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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Gewidmet

Vorwort

Die Revolution Unsere Flucht Die Vorgeschichte Die Ereignisse von 1956

Ausbruch der Revolution

Der vorübergehende Sieg und die Niederschlagung der Revolution

Vergeltung Die Massenflucht in den Westen

Wir gehen auch

Über die österreichische Grenze

In der Welt der Flüchtlingslager Von Andau bis Courtételle Erste Station: Eisenstadt

Flüchtlingslager Kaisersteinbruch

Wien, Kenyongasse 15, Hotel Hospiz

Gugging bei Wien, das letzte Lager

Auf dem Weg nach Courtételle

Ankunft in Courtételle

Unser Leben in Courtételle 1957—1958 Die ersten Tage

Schweiz, Jura, Courtételle

Als Hilfsarbeiterin in der Uhrenfabrik Léon Berdat SA

Der Alltag in Courtételle

Die Sonntage in Courtételle

Mein erster Kurs in der Schweiz

Freuden und Überraschungen des Sommers

Veränderungen in Ungarn

Uhrmacherferien 1957

Wir ziehen um

Weihnachten 1957

Enttäuschungen und Freuden

Ernő wird Student in Genf

Unsere neuen Freunde

Uhrmacherferien 1958

Unsere ersten Flügelschläge

Das Wiedersehen

Epilog

Dank

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2017 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-903155-00-8

ISBN e-book: 978-3-903155-01-5

Lektorat: Lucy Hase

Umschlagfoto: Maria Király

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Maria Király

www.novumverlag.com

Gewidmet

Meinen „kleinen Nichten“ Dietlind, Denise, Ildikó und ihren Kindern Alain, Csilla, Franca, Nils, mit denen ich so viele fröhliche Stunden erlebt habe.

Meinen Brüdern Ernő und Géza, meinen Schwägerinnen Birgit und Heidi und allen meinen Freundinnen und Freunden, deren Liebe seit Jahrzehnten meine Existenz durchwärmt.

Vorwort

„Dass der Mensch in seiner Jugend
das Ziel so nahe glaubt!
Es ist die schönste aller Täuschungen,
womit die Natur der Schwachheit
unseres Wesens aufhilft.“

(Hölderlin: Hyperion)

Fast 60 Jahre sind vergangen seit den hier beschriebenen Erinnerungen. Die Franzosen sagen: „Sich erinnern ist Pflicht.“ Es verbietet das Vergessen und die Unwissenheit.

In der vorliegenden autobiographischen Erzählung war es nicht mein Ziel, einen historischen Rückblick über eine gewisse Epoche (1956–1958) in literarischer Form zu schildern, sondern das Leben einer durchschnittlichen Familie, nämlich meiner eigenen, die nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution 1956 in die Schweiz geflüchtet war, nachzuzeichnen. Obwohl ich keine Historikerin bin, habe ich mich bemüht, die historischen Tatsachen wahrheitsgetreu und objektiv vorzulegen. Viele Erlebnisse sah ich noch deutlich vor mir, bei einigen musste ich in meinem Gedächtnis stöbern. Bei der Rückverfolgung der lang vergangenen Zeiten standen meine Brüder mir als wertvolle Hilfe zur Seite und die aufbewahrten Briefe unserer Eltern gaben mir auch sehr wichtige Hinweise auf die Fortentwicklung ihrer und unserer Leben. Glücklicherweise hat unser Vater für die Jahre 1957 und 1958 einen Taschenkalender überaus gewissenhaft geführt, und die gefundenen Aufzeichnungen ermöglichten es, die Ereignisse in chronologischer Reihenfolge darzustellen.

Das Aufschreiben all dieser Geschehnisse hat in mir wieder mit großer Intensität wertvolle Bilder, Gedanken und Gefühle wachgerufen. In tiefer Dankbarkeit denke ich an die vielen warmherzigen Menschen, die uns damals geholfen und unserem Leben neue Perspektiven eröffnet haben. Einige von ihnen wurden durch diese Zeilen wieder ins Leben gerufen, so Cécile Membrez – unsere liebe Tante Cécile –, der wir alles zu verdanken haben, was wir damals, in unserer wilden Jugendlichkeit, gar nicht begriffen. Ähnliche Gefühle verbinde ich mit den drei Ehepaaren Grillon, Rais und Lehmann aus Courtételle, unseren liebevollen, hilfsbereiten Arbeitgebern, und mit Mademoiselle Albertine Fleury, unserer lieben, gütigen Nachbarin, die mir sogar gratis Klavierstunden gab. Die liebenswürdige, großzügige Ursula von Muralt, Vertreterin des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen Schweiz (HEKS) in Bern, die mich während meiner Ausbildung in Lausanne unterstützte, bleibt auch für immer in meinem Gedächtnis.

