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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Vorwort

Vorrede des Atombombengottes

Das Urteil

Im Haus der Selektion

Der Diener

Der Alltag

Das zweite Gespräch

Im Keller

Das dritte Gespräch

Das Selbstgespräch

Auf Reisen

Letztes Kapitel der Geschichte

Am Tag des großen Ekels

Im Fokus der Entscheidung

Im Fokus der Geschichte

Die Zeit der Familie

Zeit der Bildung

Die Zeit der Freunde

Die Zeit der Frauen

Zeit der Einsamkeit

Jesus Christus der Zweite, der Atombombengott

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2017 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-932-1

ISBN e-book: 978-3-99048-933-8

Lektorat: Bianca Brenner

Umschlagfoto: Teresa-Katharina Binder

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Ernst Podolan

www.novumverlag.com

Vorwort

Die Wissenschaft, dieser geistig-summierende, „fortschreitende Pendelverkehr“ zwischen Theorie und Praxis, Vorstellung und Wahrnehmung, „Imago und Realo“, Verifikation und Falsifikation, Vernunft und Verstand, Glaube und Wissen im Sinne von Trial and Error, hat logischerweise ein Ziel im Visier. Dieses kann als eine auf viele Punkte gebrachte Summe gesehen werden, als flächendeckender Fokus, ein virtueller Kern oder „Brennfleck des Interesses“, eine Art Objektivität, der vom Prozess, aus dem wir keimend kommen – in welchem wir sind! – nichts mehr entgeht: eine „Allwissenheit“, der am „Ziel“ die Bedingungen ums eigene „Werden und Vergehen“, d. h. um die Gründe unseres Entscheidens, nicht mehr erspart bleiben. Eine immanente Widersprüchlichkeit zwischen Sein und Werden könnte uns mit unserer wissenschaftlichen Neugier jenem Paradox ausliefern, mit dem Erreichen des Zieles über das Ziel hinausgeschossen zu haben und uns damit dem Grundprinzip des „Lebens am Punkt“, am Gen oder dessen Kern auszuliefern, nämlich der Transformation des „Selbst“, d. h. Schöpfung und Vernichtung, genauer: Vernichtung vor Schöpfung, noch „genauer“: nur Vernichtung, wenn der Glaube an eine äußere Schöpfung, an „Gott“, den Glauben an die autonome Kraft der Schöpfung – damit auch an seine schützenden Tabus, seine schöpferische, subjektive Aura! – verhindert! Zugleich aber das Wissen um diese Kraft – es ist die Kernkraft! – tabulos ermöglicht. Dies könnte heute der Fall sein …

… Die Freilegung unserer innersten, im biologischen „Normalbetrieb“ ewig unzugänglichen, d. h. von der Sphäre chemischer Reaktionen und oberflächlicher Kausalitäten geschützten Quelle der „kernigen“ Kräfte hat ein mögliches Aussterben des Menschen mit akuter Deutlichkeit in dessen Entscheidungs- und Handlungsspielraum gelegt. Das Szenario einer atomaren Apokalypse war bis dahin, abgeschirmt von nach „oben“ keimenden Strategien und nach außen wachsenden Interessen des Lebens, nicht im Entferntesten – im Tiefsten! – denkbar. Unser Schicksal als Menschheit lag auf Gedeih und Verderb fest in der wirklich fernsten Hand, in „Gottes Hand“. Sogar in der Philosophie verhinderte – und verhindert bis heute noch! – die theologisch-geistige Gravur eines äußeren „ersten Bewegers“ den zweifellos folgenschweren Gedanken an eine innerste Autonomie der lebenden Transformation oder Selbstorganisation, d. h. an eine ewige, die Kausalität entbehrende, allein dem Zufall verpflichtete „Kernkraftquelle“ als Schöpfungsprinzip im Spannungsfeld zwischen Vernichtung und Zeugung. Diese Barriere zwischen Theologie und Philosophie – oder Glauben und Wissen – ist die logische Folge eines Glaubens an Gott, mit seiner Drohung: „Nur wer euch schuf, hat die Macht euch zu vernichten!“ Der Freitod – geschweige denn als Art, ja als Biotop! – war in der „Schöpfung als Schicksal“, als „Geworfen-sein“, wie es Heidegger nannte, nicht vorgesehen, sogar „verboten“. Dass wir als jene, zur tragischen Bewusstheit sich aufgerichtete Art, uns die individuelle Freiheit des Suizids „erkämpften“, ertrotzten, ließ erste, zarte Zweifel im Glauben an einen göttlichen Plan aufkommen: Der Kampf dieses virulenten Zweifels, vor allem seines Zwecks, nämlich, sich vom Glauben zu emanzipieren, um endlich auch zu wissen, war nicht mehr zu vermeiden: „Aug in Aug“ gegen einen unbewiesenen, blinden Glauben bis zum Pyrrhussieg dieses Willens zum Wissen und damit schlussendlich angelangt an der inneren Quelle und ihrem „kräftigen Kern der Sache“. Aber in jenem, jetzt unsterblichen, dabei ironischerweise tödlichen Wissen über die Möglichkeit – die zuletzt von der ebenso auf den Punkt gebrachten oberflächlichen Kausalität, vom Zufall nämlich, „administriert“ wird! –, diese enorme, beinahe abnorme Energie jener Winzigkeit, jenes zentralen „Details“ zu entfesseln, steckt der sprichwörtliche Teufel. Er ist die ausgewachsene Bosheit jenes keimenden Zweifels an dem äußeren Gott gegenüber dem zweifelhaften Sieg dieses innersten, teuflischen Wissens über einen vorher, trotz mörderischer Prediger und Märtyrer, doch relativ „harmlosen“ Glauben an Gott. Und dieser wissend-grinsende Dämon in uns als Herr eines sogenannten „roten Knopfes“ zwingt uns, unserer Psyche im Spannungsfeld zwischen Glauben und Wissen, Vernunft und Wahn, Macht und Gehorsam, Chaos und Ordnung, „Böse und Gut“ – Mittel und Zweck! – eine neue, finale, „sinnvolle“ Ordnung zu versuchen, mit dem Fluch allerdings, sich den Luxus eines Fehlers nicht mehr erlauben zu können. Wir sind gezwungen, uns eine neue Verfassung, geboren aus dem endgültigen Wissen um Wesen und Bedingungen des Lebens im Rahmen eines endlich-grenzenlosen, gottlosen, daher ewigen Seins anzumessen: als ein dynamisches Gleichgewicht, in dem allerdings eine neugierige Unruhe, ein tödliches Werden beheimatet und in der Quelle verwurzelt ist. Diese Unruhe erscheint als Keim und Startsignal eines „Davonlaufens“, eines wissenden Fortschreitens, das dem Torschluss im Hamsterrad, dem Optimismus eines „Wachsens im Kreise“ – in diesen hinein! – zum Verwechseln ähnlich sieht. Ein neues Verhältnis zwischen Glaube und Wissen muss her, ehe es „zu spät“ ist, als ein anderer „Ehevertrag“ zwischen der furchtbaren, evolutionären Fruchtbarkeit und ihrem immanenten Fehler: begrenzend, tödlich, gewiss, absolut. Ein kunstvoller Knoten müsste geknüpft werden als gordisches Regiekonzept am Steuer einer Arche Noah der letzten, sinnsuchenden Odyssee; freilich, mit der tickenden, „göttlichen“, weil tödlichen Bombe an Bord …

