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Inhalt

Impressum

Abschied

United States of America

Vienna

Queens Hospital Center

Coney Island

Das Strandhaus

China Town

Bronx Zoo

White Network

Meeresbrise

Operation Black Stallion

Nur ein Augenblick

Babybrain

Caroline

Emanuel

Unerwartet

Schöner Traum

Der Fremde

Süsse Wolken

Rotes Geld

Flight 2306

Austria

Fremde Heimat

Aschentanz

Heisses Metall

Gefährliche Freundschaft

Vollmond

Engelsstaub

Schnitzel mit Ketchup

Lagerfeuer

Zwanzig Jahre später …

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2016 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-543-9

ISBN e-book: 978-3-99048-544-6

Lektorat: Christine Schranz

Umschlagfotos und -gestaltung: Gabriel Eduardo Jimenez Marrufo, Mexico (Zeustronic)

Layout & Satz: novum Verlag

www.novumverlag.com

Abschied

Die Umrisse des alten Bauernhauses konnte man im Novembernebel kaum erkennen. Der Fahrer fuhr langsam in die enge Kurve und parkte das Auto unter dem Kastanienbaum gegenüber der Holzscheune. „Warten sie hier bitte“, sagte die Frau mit den kurzen schwarzen Haaren und stieg aus. Sie ging zur großen geschnitzten Haustür und klopfte den Löwenkopf-Eisenring auf die darunterliegende angerostete Stahlplatte. „Wohnt hier eine Frau Berger?“ „Ja, guten Tag, ich bin Frau Berger, kommen Sie herein.“ „Guten Tag. Ulrike Müller. Sie wissen, warum ich hier bin?“ Der gebrochene englische Akzent der Frau war nicht zu überhören. „Ja.“ „Haben Sie mit ihrer Tochter gesprochen?“ „Ja.“ „Was hat sie gesagt?“ „Sie ist bereit.“ „Gut – unser Flug geht morgen früh. Wir müssen uns beeilen, bis Wien sind es noch gut vier Stunden. Ein kleiner Koffer reicht. Es wird ihr drüben alles zur Verfügung gestellt.“ „Möchten Sie einen Tee?“ „Gerne, danke.“ Mutter Berger ging in den ersten Stock. Ohne anzuklopfen betrat sie das Zimmer ihrer Tochter.

„Katharina, sie ist da, der Flug geht morgen früh ab Wien. Du musst schon heute mit ihr fahren.“ Sie blickte traurig auf den bereitgestellten Koffer in der Ecke des kleinen Zimmers und wusste, was in Amerika auf ihre Tochter zukam. Katharina stand auf, nahm ihren Mantel, den gestrickten beigen Wollschal, den kleinen Koffer und ging die alte knorrige Stiege hinunter in die Küche. „Guten Abend, ich bin Ulrike Müller. Katharina?“ „Ja, ich bin Katharina Berger.“ Frau Müller musterte sie kurz aus den Augenwinkeln. „Wir sollten uns beeilen.“ Innig umarmte sie ihre Mutter und stieg dann ins Auto. Der Mann mit Bart und hochgestelltem Kragen am Fahrersitz äußerte sich nur karg und fuhr los.

Das kurze, angeregte Gespräch der beiden wurde zusätzlich vom lauten Radio übertönt und Katharina verstand vom Rücksitz aus, eigentlich gar nichts. Sie sah aus dem Fenster und verfolgte die hohen Häuser mit ihren vielen Lichtern. In diesem Moment fühlte sie sich sehr einsam, lehnte ihren Kopf an die kalte Fensterscheibe und spürte die Erschütterungen der schlechten Straße. Das Radio spielte den Country-Song „Free“ und Katharina versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken …

United States of America

Die Gesellschaft unterhielt sich angeregt, bis plötzlich eine ältere Frau in den Raum kam und eine der jüngeren hinaus bat. Sie gingen in den Herrensalon und schlossen die hohen weißen Türen hinter sich. „Helen, morgen kommt die Frau, die dein Kind auf die Welt bringen wird.“ Sie lachte. „Ja, es wir ja langsam Zeit. Wir sollten die Ehe mit Frank nun endgültig festigen.“ „Ist sie hübsch? Mein Kind soll ja nicht hässlich werden.“ „Ja – sie sieht sehr gut aus. Der Termin für die Künstliche Befruchtung im Krankenhaus ist bereits reserviert.“

„Das ist gut, dass du so schnell jemanden gefunden hast. Sonst müsste ich mir noch um meine gute Figur Sorgen machen!“ Helen ging zurück zu ihren Freundinnen und genoss den lauen Abend auf der großen Veranda …

Sobald sie mit Frank alleine war, flüsterte sie ihm die Neuigkeit ins Ohr. „Ich freue mich auch schon sehr auf das Kind.“ Er legte seinen Arm um ihre schlanke Taille und sie schlenderten gemeinsam durch den Park.