Unsere Kindheit wurde von einem Weltkrieg, unsere Jugend von einer Revolution unterbrochen. Wir waren Augenzeugen, sogar Teilnehmer von historischen Geschehnissen, die für den heutigen jungen Menschen nur noch Jahreszahlen bedeuten: 1939–1945 Zweiter Weltkrieg, 1956 ungarischer anti-kommunistischer Aufstand.

Im Vergleich zu der kühlen Objektivität der Geschichtsbücher werden diese Erinnerungen vielleicht eine lebhaftere Lektüre der historischen Daten anbieten. In diesem Fall wäre mein Wunsch erfüllt.

Maria Király Lausanne, 2016

Die Revolution
Unsere Flucht
Die Vorgeschichte
Die Ereignisse von 1956

Es war Oktober 1956, ein sonniger, trockener, bunter und herrlicher herbstlicher Monat.

Géza und ich besuchten seit September das Gymnasium in Vác1, die Stadt, in der wir wohnten. Zu dieser Zeit fing das Schuljahr in Ungarn im September an. Ich war 16, Géza ein Jahr älter. Ernő (den wir Poci oder Poco nannten) studierte schon in Gödöllő und wohnte dort im Internat. Sein Wunsch war es, Forstingenieur zu werden. Da er an der forstwirtschaftlichen Fakultät in Sopron2 nicht aufgenommen wurde, kam er nach Gödöllő bei Budapest an die landwirtschaftliche Fakultät der Universität.

1 Kleinstadt (circa 30.000 Einwohner) an der Donau, 30 Kilometer nördlich von Budapest

2 Stadt an der österreichischen Grenze

Die ersten Wochen des Jahres 1956 brachten keine Veränderungen in unser gewöhnliches, ruhiges und kleinstädtisches Leben. Wie immer standen wir auch jetzt um halb sieben auf, da wir uns spätestens um halb acht auf den Weg ins Gymnasium machen mussten. Das alte Gymnasiumsgebäude stand im Stadtzentrum, welches mindestens 20 Minuten Fußweg von unserer vorstädtischen Wohnung entfernt war. Der Unterricht begann um acht Uhr, aber zehn vor acht wurde schon die Schulglocke geläutet und jeder sollte an seinem Platz in der Klasse sein. Unsere Unterrichtstunden dauerten normalerweise 50 Minuten, und die letzte Stunde, also die fünfte, endete um 13 Uhr. Wöchentlich zweimal gingen wir erst um 14 Uhr nach Hause, weil wir entweder Chor oder andere Veranstaltungen hatten. Dieser Stundenplan schien lang zu sein, hatte aber den großen Vorteil, dass der gesamte Nachmittag frei war.

Man konnte natürlich nachmittags lesen, lernen und Hausarbeit machen, aber wer hatte schon Lust dazu, wenn die Freunde aus der Gusswerk-Siedlung3 sich schon vor dem Haus versammelten und interessante Spiele planten?

3 Die Siedlung wurde von den Angestellten der Gießerei und der Gießerei-Fachschule bewohnt. Unser Vater war Eisenhütteningenieur und führte die Gießerei. Er war auch der Gründer der Fachschule. Die Siedlung lag neben der Gießerei am Stadtrand.

Es gab vielfältige Unterhaltungsmöglichkeiten, die von den Jugendlichen aus der Siedlung organisiert wurden: im Winter das Schlittenfahren, Schlittschuhlaufen oder Skifahren auf dem Vízfogó, im Sommer das Kegeln, die Schach- und Volleyball-Meisterschaften, Fußballspielen und Ausflüge. So ging es jahrelang, bis zum Oktober 1956. Ich verbrachte die Zeit am Nachmittag mit Lesen oder Lernen. Tatsächlich hatte ich im dritten Jahr des Gymnasiums ziemlich viele Hausaufgaben, wie zum Beispiel literarische Werke analysieren, russische Grammatik- und Literaturübungen oder mathematische, physikalische Probleme lösen; sogar in der dritten Klasse fingen wir mit darstellender Geometrie an und dazu gehörten auch Konstruktionsaufgaben.

