, um für eine friedliche Zukunft, nicht zuletzt im Sinne der Kinder, bereit zu sein. Gelingt dies, dann sind auch erwachsene Kinder aus einer Trennungs- und Scheidungsfamilie ihrem »emotionalen Erbe« in der Regel nicht ausgeliefert und haben eine Chance auf eine gelingende eigene Partnerschaft, wie die verschiedenen Praxisbeispiele von Sabine und Roland Bösel eindrücklich aufzeigen.

Können wir aus den Erfahrungen früherer Partnerschaften für zukünftige Paarbeziehungen lernen? Ulrike Lux geht in ihrem Beitrag der spannenden Frage nach, was Personen aus ihren früheren Liebesbeziehungen in die aktuelle Partnerschaft hineintragen und welchen Stellenwert sie ihren früheren Beziehungserfahrungen und der darauffolgenden Trennung aktuell einräumen.

Wenn Kinder im Trennungs- und Scheidungskonflikt der Eltern psychische Symptome oder auch körperliche psychosomatische Beschwerden entwickeln, ist dies immer sehr ernst zu nehmen, weil sich diese Probleme, die aufgrund der großen Stresssituation entstehen, in der sich die Kinder befinden, in der Regel nicht so einfach mit dem Alter »auswachsen«. Ganz im Gegenteil nehmen die Kinder diese Erfahrungen dann in ihre eigenen neuen und ersten Partnerschaften mit, wobei sie aber hoffen, dass es ihnen gelingen möge, eine Partnerschaft auf Dauer und ohne die Konflikte der Eltern zu realisieren. Zeigen Kinder großen Stress und entsprechende auffällige Symptome, ist in der Regel eine Beratung der Eltern und oft eine Psychotherapie mit den Kindern bzw. Jugendlichen erforderlich. Karl Heinz Brisch zeigt auf dem Hintergrund seiner langjährigen klinischen Erfahrung auf, wie eine Arbeit mit Kindern in der Einzeltherapie ermöglichen kann, dass diese die Stressbelastung aufgrund der Trennung ihrer Eltern möglichst ohne langfristige psychische Symptome bewältigen können. Dabei geht es um vielfältige Konflikte, besonders Loyalitätskonflikte, teilweise aber auch um eine Traumatisierung der Kinder durch die Trennung der Eltern, der oft traumatische Scheidungserfahrungen bei diesen selbst vorausgingen. Werden die Symptome in einer Psychotherapie der Kinder und einer begleitenden Elternarbeit gut verarbeitet, kann ein Neubeginn in einer Patchworkfamilie durchaus gelingen und die neuen Beziehungsmöglichkeiten in der erweiterten Familie können sogar als ein Gewinn erlebt werden.

Dimitri Mortelmans

Elternschaft und Erziehungsverhalten nach der Scheidung

Was lernen wir aus der Studie zur Scheidung in der Region Flandern?

Der weltweite Anstieg der Scheidungsraten hat eine Vielzahl von Studien nach sich gezogen, die sich mit Ursachen, Verlauf und Folgen des Scheidungsgeschehens befassen (Harkonen 2014; Lyngstad & Jalovaara 2010). Parallel zur Diversifizierung der Geschlechterbeziehungen wurde neben den Themen »Ehe« und »Eheauflösung« auch die Kohabitation, also das »Zusammenleben ohne Trauschein«, in die Betrachtung einbezogen. Vertreter einer Vielzahl von Disziplinen gewinnen Einblick in Familienprozesse und in die je unterschiedliche Entwicklung des Familiensystems nach dem Ende der Partnerbeziehung (Emery 2013). Auch wenn es nur zwei erwachsene Personen sind, die das Ende ihrer Beziehung herbeiführen, sind doch jeweils noch viele weitere Akteure im Spiel. Soziale Akteure wie Anwälte, Richter, Sozialarbeiter und Mediatoren begleiten den Prozess des Auseinandergehens; Großeltern erleben das Zerbrechen der Beziehung ihrer Kinder und müssen neue Wege des Miteinander mit ihnen und mit ihren Enkeln einschlagen (Jappens & Van Bavel 2016). Zahlreiche Studien (Amato 2001, 2014) befassen sich auch mit den Folgen der elterlichen Scheidung für die Gesundheit, den schulischen Erfolg, die Karriereaussichten und den weiteren Lebensweg der betroffenen Kinder.