Die Abendsonne ließ ihr langes Haar wie fließendes Kupfer schimmern. Er drehte sich um, streichelte ihr über die Wange und fuhr mit der Hand in Helens großzügigen Ausschnitt, umklammerte ihre festen Brüste, seine Zunge suchte ihr Ohr und sie stöhnte leise. Er hob sie auf und trug sie in den Pavillon …

Das Hausmädchen Massa beobachtete die Szene durch das Küchenfenster und war eigentlich irgendwie froh, dass der Junior nun endlich eine Frau gefunden hatte. So musste sie sich nicht mehr ständig an die neuen Namen und Gesichter der vielen wechselnden Bekanntschaften gewöhnen. Sie beachtete die beiden nicht weiter und ging ihrer Arbeit nach. Am Abend gab es ja das gemeinsame Dinner für zwölf Personen. „Harry!“, rief sie laut nach dem Butler, der dann und wann auch als Chauffeur für die Familie tätig war – „geh in den Garten und hol mir einen Bund Petersilie! – Und stell mir bitte die Stühle der Tafel im Blauen Salon wieder gerade.“ Harry sah sie nur mit großen Augen an, gab sich aber dann, den sofort darauffolgenden, strengen Blick von Massa geschlagen, da er sehr wohl wusste, wie sie reagieren konnte, wenn sie in Zeitdruck geriet. Und dies wollte er auf keinen Fall herausfordern …

Schon im Vorraum roch es nach gerösteten Zwiebeln. Man hörte die Flügeltüre in der Küche quietschen. Sally, das Serviermädchen, beeilte sich, denn es war schon spät. Das aufwendige Decken des großen Tisches mit all den Blumen, Kerzen, dem Silberbesteck und den handgeschliffenen Gläsern nahm einige Zeit in Anspruch. Doch sie schaffte es wie immer in der letzten Sekunde …

Als die Essensglocke läutete, legte sie noch schnell das Dessertbesteck an die richtige Stelle und ging dann in die Küche, um frisches Zitronenwasser und Eiswürfel zu holen. Inzwischen trafen alle Familienmitglieder ein und setzten sich an den großen Tisch. Sally ging herum und schenkte zuerst jedem etwas Wasser ein. Den Rotwein hatte sie vorschriftsmäßig ein paar Stunden vorher geöffnet und dekantiert. Sein Aroma erfüllte den ganzen Raum mit einem satten Beerenduft. Es war der Lieblingswein der Familie, der immer parat stehen musste. Sie unterhielten sich angeregt über geschäftliche und private Dinge. Auch über Politik, und das ziemlich ausführlich. Als Dienstmädchen in gewissen Herrenhäusern hatte sie natürlich gelernt, Ohren und Mund zu schließen. Keines dieser Gespräche durfte nach außen dringen. Absolute Diskretion war oberstes Gebot. Harry predigte ihr das immer wieder …

Vienna

Katharina stieß mit ihrem Kopf unsanft gegen die vordere Nackenstütze und war sofort hellwach. Der Fahrer schimpfte laut aus dem Fenster. Ehe sie überlegen konnte, was eigentlich los war, sah sie Frau Müller auf die Tür zukommen. „So, meine Dame, aussteigen bitte!“ Der Fahrer stellte die Koffer auf den Gehsteig, hob kurz die Hand und fuhr ohne Blinker, aber mit Vollgas wieder zurück auf die Straße. Die Frau packte sie am Ellbogen und schob sie etwas unsanft in die Flughafenhalle. „Bis zum Abflug haben wir noch etwas Zeit.“ Sie sah auf die große Wanduhr, die über der Theke hing. „Setzen wir uns.“ Frau Müller winkte nach dem Kellner, bestellte Pfefferminztee und zwei Scheiben Buttertoast. „Kaffee ist nicht gut für deine Nerven. – Die werden wir bei dem langen Flug dringend brauchen.“ Sie legte den Mantel über die Stuhllehne, überkreuzte ihre Beine und fing an, Katharina auszufragen.

„Was hast du zu Hause eigentlich gemacht? Hast du überhaupt einen Beruf? Ich weiß, ihr braucht das Geld dringend. Dein Vater ist Alkoholiker. Ihr habt schwer zu kämpfen. Weißt du eigentlich, dass ich deine Cousine dritten Grades bin? Nun erzähl …“

Katharina beschrieb kurz ihren bisherigen Lebenslauf. Frau Müller war erstaunt, dass sie eine abgeschlossene und mit Auszeichnung bestandene Kochlehre vorweisen konnte. Sie hatte sogar eine Kopie in ihrer Handtasche.

„Na ja, vielleicht gefällt es dir da drüben. Ich könnte dir nächstes Jahr zu einem Job verhelfen. Ein Bekannter besitzt in New York ein gut gehendes Restaurant in der Main Street. Nun – zuerst musst du ja diese eine Sache durchstehen. Danach kommst du für ein paar Wochen zu mir ins Haus. Dann sehen wir weiter. Einen Teil vom Geld habe ich deiner Mutter bereits vor der Abreise übergeben. Es gibt also kein Zurück! Untersteh dich irgendwohin abzuhauen. Sie würden dich überall finden.“ Katharina sah auf die Uhr. Ulrike rief die Bedienung zum Tisch und zahlte.

„Komm“, sagte sie, „gehen wir weiter.“ Katharina drehte sich noch einmal langsam um, so, als wollte sie nun endgültig Abschied von der Heimat nehmen. Schweren Schrittes folgte sie Ulrike zur nächsten Halle. Sie setzte sich dort auf einen der kahlen, Plastik-Sessel und sah durch die teilweise stark zerkratzten Scheiben die Flugzeuge starten und landen. Ulrike beobachtete ihre staunenden Blicke.

„Warte nur, bis wir in New York sind!“

Der Start erfolgte pünktlich. Katharina stemmte sich so fest wie möglich in den Sitz und schloss die Augen. Der Jumbo gewann an Höhe und die Gespräche um sie herum wurden leiser. In ihren Ohren rauschte es. Die Stewardess kam und fragte, was sie denn gerne trinken wolle. Sie bestellte sich einen Orangensaft, obwohl sie eigentlich locker einen Cognac vertragen hätte. Ulrike klappte ihr Tischchen nach unten und lächelte. Sie drehte sich zum Fenster, rollte sich ein und schlief. Katharina hingegen war viel zu aufgeregt … Sie nahm eine Illustrierte und fing an zu lesen. Ihr Blick glitt dabei immer wieder über den Rand hinaus. Schräg gegenüber saß ein gut aussehender Mann, der sich mit einer älteren Chinesin unterhielt. Insgeheim hoffte Katharina, dass es seine Mutter wäre, legte ihren Kopf zurück und sah auf den Bildschirm, der von der Decke hing. Nach einiger Zeit kam wieder die Stewardess und stellte das Essen auf die Tischchen. Katharina weckte Ulrike, die darüber nicht besonders erfreut war. Sie starrte auf ihre Hauptspeise und lästerte sofort über das Essen.