Natürlich brauchte man auch etwas Entspannung, was bei mir die Besuche bei Freunden bedeuteten. Mit meinen gleichaltrigen Klassenkameradinnen (Iluska B., Ilkó K.) oder mit Zsuzsi P. und Maria S. aus der Siedlung las ich regelmäßig Bücher und wir unterhielten uns über sie. In dieser Zeit war ich schon eine leidenschaftliche Buch- und Zeitungsleserin. Ich erinnere mich noch daran, dass ich mich im Jahre 1952 als Zwölfjährige ausschließlich für Sportergebnisse interessierte und über die Olympiade in Helsinki las. Später, im letzten Jahr der Grundschule, als ich in die achte Klasse ging, verfolgte ich auch schon die täglichen Ereignisse. Seitdem war ich regelmäßige Zeitungsleserin. Ich konnte sogar zwischen den Zeilen lesen. Es war überhaupt nicht schwierig, den Gegensatz zwischen der kommunistischen Propaganda und der Wirklichkeit zu bemerken. Die Verstaatlichungen und die dadurch in Verfall geratene Wirtschaft, das Fehlen von grundsätzlichen Industrieartikeln, die totale Sperre der Grenzen, das Verbot von ausländischen Zeitungen, das Einsperren hinter dem Eisernen Vorhang verschärften nur das Misstrauen der Leute gegen das System. Da zu dieser Zeit in den Familien nur ein einziges Radio zur Verfügung stand (der Fernseher war damals noch eine Seltenheit), hörten die Kinder zusammen mit den Eltern die Nachrichten und die dazugehörigen Kommentare.

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Die „Király-Kinder“ im Sommer 1955 im Garten der Siedlung;
von links nach rechts: Ernő (Poco), Maria (Babszi), Géza (Öcsi)

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Das Sándor-Sztáron-Gymnasium in Vác im Jahr 1956

Die Mitteilungen über die Schauprozesse und die harten Gerichtsurteile beängstigten die Bevölkerung. Das Angstgefühl und die Vorsichtigkeit der Eltern gegenüber der Außenwelt merkten auch die Kinder. „Du sagst kein Wort über das, was hier geredet wird“ – war das übliche Abschiedswort der Eltern.

Aber auch in den Schulen lernten die Jugendlichen die Willkürherrschaft kennen: Es war vorgeschrieben, beim Hören der Namen Stalin und Rákosi aufzustehen und ein bis zwei Minuten lang Sprüche wie „Es lebe Stalin, es lebe Rákosi!“ zu skandieren.4 Es war auch vorgeschrieben, russische Propagandafilme anzusehen.

4 Mátyás Rákosi (1892–1971, Ada – Gorkij, Sowjetunion), war der Generalsekretär der einzigen ungarischen Partei, der PUW („Partei der Ungarischen Werktätigen“, anders genannt: Kommunistische Partei Ungarns). Durch diese führende Position wurde er der allmächtige Herr des Landes. Nach sowjetischer Ausbildung gegen Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte er mit der Roten Armee nach Ungarn zurück und blieb bis zum Sommer 1956 treuer Diener von Moskau (aus: Wikipédia).

Die im geheimen, flüsternd erzählten Witze, die über die Politiker spotteten, verschärften ebenfalls unsere politische Wachsamkeit.

So wurden die unerwarteten Ereignisse im Jahre 1956 von politisch reifen Jugendlichen beobachtet.

Das erste große Ereignis war Chruschtschows Rede gegen Stalin auf dem XX. Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Der große Stalin, der Vater der Völker, der stehend und klatschend minutenlang gelobt wurde, war nichts anderes als ein blutrünstiger Despot! Natürlich wussten wir es schon, aber dass dies auch von der sowjetischen Parteiführung offiziell zugegeben wurde, schien uns fast unglaublich und wirkte wie eine Sprengbombe.