Im vorliegenden Beitrag präsentieren wir eine Reihe von neuen Erkenntnissen zu Elternschaft und Erziehungsverhalten nach der Scheidung, die sich aus der Gemeinschaftsstudie »Divorce in Flanders« (DIF; Mortelmans et al. 2011) ergeben haben: Die von vielen Beteiligten zusammengetragenen Daten boten eine einmalige Gelegenheit, unser Wissen über den Zusammenhang von Erziehungsverhalten und Kindeswohl nach der Scheidung der Eltern zu vertiefen. Zumal die Einbeziehung beider Eltern und ihrer Kinder in die DIF-Studie ermöglichte uns die Fokussierung auf die Väter im Nachscheidungsszenario – eine Perspektive, die zuvor häufig verstellt war, weil die Männer in den früheren Studien entweder nicht auftauchten oder in den Datensätzen unterrepräsentiert waren.

Wir werden uns hier auf drei zusammenhängende Aspekte des elterlichen Erziehungsverhaltens nach der Scheidung konzentrieren:

Zum Ersten nehmen wir die Väter und ihr Erziehungsverhalten in den Blick. Anhand der Theorie von Diana Baumrind (1991) identifizieren wir die Erziehungsstile geschiedener Väter und die Faktoren, die insoweit von Einfluss sind. Dabei betrachten wir nicht nur die Merkmale oder Eigenschaften der Väter selbst, sondern beziehen auch die Merkmale der Kinder und der Mütter ein, um Unterschiede im Erziehungsstil kenntlich zu machen.

Zum Zweiten fragen wir danach, wie das Wohl der Kinder durch die Scheidung der Eltern beeinflusst wird. Wir überlegen, ob Erziehungsstile und Arrangements hinsichtlich ihres Wohnorts von Einfluss auf das Selbstwertgefühl und die Lebenszufriedenheit der Kinder aus geschiedenen Familien sind. Unsere Analysen konzentrieren sich zunächst allein auf die Väter; danach vergleichen wir den Einfluss des mütterlichen und des väterlichen Erziehungsstils, um die Diskussion dann mit einem umfassenden Vergleich vieler diverser Familienarrangements, einschließlich noch intakter Familien, abzuschließen. Bei diesem Vergleich finden wir Unterstützung für die These von der gleichberechtigten Elternschaft, mit der die Bedeutung des Vater-Seins und der Vater-Rolle auch nach der Scheidung und zumal in der je unterschiedlichen Wirkung auf die dann zustande kommenden Familienkonstellationen unterstrichen wird.

Zum Dritten schließlich nehmen wir den weiteren Gang des Lebens nach der Scheidung in den Blick. Eine Scheidung ist ja nicht das Ende der Liebesbeziehungen der Person. Es tauchen neue Partner im Leben des einstigen Paares (und im Leben der Kinder dieses Paares) auf. Wieder gehen wir dabei dem weiteren Verlauf des Lebens sowohl der Mütter wie auch der Väter nach und fragen nach den Auswirkungen auf das Wohlergehen der Kinder (oder eher der Heranwachsenden, da wir ja eine längere Nachscheidungsperiode zugrunde legen).