Die Frage, warum eigentlich sich die Geister vorher scheiden ließen – jener geistreiche Zweifler, der zum Wissen animierte, sich emanzipierte von jenem raffinierten Gläubiger, der zu sich als Gott und Schöpfer notwendig alle unwissend Schuldigen und „Sündhaften“ verführte – gerät angesichts der Prophezeiung, des ersten realen, seit Hiroshima bewiesenen „Gottes“ auf eines Messers prüfende, mit aller Schärfe scheidende Schneide. Als Messer an unserer Brust, in der „ach zwei Herzen schlagen“ – ein gläubiges und ein „wissendes“, wie gesagt – erzwingt diese Offenbarung der glaubwürdigsten, somit „wissenswertesten“ und fatalerweise tödlichsten Macht eine Nachdenkpause, die zur Galgenfrist sich zuspitzt, über die Psychologie des bisher rechtskräftigen „Herzensbundes“ zwischen Glaube und Wissen: im vorliegenden Falle speziell über den Glauben an und das Wissen um einen „Atombombengott“: Über Dichtung und Wahrheit an ihm. Leicht zu verstehen, was dieses zweischneidige, evolutionär gesehen noch vor dem Hammer entscheidendste „Werkzeug“ – das Schwert! – in den freien Händen jener aufrechtgehenden Art bedeutet, die damit ebenso verführen, versklaven und richten kann wie animieren, sezieren, emanzipieren, „befreien“: nämlich zu vernichten oder zu schaffen. Auf den ominösen Punkt im explosiven Kern der Sache gebracht, um dessen Kraft sich jetzt alles dreht, läuft jedes Werden im Käfig des Seins auf diese beiden Schneiden des Werkzeugs der Werkzeuge hinaus. Aber nicht nur „hinaus“, sondern, mit dessen Spaltung durch das „Schwert der Erkenntnis“, durch die entfesselten Folgen dieses Erkennens und „Nutzens“, läuft dieses Werden auch zurück: Es gibt weder ein Schaffen noch ein Vernichten; nur ein Umschaffen, ein Transformieren, „Neu-Ordnen“. Dieses ist sichtbar, evolutionär, „fortschrittlich“ bis in den Tod, aber unsichtbar, im Kreise laufend – den Kreis schließend! – über den Tod hinaus. Eigentlich hinein und zurück in jenen „staubigen“, elementaren, atomar-chaotischen Raster, in welchem die Wurzelspitze des Lebensbaumes ebenso steckt, wie ab jetzt die Schwertspitze der Erkenntnis.

Die Zweischneidigkeit in der Kraft jedes Schwertes wurzelt direkt in der Ambivalenz der Kraft selbst als grundlegender Phänomenologie des Werdens: Aktion und Reaktion als das Kräftenutzen zum Wachsen und dessen begrenzender, selektierender „Zwilling“, das Kräftemessen als Prüfung, Form und Qualität des Inhalts eines „Gewächses“. Diese nötige Zweischneidigkeit oder Asymmetrie des Kraftphänomens im Handeln des Lebens allgemein, beim Menschen im Speziellen, konvergiert – kollabiert förmlich! – in Bezug auf die Kernkraft. Das Entweder-oder zwischen Nutzen und Messen der Kräfte im Rahmen der Reaktionen von Chemie und Biologie spitzt sich im Atomkern auf ein Weder-noch derart zu, dass nach dem Öffnen dieser innersten Büchse der Pandora sowohl das Kräftemessen als auch das Kräftenutzen dem Todesurteil gleichkommt, d. h. im Krieg und im Frieden. Man könnte mit einem „Ja!“ oder „Nein!“ als Fokus des Entweder-oder bezüglich der Akzeptanz dieses Sachverhaltes beinahe einen Eignungstest verknüpfen als eine Art Vorgeschmack, wie die Selektion selbst – als tragisch-tragendes Phänomen des Lebens – sich beim Lesen dieses Romans auswirkt: Im Glauben an den Atombombengott, bzw. im Wissen um ihn …

Es ist bemerkenswert, dass die alten Griechen mit dem Philosophen Demokrit den Begriff des Atoms als ein kleinstes, damals allerdings noch kaum vorstellbar spaltbares „Etwas“: als eine Art holistische Konsequenz des „Zu-Ende-Denkens“ oder sprichwörtlichen „Auf-den-Punkt-Bringens“ einer Rezeptur aller Notwendigkeiten des wahrnehmbaren Seins – aus einer naiv-wissbegierigen Quelle der Logik heraus! – bereits vorweggenommen hatten. Dass sich die Existenz dieses beinahe nichtigen, aber ungeheuer potenten „Dinges an sich“ derart phänomenal herausstellen sollte, war im intuitiv-selektiv disponierten Selbstverständnis der Evolution als „erkenntnisgewinnender Prozess“ nur mehr eine Frage der Zeit. Dass aber parallel zum Geist der griechischen Philosophie und deren Brennpunkte in der Erkenntnis die antike Kunst mit einer bemerkenswerten Innovation – dem Drama nämlich! – diese erfolgreiche Vorwegnahme des Atoms wie im magisch tanzenden Gleichschritt begleitete, ist vielleicht ein Hinweis, dass die Handhabe des „Schwertes der Erkenntnis“ in den Händen der Philosophie zuletzt nur mit Mitteln und Methoden der Kunst zu rechtfertigen ist. Und es ist mehr als faszinierend – am Ende etwa göttlich!? – dass Äschylus als begnadeter „Seher“ und Schöpfer des antiken Dramas den unglaublich wahren Satz formulierte: „Die Wellen unsäglichen Gelächters werden über uns hinwegschlagen!“ … Und exakt dieses, sich „seit ewig“ selbst konzipierende, fort- und weiterdichtende Drama auf der Weltbühne: „Evolution als Erkenntnis-gewinnender Prozess“ und zweischneidiges, d. h. tragisches und komisches „Schwert der Kunst“, läuft auf den Punkt gebracht – auf die Spitze getrieben! – darauf hinaus, dass in der Tat auf dieser Spitze ein Atom sitzt und nur mehr darauf wartet, von den beiden Schneiden „dahinter“ mit der ganzen, konsequent-naiven Wucht des Prozesses: durch die Freiheit des Zufalls über dem roten Knopf – ob als Glaube an den Gott aus der Maschine oder als Wissen über ihn, als Komödie oder Tragödie, wie zum Beispiel in der Existenz des Asiaten Kim Jong Un – gespalten zu werden: Es ist beinahe zum Totlachen …