Aber wir Schüler mussten uns auf unsere Fächer konzentrieren. Nach einigen aufregenden Tagen kehrten wir zum Lernen zurück und merkten nicht, dass dieser Parteitag der Auslöser eines heftigen Kampfes zwischen Stalinisten und Reformern war.

Manchmal wurden wir auf diese Auseinandersetzung durch Zeitungsartikel aufmerksam, schenkten ihnen aber keine größere Beachtung. Natürlich berichteten weder das Radio noch die Presse über die regelmäßigen erfolgreichen Pressedebatten des Petöfi-Kreises in Budapest, wo die jungen Kommunisten das Regime kritisierten und die Rehabilitation von László Rajk5 und den

5 László Rajk (alias László Reich, 1909–1949, Székelyudvarhely – Budapest) kam aus der kinderreichen Familie eines Schusters österreichischer Abstammung im siebenbürgischen Szeklerland. Ab den 30er-Jahren lernte er in Budapest und hier trat er der damals illegalen Kommunistischen Partei bei. Kämpfte gegen Franco und im Jahre 1941 kam er nach Ungarn zurück. 1946 war er Innenminister, 1948 Außenminister. Im Verlauf eines Schauprozesses wurde er zum Tode verurteilt und am 15. Oktober 1949 hingerichtet.

Wiedereintritt von Imre Nagy6 in die Regierung forderten. Über die Ereignisse im Ausland, wie zum Beispiel über die Demonstrationen in Berlin oder in Polen, wussten wir auch nichts. Ohne diese Informationen konnten wir unser eigenes Leben ruhig genießen. Anfang Juli 1956 beendete ich das zweite Jahr am Gymnasium und so begannen die längst erwarteten Sommerferien, die wir mit Baden, Wandern und gemeinsamen Sportspielen verbrachten.

6 Imre Nagy (1896–1958, Kaposvár – Budapest), Sohn einer Bauernfamilie, seit 1921 Mitglied der kommunistischen Bewegung. Von 1930 bis 1944 lebte er in der Sowjetunion, wo er sich mit landwirtschaftlicher Forschung befasste und aktives Mitglied der ungarischen Sektion der Komintern war. 1944 kam er mit der Roten Armee nach Ungarn zurück, zusammen mit Ernő Gerő. 1945 führte er die ungarische Bodenreform durch, was ihn sehr populär machte. 1953 wurde er Ministerpräsident und setzte eine durchgreifende Reformpolitik in Gang. Im Jahre 1955 wurde er auf Rákosis Befehl seiner Ämter enthoben und aus der Partei ausgeschlossen. Unter den Druck der Demonstranten wurde er am 24. Oktober 1956 in die Regierung berufen und bildete die revolutionäre Nagy-Regierung. Verhaftet nach dem sowjetischen Eingriff wurde er am 16. Juni 1958 hingerichtet, zusammen mit Pál Maléter und Miklós Gimes (aus: Wikipédia).

Diese schönen, gemütlichen Tage wurden von dem zweiten großen Ereignis des Jahres 1956 unterbrochen. Gegen Mitte Juli teilte der ungarische Rundfunk unerwartet mit, dass Mátyás Rákosi seinen Posten als Parteisekretär wegen seiner Krankheit niedergelegt hatte und in die Sowjetunion gegangen war, um sich dort heilen zu lassen. Niemand glaubte diese Ausrede und niemand bedauerte sein Abtreten, doch keiner verstand den Sinn dahinter. Aus irgendeinem Grund beschloss Moskau, Rákosi aus dem ungarischen politischen Leben zu entfernen.

– Vielleicht bedeutete dies eine Verbesserung? – Als wir erfuhren, dass der Parteivorsitz auf einen ähnlich anrüchigen und grausamen Stalinisten namens Ernő Gerő7 überging, waren wir recht enttäuscht. Es war also keine „Reinigung“ von und Entfernung der Stalinisten! Um was geht es eigentlich?, fragten wir zaudernd.