Die Studie zur Scheidung in der Region Flandern (»Divorce in Flanders«, DiF)

Die Studie »Divorce in Flanders« (DIF) ist eine multimethodische Studie, die eine Vielzahl von Akteuren in den Blick nimmt (Mortelmans & Pasteels 2011). Die Hauptstichprobe bei dieser Studie ist die »Referenz-Ehe«. Wir begannen mit einer Stichprobe von Paaren, die zwischen 1971 und 2008 geheiratet hatten und zum Teil beisammengeblieben, zum Teil inzwischen geschieden waren. Dabei arbeiteten wir mit einem überproportional großen Anteil geschiedener Paare, um eine hinreichende statistische Gültigkeit unserer Studien in Bezug auf die vor und nach einer Scheidung ablaufenden Prozesse zu gewährleisten (Pasteels et al. 2011). Neben den verheirateten und den geschiedenen Elternpaaren interviewten wir auch je eine der Elternpersonen aller erwachsenen Teilnehmer der Stichprobe, ein (gemeinsames) Kind jedes der Paare sowie, im Fall der geschiedenen Paare, auch eine neue Partnerperson, wenn wieder eine neue Beziehung (ohne Trauschein) bestand. Die geschiedenen Personen durften nicht mehr als eine Scheidung vollzogen haben. Mit diesem Schema, das eine Vielzahl von Akteuren einbezieht, ist zugleich impliziert, dass für jede Referenz-Ehe zwischen fünf und sieben Personen angesprochen wurden. Kinder mussten, um befragt zu werden, mindestens zehn Jahre alt sein; für die Befragung von Minderjährigen bedurfte es zudem der Einwilligung der Eltern. Die aktuellen Adressen der geschiedenen Teilnehmer wurden vom belgischen Nationalregister zur Verfügung gestellt. Das ermöglichte es uns, die Referenz-Personen an ihrem aktuellen Wohnsitz zu kontaktieren, unabhängig davon, ob sie noch miteinander verheiratet waren oder nicht.

Die Studie schloss nicht nur eine Vielzahl von Akteuren ein, sondern arbeitete auch mit einer Vielzahl von Befragungsmethoden, je nachdem, welcher Akteur zu befragen war. Beide Partner der Referenz-Ehe und das noch im jeweiligen Haushalt lebende ausgewählte Kind wurden in einem computerassistierten persönlichen Interview (Computer Assisted Personal Interview – CAPI) befragt: Die Interviewer suchten die Partner und Kinder persönlich auf und befragten sie in ihrem Zuhause. Die Eltern der Befragten und die bereits von zu Hause ausgezogenen Kinder der Referenzpaare konnten zwischen einer postalischen Befragung und einer Online-Befragung wählen. Neue Partner der geschiedenen Personen erhielten einen selbst auszufüllenden und mit der regulären Post zurückzusendenden Fragebogen. Alle schriftlichen Befragungen hielten sich an das Dillman-Schema (Dillman et al. 2014).

Insgesamt 15 325 Personen wurden als Teilnehmer an der Studie kontaktiert. Wir führten 6470 Interviews mit den (Ex-)Partnern durch, davon 1811 mit noch verheirateten und 4659 mit mittlerweile geschiedenen Personen. Hinter diesen Zahlen verbergen sich 4550 Ehen, von denen 1025 noch als solche bestehen und 3525 inzwischen aufgelöst sind. Das resultiert in einem Gesamtanteil von 53,5 % der ursprünglich ausgewählten Referenz-Ehen.

Kinder gab es in 88,1 % der intakt gebliebenen Ehen und bei 74,8 % der geschiedenen Paare. Wegen der erwähnten Altersbegrenzung konnten nur 89,1 % der in den Haushalten lebenden Kinder befragt werden. Wir erhielten die entsprechende Erlaubnis von 87,4 % der noch verheirateten Eltern und von nur 57,3 % der geschiedenen Eltern. Wo die Zustimmung zur Befragung des Kindes verweigert wurde, lautete die Begründung zumeist: »Ich möchte mein Kind nicht mit dem Interview behelligen«, oder (im Fall geschiedener Eltern): »Das Kind tut sich schwer mit der Scheidung«. Von den Kindern, die wir kontaktierten, ließen sich 73,2 % auf die Teilnahme an der Studie ein. Am Ende erhielten wir Antworten von 56,5 % der ausgewählten Kinder, die noch zu Hause lebten. Kinder aus geschiedenen Familien nahmen in geringerer Zahl (51,8 %) teil als solche, die noch in einem intakten Haushalt lebten (71,6 %). Insgesamt wurden 1257 Kinder befragt (379 aus intakten Elternhäusern, 878 aus Scheidungsfamilien).