„Schon wieder Saftbraten mit Kartoffel!“ Katharina hingegen war froh: Sie hatte schon länger keine warme Mahlzeit mehr gegessen. Sie schnitt relativ große Stücke herunter und war im Nu fertig. Ulrike sah ihr zu und schüttelte nur den Kopf. In Berlin mussten sie kurz zwischenlanden, durften aber im Flugzeug bleiben. Katharina nutzte die Gelegenheit und ging auf die Toilette. Als sie die Tür öffnen wollte, klemmte diese, und nur durch einen größeren Kraftaufwand sprang sie wieder auf. Sie knallte die Tür geradewegs in den Kopf des gut aussehenden Herrn.

„Können Sie nicht aufpassen?“

„Oh, Verzeihung! Wie ungeschickt von mir.“

Beide blickten sich für Sekunden in die Augen und es war, als hätte sie diese Farbe schon einmal gesehen. Besonders dieses helle, funkelnde Türkisblau, wobei die dunkle Pupille von einem gelbgoldenen Stern umrandet war. Als Katharina wieder zum Platz zurückging, sah ihr der Mann wohlwollend nach. Ihre Figur kam im selbst genähten bunten Kleid ihrer Tante hervorragend zur Geltung. Eigentlich war ihr gar nicht richtig bewusst, wie gut sie aussah …

Der restliche Flug verlief ohne größere Turbulenzen. Nach ein paar Stunden konnte auch Katharina ein wenig schlafen. Als sie wieder erwachte, lag sie mit ihrem Kopf auf Ulrikes Schulter. Diese zog ihren Arm recht unsanft heraus. Das Flugzeug kippte in diesem Moment steil nach links unten und die Stewardess gab die letzten Anweisungen zum Landen. Katharina schloss wieder die Augen und betete in Gedanken ein „Vater Unser, der du bist im Himmel …“ Das Flugzeug verlor an Höhe und setzte mit einem harten Ruck auf die Landebahn. Gleichzeitig klatschten alle Passagiere. Der Co-Pilot verabschiedete sich und wünschte allen einen schönen Aufenthalt in New York und den Vereinigten Staaten … „Soll ich schon aufstehen?“, fragte Katharina, deren Magen schon leicht rebellierte. „Nein. Warte noch einen Moment. Bis die Ersten draußen sind.“

„So, jetzt!“ Katharina stand auf, trat in den Mittelgang, nahm ihren Mantel aus der Kofferbox und ging Richtung Ausgang. Plötzlich drehte sich alles um sie … Als sie wieder zu sich kam, saß sie neben zwei Piloten im Cockpit und blickte in diese blauen Augen. „Sie hatten einen Kreislaufkollaps. Keine Sorge, ich bin Arzt. Noch eine Spritze, und Sie können in ein paar Minuten wieder aufstehen. Es ist alles in Ordnung.“ Ulrike fasste sie am Oberarm und zog sie die Gangway hinunter. Ab sofort trug Katharina einen winzigen Microchip.

Der starke, frische Wind, der ihr draußen um die Ohren wehte, tat ihr gut. Sie atmete ein paarmal tief durch und konzentrierte sich auf die Stufen. Der Flughafenbus brachte sie zur riesigen Halle. Als sie ihre Koffer vom Band geholt hatten, gingen sie Richtung Ausgang. Neben der Gangabsperrung warteten über hundert Leute verschiedenster Nationalitäten mit allen möglichen Schildern in der Hand. Ziemlich am Ende der Reihe stand ein dicker, verschwitzter Mann, auf den Ulrike sofort zuging. Er nahm ihnen beide Koffer ab und sie folgten ihm auf den Parkstreifen vor dem Ausgang. Der weiße Wagen roch innen stark nach Pfefferminzöl und laute Gospelmusik dröhnte aus den Boxen …

Von der sechsspurigen Autobahn konnte sie direkt auf die Reifen der Trucks sehen. Ulrike unterhielt sich ziemlich laut auf englisch mit dem korpulenten dunklen Fahrer. Katharina kam sich in diesem Moment ziemlich überflüssig vor. Im Auto war es plötzlich brütend heiß. Anscheinend war die Klimaanlage kaputt. Sie wollte das Fenster öffnen, doch der Fahrer erlaubte es nicht. Nach einiger Zeit klebte das Kleid so an ihrem Körper, dass man es mit einer Schere hätte runterschneiden müssen.

Nach weiteren drei Stunden Fahrtzeit bogen sie in eine Allee ein. Der große weiße Wagen erreichte die Auffahrt zum Haus, die mit grauem Kies geschottert war. Die Reifen knirschten laut, als der Fahrer auf die Bremse stieg. Katharina sah durch die getönten Fensterscheiben nur die Umrisse eines herrschaftlichen Gebäudes.

Als sie ausgestiegen waren, ging die Haustüre auf und eine ältere Dame lief die lange Treppe herunter. An der Seite standen einige Ligusterbäume. Mit ihrer weißen Rüschenschürze blieb die Dame fast an einer der Pflanzen hängen und fluchte leise. „Diese schlampigen Gärtner …“

„Hallo, Mrs.! Kommen Sie, ich bringe Sie auf ihr Zimmer.“

Katharina verabschiedete sich kurz mit einer Umarmung von Ulrike und folgte der Bedienung in ein Nebenhaus.