7 Ernő Gerő (alias Ernő Singer, 1898–1980, Terbegec – Budapest). Seit 1919 Mitglied der kommunistischen Bewegung. 1919 nahm er an der Räterepublik teil, und nach deren Untergang floh er nach Wien. 1922 kam er nach Ungarn zurück, wo er im Jahre 1924 verhaftet und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Im selben Jahr wurde er an die Sowjetunion übergeben. Hier, als sowjetischer Staatsangehöriger, wirkte er als Agent des KGB. 1936–37 kämpfte er in Spanien gegen Franco. Danach lebte er erneut in der Sowjetunion. 1945 kam er mit der Roten Armee nach Ungarn zurück. Zwischen 1945 und 1954 war er Verkehrsminister, Finanzminister, Innenminister. Zwischen 1954 und 1956 war er Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaftspolitik und versuchte die Reformen von Imre Nagy zu behindern (aus: Wikipédia).

Erst nach Jahrzehnten entdeckte ich den wirklichen Grund dieser Entscheidung. Es lohnt sich, dies kurz zu schildern, weil Rákosis Absetzung im Zusammenhang mit der Rehabilitation und der Neubestattung von László Rajk stand, das heißt: mit dem dritten Ereignis des Jahres.

Im Hintergrund von Rajks Drama lag der nach dem Zweiten Weltkrieg ausgebrochene sowjetisch-jugoslawische Konflikt. László Rajk und seine drei Genossen wurden wegen Spionage für Jugoslawien im Jahr 1949 zum Tod verurteilt und hingerichtet. Diese Scheinanklage wurde mit Hilfe von sowjetischen Beratern durch Rákosi organisiert. Rajks Hinrichtung war eigentlich ein Zeichen an Tito, der sich der sowjetischen Führung nicht unterwerfen wollte, sondern in Jugoslawien ein auf nationaler Basis stehendes, von Moskau unabhängiges sozialistisches Regime aufbaute.

Die europäische politische Situation veränderte sich aber im Jahr 1954 mit Westdeutschlands Beitritt zur NATO, der die Bewaffnung des Landes zur Folge hatte. Dies zwang das sowjetische Zentralkomitee zum Friedensschluss und sogar zum Bündnisschluss mit Tito, da Moskau im Falle eines internationalen Konflikts Titos militärische Unterstützung brauchte.

Dieses Bündnis knüpfte Tito an Bedingungen: Er forderte die Entfernung seines alten Feindes Rákosi, und auch die Rehabilitierung der Opfer der antijugoslawischen Kampagne László Rajk und seiner Genossen.

Am 6. Oktober fand die feierliche Neubestattung von László Rajk und anderen Opfern statt.

An diesem sehr grauen und regnerischen Tag berichtete das Radio vom Budapester Zentralfriedhof in einer Live-Sendung. Die Trauerrede hielten diejenigen, die László Rajk und seine Genossen im Jahr 1949 zum Tode verurteilt hatten. Es waren nur sieben Jahre seit der Hinrichtung vergangen. Ernő Gerő, Mihály Farkas8, János Kádár9 und die anderen Komplizen zeigten sich in Tränen. Aber das Volk spürte, dass dieses „mea culpa“ nicht aufrichtig war. Deshalb begleiteten 200.000 Budapester die Hingerichteten, um dadurch nicht nur die Trauer, sondern auch die Verurteilung der Henker auszudrücken.

8 Mihály Farkas (alias Hermann Löwy, 1904–1965, Abaujszántó – Budapest). Seit 1921 Mitglied der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei. 1925 wurde er zu sechs Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Freilassung ging er zuerst nach Prag, dann nach Moskau. 1936–37 nahm er am spanischen Bürgerkrieg teil, danach kehrte er erneut nach Moskau zurück. Auf Rákosis Bitte trat er der Ungarischen Kommunistischen Partei bei. 1944 kam er mit Ernő Gerő und Imre Nagy nach Budapest. Seit 1948 hatte Farkas den Posten des Verteidigungsministers inne. Am 13. Oktober 1956 wurde er gemeinsam mit seinem Sohn Vladimir (Chef der Geheimpolizei) verhaftet und 1957 zu 16 Jahren Haft von der Kádár-Regierung verurteilt. 1960 wurde er begnadigt und freigelassen.

