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 Abdelkader Djemaï

Die letzte Nacht

des Emir

Erzählung

Aus dem Französischen von
Christine Belakhdar
22

 

 

Originalausgabe:
La dernière nuit de l’Émir
Édition du Seuil, Paris 2012
CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek
Abdelkader Djemaï
Die letzte Nacht des Emir
Aus dem Französischen von Christine Belakhdar
ISBN: 9783962026066
© der deutschen Ausgabe 2016 by Sujet Verlag
Umschlaggestaltung: Ina Dautier
Satz und Layout: Alexandra Schilref
Lektorat: Radouane Belakhdar
Korrektorat: Anna Tacke, Alexandra Schilref
Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen
Printed in Europe
1. Auflage
www.sujet-verlag.de

 

 Den siebenundneunzig Männern, Frauen, Kindern

und Greisen, die am 24. Dezember 1847 an Bord

der Solon gingen, und meinen Enkelkindern, Amyra

und Mohammed, damit sie sie nie vergessen.

 

Freitag, 24. Dezember 1847


Zwei Tage und zwei Nächte lang regnete es über Djemâa-Ghazaouët, einem kleinen, rund hundert Kilometer von der marokkanischen Grenze entfernt gelegenen Hafen im Nordwesten Algeriens. An diesem Abend waren die Herzen des Emir Abd el-Kader und seiner Gefährten voller Tränen. Nach einem langen und erbitterten Widerstand hatten sie soeben eine Niederlage erlitten. Mehr als fünfzehn Jahre hatten sie gegen eine gut ausgerüstete und wohl genährte Armee gekämpft. Eine Armee, die seinerzeit die mächtigste der Welt war.

Die meisten von ihnen hatten das Meer nie von so nah gesehen, nie seine weiße oder graue Gischt berührt, nie seinen Geruch, seinen salzigen Geschmack gespürt. Sie hatten auch nie die heftigen Wellen, die grantigen Felsen und die mitunter gleißenden Spiegelungen erlebt.

In diesem Land ohne Flüsse, in dem die Jahreszeiten und Stunden nur langsam verrinnen, war ihnen nur das Wasser der Brunnen und wadis1 vertraut, an die sie ihr Vieh zum Tränken führten. 

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1 Flüsse

Hier wuschen sie auch die Wäsche, die Decken, Schafsfelle und manchmal die Toten oder die Bräute nach ihrer Hochzeitsnacht. Wenn die Hitze den Himmel aufblähte, boten ihre schmalen und mit Gestrüpp versetzten Ufer den von der Sonne erschöpften Leibern Schutz.

Auch war es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie ein Schiff mit französischer Flagge sahen. Es hieß Le Solon, und sie konnten trotz des schlechten Wetters die weißen, im Abendwind sich leicht bewegenden Segel dieses Dreimasters hinter den Fischerbooten erkennen. Diese schnelle und mit rund vierzig Feuerschlünden ausgestattete, in der Marinewerft in Brest gebaute Hundertsechzigtonnenfregatte erwartete sie schon. Sie hatte, aus Le Havre kommend und unter dem Befehl von Korvettenkapitän Jean-Louis Charles Jaurès, am Vortag gegen zehn Uhr morgens angelegt.

Bevor sie gleich entwaffneten Indianern unter einem trüben Himmel umherirrten, waren sie wie dieser Mann, der im hellen Licht des Tages lief, bis er über eine Wurzel stolperte und auf jenen Boden fiel, auf dem er einst geboren ward. Von nun an waffen- und heimatlos lebten sie allein und isoliert über dem Nichts. Es war, als ob sie ihr Gesicht nicht mehr in der Spiegelung des Wassers zu erkennen vermochten und dazu verurteilt wären, ihr ganzes Leben barfuß zu laufen. 

Siebenundneunzig waren es in der Hafenkaserne, bewacht von ungefähr fünfzehn Soldaten unter dem Befehl von Kapitän Joseph Rouyer, die sich auf die Einschiffung am frühen Abend vorbereiteten. Fünfzehn Jungen und Mädchen, einundzwanzig Frauen und einundsechzig Männer. Einige von ihnen waren verletzt oder krank, andere hatten wegen des mangelnden Schlafes oder vor Müdigkeit gerötete Augen. Einige, die ältesten, litten unter der Feuchtigkeit, die unter ihre Djellabas und Wollhemden kroch. 

Auf der von Kapitän Rouyer mit lila Tinte in Schönschrift geschriebenen Liste waren die zuweilen entstellten Namen des Emir, seiner drei Frauen, darunter Kheira, der Mutter seiner drei Kinder Mohamed, Abdallah und Khedidja zu lesen. Sie waren in Begleitung seiner eigenen Mutter, Lalla Zohra, seines Bruders Mustapha, seiner Schwester Zohra und deren Ehemann, Leutnant Mustapha Ben Thami.