Als sie vor Ihrer Zimmertür standen, fragte sie: „Dein Name ist Katharina?“ „Ja.“

„Mein Name ist Massa. Wenn du was brauchst – ich bin immer für dich da. Außer in der Nacht“, lächelte sie, „da will ich meine Ruhe haben. Um achtzehn Uhr gibt es Abendessen. Ich schicke dann Sally um dich abzuholen. Mach dich frisch und leg dich ein bisschen aufs Ohr. Du hast morgen einen anstrengenden Tag vor dir.“

Katharina zog ihr Kleid aus und stellte sich unter die Dusche. Sie genoss das kühle Wasser, das ihren Rücken hinunterlief. Plötzlich klopfte es an ihrer Tür und eine junge Stimme rief: „Miss, ich lege Ihnen noch ein paar Handtücher her!“, und war dann gleich wieder verschwunden. Katharina trocknete sich ab und legte sich quer auf das große Bett. Später versuchte Sally vergeblich, sie fürs Abendessen aufzuwecken …

Die starken Sonnenstrahlen, vermischt mit lautem Geschrei, rissen Katharina aus dem Schlaf. Sie sprang auf und rannte zuerst zum Fenster. Unten im Garten standen zwei Gärtner, die sich heftig stritten. Als sie sich beobachtet fühlten, hörten sie sofort auf und gingen wieder ihrer Arbeit nach. Katharina hielt ihr Gesicht unter das kalte Wasser und zog sich an. Es dauerte nicht lange und Sally stand hinter ihr.

„Guten Morgen, Miss! Haben Sie ausgeschlafen? Kommen Sie, Sie müssen ja schon hungrig sein!“

Katharina folgte ihr in den unteren Stock, wo sich die Küche der Angestellten befand. Sie setzte sich an den Holztisch und Sally brachte starken Tee, weißes Gebäck mit Butter, Marmelade und eine Portion Ham and Eggs. In der Küche herrschte schon reger Betrieb. Haustelefone schellten, Fahrer gingen zum Schlüsselbrett, nahmen ihre Autoschlüssel, die beiden Gärtner kamen und baten um eine Tasse Kaffee. Eigentlich waren sie wohl nur neugierig, wer die neue Dame war. Massa klärte sie auf und sagte: „Darf ich vorstellen, das ist Mrs. Katharina. Sie bleibt einige Zeit bei uns.“

„Sally!“, rief Massa, „beeil dich und bring das Frühstück auf die Veranda, die Herrschaften warten schon!“

Katharina beobachtete noch eine Weile die hektisch durcheinanderlaufenden Bediensteten und ging dann wieder in ihr Zimmer, um sich für den Termin im Krankenhaus vorzubereiten.

Sie wartete im Garten und sah in den Teich, wo sich ein paar kleine Rotfedern und Goldfische tummelten. Es war ein herrlicher warmer Morgen und die Farben der prächtigen Blumen spiegelten sich im Wasser. Oben am Haus stand Butler Harry, der noch mit einem Herrn redete. Der Mann gab ihm ein paar Geldscheine. Harry stieg ins Auto und kam ihr entgegengefahren. Er öffnete ihr die Autotür von innen und sagte:

„Hallo, Mrs. Kath! Kath. Darf ich doch sagen, dass kann ich mir leichter merken. Ich fahre Sie nun zum Krankenhaus, wo Sie von den Herrschaften und den Ärzten empfangen werden.“ Sein Blick wurde nachdenklich, ja, fast traurig. „Ach ja, ich sollte Ihnen noch etwas Taschengeld geben.“ Katharina nahm die zusammengerollten Geldscheine, bedankte sich und steckte sie in ihre Handtasche. Die Fahrt zum Krankenhaus verlief ziemlich hektisch, aber Harry erkämpfte sich tapfer die Position in der vierten Fahrspur …

Queens Hospital Center

Harry parkte in der Nähe des Hintereingangs. Katharina stieg aus und sah sich kurz um. Vor dem Eingang stand Ulrike Müller und winkte ihr zu. Katharina war sichtlich erleichtert, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Ulrike begrüßte sie kurz und fragte die vorbeigehende Schwester nach einer Station S3 im zweiten Stock. Im Gang warteten bereits einige Ärzte. Sie begrüßten Katharina mit einem kurzen „Hello! Nice to meet you!“ und baten sie in ein Besprechungszimmer. Ulrike wartete solange draußen und setzte sich auf einen der verchromten Stühle …

Katharinas Blick ging in die Runde der sitzenden Personen und blieb dann ruckartig an dem Mann hängen, der sich im Flugzeug über sie gebeugt hatte. Die momentane Unsicherheit wurde von einem jungen Arzt falsch interpretiert, indem er fürsorglich seine Hand um ihre Schultern legte und ihr gut zusprach: „Sie sind hier wirklich in den allerbesten Händen.“

Die junge Frau musterte sie mit einem durchdringenden Röntgenblick, während die ältere Dame ihr die Hand hinstreckte und sich mit „Guten Tag, Peterson“ vorstellte.