Die Naivität des Prozesses „Affentheater der Menschwerdung“ entspricht ganz der Tatsache, dass ich nach 30 Jahren „Atombombengott am Rande des Papierkorbs“ als dessen Autor veranlasst bin, zur „Geburt des Atombombengottes“ vor nunmehr diesem Zeitraum ein neues Vorwort zu schreiben, um zwischen diesen 30 Jahren spannender Entwicklung der Leserschaft – als zukünftige Gläubige an und Wissende über diesen neuen „Gott“ – und der fragwürdigen Entwicklung seines Dichters im Banne des Papierkorbs bis zum jetzigen „Vorwort-im-Nachhinein-Schreibers“ eine Verbindlichkeit zu knüpfen, die einer Zerreißprobe entspräche, wie jene der letzten Stunde einer nachdenklichen Menschheit zwischen dem programmierten, von einer politischen Laune angetriggerten Start aller Atomraketen und deren Einschlag. 30 Jahre „Galgenfrist“ zwischen Geburt und Erscheinung des „Atombombengottes“ und ein parallel laufender Fortschritt an allen Fronten lassen vermuten, dass – diesen „Fortschritt“ auf den Punkt gebracht! – gegen die Entfesselung der Kernkraft kein politisches Kraut mehr gewachsen ist; auch kein bekannt missionierend-dominant-religiöses. Im Gegenteil, der Gedanke, dass in „Gottes Namen“ an der Bombe gebastelt wird, steht in verblüffender Resonanz zum philosophisch höchsten, daher unangenehmsten, fatalistischsten – weil subjektiv zwar bedingt begründbaren, aber absolut, „objektiv“ nicht beweisbaren! – „Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen“, als eine Art „Trigger“, der – wie gegen den Strom schwimmend! – zwischen Ende und Anfang vermittelt. Womit eine Sinnsuche im „Hier und Jetzt“ parallel zur Wahrheitssuche in den Okularen von Tele- und Mikroskopen sich nur mehr mit der Suche nach jenem Gleichgewicht vergleichen lässt, die eine Arche Noah, treibend, „alle Hoffnung fahren lassend“ auf den „Wellen unsäglich-göttlichen Gelächters“ erlebt. Dass die Kompetenzen des Navigators auf unserer Arche Noah bei der Suche nach diesem Gleichgewicht den letzten und höchsten Ausguck – um nicht zu sagen das Ende deren Fahnenstange – der Erkenntnis- und Entscheidungshierarchie erklommen haben sollten, müsste den nächstniedrigeren Graden, jenen der Politik, Religion und Wissenschaft, eigentlich klar sein. Dass es aber noch keine Klarheit auf diesen Ebenen gibt, liegt wahrscheinlich daran, dass der höchste Ausguck – jener der Philosophie! – noch nicht, oder falsch besetzt ist und daher das „Ende der Fahnenstange“ noch nicht von einem geläuterten Willen, sondern vom Zufall gesteuert, ungehindert beschleunigt auf uns zukommt …

… So möchte ich mit diesem Vorwort im Nachhinein – und mit meinem parallelen Spätstudium der Philosophie! – einiges gutmachen, was ich mit der „Geburt des Atombombengottes“ vor 30 Jahren zwischen Jugendtorheit und Midlifecrisis, zwischen Physikstudium und persönlichster Odyssee dem damaligen Kritiker als „Vormund der Leserschaft“ zugemutet hatte. Dass dabei „zu-vorletzt“ mein Studium der Philosophie zu einer ernüchternden Bilanz über die Philosophie geriet, wäre eine mögliche Fortsetzung des Romans aus der Sicht eines eigenartig gespiegelt besetzten „höchsten Ausgucks“, knapp unter dem Ende der Fahnenstange: Die Bilanz einer Philosophie, als die momentane Spitze eines Eisberges, der im nebligen Meer des Möglichen schwimmt; gleich unserer zur Titanic hochgerüsteten Arche Noah. Und die „Wellen“ und der „Eisberg“ kommen näher – und ich „flüchte“ aus dem eigenartig besetzten Ausguck: dem legendär-katastrophalen Krähennest der Titanic … Ja wohin denn? – In den Keller natürlich! Zum Weiterlachen über die heutige Philosophie …

Vorrede des Atombombengottes

Eigentlich ist es eine Nachrede von mir; ein Urteil über das, was hier an der Grenze zu Gott und Verbrechen gelebt, gewollt und gedichtet wurde. Bis es überhaupt so weit gekommen ist, musste viel Zeit vergehen. Das Leben hatte seine edelste Fähigkeit, die Selektion, lange üben wollen müssen, um jenen Unbeschreiblichen herauszusuchen, der auch vor ihren Quellen nicht zurückschreckte. –

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Nun, es ist jetzt nicht so wichtig, ob diese „Reportage vom Ursprung“ auch den Tatsachen, meinem Ursprung; entspricht: Nach Gott frägt man nicht! – Wo aber trotz allem danach geforscht, dabei ernsthaft überlegt und nicht nur gepredigt wird, da muss einiges wahrhaftig werden. So kommt man auch als Gott mitunter noch in Verruf! Dies soweit, dass einem sogar menschliche Herkunft, ja Tierisches und Uriges, ein „Bedürfnis“ nachgesagt wird; nicht zuletzt ein Zweck, oder bloß das Mittel dazu! – Und die „Ewigkeit“ ist ja überhaupt das Perverseste, was sich unsereins dabei gefallen lassen muss! Eigentlich müsste ich böse sein. Dass mich dieser wahnsinnige Schreiberling hier auch noch mit der Atombombe bewaffnet, um gegen jeden Ungehorsam aber wirklich gerüstet zu sein, schmeichelt mir einerseits, doch andererseits ist diese Waffe sowieso nur mir gemäß! – Ich habe über die Atombombe natürlich von Anfang an Bescheid gewusst; und dass dieses teuflische Ding gebaut wird, sollte ich nicht verhindern! Aber dass mein Gewissen schließlich damit belastet wird, nimmt einem Glauben an mich doch viel an Sicherheit, Vertrauen und überhaupt Blindheit! – Mit den „Göttern alter Schule“ ist es wohl vorbei; denn was verlangt ein Glaube an mich schon ab? Wo ich doch so wirklich bin, dazu solcherart „verkündet“, ja kompromittiert wurde?! Der bedingungslose Glaube; der unbewiesene Gott: Das war noch etwas! Und ich? – Ich bin nur „Wissen“ … Dies ist für den Fall gesagt, dass mit „Jesus Christus dem Zweiten“ tatsächlich ins Schwarze getroffen worden sein sollte. – Der Großteil aber, die Realität nämlich!, bleibt Sehnsucht, Verzweiflung, Hoffnung, Wille, Kunst und: Glaube an das Leben; damit aber Voraussetzung für einen Gottesdienst! Und das war die „Geburt des Atombombengottes“ in der Tat; ein Ritual aus meinem „Haus der Selektion“, ein Dienst am Leben! – Und so will ich nur noch eines: Diesem künstlerischen Kindskopf, diesem tapferen und reumütigen Versuchten, diesem unbeugsam boshaften Tor ein Kompliment machen: Wenn auch fast alles irrtümlich ist, was hier offenbart wurde; anstrengend war es „bei Gott“! Und irgendwie phantastisch, entzaubernd; ein schonungsloser, umwerfender Maskenball! – Aber so wie es geschrieben wurde, wird es zumeist gelesen: Anstrengend, wie ein weiter Weg durch die Wüste zu einem lohnenden Ziel; insgesamt eine Expedition, ein selektives Unternehmen! Es ist so streng, so simpel, wie jede Fahrkarte für eine Arche Noah. Ein Satz zum Schluss, oder besser zu Beginn: Über Götter, ob glaubwürdig, wissenswert, oder auch nur „berechenbar“, irrt man sich immer und grundsätzlich! Und auch ein notwendig ewiger Gott, ein Faktum, ein „Wissen“ so wie ich, wird euch Menschen von eurem Irrtum, dem Wissen um dieses Faktum dereinst „erlösen“; – mit der ganzen Kraft des Irrtums! – solltet ihr bei Zeiten mich, die Atombombe, nicht vergessen! Nun, gegen meine chronische Langeweile könnte euch eine Frist lang noch einiges einfallen. Der Zufall aber lässt sich nicht mehr übertölpeln; denn der hat andere, nicht allein menschliche Bedürfnisse. …Doch jetzt schwärme ich bereits zu weit voraus ins Tragische und Komische; ins Göttliche: nach mir! –