Die Studien, über die wir hier berichten, arbeiten alle mit gewichteten Mittelwerten, um Antwort-Ausfälle auszugleichen. Mehrere Studien nutzen spezifische Teilproben oder Subsamples der Hauptstudie, denn der Umstand, dass viele Akteure beteiligt sind, erlaubt eine je spezifische Sicht auf die Beziehung zwischen Eltern (Vätern) und ihren Kindern. Wir werden auf diese Teilproben zurückkommen, wenn wir die Resultate der Studien diskutieren.

Das Erziehungsverhalten der Väter nach der Scheidung

Die Studie über das Väterverhalten (die erste Folgestudie von DIF) baute u. a. auf der Erziehungstheorie von Diana Baumrind auf. Baumrind (1991) geht in ihren Überlegungen davon aus, dass Erziehung immer auf zwei Achsen angelegt ist – auf der Achse der »Unterstützung«, die das affektive Verhalten und die Responsivität abdeckt, und auf der Achse der »Kontrolle«, die für das Etablieren von Regeln und für die Führung und Überwachung der Kinder steht. Anhand dieser beiden Achsen oder Dimensionen lassen sich vier verschiedene Erziehungsstile identifizieren:

Baumrinds Schema ermöglicht es, unterschiedliche Typen von »Eltern als Erzieher« zu identifizieren und nach der Verteilung der diversen Erziehungsstile in der Bevölkerung zu fragen. Die DiF-Studie erfasst die Erziehungsstile anhand des von Darling und Toyokawa (1997) entwickelten »Parenting Style Inventory II (PSI-II)«. Dabei werden die beiden von Baumrind vorgestellten Achsen als die Faktoren »Kontrolle« und »Unterstützung« operationalisiert – also messbar gemacht – und einer fünf Punkte umfassenden Likert-Skalierung (von der totalen Nichtübereinstimmung bis zur uneingeschränkten Zustimmung) unterzogen.

Das Instrument wurde den Müttern und Vätern jeweils separat präsentiert und in Form eines Fragebogens auch den Kindern vorgelegt. In der DIF-Studie waren die Mindestkriterien für die interne Konsistenz erfüllt (Cronbachs Alpha betrug bei den Vätern 0,82 für »Unterstützung« und 0,77 für »Kontrolle«, bei den Müttern 0,82 für »Unterstützung« und 0,68 für »Kontrolle«). Auch die Diskriminanzvalidität zwischen den Skalen wurde für die Mütter wie für die Väter bestätigt.

Der erste Schritt in unserer Studie (Bastaits et al. 2015) galt zwei Hauptzielen. Zum einen wollten wir uns Klarheit über die Erziehungsstile geschiedener Eltern verschaffen. Wir konzentrierten uns dabei auf das Erziehungsverhalten der Väter. Noch bis vor kurzem zielten entsprechende Untersuchungen im Wesentlichen auf die Mütter, und wenn geschiedene Väter ins Spiel kamen, lag der Fokus zumeist auf ihrem ökonomischen Beitrag oder auf ihrer nachehelichen Präsenz im Leben ihrer Kinder (Amato et al. 2009). Zum anderen interessierte uns die Verteilung dieser Erziehungsstile, nachdem wir sie identifiziert hatten. Wir stellten die These auf, dass die Erziehungsstile geschiedener Väter nicht nur durch deren persönliche Merkmale, sondern auch durch Faktoren prädiziert sind, die mit den Kindern, mit der einstigen Ehefrau und mit der Scheidung als solcher zu tun haben.