„Das sind mein Sohn Frank und meine Schwiegertochter Helen. Bitte setzen Sie sich.“ Nach den ausführlichen Formalitäten mit zahlreichen Unterschriften wurde Katharina in einen gynäkologischen Behandlungsraum geführt …

Der Eingriff verlief ohne Komplikationen. Sie schoben Katharina in ein Einbettzimmer und kontrollierten noch einmal ihren Blutdruck und die angeschlossene Infusion. Als die Schwestern den Raum verließen, drehte sich Katharina in ihr Kopfkissen und weinte. Fest umklammerten ihre zarten Finger die Bettlaken. Sie hörte noch, wie sich die Schwestern verabschiedeten, und schlief dann ein. Bei der abendlichen Visite besuchte sie der fürsorgliche Arzt Dr. Frazer. Er klärte sie über die weiteren monatlichen Untersuchungen und möglicherweise eintretende Schwierigkeiten auf. In seiner Anwesenheit fühlte sich Katharina gut aufgehoben. Sie verbrachte noch eine Woche zur Beobachtung im Hospital und wurde am Samstagnachmittag wieder von Ulrike und Harry abgeholt.

Im Auto informierte sie Ulrike über das weitere Vorgehen:

„Mrs. Peterson hat für dich ein kleines Haus etwas außerhalb der Stadt gemietet. Es sollte dir in dieser Zeit an nichts fehlen. Harry bringt dich in regelmäßigen Abständen zu den Untersuchungen ins Krankenhaus. Die restliche Zeit steht dir frei zur Verfügung. Ich komme alle paar Tage vorbei und sorge dafür, dass dein Kühlschrank voll ist. Mit dem Kochen solltest du ja kein Problem haben. Einmal die Woche kommt eine Putzfrau. Für Reparaturen oder technische Fragen: Am Haupt-Telefon steht eine Nummer, die du jederzeit anrufen kannst.“ Ulrike brachte sie noch ins Haus und erklärte ihr kurz die Alarmanlage.

Katharina konnte von der Terrasse aus über die anderen Hausdächer auf den nahegelegenen Golfplatz blicken. Der kleine Garten war sauber und sehr gepflegt. Hauptsächlich wuchsen hier Koniferen. Dann und wann sah man auch Schilf und verschiedene Gräser aus den Beeten ragen. Auf der linken Seite der Terrasse stand an der Wand eine Hollywoodschaukel mit zwei Kopfkissen, die mit Muscheln bestickt waren, gegenüber ein runder, brauner Gartentisch mit vier hochlehnigen Stühlen. Die Auflagen und das Tischtuch dazu lagen in einer offenen grünen Plastikkiste. Am Fensterbrett stand ein bemalter Windaschenbecher aus Ton. Katharina brachte ihre Sachen ins Schlafzimmer, räumte ihren Kasten ein und begab sich in die Küche. Von hier aus sah sie auf die Straße. Es war eine ruhige Gegend. Ab und an fuhren Autos vorbei. Mütter gingen mit ihren Kindern spazieren. Die meisten Anwesen hier waren wohl Wochenendhäuser. Ihr Magen knurrte und Katharina öffnete den Kühlschrank. Sie schnappte sich eine Tomate und ein Stück Gurke aus der Gemüseschüssel und setzte sich zum kleinen Küchentisch, auf dem eine weiß-gelbe Orchidee stand.

Am nächsten Morgen weckte sie der prasselnde Regen. Sie zog mit ihren Zehen den Vorhang zur Seite, blinzelte mit einem Auge unter ihrer Daunendecke hervor, drehte sich anschließend auf den Rücken und verschränkte die Hände unter dem Nacken. Der Radiowecker startete mit den neuesten Nachrichten und dem Lied „Hot Seat“. Katharina drehte sich noch einmal um und sah auf die Digitalanzeige. Eigentlich wäre es bei diesem Sauwetter völlig egal, wann sie aufstehen würde. Als sie so ihren Gedanken nachhing, läutete es an der Haustür.

Katharina sprang aus dem Bett und sah durch den Türspion. Ein Junge im gelben Regenmantel stellte ihr eine Flasche frische Milch auf die letzte Eingangsstufe. Sie öffnete die Tür und nahm auch die Times mit, die eingerollt unter dem Vordach im Blumenbeet lag. Vorsichtig legte sie die Zeitung auf die Heizung in der Küche und stellte die Milch in den Kühlschrank. Katharina duschte, schlüpfte in den fliederfarbenen Hausanzug, schlenderte zur Wohnzimmertür und sah noch im letzten Moment, wie ein Mann, dessen helle Locken unter der schwarzen Baseballmütze herausragten, über den Gartenzaun sprang. Sie beachtete ihn nicht weiter, da er aus dieser Entfernung wie ein Jogger aussah, der sich verlaufen hatte.

Minuten später fuhr ein Polizeiwagen mit Blaulicht in die Einfahrt des Nachbarhauses. Das ältere Ehepaar stand sichtlich aufgeregt vor der Eingangstüre und erwartete die Herren schon ungeduldig. Vermutlich ein Einbruch, dachte sich Katharina und beobachtete den Vorfall lieber aus sicherer Entfernung.

Leider blieb es nicht bei dem Einbruch. Kurze Zeit darauf fuhr ein Leichenwagen rückwärts in die Einfahrt. Zwei Männer mit grauen Mänteln trugen einen Blechsarg ins Haus. In diesem Augenblick wurde Katharina bewusst, dass etwas Schreckliches passiert sein musste …

Wie Ulrike erzählt hatte, lebte das Ehepaar zusammen mit ihrem behinderten Sohn und hatte mindestens acht Katzen. Eine davon saß nun, vom Blaulicht vertrieben, vor Katharinas Terrassentür und miaute. Sie hatte Mitleid und öffnete kurz. Diese Gelegenheit nutzte die getigerte Katze sofort, flitzte durch ihre Beine hindurch und sprang auf das Sofa, machte es sich dort zwischen den Pölstern bequem und fing an zu schnurren. Eigentlich wollte Katharina frühstücken, aber irgendwie war sie zu unruhig. Sie setzte den Teekessel auf und sah wieder zum Haus. Inzwischen war auch die Spurensicherung eingetroffen. Andere Polizisten mit dunklen, langen Regenmänteln sicherten den Tatort und steckten den Garten mit gelb-schwarz gestreiften Bändern ab. Der Wasserkessel pfiff und riss Katharina aus ihren wilden Fantasien …