9 János Kádár (alias János Csermanek, 1912–1989, Rijeka – Budapest). Sohn einer armen Familie, die 1918 nach Budapest zog. Hier absolvierte er seine Schulen und bekam eine Ausbildung als Schreibmaschinen-Mechaniker. 1931 trat er der damals illegalen Kommunistischen Partei bei. Verhaftet und verurteilt lernte er in der Haft die führenden kommunistischen Persönlichkeiten kennen, unter anderem Mátyás Rákosi. Nach seiner Freilassung arbeitete er weiterhin in der Partei. 1943 nahm er einen neuen Namen an: János Kádár. Zwischen 1948 und 1950 war er Innenminister und nahm an der Ausführung der Schauprozesse von Rajk teil. 1952 wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt, und zwei Jahre später, unter der Regierung von Imre Nagy, freigelassen und rehabilitiert. Obwohl er im Oktober 1956 als Staatsminister in der Nagy-Regierung für das demokratische neue Ungarn kämpfte, floh er am 1. November zu den Sowjets. Am 4. November kam er mit der sowjetischen Armee nach Budapest zurück. Er gründete mit Hilfe der Sowjetunion die Gegenregierung, organisierte die militärische Repression und die Wiedereinführung des kommunistischen Regimes. Er blieb bis 1988 die erste Person des Landes (aus: Wikipédia).

Diese stille Demonstration der schweigenden Masse galt damals als ein erstaunliches Wagnis, was der Aufmerksamkeit des Landes nicht entging.

Ausbruch der Revolution

Nach Rajks Wiederbestattung lasen wir die Zeitungen mit erhöhtem Interesse und staunten über die offenen Forderungen von Reformen. „Hast du es gelesen?“, fragten wir uns gegenseitig und gaben die Zeitungen den Klassenkameraden und Freunden weiter.

Im Gymnasium wurden die politischen Ereignisse des Jahres nicht einmal im Geschichtsunterricht kommentiert. Wir wurden als „noch zu jung“ betrachtet, und nach Meinung der Erwachsenen hatten wir nur eine Aufgabe: das Lernen. Vermutlich waren aber auch unsere Lehrer nicht besser informiert als wir und erfuhren die Geschehnisse verspätet und nur aus indirekten Quellen.

So war es auch am 22. und 23. Oktober:

Montag, der 22. Oktober war ein gewöhnlicher Schultag. Jemand aus der Klasse gab mir die Zeitung des kommunistischen Jugendverbandes und sagte: „Lies es!“ Es war tatsächlich ein in einer strengen Tonart geschriebener Artikel, in welchem die politische Rehabilitation des ungarischen Reformpolitikers Imre Nagy – ähnlich wie bei Vladislav Gomulka in Polen10 – gefordert wurde.

10 V. Gomulka wurde am 19. Oktober in die polnische Regierung zurückversetzt.

Mit Freude und Überraschung bewunderten wir den Mut des Journalisten, der es wagte solche Forderungen zu äußern. In dieser Ausgabe wurden auch die geplanten Studenten-Versammlungen angekündigt. Ich erinnere mich noch daran, dass ich ein Exemplar mit nach Hause brachte, um es meiner Mutter zu zeigen. Meine Mutter hörte sich jahrelang aufmerksam und geduldig meine Erzählungen aus der Schule an. Sie war eine ausgezeichnete Zuhörerin, sie unterbrach mich nie, machte keine Bemerkungen, tadelte mich nie, wenn ich von meinen schulischen Schelmereien erzählte. Sie hörte mit großem Vergnügen meinen Berichten zu. Oft beeilte ich mich heimzukommen, denn ich konnte es kaum erwarten, ihr alles zu erzählen. Diese Gespräche gehören zu den schönsten Erinnerungen an meine Jugend.

Da der 22. Oktober ein schöner Herbsttag war, nahm Vater zwei Tage Urlaub. Der trockene und sonnige Herbst tauchte die Wälder in glühendes Rot, und Vati wollte diese seltene flammenartige Schönheit auf einigen Aquarellen verewigen. Unser Vater war nicht nur ein ausgezeichneter technischer Fachmann, sondern auch ein leidenschaftlicher Maler der Natur. Begeistert malte er die an Naturschönheiten reiche Umgebung von Vác, die weichen Konturen des Naszálygebirges, stille Waldwege oder volllaubige Pappeln am Donauufer. Bei diesem herrlichen Wetter spürte er das Bedürfnis, sich in die tausendfarbige Natur zurückzuziehen.