Das Urteil

„Versuchter“, sprach der Vorsitzende der Kommission, verbeugte sich mit ausholender linker Hand vor dem Angesprochenen und setzte fort: „Die Kommission hat Ihnen, der Sie die langerprobten Gesetze zum Wohle und Gedeihen unseres Volkes nicht befolgt haben und eine eigene, aus Ihrem Trieb entsprungene Tat begangen haben, die alleinige Verantwortung dafür zuerkannt. Während unserer umfassenden Untersuchungen haben wir nicht genug Hinweise dafür gefunden, welche ursächlichen Zusammenhänge zwischen Ihrer Tat und Ihrer Erziehung sowie Ihren sozialen Voraussetzungen soweit rechtfertigen, Sie als Opfer unserer Gesellschaft zu bezeichnen. Die Wurzeln Ihrer Tat liegen nach unserem Gewissen und unserer Erfahrung über dem höchsten der drei bekannten Grenzwerte, das heißt allein im Bereich Ihrer Persönlichkeit und nicht mehr in den Bedingungen unserer Gesellschaft.“

Damit war für den Herrn mittleren Alters in der prunkvollen Loge im Zentrum der Blickrichtung des Publikums die Befürchtung zur Gewissheit geworden. Eine Ahnung hatte sich bereits bei ihm eingestellt, wurde ihm doch gestern Abend eine neue, besonders komfortable Suite im „Haus der Selektion“ zugewiesen. Auch ein eigener Diener, ein Bewährungshelfer, um einen geschichtlichen Begriff dafür zu nennen, wurde ihm angekündigt. Mit dem Gefühl, etwas Unausweichliches, vom „freien Willen“ nicht mehr Ablehnbares vor sich zu haben, vernahm der Herr in der Loge wie von sehr ferne das eigentliche Urteil der Kommission:

„Aus dieser, Ihrer Schuld und Verantwortung am Ereignis werden Sie angehalten, nach einer, dem Gewicht Ihrer Schuld gemäßen Vorbereitungszeit ein Kunstwerk vorzulegen, welches mit Ihrer Tat in einen Zusammenhang gebracht werden kann. Die Gesellschaft, das Volk gibt Ihnen somit eine Möglichkeit, Ihre instinktive, triebhafte Tat, mit einer geistigen und kreativen Arbeit zu rechtfertigen, um daraus auch für die Allgemeinheit einen kleinen Vorteil zu schlagen. Darüber hinaus hat Ihr Gesetzesbruch, wenn er geistig und künstlerisch seine Rechtfertigung erhält, die Chance, unser Rechtssystem zu korrigieren, zu entwickeln. Dies wäre in groben Zügen unsere Anforderung an Sie, vielleicht liegt darin sogar eine Hoffnung von uns. Die genaueren Details des Ablaufs wird Ihnen Ihr spezieller Diener während der Vorbereitungszeit erklären. Ihr Schicksal, Ihre Fähigkeiten sind somit der Bewährung ausgesetzt. Dazu werden Sie umgehend im ‚Haus der Selektion‘ einquartiert.“

Somit war das Urteil verkündet. Nach kurzer Atempause ergriff der Vorsitzende über diesen Urteilsspruch hinaus wiederum das Wort: „Ein wichtiger Punkt dieses Prozesses, in den Sie nun eintreten, sei noch hinzugefügt: Sollte Ihre Arbeit kein positives Ergebnis bringen, so treten Sie ins nächste Ausleseverfahren ein. Sollten Sie auch hier und in den weiter folgenden nicht entsprechen, so sieht sich die Gesellschaft aufgrund Ihrer Tat, vor allem ihrer Unfähigkeit, gezwungen, Sie aus der Gemeinschaft des ganzen irdischen Lebens als nicht verwendbar auszusondern, im alten Sinne für ‚vogelfrei‘ zu erklären. Aber wie gesagt, die Erklärung aller Einzelheiten und deren Begründung obliegt Ihrem Diener.“

Und dieser Diener saß, wie es der Ritus vorsah, neben dem Vorsitzenden und verfolgte mit Routine, das heißt einer Mischung aus Langeweile und Pflichtgefühl mit einem Schuss Ekel, dieses gewohnte Zeremoniell. Und wie oft schon entsprangen dieser seiner Situation als ‚Publikum in der Ehrenloge‘ Gedanken, die sein ewiges Geheimnis und seine Erfahrung rundum gegenüber dem eigentlichen Publikum, dem ‚Volke‘ waren: „Zum Vorteil der Allgemeinheit!“, höhnte er still vor sich hin. „Zuerst verbieten und dann, wenn’s passiert, mit einem Vorteil daraus spekulieren. Zuerst die Angst davor und dann ein Pakt damit. Aber erst, wenn ein ‚Versuchter‘ – sagen wir es ruhig geschichtlicher, ehrlicher: ein Verbrecher – sich den Kopf blutig zerbrochen hat.