Sie nahm ihre Teetasse, stellte sie auf den Wohnzimmertisch und setzte sich im Schneidersitz auf das Sofa. Die Katze neben ihr streckte sich und sprang mit einem Satz auf ihren Oberschenkel, hakte sich mit ihren Krallen fest und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Katharina schrie auf, packte die Katze etwas unsanft und setzte sie am Boden ab. Der Kater lief sogleich zur Terrassentür und Katharina ließ ihn wieder hinaus. Als sie die Tür schloss, trugen die Männer den Blechsarg über die Stufen und schoben ihn in den Kofferraum. Das Ehepaar weinte laut und lag sich fest in den Armen. Katharina wusste nun, es konnte nur ihr behinderter Sohn sein, der in diesem Sarg lag. Bei dem Versuch, ihre Gedanken zu ordnen, lief ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter.

Sie ging ins Schlafzimmer, zog ihre Jeans an und streifte einen warmen Pullover über. Katharina ahnte, früher oder später würden die Polizisten auch vor ihrer Haustür stehen. Das Telefon schellte im Vorraum.

Es war Ulrike Müller. Sie erzählte ihr kurz die schreckliche Geschichte mit ihren Nachbarn. Ulrike war schockiert und verärgert zugleich, dass sich Katharina nicht sofort bei ihr gemeldet hatte. Eine geschlagene halbe Stunde später stand sie auch schon in der Einfahrt. Sie kam die Treppen hochgerannt und hatte als Regenschutz nur ihren Mantel über den Kopf gezogen, läutete Sturm und schimpfte ununterbrochen vor sich hin. Sie merkte gar nicht, dass sie schimpfend allein im Raum stand. Katharina war inzwischen in der Küche verschwunden um Kaffee zu kochen. Als sie mit den zwei Tassen ins Wohnzimmer kam, stand Ulrike an der Terrassentür und starrte auf das Nachbarhaus. „Familie Peterson hat für dich ab heute Personenschutz angefordert“, sagte sie in monotoner Stimme.

„Aber …“

„Kein Aber“, sagte Ulrike streng. „Es ist bereits alles organisiert. Wenigstens so lange, bis der Mord geklärt ist. Haben sie schon einen Verdacht?“

„Nein. Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen.“ Katharinas Knie wurden weich und einen Moment lang fürchtete sie, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

„Wie geht es dir?“

„Na ja“, sagte Katharina, „ohne Mord in der Nachbarschaft wäre es ruhiger“, versuchte sie, die Situation zu lockern.

„Hör mal“, sagte Ulrike, „das hier ist kein Land zum Spaßen. Solange sie den Täter nicht gefasst haben, wird hier in der Gegend keiner mehr ruhig schlafen. Vergiss nicht, am Abend und wenn du außer Haus gehst die Alarmanlage zu aktivieren!“

„Wer tut so was? Einen Behinderten ermorden − was muss das für eine skrupellose Person sein!“

„Ich habe keine Ahnung. Wie die Villa wohl von innen aussieht? Ob da viele Antiquitäten stehen, auf die er es vielleicht abgesehen hätte? Wir können nur hoffen, dass diese Sache schnell aufgeklärt wird.“

„Wie auch immer, ich sollte heute noch einiges erledigen.“

Ulrike arbeitete, seitdem sie nach Amerika ausgewandert war, als Immobilienmaklerin bei einer größeren Firma. Ihre Termine konnte sie sich selbst einteilen. Sie stülpte wieder ihren Mantel über den Kopf und lief zum Auto.

Katharina ging in die Küche und fing an, Charlotten für ihre Gemüsesuppe zu schneiden. Die Tränen liefen ihr rechts und links herunter, sodass sie aufpassen musste, sich nicht in die Finger zu schneiden. Sie röstete das Gemüse kurz an und wollte gerade mit Wasser aufgießen, als es an der Tür läutete …

Sie ließ das Wasser an der Spüle stehen und lief zur Tür. Durch den Spion sah sie die Uniformkappen der Polizei. Sie öffnete sofort und ließ die Beamten herein. Katharina musste sich ausweisen und erzählte, was sie am Vormittag gesehen hatte. Die Täterbeschreibung war natürlich nicht sehr genau, da es ja in Strömen geregnet hatte. Ein Polizist gab ihr eine Visitenkarte, rümpfte kurz die Nase und bedankte sich für die Auskunft. Als sie sich umdrehte, kamen ihr schon ein beißender Geruch und dicker Qualm entgegen.

„Verdammt, die Gemüsesuppe …“, sie nahm den Topf, warf ihn in die Spüle und schüttete Wasser drauf. Es dampfte und hüllte Katharina in eine beißende Rauchwolke. „Na prächtig!“ Sie kippte das Küchenfenster und fing an, die Prozedur zu wiederholen …