An den Universitäten gab es schon Unruhen, wir wussten aber nichts davon11. So verlief der Unterricht am 23. Oktober reibungslos und um
13 Uhr kehrten wir nichtsahnend heim. Ich ahnte auch nicht, dass dieser Tag mein letzter Schultag in meiner Heimat gewesen sein sollte!

11 Vác war keine Universitätsstadt.

Während des Mittagessens wurde ich auf einen Radiobericht aufmerksam, in dem man uns mitteilte, dass der Innenminister die öffentliche Sympathiekundgebung für Gomulka und Polen doch bewilligte. Eine Stunde später kam ein Verbot, welches am Nachmittag erneut widerrufen wurde. Dies alles zeigte ganz klar, dass sich die Meinungen unserer Politiker überstürzten; doch waren wir fest davon überzeugt, dass es sich um eine ganz friedliche Demonstration handelte. Gegen 18 Uhr meldete Radio Kossuth, dass der Regierungschef Ernő Gerő und die Mitglieder der Regierung von einer achttägigen Jugoslawien-Reise nach Budapest zurückgekommen seien und Gerő um 20 Uhr eine Radioansprache halten würde. Wir warteten gespannt auf diese Rede. So groß unsere Erwartungen waren, so groß war auch unsere Enttäuschung! Gerő hielt eine provozierende, verachtungsvolle und mit üblichen kommunistischen Phrasen gespickte Ansprache, in welcher er die Demonstranten als faschistisches Lausepack und Plünderer bezeichnete!

Da Ernő an der Uni in Gödöllő war und Vati bis zum 24. Oktober im Naszálygebirge blieb, hörten wir Gerő zu dritt, Mutti, Géza und ich, und empörten uns sehr über seine Worte. Diese Rede goss Öl ins Feuer!

Der Rundfunk meldete nach Gerős Ansprache nichts Außergewöhnliches, so wussten wir nicht, dass die Delegation der Studenten seit Stunden im Radiogebäude auf das Vorlesen ihres 16-Punkte-Reformvorschlags wartete, und mit ihnen warteten schon ungefähr 20.000 Jugendliche vor dem Gebäude. Es war uns auch nicht bewusst, dass 200.000 Demonstranten vor dem Parlament den Namen von Imre Nagy riefen und seine Einsetzung als Ministerpräsident forderten.

Dank dieser Informationslücke ging ich ohne Aufregung ins Bett, dachte nur an den morgigen Stundenplan und hoffte, dass ich nicht aufgerufen würde.

***

Wie immer schalteten wir am nächsten Morgen um 7 Uhr das Radio ein, um die Nachrichten zu hören, die die bekannte Stimme berichtete: „In der Nacht überfielen faschistische und reaktionäre Elemente das Radiogebäude.“

Allein dieser Satz wäre noch nicht überraschend gewesen, wir hatten uns schon an die Übertreibungen, Beschuldigungen und Lügen der Sprecher des Staates gewöhnt. Ganz ungewöhnlich aber war, dass die Stimme der Ansagerin mal stärker und mal schwächer von Maschinengewehrschüssen begleitet wurde!

Wir trauten unseren Ohren nicht! Es war kaum zu glauben! Was ist hier los?!

Géza und ich starrten uns an: – Du, es wird dort geschossen?!

Ungläubig hörten wir die Schüsse, da der Waffenbesitz eigentlich gesetzlich streng verboten war. Unerlaubter Waffenbesitz wurde mit der Todesstrafe geahndet und Waffenscheine bekamen nur die Hauptoffiziere des gefürchteten Staatssicherheitsdienstes AVO oder die hauptberuflichen Soldaten.

Woher sind die Waffen? Wer schießt?, fragten wir erstaunt.

Die Schüsse hörten nicht auf, sie näherten sich sogar. Die Ansagerin legte eine Schallplatte auf, die Musik ertönte. Aber nach einigen Minuten, als die Platte abgelaufen war, verursachte die Nadel auf der sich standhaft drehenden Platte einen kratzenden Ton. Es war sonnenklar, dass die Ansagerin sich entschlossen hatte, den lebensgefährlichen Raum zu verlassen. Dieses „Lied der einsamen Platte“ verriet dem ganzen Land die Situation in Budapest!