Immer schön die Starken ins Feuer jedes riskanten Experiments, mit der ganzen Last und Moral der Gesellschaft auf dem Buckel und dann: Abwarten! Denn noch ist der neue Weg nicht breit genug, flach genug; weder Sessellift, noch Rettungsboot sind vorhanden.“

Die Gedanken des künftigen Dieners des soeben Verurteilten entfernten sich immer mehr vom Zeremoniell, welches um ihn herum ablief, bis sie von der Sprache Jener Besitz ergriffen, um die es im Grunde bei jeder Verurteilung geht: Von der Sprache des Volkes: „… Dies alles soll uns erst der Versuchte bauen; zum Dank dafür, dass wir ihm nicht gleich den Hals umdrehen. Schafft er es? Leicht soll er’s dabei nicht haben! Unser Applaus ist uns sehr heilig, mehr noch unsre Bequemlichkeit und Angst. – Er schafft es!? Der König ist tot, es lebe der König! Auf ins gelobte Land, ins neue Land. Es ist doch ein Schlaraffenland!?“, bricht sein Zynismus leise durch: „Die Starken immer schön voran, wir vielen hinterdrein, auf dem gemütlich sicheren Dampfer der Moral.“

Seine Gedanken versenkten sich immer tiefer in seine Erfahrung, bis sie schließlich in der Ferne seines Studiums, im blassen Abglanz von erlernter Geschichte und verdauter Literatur neues „Beweismaterial“ vorfanden: „Aber wie lange hat es gedauert, um im Verbotenen, im ‚Kriminellen‘, das eigentliche Kräftereservoir fürs Kräftemessen der Weiterentwicklung zu erkennen? Was hat es doch für Schmerzen der Empfindlichsten gekostet, diesen Sachverhalt zu respektieren? Wurden nicht generationenlang gerade diese starken Äste gestutzt, welche fähig waren, weit genug zu wachsen, sodass der Apfel nicht wie üblich, wie moralisch, ‚nicht weit vom Stamm‘ zum Fallen kommt?“

Inzwischen hat der letzte Akt der Urteilsverkündung mit dem, dem Verurteilten gewidmeten, musikalischen Auftritt des Empfangskomitees aus dem Haus der Selektion begonnen. Diese Zeremonie der Urteilsverkündung entspricht in Dauer, Regie und somit Wirkung auf den Betroffenen genau jener Absicht, die sich im Bewusstsein des Verurteilten still widerspiegelt:

„… Hm, nun ist es soweit! Ist nun mein Leben trotz oder wegen all dem lebenswert? Was soll’s, du bist nun einmal auf dieser Welt! Versuch doch deine Kräfte, deine Stärken darin wirken zu lassen. Was ist schon ‚heilig‘? Was ist von Dauer? Was ist schon wichtig?, außer es kommt von Dir!? … Erstes Gesetz in der Natur: Kraft entspricht der Gegenkraft! Such es dir aus, was du davon sein willst; ein bloßes Reagens?, etwas, das sich immer nur wehrt, verschließt, verweigert?, am Ende verdirbt? Aber; hast du dich im Grunde nicht schon entschieden? Hat dich dein gesunder Instinkt dabei etwa verdorben?“

Alle Zweifel daran, Fragen, Ängste und Hoffnungen davor, was jetzt vor ihm liegt werden konkret; auch weil er offenbar in den Kreis der ‚Vakanz‘, in den Fokus der Auslese für Durchbruch und Zukunft geraten ist. Dieser geheimnisvolle Kreis, dem er vor langer Zeit im Schulunterricht bereits eher mit Unverständnis und respektvoll begegnet war, hat ihn umzirkelt. Dem tragischen, heiligen Instrument, der unerbittlichen Quelle des roten Fadens der Kultur ist er nun verpflichtet. Jedes Gewissen, jedes Fragezeichen, das sich in der nun folgenden kurzen Vorbereitungszeit vor ihm kringelt, ist Wirkung seines Aufpralls, sind die Wirbel, wenn ein allzu frecher Instinkt und Trieb mit der intellektuellen Grenze eines Volkes, mit Recht und Gesetz, kollidiert. Mit diesem fatalistischen Plädoyer verabschiedete sich der Herr mittleren Alters in der augengebadeten, prunkvollen Loge von der bürgerlichen Welt, als er in Gedanken versunken den heiligen Kreis überschritt.

Das Zeremoniell ist vorbei und der Diener geht auf seinen zukünftigen ‚Herrn‘ mit einem vertrauenswürdigen, wissenden Lächeln zu: „Sie werden in den nächsten Monaten einen Prozess durchmachen, wobei Ihr Schicksal auf des Messers Schneide steht, oder besser geht“, war sein Begrüßungssatz, mit dem er mittels Tonfall und Mimik zweierlei zum Ausdruck brachte:

Seine Macht und seine Ohnmacht bezüglich dieses Schicksals. Die Macht des Dieners lag in Fähigkeit und Willen zum Meister; zum Schulmeister in Wissen und Erfahrung. Seine Ohnmacht darin, inwieweit dieser Schatz von seinem Herrn und dessen Willen zum Schüler gehoben wird. – „Bevor Sie aber diese Schneide betreten, haben Sie etwas Zeit, sich darauf vorzubereiten. Zu diesem Zweck bin ich bei Ihnen. Die Urteilskommission, der auch ich angehörte, hat mich mit der Aufgabe, Ihr Diener zu sein, betraut.“

„Warum gerade Sie?“, war die erste Neugierde seinem Diener gegenüber.

„Etwas Sympathie, Erfahrung bezüglich Ihres Falles, auch Routine der Kommission, sogar eine Portion Zufall.“

„Zufall“, zuckte der Betroffene mit seinen Achseln resignierend. „Tja, ihm verdanken wir alles“, erwiderte der Diener etwas zynisch lächelnd. „Zumindest verdanken wir seinen Launen das Angebot an Situationen, den gedeckten Tisch sozusagen. Was wir daraus machen, wo wir zugreifen, wo wir ablehnen, entscheidet unser Instinkt“, fügte er etwas ernster hinzu und setzte den Schlusspunkt mit dem Satz: „Die Unfähigen, die Gläubigen und Vielen nennen dieses ihnen Unbekannte den ‚Freien Willen‘ und entschuldigen sich bei allzu unerträglicher Freiheit und Willkür des Zufalles mit dem schlichten Wort ‚Bestimmung‘.“

Der Verurteilte spürte in dieser Antwort die Absicht, die sein Diener ihm gegenüber antreibt: Eine Mischung aus Schulmeisterei und Gleichgültigkeit. Er hätte ebenso sagen können: „Was Sie daraus machen, ist Ihre Sache, ist Ihre Fähigkeit – ist Ihr Kaffee.“ Es schien so, als ob der Diener diesen, von seinem „Herrn“ zuletzt gedachten Satz erriet und er war mit ihm offensichtlich zufrieden. Die erste Klarheit war geschaffen, die erste Hürde war genommen.