Die Suppe köchelte nun so dahin. Katharina ging ins Wohnzimmer, um den Fernseher einzuschalten. In den Mittagsnachrichten brachten sie bereits einen kurzen Ausschnitt über den Mord. Ein Pressesprecher der Kripo bat die Bevölkerung um ihre Mithilfe. Katharina blieb noch eine Weile am Sofa und legte kurz ihre Beine hoch. Ihr Hunger wurde größer und sie stand auf, um nach der Suppe zu sehen, kostete, gab noch etwas Würze, Sahne und frische Kräuter hinzu, nahm eine der bunten mexikanischen Suppenschüsseln und schöpfte gut vier Löffel hinein. Dann setzte sie sich zum Küchentisch und verbrannte sich fast am heißen Brokkoli. Katharina stand auf, um sich ein Glas Wasser zu nehmen, als plötzlich der Kater aufs lockere Fensterbrett sprang und mit seinen grünen Augen die Suppe auf dem Tisch fixierte. Katharina fuhr ein Schreck durch die Glieder. Während sie die Suppe aß, starrte die Katze ununterbrochen auf den Küchentisch. „Die wird heute auch noch nichts im Magen haben“, dachte sich Katharina, öffnete den Kühlschrank, zerkleinerte ein paar Scheiben vom Kochschinken, gab sie auf einen kleinen Teller und stellte ihn auf den Terrassenboden. Ab heute hatte sie ein Haustier …

Am Nachmittag ließ der Regen nach und Katharina beschloss, ihre Nachbarn zu besuchen. Als sie die Hausglocke drücken wollte, ging schon ein Seitenflügel auf und Frau Sciatto stand, noch sichtlich aufgelöst, vor ihr.

„Guten Tag“, sagte Katharina, „ich bin vor Kurzem neben Ihnen eingezogen und wollte nur nachfragen, ob Sie irgendwie Hilfe brauchen.“ Frau Sciatto bat sie ins Haus. Katharina folgte ihr in das Esszimmer, wo auch ihr Mann, der wesentlich älter war als sie, am Tisch saß. „Guten Tag, ich bin Katharina, Ihre neue Nachbarin.“ Herr Sciatto saß wie versteinert da und starrte unentwegt auf das Foto seines Sohnes im silbernen Bilderrahmen, das vor ihm auf dem Mahagonitisch lag.

„Er hat ein starkes Beruhigungsmittel bekommen“, sagte Frau Sciatto. Während sie auf ihn zuging, nahm sie seinen Arm und brachte ihn fürsorglich ins Schlafzimmer. „Er braucht jetzt dringend Ruhe!“

„Das könnten Sie jetzt auch gebrauchen“, sagte Katharina. „Kann ich etwas für Sie tun?“

Frau Sciatto überlegte und sagte dann: „Es wäre sehr nett von Ihnen, wenn Sie kurz im Haus bleiben könnten. Ich müsste einige wichtige Medikamente beim Hausarzt holen. Seine Praxis ist nicht weit von hier. Ich wäre bald wieder zurück.“

„Ja, natürlich, fahren Sie nur“, sagte Katharina.

Frau Sciatto zog ihre grüne gesteppte Jacke an und ging durch den Kellerabgang in die Garage. Katharina sah aus dem Fenster.

Das Einfahrtstor öffnete sich automatisch und der große Jeep bog um die Ecke. Sie ging beim Schlafzimmer vorbei und sah durch den Türspalt auf das Bett. Herr Sciatto schlief fest. Das Zimmer des Sohnes stand offen und war nur durch die Polizeistreifen über dem Türrahmen abgesperrt.

Am hellen Teppich vor dem Schreibtisch und am Türrahmen sah man Blutflecken. Die Computeranlage lag zerstört am Boden, die Festplatte fehlte. Neben dem Schreibtisch stand ein neues Piano. Einige Notenblätter lagen verstreut herum. Die Terrassentür war fest verschlossen. Über dem Bett klebten Poster von verschiedenen Computerspielen und Musikgruppen.

„Das Internet war seine Welt“, sagte Frau Sciatto, die plötzlich hinter ihr stand. „Er konnte stundenlang davor sitzen und spielen. Zu jedem kleinen Ausflug musste ich ihn schon überreden. Nur in letzter Zeit war er irgendwie ruhiger. Einfach anders als sonst. Peter hatte öfters solche Phasen, deshalb habe ich nicht wirklich darauf geachtet.“

„War er seit seiner Geburt gelähmt?“

„Nein, er hatte einen Sportunfall in der neunten Klasse.“ Sie zog ein in Leder gebundenes Fotoalbum aus dem Wohnzimmerregal und versank in Erinnerungen. Sie erzählte von der Taufe bis zum gestrigen Tag alles. Es tat ihr gut, mit jemandem zu sprechen. Peter war ihr einziger Sohn gewesen. Katharina hörte ihr gerne zu. Sie hatte eine angenehme, weiche Stimme, die sie irgendwie an ihre Großmutter erinnerte. Sie sah nach draußen, wo bereits die Straßenlaternen leuchteten.

„Soll ich über Nacht bei Ihnen bleiben?“, fragte Katharina. „Nein“, sagte Frau Sciatto dankend, „meine Schwester kommt nach der Arbeit und wird sich um uns kümmern.“ Katharina verabschiedete sich und ging in ihr Haus zurück …

Am nächsten Morgen schien bereits die Sonne, als Katharina die Zeitung aus dem Garten holte. Es war ein herrlicher Sommertag und sie vergaß für einen Moment die schrecklichen Ereignisse des Vortags. Als sie über den Zaun blickte, sah sie die Schwester der Nachbarin, winkte ihr zu und rief: „Guten Morgen!“ Diese hob auch kurz die Hand, winkte zurück und verschwand mit einer Tüte vom Bäcker wieder im Haus. „Frische Brötchen wären jetzt gut“, dachte sich Katharina und beschloss, im kleinen Café am Ende der Straße zu frühstücken.

Die Gartenterrasse machte einen gepflegten Eindruck. Ihr Blick schweifte zu einem Tisch im Halbschatten. Aus der Bäckerei roch es verführerisch nach allerlei Süßem. Die Kellnerin nahm ihre Bestellung auf und verschwand hinter der Vitrine. Der Café Latte schmeckte köstlich und der erste Biss ins goldgelbe Croissant ließ alle Sorgen vergessen. Katharina lehnte sich zurück und entspannte sich.

