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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Widmung

Sandoval

Amazonas in den Voralpen

Arroz con pollo im Knast

Als Lima stillstand und die Lichter erloschen oder 0:0

Liebe am Amazonas oder: Das Kokain bleibt im Koffer

Überfall auf dem Madre de Dios

Der Geruch der Schlange

Der Weihnachtsstern von Santa Cruz

Die Agentur der weißen Schürzen

Cadmium im Blut

Der elektrische Zug über den Häusern von Lima

El niño caramelo

Lichtsignale ohne Farben

Liebe in Lomas

Monchi

Sie hängen dich an der nächsten Laterne auf

Vergewaltigung am Himmel

Sperrstunde

Tren macho auf Abwegen

Wer weiß, wie hoch Lima liegt?

Werner: Verdingbub, Fremdenlegionär und Goldsucher

Pisco Sour

Yerupajá, der ungezähmte Gigant mit dem steilen Eisrücken

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2016 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-903067-82-0

ISBN e-book: 978-3-903067-83-7

Lektorat: Stefanie Krüger

Umschlagfotos: Diana Dunlap, Pablo Hidalgo | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum Verlag

www.novumverlag.com

Widmung

*

Für meine geliebte Frau Giove und meine geliebte Tochter Nikki

Sandoval

*

Sandoval war damals nur der nahen Bevölkerung von Puerto Maldonado und einigen Touristen bekannt, die sich schon in ihrer Heimat über dieses Kleinod im südostperuanischen Regenwald vor ihrer Abreise informiert hatten.

Die DC 8 der Aéro Perú flog die nötige Schleife zum schwierigen Landeanflug auf den Flughafen in Cusco. Nur erfahrene Piloten dürfen hier mit Verkehrsflugzeugen landen. Die Piste befindet sich kurz vor den imposanten Gebirgszügen und die Seitenwinde sind unberechenbar. Carolina und Mariano atmeten auf und sanken von der aufrechten Sitzhaltung in die schräge zurück.

Nach einer halbstündigen Wartepause, in der die Bordküche aufgefüllt wurde, startete der Captain die Maschine und sie hob ab Richtung Südwesten nach Madre de Dios, nach Puerto Maldonado. Welch einen Klang dieser Namen in den beiden Seelen auslöste! Sandoval, Sandoval. Ihre Liebe wollten sie mit dem Wasser dieser bezaubernden Lagune taufen und für ewig besiegeln.

An der Lagune bezogen sie eines der drei spartanisch eingerichteten Zimmerchen mit Kajütenbetten und den unvermeidlichen Moskitonetzen davor. Denn man war im Urwald, im Regenwald, wo die Mücken Tag und Nacht nicht von einem lassen.

Carolina war schon zwei Jahre mit Mariano zusammen. Am Liebesbrunnen Trevi in Rom hatte sie eine Zweieuromünze an den Kopf bekommen, sich verletzt und war vom Geldwerfer beherzt umsorgt und verarztet worden. Es war Mariano, ein Römer, der endlich seine große Liebe finden wollte und am Brunnen, Rücken gegen das Wasser, die Münze geworfen hatte, die, statt im Nass sich mit den tausenden anderen Geldstücken aus aller Welt im Brunnengrund zu vereinen, an der Schläfe von Carolina gelandet war. Carolina stammte aus Cortina d’Ampezzo und weilte als Touristin in der Ewigen Stadt. Damit hatte ihre Liebe begonnen, die ewig dauern sollte. Die Münze, die vom Liebespfeil die Richtungsänderung vorgeschrieben bekommen hatte und statt im Trevi bei Carolina gelandet war, diese Münze wollte das junge Paar an einem ganz besonderen Ort mit den ausgesuchtesten Liebesschwüren für immer versenken.

Was konnte es sein? Welcher Brunnen, welcher Teich, welches Gewässer war es wert, die Liebesmünze von Carolina und Mariano auf alle Zeiten vor der Entdeckung und somit der Entweihung ihrer wundervollen Liebe zu verbergen?

Sie hatten in Städten und Ländern nach herrlichen Brunnen gesucht, Bibliotheken nach ungewöhnlichen Gewässern in aller Welt durchstöbert. Aber nichts hatte dem Versteck entsprochen, das sich rühmen durfte, eine einzigartige Liebe in Form eines Zweieurostückes aufzunehmen und vor Entlarvung unbefugter Augen zu bewahren.

Dann hatte eines Morgens ein Reiseprospekt aus dem Briefkasten geschaut. Perú, Land der vielfältigen Möglichkeiten und großer vergangener Kulturen mit grandioser Natur, in die Kleinode geboren wurden, die einzigartig sind und auf unerklärliche Weise die Seele gefangen nehmen. Das war’s, das musste es sein. Das? Ja, DAS. Diese prächtige Lagune, behütet wie ein Diamant im tiefen Erdreich leuchtet sie aus dem satten Grün des Regenwaldes im Süden des Inkalandes silbern heraus.