Nach den Sekunden des schweigenden Verstehens, nach der „Inkubationszeit“ seiner ersten klärenden Worte, setzte der Diener fort: „Sie werden in den folgenden Wochen die Chance haben, sehr viel von mir zu erfahren; bezüglich diverser Umstände, die Ihre Situation betreffen und vor allem über den Sinn des ‚Hauses der Selektion‘ und seinem, ihm zugrundeliegenden Gedanken. Das ‚Lehrbuch‘ steht sozusagen vor Ihnen, zu Ihrer Verfügung. Das Wesentliche aber obliegt Ihren Fähigkeiten.“

„Ist es ein gutes ‚Buch‘?“, probierte der Verurteilte seinem Galgenhumor die lange Leine zu geben.

„Wenn es sich nicht schon bewährt hätte, würde es ihnen nicht anvertraut werden. Es ist vielleicht kein Bestseller; – aber was sind schon Bücher für jedermann?“, parierte der Diener mit sachlichem Ton.

„Also elitär und schwer verständlich.“

„Wie alle Sach- und Lehrbücher der höheren Semester. Ich bin für Sie ein Nachschlagwerk, eine Auskunftei zu Ihren Gunsten – ein guter Gesprächspartner eben.“

„Ist das Ganze ein Unterricht, den Sie als guter Lehrer auch einmal genossen haben?“, ließ der Schüler die Spitze seiner Neugierde maskiert und frech aus dem Sack.

„Sie brauchen sich vor mir nicht interessant zu machen; ich bin noch nicht der Richter Ihrer Fähigkeiten. Abgesehen davon wollen Sie damit wohl auch in meiner Vergangenheit etwas stöbern“, blieb der Ton gleich sachlich, sogar höflich.

„Zumindest zeigen Sie, dass Sie in diesem ‚Lexikon‘ bereits zu blättern beginnen wollen, sein ‚Inhaltsverzeichnis‘, seine ‚Seele‘ suchen.“

„Ich kann nicht anders“, klang dieses Eigenlob fast wie eine Entschuldigung.

„Na ja, so sind wir nun mal eben“, pflichtete der Diener diesem Geständnis bei.

„Wir?!“, quittierte der Verurteilte Geständnis und Entgegenkommen seines Meisters, seiner Hoffnung.

„Ja, wir! Sie und ich! Viele vor uns, neben uns und auch noch nach uns! – bis in alle Menschenewigkeit!“

„Neugierde ist also unser Etikett!“, pflichtete der Verurteilte bei.

„Aber nicht die wissenschaftliche, die rein intellektuelle Neugierde; jene, die auf lauten, plumpen Füßen marschiert.

Bei uns ist’s der Instinkt, der die Neuigkeiten meldet!“, schränkte der Diener ein und setzte mit bestimmterer Tonlage fort: „Dennoch sind wir bei aller kollegialer Einstimmigkeit doch etwas voreilig; – denn uns trennt noch eine ‚Kleinigkeit‘. Oder um es direkt zu sagen: Das, was Sie vor sich haben, habe ich bereits hinter mir.“

„Sie meinen die Buße für mein Verbrechen, meine Schuld?“

„Jawohl! Den Canossagang Ihrer Sühne, Ihrer Kunst durch das Publikum, durch Sachverständige, Kritiker und Besserwisser, den Spießrutenlauf vorbei an all Ihren Henkern, an denen, die Sie nicht verstehen wollen!“

Darauf blieb der Diener ruhig. Wort und Ton dieser Konsequenz sollen bei seinem Schützling richtig wirken.

„Ist es schwierig?“, meldete sich zaghaft dessen Neugierde wieder.

„Es ist vorwiegend eine Sache der Disziplin und der Fähigkeit, Gelegenheiten, Zufälle oder Inspirationen beim Schopf zu packen“, wich sein Diener aus. „Balancieren auf des Messers Schneide will neben dem Talent dazutrainiert, oft erst erlernt werden!“

Wieder stilles Wirken. Der Diener blickte auf die Uhr, holte sodann eine dünne Broschüre aus seiner Brusttasche und hielt sie schweigend eine Weile in der Hand. Er nahm an, dass der Verurteilte momentan nicht mehr wissen wollte. Er reagierte darauf und übergab dem Verurteilten diese Broschüre mit den Worten: „Mehr kann ich im Moment nicht für Sie tun. Außerdem sind Sie noch etwas mitgenommen. Also dann bis morgen Abend.“

„Ja gut, vielen Dank! Und auf Wiedersehen!“

Sie trennten sich. Der Verurteilte rollte das Papier mit beiden Händen zusammen und machte sich auf den Weg durch den Park, der die beiden Häuser, jenes der „Selektion“ und jenes der „Kommission“ miteinander verband – oder voneinander trennte? – Jedenfalls bedeutete der Park einen Übergang, eine Brücke …

Im Haus der Selektion

Es ist in jeder Beziehung ein außergewöhnlicher Bau. Gegliedert in Gruppen, „Sphären“, wie sie im Jargon heißen, verteidigt es nach außen hin doch sehr stark seine Kompaktheit. Diese Sphären der Kompetenz sind der Siebungs- und Sichtungsmechanismus, den jeder, der diesen Kreis betritt, „durchwandert“; aber nicht in vorgeschriebenen Bahnen, sondern je nach Urteil der Kommission und je nach Fähigkeit des „Versuchten“. Alles in allem eine unerbittliche Maschinerie, die aus kriminellen Delikten aller Art das Brauchbare für die Gesellschaft heraussiebt; in Klassen, „Kompetenzen“ unterteilt.

Die Entscheidung der Kommission hat unseren Verurteilten in die höchste Sphäre der Schuld – der alleinigen Schuld! – gebracht. Sie ist noch unterteilt in vier Ebenen, gestuft nach der moralischen Gewichtigkeit des Gesetzesbruches. – Und: Der „Neuzugang“ kann sich rühmen, in jeder Beziehung die Spitze des Menschenmöglichen erklommen zu haben. Der Abstieg von dieser Höhe, zurück zum „festen Boden“, ist das, was ihm bevorsteht: – gefährlich bis zum Todessturz …

Mit dieser Höhe in seiner Aufgabe genießt der Verurteilte in diesem Haus spezielle Rechte; das Vorrecht der „Gladiatoren“ der Entwicklung: komfortable Zimmer, Schwimmbad, Massagen, gutes Essen; einmal wöchentlich Damenabend mit Musik und anderen sinnlichen Genüssen. Alles in allem der Preis dafür, dass die Latte für ihn am höchsten liegt.

Sinnierend steigt er in der Dämmerung die breite Treppe zum Portal dieser „Burg“ hoch und wird am Eingang von einem Mitglied der Wachmannschaft zuvorkommend begrüßt. Der sportlich wirkende Mann in seinem prächtigen Kostüm erweckte im Neuankömmling die Gefühlsmischung aus Vertrauen und Respekt; die Gewissheit, dass durch diese Männer eine Macht repräsentiert wird, die sich ihrer Einheit im Gegensatz bewusst ist: Unerbittlich und großzügig!