„Ein schöner Tag heute, Mrs.“, hörte sie eine bekannte Stimme am Nebentisch. Dr. Frazer saß da in einem schwarzen Trainingsanzug, der an den Ärmeln mit weißen Streifen versehen war. Am Boden unter dem Tisch lugte ein schokobrauner Cockerspaniel hervor, der mit der Leine an einem der Tischbeine angebunden war. Er legte die Zeitung zur Seite und stand auf.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte er freundlich.

„Ja, gerne.“

Er hatte komplett auf den Hund seines Freundes vergessen, der sofort an der Leine zog und den Tisch um zwei Meter verschob. Das Orangensaftglas kippte um, rollte spurenziehend über den Blechtisch und zersprang am Boden. Die Kellnerin beobachtete das Missgeschick und kam schon mit Besen und Schaufel angelaufen.

„Passen Sie nur auf, dass Ihr Hund nicht in eine der Scherben tapst!“

Dr. Frazer entschuldigte sich mit einem ordentlichen Trinkgeld und hob den unerzogenen Hund auf seinen Schoß. Dieser drehte den Kopf und schleckte ihm aufgeregt übers Gesicht. „Hör auf!“, sagte Dr. Frazer und schob seinen Kopf wieder auf die Seite. „Er gehört nicht mir. Ich pass nur heute auf ihn auf. Haben Sie sich schon etwas eingelebt? Abgesehen von dem schrecklichen Mord in Ihrer Nachbarschaft natürlich.“

Katharina erzählte von dem netten Haus, dass Familie Peterson für sie gemietet hatte, und dass sie sich dort sehr wohl fühlte. Viel hatte sie ja bis jetzt noch nicht gesehen. „Wie wär’s, wenn wir morgen einen Ausflug machen? Wir könnten nach Coney Island fahren. Das ist nicht weit, es liegt im Süden von Brooklyn. Nehmen Sie Ihre Badesachen mit. Passt es Ihnen um zehn?“

„Ja“, sagte Katharina etwas überrumpelt, „zehn ist O.K.“

„Zahlen bitte!“, rief Dr. Frazer der Kellnerin zu. „Habe einem Kollegen versprochen, ihn den restlichen Tag zu vertreten. Seine Mutter hat heute ihren 70. Geburtstag. Ich sollte mich beeilen. Also, bis morgen dann!“ „Ja, bis morgen“, sagte Katharina und sah ihm nach, wie er die Straße hinunterschlenderte. Sie zahlte auch und verband ihr Frühstück noch mit einem Spaziergang durch den nahegelegenen Park. Zum ersten Mal fiel ihr ein Mann auf, der sie zu beobachten schien.

In der Mitte der Wiese stand ein großer Weidenbaum, der mit einer Rundumbank versehen war. Ein paar Jugendliche standen da und diskutierten laut über irgendwelche PC-Spiele.

„Halt ja die Klappe, du Arschloch!“, sagte einer der Jungs ziemlich zornig, „sonst kannst du die Radieschen von unten ansehen.“ „Nimm deine dreckigen Pfoten von mir“, sagte ein anderer Bursche und stieß ihn brutal auf die Bank zurück.

Katharina beachtete sie nicht weiter und nahm eine Abkürzung über die Wiese, um wieder zu ihrer Straße zu gelangen. Als sie auf den Gehsteig trat, fiel ihr sofort die dunkle Kappe auf, die dort zwischen den Rhododendronsträuchern hing. Sie nahm sie mit und ging gerade bei der Apotheke vorbei, als eine mollige Frau auf sie zukam.

„Ist das nicht die Baseball Kappe meines Jungen?“

„Keine Ahnung“, sagte Katharina, „ich habe sie da zwischen den Sträuchern gefunden.“ Die Apothekerin stülpte den Rand um und sah aufs Etikett.

„Ja“, sagte sie dann, „danke, das ist die Mütze meines Sohnes. Da steht sein Name drauf. Er verliert andauernd was.“ Sie drehte sich um und ging in die Apotheke zurück.

Wieder im Haus kam ihr das schon etwas eigenartig vor. Sie nahm die Visitenkarte und wählte die Nummer des Beamten. Er bedankte sich für die wertvolle Information und versprach, der Sache nachzugehen. Der Abend verlief recht gemütlich vor dem Fernseher … Bevor Katharina zu Bett ging, sah sie noch einmal zum Nachbarhaus und auf die Straße, wo der Wagen der Security-Beamten parkte.

Der „Dr. Love“-Song „Castle of lies“, warf Katharina um neun Uhr aus dem Bett. Sie hatte gut geschlafen und ging fröhlich ins Bad, um sich hübsch für ihren Ausflug mit Dr. Frazer zu machen. Das Wetter war gut und sie entschied sich für das hellblaue Sommerkleid, das mit kleinen weißen Blütenornamenten bedruckt war. Als sie aus dem Zimmer kam, saß ihr Kater schon vor der Terrassentür. Er sprang mit seinen Vorderpfoten auf die Scheibe und hinterließ so seinen bleibenden Abdruck. Katharina öffnete und ließ ihn rein. Gemeinsam frühstückten sie auf der Hollywoodschaukel …

Dr. Frazer war überpünktlich und stand mit seinem Wagen um Viertel vor zehn in der Einfahrt. Katharina lief ihm entgegen.

„Guten Morgen!“

„Guten Morgen, Katharina“, sagte er und streckte ihr einen kleinen Sommerstrauß entgegen.

„Danke! Das ist aber sehr nett von Ihnen. Warten Sie einen Moment, ich bring die Blumen ins Haus und hole meine Tasche. Bin gleich wieder da!“