In der DIF-Studie wurden die Erziehungsstile anhand der Latenten Klassenanalyse (Latent Class Analysis, LCA) ermittelt. Vergleichbar der Faktorenanalyse, identifiziert dieses Verfahren latente Merkmale, die den jeweiligen kategorialen Variablen zugrunde liegen (Hagenaars 1998; Magidson & Vermunt 2004). In den Teilstichproben sowohl der Mütter als auch der Väter ergab sich eine Vier-Klassen-Lösung. Bei 28,2 % der geschiedenen Väter fanden wir einen autoritativen Erziehungsstil; die drei anderen Erziehungsstile verteilten sich wie folgt: 25,7 % der Väter hatten einen autoritären, 13,7 % einen vernachlässigenden und 32,4 % einen permissiven Erziehungsstil. Bei den geschiedenen Müttern war die Verteilung etwas anders: 42,8 % der Mütter hatten einen autoritativen, 33,2 % einen autoritären, 13,6 % einen permissiven und 10,4 % einen vernachlässigenden Erziehungsstil. Der Prozentsatz der autoritativ erziehenden geschiedenen Mütter war also deutlich höher als derjenige ihrer autoritativ erziehenden einstigen Ehepartner. Die Annahme, geschiedene Väter seien überwiegend permissive oder sogenannte »Disneyland-Väter«, findet allerdings keine Bestätigung (Stewart 1999): Tatsächlich hat doch ein beträchtlicher Teil der geschiedenen Väter einen autoritativen Erziehungsstil.

Mittels einer multinomialen logistischen Regression verfolgten wir das zweite Ziel dieser unserer ersten Studie (Bastaits et al. 2015): Welche persönlichen Merkmale prädizieren den Erziehungsstil »unserer« geschiedenen Väter? Als ein Hauptmerkmal erwies sich insoweit der Bildungsstand: Väter mit höherer Bildung sind unter den autoritativ Erziehenden vergleichsweise signifikant stärker repräsentiert. Das Alter der Väter spielte keine Rolle. Möglich ist allerdings, dass der positive Zusammenhang zwischen dem Alter der Kinder und ihrer autoritativen Erziehung eine etwaige geringe Signifikanz des Alters der Väter noch so weit verminderte, dass es nun keine Rolle mehr spielte (zwischen beiden Effekten besteht eine starke Korrelation). Übereinstimmend mit früheren Untersuchungen (Peters & Ehrenberg 2008) bestätigte dieses Modell auch, dass Mädchen es nach der Scheidung der Eltern eher als Jungen mit einem »vernachlässigenden« Vater zu tun haben werden. Das erklärt sich mit dem Umstand, dass Väter und Töchter ein potentiell geringeres Maß an Interessen teilen. Und was die Mütter angeht: Es besteht eine klare Korrelation zwischen den Erziehungsstilen der beiden Ex-Partner. Wenn die Mütter einen autoritativen Erziehungsstil befolgen, tendieren die Väter eher zum permissiven Stil. Umgekehrt gilt: Wenn die Mütter eher permissiv erziehen, erweisen die Väter sich eher als autoritative Erzieher.

Natürlich können wir nicht mit Sicherheit sagen, dass es sich dabei um einen Selektionseffekt handelt, denn die unterschiedlichen Erziehungsstile der beiden Eltern könnten auch der Hauptgrund ihrer Scheidung gewesen sein. Ohne Längsschnittdaten können wir die Richtung dieses Zusammenhangs nicht ermitteln. Wir sehen zwar keinen Einfluss auf das Vaterverhalten, wenn ein geschiedener Vater eine neue Partnerin findet; die Dinge liegen aber anders, wenn ein neuer Partner im Leben seiner Ex-Frau auftaucht: Wenn die Mutter einen neuen Partner hat, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dieser als Vater involviert wird und eine Rivalität zwischen dem leiblichen Vater und der für die Kinder neuen Vaterfigur entsteht. Auch im Licht der jeweils getroffenen Sorgerechtsvereinbarung wird der Erziehungsstil der Väter verständlich: Anders als Väter, die (zu gleichen Teilen wie ihre einstigen Ehefrauen) in Wohngemeinschaft mit ihren Kindern leben, befolgen Väter, die dies nicht tun, eher einen permissiven oder vernachlässigenden Erziehungsstil.