Die Begeisterung der beiden war nur noch übertroffen worden von der Geschwindigkeit ihrer Reisevorbereitungen. „Hast du den Trevi-Euro?“

„Sicher, wie könnte ich den vergessen, der unsere Liebe symbolisiert und der den Anfang für uns beide als zwei in einem startete? Zwei Euro in einer Münze, zwei Menschen in einer Liebe.“

Noch in der ersten Nacht machte man sich zur sagenhaften Lagune auf, mit einem peruanischen Führer, der sich auskannte. Die Dunkelheit legte sich rasch über die kleine Lodge, über die tausend Geheimnisse des Waldes. Die Schreie der Aras und der Klammeraffen verstummten und die Bestimmung der Natur schenkte den nachtschlafenden Tieren die Ruhe und ließ die Jäger erwachen.

Der Mond nahm seine Aufgabe als Beleuchter war und tauchte über den Zedern vor der Lagune auf, die das Gewässer wie ein riesiger Palisadenzaun umgaben. Hellgelber Vollmond. Durch das Buschwerk schimmerten silberne Streifen der Wasseroberfläche. Die zwei Regenwaldnachtschwärmer traten aus dem Unterholz des Dschungels heraus. Vor ihnen breitete sich das herrlichste Panorama aus, das sie jemals gesehen hatten.

Ihre Stimmen senkten sich mit dem Grad des erwachten Erstaunens.

„So herrlich, so schön!!!“, stammelten sie in Ehrfurcht vor der glänzenden Pracht in der Tropennacht.

„Miren, un capibari“, flüsterte Miguel, der Fährtenleser, und deutete mit der Hand auf ein zwanzig Meter entferntes Etwas, das sich schnüffelnd im Schlamm bewegte.

Ein Capibari ist ein Wasserschwein, verwandt mit dem afrikanischen Flusspferd, noch ähnlicher aber dem Meerschweinchen, nur viel größer.

Die Zedernwand am gegenüberliegenden Ufer ähnelte der Fassade einer Kathedrale, das heilige Gewässer – so schien es den Europäern – schützend vor jeglichem Unbill der lauten Welt. Die Lagune mit den Zedern formte eine abgeschlossene Einheit, still und scheinbar unberührt von lästigen Störungen.

„So muss das Paradies sein, gewesen sein. Jetzt ist es hier. Diese Lagune Sandoval ist das Paradies, wo mir und dir und niemandem etwas zustoßen kann“, flüsterte Carolina ihrem Mariano ins Ohr. Der nickte zur Antwort ergriffen und andächtig.

Mariano senkte seinen Blick in die Augen seiner Geliebten. „Adam und Eva lebten glücklich in ihrem Paradies. Wir sind hierhergekommen, um unsere Liebe einzutauchen in dieses Wasser. Wir aber werden nicht vertrieben von hier, wir ziehen uns freiwillig zurück, überlassen diesen gesegneten Ort seiner Schönheit und senden diese gewaltige stille Kraft mit unserer geschmiedeten Liebe in alle Welt hinaus …“

Carolina schaute ihren Liebsten mit so viel betörender Liebe an, dass sogar der Capibari sein Scharren unterbrach, zu ihnen hinübersah und ins Dickicht schlich, um mit seiner Gefährtin Gleiches zu versuchen.

Miguel führte die beiden zu einem schlanken Einbaum in der Nähe und ließ sie einsteigen. Er wollte sie auf dem Wasser der Lagune herumrudern und ihnen die Bewohner dieses Biotops aus nächster Nähe zeigen. Was meinte er? Er lächelte nur und seine Zähne blitzten. Waren das Fische, die hochsprangen, oder sogar eine Anakonda, die unter das Boot schwamm und es mit ihnen aus dem Wasser schleudern wollte?

Carolina bemächtigte sich ein leises Schaudern vor hässlichen Möglichkeiten, die sich auch hier, im Paradies, auftun könnten.

Der Einbaum glitt mit fast lautlosen Ruderschlägen durch das heilige Gewässer. Von Zeit zu Zeit legte Miguel die Ruder ab und zeigte mit dem Lichtkegel seiner Taschenlampe ans Ufer oder auf die Oberfläche der Lagune, aber die beiden Regenwaldneulinge konnten trotz angestrengten Beobachtens nicht erkennen, was der Peruaner meinte. Er sagte dann leise: „Tapir oder Monkey“, oder auf das Wasser deutend: „Kaiman!“ Jetzt wurden Miguels Rufe intensiver. Die Augen des Paares folgten dem Lampenlicht und sahen zwei grüngelb leuchtende Punkte auf dem Wasserspiegel. Ein Kaiman, der sich knapp unter Wasser dem Boot näherte. Miguel ließ seine Hände vom Ruder, schaute intensiv auf die grünen Smaragde und griff blitzschnell zu. Ein dreißig Zentimeter großes Reptil lag im Rumpf des Schiffes, fast zärtlich festgehalten von Miguel. Carolina und Mariano streichelten den kleinen Kaiman und bald schon schwamm das Kriechtier wieder in den Fluten des Sees. Der Einheimische erklärte, dass Kaimane wie hypnotisiert auf das Licht der Taschenlampe reagieren und so aus dem Wasser gehoben werden können.