Zu den anderen Familien gehörten seine engsten Stellvertreter, Kaddour Ben Allel, Mohamed Ben el-Kebir, und sein Privatsekretär, Kaddou Ben Rouila. Wie die Dienstboten und Dienerinnen, waren auch die Kinder unter ihrem Vornamen eingetragen. Ihres Landes und ihrer Gewohnheiten beraubt, schmiegten sich einige von ihnen an diesem 24. Dezember des Jahres 1847 stumm und starr vor Kälte an ihre Eltern, die darauf warteten, auf die Solon zu gehen. Vor nicht allzu langer Zeit hatten sie alle glücklich im Kreise der Smala gelebt, bevor sie in die Gefangenschaft des Herzogs von Aumale gerieten. 

Ein unzählbares Gefolge


Vier Jahre vor ihrer Ankunft im Hafen von Djemâa-Ghazaouët lebten die meisten von ihnen in der Smala, die auf der Haut ihres Gedächtnisses Spuren, Narben und Tätowierungen hinterlassen hatte. Ihre wandelnde Hauptstadt, ihre Nomadenstadt, bestand aus siebentausend Zelten, über denen zahlreiche grün eingefasste und mit einem roten Stern und einem weißen Halbmond versehene Fahnen wehten.

Die Zelte des Emir und seiner Familie, seiner Mitarbeiter und seiner Offiziere standen im Zentrum einer aus vier konzentrischen Schutzmauern bestehenden, und der Gemeinschaft dienenden Verteidigungsanlage. Sie beherbergte auch Waffenschmiede, Sattler, Schneider, Zelthersteller, Hufschmiede und andere Zünfte. Jede Woche hielten Städter und Bauern der Umgebung Markt und boten Gemüse, Früchte, Honig, flüssige Butter, Eier und Stoffe feil.

Diese aus dreihundertachtundsiebzig douars zu jeweils fünfzehn bis zwanzig Familien bestehende ambulante Stadt ließ sich je nach Art der geführten Auseinandersetzungen und der Suche nach neuen Himmeln im Flachland, am Fuße eines Gebirges oder in einer Talmulde nieder. Gelangte sie in die Steppe, schien das Sonnenlicht geschmeidiger, weniger erdrückend.

Wenn das Lager aufbrach, blieben Mist, Dung, Abfall und zwischen rauchgeschwärzten Steinen liegender oder in der Erde verbuddelter Küchenunrat zurück. In den Bäuchen der zum Teil beschädigten Backöfen glomm eine schwache Glut. An manchen Stellen war das Gras niedergetreten, abgeschnitten oder herausgerissen. Der Boden schien vom Getrampel des Viehs wie eine behauene Eisenplatte. Die Eroberungsarmee hatte lange gebraucht, um die Existenz der Smala wahrzunehmen. Dabei bildete sie doch über etliche Kilometer hinweg ein schier endloses und beeindruckendes Gefolge. Einen seichten und steten Wind im Rücken, zog sie vorwärts im Rhythmus ihrer eigenen Farben, ihres Lärms, ihrer kreischenden Säuglinge, des Stimmengewirrs, der blökenden Tiere und der Bewegungen und Gesten derer, die sie bevölkerten. 

Diesen von einer Wasserstelle zur anderen, von einem Weideplatz zum anderen ziehenden riesigen Bienenschwarm verglich General Barail, der an der Zerschlagung der Smala teilgenommen hatte, mit mehreren Geschwadern der Arche Noah.

Tag und Nacht, zu jeder Minute, zu jeder Sekunde, vereinte sie zwanzigtausend Personen samt hunderten Pferden, Rindern, Schafen, Ziegen, Mauleseln, Kamelen, Tongefäßen, Holztruhen und Gepäckstücken. Manchmal, bei großen Militärmanövern oder bei Zusammenkünften mit anderen Stämmen, wuchs die Zahl ihrer Mitglieder auf das Doppelte oder Dreifache an.

Am Abend hätte man meinen können, dass mit ihren Feuerstellen und ihren langen, weißgrauen, der Gischt des Meeres ähnelnden Rauchschwaden, ein kreisrund geschnittener Himmelszipfel wie ein riesiges Platzdeckchen auf dem Boden lag. Ein Kreis wie die Darstellung der Welt, wo jeder, in einer Art vertrautem Chaos, seinen Platz und einen Sinn im Kampf des Emir fand. 

Blaue Augen


Vor der Zeit von Krieg und Verwüstung, als sie noch Herr ihrer selbst waren und in Frieden lebten, zogen der Emir und seine Männer durch grün-, ocker-, rot-, blau- und gelb getüpfelte Landschaften. Bei jedem Schritt, jedem Atemzug schweifte ihr Blick ins Unendliche, so schön, weit und oft unberührt war das Land. Ein breites Vieleck, das in seinen Grenzen einen Küstenstreifen von tausendzweihundert Kilometern umfasste, fruchtbare Böden, sebkhas, Gebirge, die Wälder des Tell und die mit Halfa bewachsenen Flächen der Hochebenen. Die Sahara, die größte Wüste der Erde, die den Eroberern aus dem Norden lange unbemerkt blieb, öffnete sich unerbittlich, unendlich und eigensinnig auf den schwarzafrikanischen Kontinent. Das Meer oben erschien ihnen wie ein riesiger, faszinierender und unergründlicher Spiegel. 