Diese erste Untersuchung (Studie 1) zeigte, dass sich die Erziehungsstile sowohl geschiedener Mütter als auch geschiedener Väter aus der vorausgegangenen Studie »Divorce in Flanders« (DIF) erschließen lassen. Sie kam darüber hinaus zu dem Schluss, dass der Erziehungsstil von Vätern nicht allein durch persönliche Merkmale bestimmt wird. Erziehungsstile bilden sich im Rahmen des Familiensystems auch jenseits der zwischen den Eltern bestehenden Beziehung heraus. Nicht nur die einstige Ehefrau, sondern auch deren neuer Partner beeinflusst den Erziehungsstil des geschiedenen Vaters.

Die Kinder

Nach der Identifizierung der Erziehungsstile in geschiedenen Familien richteten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Scheidungskinder und auf die Frage, ob Erziehungsstile für die Kinder von Belang sind (Studie 2) und ob die Erziehungsstile geschiedener Eltern sich je unterschiedlich auf das Wohlbefinden der Kinder auswirken (Studie 3).

Die zweite Studie, die wir anhand des Materials aus der Studie »Divorce in Flanders« durchführten (Bastaits et al. 2014), zielte auf die Frage, ob der Erziehungsstil und das Wohn-Arrangement der Väter für das Wohlbefinden der Kinder überhaupt von Belang waren. Die Studie baute auf älteren Untersuchungen auf, die den autoritativen Stil als das für die Kinder Beste identifiziert hatten (Marsiglio et al. 2000). Die meisten dieser vorausgegangenen Untersuchungen hatten sich vor allem auf den Erziehungsstil der Mütter konzentriert, waren also entweder von der Abwesenheit der Väter ausgegangen (Benson et al. 2008; Wood et al. 2004) oder hatten es unterlassen, die jeweils unterschiedliche Handhabung der physischen Sorge durch die Väter in Betracht zu ziehen; sie hatten also ausschließlich Situationen mit getrennt lebenden Vätern erfasst (Flouri 2006; Hetherington & Stanley-Hagan 1999). Die Studie »Divorce in Flanders« hat alle diese Elemente berücksichtigt und es uns damit erst ermöglicht, auf den älteren Erkenntnissen aufzubauen.

Zum Sorgerecht heißt es in der Studie »Divorce in Flanders«, dass Mutter und Vater in ihren jeweiligen Interviews angaben, wie viele Tage und Nächte pro Monat das Kind üblicherweise in dem betreffenden Haushalt verbrachte. Auf Basis dieser Informationen konstatierten wir vier Varianten des praktizierten Sorgerechts:

Dabei legten wir für die erste Variante, also die von beiden Eltern abwechselnd geleistete physische Sorge, eine Spanne von 33 bis 66 % der Nächte zugrunde, die das Kind bei jeder der Elternpersonen verbrachte. Die vierte Variante (Kind wohnt bei keiner der Elternpersonen) blieb bei den Analysen unberücksichtigt, weil die Anzahl dieser Fälle sehr gering war (n = 10 Kinder).

Das nächste Problem stellte sich uns mit der Erfassung des Wohlbefindens der Kinder. In der Literatur wird das Wohlbefinden anhand sowohl positiver als auch negativer Indikatoren erfasst. Negative Indikatoren des Wohlbefindens sind z. B. das internalisierende und externalisierende Problemverhalten eines Kindes (Ben-Arieh 2000; Flouri 2006). In unserer Studie entschieden wir uns dafür, zwei positive Indikatoren des Wohlbefindens eines Kindes zu nutzen: das Selbstwertgefühl und die Lebenszufriedenheit.