Géza und ich verschlangen hastig unser Frühstück und rannten aufgeregt in das Gymnasium. Hier sprach schon jedermann über die Ereignisse in Budapest, und wir begrüßten einander mit den Worten: „Hast du es gehört? Hast du es gehört? Es wird im Radiogebäude geschossen!“ oder „Hast du gehört, wie die Schallplatte abgelaufen ist und sich alleine weiterdrehte?“

Im ganzen Gymnasium wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen. Einige, deren Verwandte oder Väter in der Nacht aus Budapest nach Hause kamen (viele aus Vác arbeiteten in Budapest), erfuhren von denen die Ereignisse und sie erzählten jetzt alles begeistert weiter. Nach wenigen Augenblicken wussten wir schon, dass in Budapest das 20 Meter hohe Stalin-Denkmal gestürzt worden war, dass die Mitglieder des Staatssicherheitsdienstes auf die Menschen schossen, der Reformpolitiker Imre Nagy am späten Abend auf dem Balkon des Parlamentsgebäudes eine Rede hielt. Wir hörten noch vom Auftauchen von sowjetischen Panzern in Budapest, von der Verbrennung russischer Bücher und den Porträts von Stalin und Rákosi und von der Entfernung der roten Sowjetsterne.

Wir begrüßten diese Nachrichten mit strahlenden Augen und gaben sie aufgeregt weiter. Die Klassenräume blieben leer, wir versammelten uns auf dem Flur und im Hof, um die Ereignisse zu besprechen. Obwohl die Lehrer im selben emotionalen Zustand waren wie wir, hielten sie uns unter strenger Kontrolle. Es war verboten, Gruppen zu bilden. „Nur keine Versammlung!“, hörte man die Worte der Lehrer. Auch heute noch sehe ich meinen Klassenlehrer Károly S. vor mir, wie er zu uns kam und lächelnd sagte: „Zu dritt kann man sich noch unterhalten, aber vier Schüler zusammen bilden schon eine Gruppe, also der vierte muss gehen!“

Nachdem in den Radio-Nachrichten über immer waghalsigere und kämpferischere Ereignisse berichtet wurde, beschlossen unsere Lehrer den Unterricht für unbestimmte Zeit einzustellen. Es schien sicherer, die 350 begeisterten Schüler nach Hause zu schicken, anstatt sie in der Schule zu halten. Tatsächlich waren es schon einige, die vom Wind der Revolution erfasst wurden, und ich gehörte zu diesen.

Die Széchenyi-Straße war nur fünf Minuten vom Gymnasium entfernt. Es könnten fünf oder sechs Schüler in unserer Gruppe gewesen sein, als sich uns ein alter Freund, Lali K., anschloss. Zusammen gingen wir in den Buchladen hinein, wir grüßten brav und baten um „Bücher zum Verbrennen“. Ganz höfliche Revolutionäre waren wir! Die Verkäufer zögerten nicht: „Geht und nehmt sie, hier ist ein Streichholz, verbrennt sie draußen auf dem Gehsteig!“, sagten sie lächelnd, als sie uns die vorbereiteten Bücher übergaben (wahrscheinlich, warteten sie schon auf unseren Besuch). Es wurden Schulbücher über russische Grammatik, kommunistische Wirtschaftspolitik, Propagandawerke von Lenin, Stalin und ungarischen Politologen auf einen Haufen geworfen. Inzwischen bekamen wir auch Büsten von Stalin, Rákosi, Lenin, und es war eine riesige Freude, sie auf den Beton des Gehsteiges zu werfen! Puff, puff, flogen die weißen Gipsstücke auseinander, und wir rannten wieder in den Laden hinein, um den nächsten Kopf zu holen.

So ging es eine gute halbe Stunde lang, bis die Verkäufer meldeten, dass das Wesentliche verbrannt sei, und um das Restliche wäre es schade. Nach all diesem gingen wir nach Hause mit dem Gefühl, unsere Pflicht erfüllt zu haben.12

12 Erst 1998 erfuhr ich von Lali K. bei einem zufälligen Gespräch, dass wir an jenem Tag von jemandem fotografiert wurden, einige von hinten, er im Profil, also unerkennbar, aber ich von vorne in ganzer Lebensgröße. Lali erfuhr 1958 davon, als er von einem Polizist verhört wurde, der ihm das Foto zeigte und nach mir fragte. Lali kannte natürlich niemanden auf dem Foto!