Die Leute der Wachmannschaft waren unzweifelhaft ausgesuchte Charaktere. Sie bildeten die Grenze, den Schutzwall und Filter, der im Inneren dieser Grenze Druck und Dynamik bewahren und ermöglichen muss: Eine starke, leicht durchlässige, elastische Haut, die jeder wirklich gesunde Organismus nötig hat.

Die kurze Begrüßung durch diese Herren erweckte in ihm sofort den Eindruck, dass man ihn bereits kannte, sich mit seinem Fall, seinem Schicksal und seiner Aufgabe auseinandergesetzt hat. Ihr Verhalten, ihre Gestik und Sprache – ihr Benehmen ist Kunst; und doch nicht reines Schauspiel. Wie es sich später noch herausstellte, war dieser Gruß oft genug Anlass zu geistreichen, humorigen Szenen, wo die Gunst des Augenblicks, der Zufall von Stimmungen und Eingebungen Regie führte. Es war eine Spielwiese der Kunst, als „Galgenhumor an der Pforte“. Wie etwa die unbewusste Absicht jeder „Hautöffnung“, sei es als neugieriger Sinn, als hungriger Bauch, fröhlicher Furz oder treibendes Hormon. Und damit war es beinahe die Voraussetzung für das, was im Inneren möglich, ja notwendig wurde. Die Bedingung alles Großen, Umfassenden war somit erfüllt: Alles Beiläufige, Mikroskopische, der Sketch und das Mikrodrama, muss Absicht zum Großen und Abbild des Großen sein; muss am Eingang des Großen seinen Willen zum Großen beweisen. Das „Haus der Selektion“ war somit ein ungeheurer Verdauungsapparat, ein „Magen“, worin alles Böse und Verbotene, das scheinbar Giftige, das normalerweise Unverdaulichste und eben damit das Ehernste und Stärkste noch geknetet wurde und zum Beweisen seines Willens aufgerufen war. Nur gehärtete, geschmeidige Wände, großzügig und unerbittlich, können das im Zaume halten, was in ihrem Innern freigesetzt wird.

Und nun betrat der Verurteilte als Teil, als „Funktional“ und „lnnerei“, dieses Haus. Er beschloss, mit derselben Fatalität, mit der er sich zu seiner Tat verleiten ließ, hier alles auf seine eigenen Innereien zukommen zu lassen. Vor allem die Zeit, für die ihm sein Diener zur Verfügung stand, wollte er nutzen. Kein überflüssiges Aufbäumen und Aufspringen, kein verbissenes Wollen und Verweigern sollte seine Energie vergeuden. Es war der Moment, in dem der Verurteilte instinktiv erkannte, dass es vorerst gesünder war, das männlich Aggressive, das Verschwenderische und Leichtsinnige abzulegen und allen femininen, manipulierbaren und sensiblen Trieben, somit der Fruchtbarkeit in ihm das Recht zu geben. Alles über sich ergehen lassen, sogar Vergewaltigungen in Kauf nehmen mit der einen Absicht, befruchtet zu werden, so „schwanger“ zu gehen, dass das Richtige, für ihn Wichtige wachsen und reifen kann: Die künstlerische Inspiration! Kein Risiko zu suchen, sondern ganz Weib zu sein, ganz Hörigkeit war jetzt die große Weisheit, die rettende Moral. Darum empfand er auch die Broschüre, die ihm sein Diener übergab, als wichtige Stimme, die für ihn das Beste wollte und auf die zu hören kein Verlust an Stolz sein sollte. Vielmehr schafft jeder Lesestoff, der wirkt, ein Klima als Voraussetzung dafür, ob etwas gedeiht und wie, ob es sinnvoll ist, den Acker zu bestellen.

Vor dem Einschlafen blätterte der Verurteilte noch in seiner „Bibel“ und es fiel ihm auf, dass kein Befehlston vorherrschte, kein Zeigefinger und keine Lüsternheit zur Strafe jene Dinge an ihn herantragen, die seine Gebote sein hätten müssen. Es wurde nicht gefordert – zumindest noch nicht –, bloß empfohlen, mit der Begründung im Vorwort:

„Versuchter! Ihr Schicksal, Ihre spezielle Eigenschaft, sich zu entscheiden, hat Sie in Ihren Taten so weit vom Volke weggelockt, dass Sie für dieses ein Risiko, zugleich aber auch eine Chance geworden sind, zu deren Rechtfertigung Sie in dem vor Ihnen liegenden Schuldendienst noch alle Möglichkeiten haben werden. Es ist bewiesenermaßen Ihre Stärke, sich selbst zu entscheiden, Ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Dem wollen wir, das Volk, die Kommission, die Verwaltung, die Betreuung und die Dienerschaft im ‚Haus der Selektion‘ in keiner Weise entgegentreten: Treffen Sie weiterhin Ihre Wahl! Bringen Sie Ihre persönliche Erfahrung mit der unsrigen in Verbindung. Wir wollen Ihnen im Rahmen unserer Absicht die möglichen Bedingungen schaffen. Auch sind wir immer für Anregungen dankbar, welche sich gegebenenfalls bis in diese Broschüre, die ja von Zeit zu Zeit überarbeitet wird, niederschlagen. Somit bleibt uns noch, Sie mit unseren Empfehlungen und besten Wünschen, mit Ihrer sicherlich sehr anspruchsvollen Aufgabe und ihren Entscheidungen: mit Ihrem Schicksal allein zu lassen. Die Redaktion“

Auch die Gestaltung dieser Broschüre vermittelte beim oberflächlichen Betrachten der vorbeischwingenden Seiten einen gelungen abgerundeten Eindruck. Nicht nur über die Schrift, über „Schwarz auf Weiß“, wurden Belehrungen vermittelt, sondern die Kanten jedes Begriffes hat man geschickt durch kunstvolle Ausgestaltung des Freiraumes gebrochen, durch farbiges Brückenbauen über die Hohlräume zwischen den harten Tatsachen. Kurzum, hier redet kein böser Blick, kein winkender Zeigefinger droht, sondern mit verschmitztem Lächeln spielt die Weisheit mit der Klugheit im Duett. Sinngemäß der Titel dieses Werkes: „Lexikon der Kleinigkeiten“. Und standesgemäß findet man diese Überschrift vergraben im Wurzelwerk der Karikatur eines Urwaldriesen, unter dessen dichtem Laubwerk ein Elefant, vor der gleißenden Sonne geschützt, sich seiner Stärke bewusst, träge und sorglos das Verdauungsschläfchen hält. Im Gewirr und Schutz des Laubwerks aber springt ein kleiner Affe umher und bewirft den Elefanten mit harten Sachen; mit Tatsachen? … “Kleines Lexikon der Kleinigkeiten“; kleingedruckt, versteht sich!