Das Selbstwertgefühl wurde anhand der 10 Items abfragenden 5-Punkt-Skala nach Rosenberg (1965) ermittelt. Diese Skala misst, ob das Kind mit sich und seinem Verhalten zufrieden ist. Der zweite Indikator, die Lebenszufriedenheit, ist weiter gefasst und betrifft die Zufriedenheit mit dem Leben in seiner Gesamtheit. Dieser Indikator wurde mit einem einzigen Item erfasst und reichte von 0 (überhaupt nicht zufrieden) bis 10 (rundum zufrieden). Obwohl ein Zusammenhang zwischen beiden Indikatoren besteht und beide unter den Oberbegriff des Wohlbefindens fallen, zeigen die Forschungen von Campana, Henderson, Stolberg und Schum (2008) doch, dass Kinder imstande sind, zwischen diesen beiden Dimensionen des Wohlbefindens zu unterscheiden.

In einem ersten Schritt fragten wir danach, welchen Anteil der Erziehungsstil des geschiedenen Vaters am Wohlbefinden des Kindes hatte. Sowohl in Bezug auf das Selbstwertgefühl als auch in Bezug auf die Lebenszufriedenheit zeigte der autoritative Erziehungsstil des Vaters eine signifikante und positive Wirkung. Daneben hatte auch der permissive Stil (verglichen mit dem vernachlässigenden Stil) eine positive und signifikante Wirkung auf die Lebenszufriedenheit. Was den Erziehungsstil der geschiedenen Mutter angeht, so trug auch hier der autoritative Stil zum Wohlbefinden des Kindes in beiden Dimensionen bei, und auch hier war es nur die Lebenszufriedenheit, die zusätzlich auch durch den permissiven Erziehungsstil günstig beeinflusst wurde. Allerdings erklärte der Erziehungsstil nur 5 % der Gesamtvarianz sowohl beim Selbstwertgefühl als auch bei der Lebenszufriedenheit der Kinder. Ein Einfluss des Erziehungsverhaltens ist zwar gegeben, aber er scheint doch sehr begrenzt zu sein. Immerhin zeigen die positiven und signifikanten Parameter, dass ein (anhaltend) positives Erziehungsverhalten dazu beiträgt, die negativen Folgen der elterlichen Scheidung für die Kinder abzuschwächen.

In einem zweiten Schritt suchten wir nach einer Wechselwirkung zwischen den Sorgerechtsvereinbarungen und dem Erziehungsstil der Väter. Hier ging es uns darum, die in der Literatur bereits vorhandenen Erkenntnisse zu vertiefen, also nicht ausschließlich auf das Erziehungsverhalten getrenntlebender Väter abzuheben. Beim Blick auf separate Modelle stellten wir fest, dass der autoritative Erziehungsstil sowohl miterziehender als auch getrenntlebender Väter sich positiv auswirkt. Was dagegen das kombinierte Modell angeht, so ergab sich keinerlei signifikante Wechselwirkung. Das lässt vermuten, dass die Sorgerechtsvereinbarung die Wirkung des Erziehungsstils auf das Wohlbefinden des Kindes nicht tangiert. Über die verschiedenen Sorgerechtsvereinbarungen hinweg lassen sich etwaige unterschiedliche Wirkungen der väterlichen Fürsorge weder in der Lebenszufriedenheit noch im Selbstwertgefühl des Kindes feststellen.

Das stand unseren Hypothesen entgegen, denn wir hatten ja erwartet, dass die gemeinsame physische Sorge sich vergleichsweise positiver auswirken würde, weil die Kontaktfrequenz zwischen Vater und Kind in diesen Fällen sehr viel höher ist. Zwar müssen wir diese Resultate mit großer Vorsicht betrachten, weil die Zahl der miterziehenden Väter in unserem Datenmaterial noch begrenzt ist, aber das Fehlen einer Wechselwirkung spricht doch dafür, dass für die Kinder nicht so sehr die Kontakthäufigkeit als solche als vielmehr der Erziehungsstil von Belang ist. Was in Bezug auf intakt gebliebene Familien erwiesen ist, gilt auch für geschiedene Familien: Für das Wohlbefinden des Kindes ist es von Vorteil, einen autoritativen Vater zu haben – so wie es auch von Vorteil ist, keinen uninteressierten und gleichgültigen Vater zu haben.

Bastaits & Mortelmans 2014Pleck & Pleck 1997