Sie lebten im Einvernehmen mit den Stämmen der Hachem, der Beni Snassen, der Beni Hassan, der Mahajer, der Ouled Khelifa, der Ouled Sidi Cheikh, der Ghraba und der Beni Chougrane. Viele von ihnen waren im Kampf gefallen. Viele sollten bald sterben.

Die Beni Amer schlossen sich als Erste dem Emir an. Die Smala, angeführt von Benaouda Mazari, und die Douair aus der Ebene um Oran, mit Mustapha Ben Smail an der Spitze, waren die ersten, die gegen ihn kämpften. Hart war auch die Konfrontation mit Sidi Mohamed Tidjani, dem Chef der Tidjanya-Bruderschaft, deren ksar2  Ain Mahdi, von einem ockergelben Schutzwall umgeben, er von Juni bis Dezember 1838 belagerte.

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2 Festung

Wenn sie nicht gerade in der Koranschule oder mit den Tieren auf der Weide waren, glaubten die überall arglos herumtollenden Kinder trotz der Wirren des Krieges, auf einem riesigen Spielplatz zu leben. Man hörte sie wie buntgefiederte Vögel in einer Voliere ohne Gitter und Dach kreischen und lachen. 

Ob jung oder alt, arm oder reich, aus vornehmem Zelt oder Nomaden niederer Abkunft, der Himmel über ihren Köpfen glitt geruhsam wolkenlos oder bewegt stürmisch im Rhythmus ihrer Schritte und des Atems ihrer Tiere hinweg. In deren feuchten und zitternden Nüstern haftete noch der lebhafte Geruch der Erde, der Gräser und des von den Gewehren der Reiter ausgespienen stechenden Schießpulvers.  

Ein Viertel der Bewohner der Smala bestand aus Infanteristen, Artilleristen und mehr als tausend Reitern, die nie eine Militärschule besucht hatten. Diese khias unter dem Kommando des agha3 Kara Mohamed stellten dank der Mobilität seiner Truppen die wichtigste Einheit des Emir dar. 

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3 Titel für einen Würdenträger

Er liebte Pferde, besonders Zaïn, einen mutigen und geduldigen Vollblüter mit schwarzem Kleid, den er lange ritt. „Es ist der größte Vollblutaraber, den ich je gesehen habe […] Abd el-Kader hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ihnbeim Verlassen des Zeltes oder bei seiner Rückkehr, auf einer Fläche von 20 bis 30 Metern springen oder sich bäumen zu lassen“, so erinnerte sich Leon Roches, sein Dolmetscher und Übersetzer während der Vertragsverhandlungen von Tafna, die beiden Lagern kurze Zeit Frieden brachten.

In bewegten Zeiten wie auch in den Gefechtspausen reiste der Emir, Kriegsherr und Bibliophile, stets mit seinen Handschriften, seinen Archiven und seiner reich bestückten Bibliothek, seinem „kleinen Schatz“ aus fünftausend Titeln, die er wie seinen eigenen Augapfel hütete. Seine Augen waren blau, zum Erstaunen der Europäer, die ihm begegneten.

Leon Roches, angeblich zum Islam bekehrt, doch tatsächlich Geheimagent von Marschall Thomas Robert Bugeaud, dem Marquis de la Piconnerie, beschrieb den Emir als einen stattlichen Mann mit feinen Zügen, einem schön gezeichneten Mund, hellem Teint und einer breiten und hohen Stirn. Von mittlerer Größe, schlanker, doch robuster Gestalt, hatte er auch, fügte er hinzu, geschwungene Wimpern und einen schwarzen, seidigen Bart.

In einem Brief an den Ratspräsidenten, den Grafen Mathieu Molé, befindet Bugeaud, dass der Emir „dem Porträt ähnelt, das oft Jesus verliehen wird“, und fährt fort: „Er ist eine Art Genie, ein Prophet, er ist die Hoffnung aller Muslime.“

Die gemalten Porträts und die Photographien des Emir – er war eine der ersten Persönlichkeiten in der Welt, die abgelichtet wurde – widerlegen keineswegs die Verführungskraft und das Charisma, die er ausstrahlte. Wegen seiner zahlreichen Medaillen, seiner ehrenvollen Auszeichnungen und seines Großkreuzes der französischen Ehrenlegion wurde er später von einigen seiner Landsleute als Diener Frankreichs verschrien. 

Auch verklärte mitunter die klischeehafte Darstellung, der sentimentale oder allzu bewundernde Ton über seine Person das Bild jenes Mannes, den die Franzosen den „Sultan der Araber“ nannten.

Freudenfeuer


Jeden Tag erging sich die Smala in schrillem Getöse. Der Rauch von den Braseros und Fackeln, die Düfte aus der Küche, der Gestank der Tiere, der Streu und des Futters vermengten sich mit dem Geruch von Schweiß, Leder und Wolle zwischen hunderten Zelten, von denen viele von jüdischen Handwerkern gefertigt worden waren.

In der Dunkelheit, die die umliegenden Felder verzehrte, war mitunter das Bellen streunender Köter zu hören.