Der Verurteilte assoziierte, indem er halblaut lachend mit sich redete: „Du brauchst jetzt nur noch das Werfen mit harten Nüssen zu üben, um dann, wenn es darauf ankommt, genau zu treffen.“

Dieser Anfang war Verführung genug, noch etwas weiterzulesen. Zum Beispiel auf Seite 5 die Überschrift:

„Begründung der Titelseite; auch für Humorlose geeignet!“ Darunter folgender Text:

„Ein wesentlicher Teil des Lebens und seiner Entwicklung beruht auf Effektivität; das heißt, auf Reduktion des Notwendigen zugunsten des Überschusses, ja Überflusses an Kraft und Zeit, um ins Unbekannte und Unerprobte zu investieren. Hierbei ist das Notwendige die Ursache, der Keim, aus dem jede Organisation als Wirkung seine Chancen herauszüchtet. Ein Prozess, der auf das gerade noch zulässige Verhältnis von kleiner Ursache zu großer Wirkung abzielt; damit eben auf maximale Effektivität. Je größer das Verhältnis von Wirkung zu Ursache, je ökonomischer mit dem Nötigen ‚gewirtschaftet‘ wird, umso brisanter, mutiger, wird sich die Kraft des Lebens immerfort zeigen und ergießen. Ein Umstand, der uns verpflichtet, zu kleinen, oft bescheidenen Mitteln und Methoden zu greifen, die Aufmerksamkeit dem scheinbar Unbedeutenden, in diesem Sinne aber Ursächlichen, zu schenken. Wer das Kleine nicht ehrt, ist …“

Er liest diese Sätze noch einmal und versucht, sich den umseitigen Affen beim Unkrautjäten unter „seinem“ Baum vorzustellen …;

Seite 5:

„Vernachlässigte Kleinigkeit zur Morgenstund’, bringt leicht das ganze Leben vor die Hund’!“ In Klammer dazu ein Untertitel:

„Morgentoilette für ganze Menschen“

  1. 1. Augen auf und sofort, je nach weitgreifender Absicht des Willens, einen adäquaten Gedanken (z. B. fröhlich, fatalistisch, bissig, wenn es Not tut auch moralisch) odereine passende Erinnerung herbeifischen und wirken lassen.
  2. 2. Akt des Aufrichtens und Durchstreckens: Die Füße stabil und gleichzeitig zu Boden stellen. Beim folgenden Aufrichten des Körpers danach trachten, jeden Muskel zu betätigen (das ist möglich!); weiter empor bis zum „Tanz auf den Zehenspitzen“ mit hochgestreckten Händen.
  3. 3. Ungefähr einen halben Liter reines, nicht kaltes Wasser stehend langsam trinken.
  4. 4. Dem Drängen des Stoffwechsels Rechnung tragen.
  5. 5. Leichtes Sportprogramm bis maximal 15 Minuten im Freien. Wichtig dabei: Keine Exzesse, wie Schweißausbrüche oder

Atemlosigkeit, provozieren. Puls und Atmung langsam von der Ruhe „zur Arbeit“ holen. Alle Muskelgruppen belasten und vor allem dehnen.

  1. 6. Jetzt ist es sicher so weit: Klosett!
  2. 7. Körperreinigung; jedoch keine kalte Brause verwenden, alles Schroffe vermeiden. Sämtliche Körperöffnungen säubern; Zungenbelag entfernen! Zuletzt Gesicht und Kopf mit kaltem Wasser abwaschen und nicht abtrocknen, denn
  3. 8. Kopf- und Gesichtsmassage!, beginnend mit der Kopfhaut. Vom vorderen Haaransatz bis zum Hinterkopf mit den Fingerspitzen die Durchblutung anregen. Der Nacken als Verbindung zwischen Kopf und Leib verdient besondere Aufmerksamkeit. Die Gesichtshaut, als jene ‚Landschaft‘ der Körperoberfläche, die jedes Klima von Begegnungen mit anderen Menschen über sich ergehen lassen muss, beginnend im Bereich der Augen nach außen „bügeln“. Auch die Haut vom Kinn zum Hals elastisch machen. Nach diesem Wachrütteln der Gesichtsmuskulatur selbige vor dem Spiegel zur Eigeninitiative veranlassen: Gesichterschneiden und Fratzenziehen! Alle möglichen und unmöglichen Gestalten erfinden. Wie überhaupt diese Morgentoilette das Erwachen des Erfindungsgeistes sein soll. Dabei kann einmal mehr dem Kleinen, der Nuance, jede Waffe gegeben werden, sogar die Routine und Gewohnheit einer so wesentlichen Prozedur ein wenig das Fürchten zu lehren.
  4. 9. Zuletzt noch die Finger als unser eigentliches Werkzeug, um in die Natur einzugreifen, zu gestalten, zu behüten, aber auch zu zerstören, wenn nötig, nicht vergessen! Jeder Akt unseres Willens, ob formend, bewachend, oder vernichtend, hat ein Recht, von einem guten und reinen Werkzeug getan zu werden. Daher auch hier Massieren jedes einzelnen Fingers von der Spitze zur Wurzel. Gelenke bewegen und die Haut geschmeidig halten; Fingernägel putzen nicht vergessen!
  5. 10. Nach der Massage das Gesicht und die Hände mit kaltem Wasser duschen, sodann abfrottieren und bei dieser Gelegenheit mit dem Handtuch die Haut im Fingernagelbett zurückschieben.

Nach diesen 30 Minuten sollte dem Tagwerk kein Zuviel an Zufällen, keine Anarchie der Kleinigkeiten und auch der Eingeweide mehr im Wege stehen; aber vor allem nicht dem Frühstück: Guten Appetit!

Womit für den Verurteilten vor dem Einschlafen noch für den Beginn des morgigen ersten Tages im Haus der Selektion nichts mehr im Wege stand.

Beim „Augen-auf“ am folgenden Morgen war er bereits belehrt genug, zynisch genug die Kleinigkeit des ersten Gedankens noch beträchtlich schrumpfen zu lassen, nämlich zur augenscheinlich wenig furchterregenden Idee eines Willens zum Müßiggang. Begründung: Keine ruckartige Bewegung, keine Atemlosigkeit, kein Schweißausbruch am Morgen dieses langen, vielleicht letzten Abschnittes in seinem Leben: Den Kopf einziehen; die Sinne hinausstrecken! Als ‚sinnliches Weib‘ so viel wie möglich Zeugungsfähiges über sich ergehen lassen. Der Täuschung jedes Augenblicks, der Gewalt jeder Information gegenüber sich wehrlos und untertänig zeigen – zuletzt aber doch nur einer Inspiration das Jawort geben. Der erste Tag war nicht mehr als eine Besichtigung des Hauses; belanglose Gespräche da und dort. Ein neugieriges Lustwandeln in den Korridoren, den ‚Ganglien‘ des nervösen, sensiblen Zentrums, in dessen ‚Zellen‘ jedes Teufelsei einer Versuchung fleißig bebrütet wird.