Nach einer Stunde weiteren Staunens und großer Dankbarkeit entschloss man sich zur Rückkehr in die Lodge. Mitten in der Lagune noch bat Mariano, das Kanu anzuhalten. Er öffnete seinen Rucksack, entnahm ihm eine goldene Dose, öffnete sie und ergriff die Zweieuromünze vom Trevi in Rom, die in Carolina und ihm die Liebe entfacht hatte.

Sorgfältig standen beide auf, darauf bedacht, ihr Gleichgewicht zu halten und gleichzeitig mit hoch erhobenen Armen und Händen aneinander gepresst die teure Münze in den mondhellen Nachthimmel zu halten.

Miguel verstand nichts, hütete sich aber, die Szene mit Fragen zu unterbrechen und hörte, wie Carolina und Mariano gemeinsam in ernstem, sehr ernstem und feierlichem Ton, einem Schwur gleich, gelobten:

„Diese teure Münze der Ewigen Stadt Rom werfen wir, Carolina und Mariano, in das heilige Wasser der Lagune Sandoval. Mit diesem Akt wollen wir unsere Liebe für alle Zeiten in der Welt und in den Himmeln schmieden. Dieses Edelmetall wird auf den Grund fallen, niemals gefunden und missbraucht werden und für alle Liebenden Zeugnis ablegen.“

Mit Tränen in den Augen baten sie Miguel, den Strahl der Taschenlampe auf die Münze zu richten, während sie sie in die Luft warfen.

Gleißend blinkte sie einen Augenblick im Licht des Mondes und der Lampe, als neben dem Einbaum ein mächtiger Kaiman aus dem Wasser schoss, höher und höher stieg, seine starken Kiefer weit öffnete und das Symbol der Liebe der zwei Italiener im Herunterfallen in seinem Rachen verschwand. Das Urtier platschte in sein Element zurück, Wellen erzeugend, die das Gefährt beinahe kentern ließen.

Mariano und Carolina setzten in den nächsten Tagen alle ihre Tricks und ihr Geld in Bewegung, um mit Suchmannschaften den Kaiman zu orten, der ihre Liebe verschluckt hatte. Niemand verstand ihre Absichten, nicht einmal Miguel, der bei der nächtlichen Zeremonie anwesend gewesen war. Die zwei wollten das Reptil nicht töten, sondern fotografieren, um sozusagen den Tresor ihrer Liebesmünze zu verewigen. Denn auf dem Seegrund wäre die Münze sicher gewesen, im Magen des Kaimans nicht. Darum wenigstens ein Bild!

Jedoch war der Riesenkaiman unauffindbar und das Paar reiste ab.

Zwei Jahre später wurden ihnen Zwillinge geboren. Fünfzehn Jahre später bemerkten diese eine wachsende Traurigkeit in den Augen ihrer Eltern und sprachen sie mehrmals darauf an. Nach anfänglichem Schweigen erzählten sie den Kindern die Geschichte mit der Liebeseuromünze.

Zwei Wochen darauf bestiegen die vier die KLM-Maschine nach Lima und steuerten mit LAN Perú Puerto Maldonado an. Fünf Tage und Nächte logierten sie in der nun modernen Lodge und träumten von der Münze. Die Zwillinge ließen nicht locker und glaubten, dass die Münze doch in der Lagune war. Mit Tauchanzügen liessen sie sich in Käfigen von einem Boot ins Wasser senken und versuchten das Unmögliche. Am letzten Tag vor ihrer Abreise rannten Sani und Soni freudetrunken in das Zimmer ihrer Eltern. Sie warfen die Münze, die Zweieuromünze in die Luft. Sie fiel auf den Boden und da blieb sie und strahlte trübe in die Augen ihrer Eltern. Hatten die Jugendlichen die Liebesmünze beim Tauchgang gefunden oder war es eine ganz gewöhnliche Euromünze?

Carolina und Mariano prüften sie genau und entdeckten die zwei kleinen Herzchen auf der Oberseite des Geldstücks, die sie vor ihrer ersten Abreise nach Sandoval eingravieren ließen. Die Münze wurde auf Hochglanz poliert.

Man erzählte sich, dass nie glücklichere Menschen an Bord einer KLM-Maschine von Südamerika nach Europa geflogen waren.

Und diese teure, großartige Zweieuromünze landete dann doch noch im Trevi-Brunnen in Rom. Roma auf Italienisch. Von rechts nach links gelesen auf Spanisch: Amor.

Amazonas in den Voralpen

*

Die Schafe mit ihren Bimmelglöcklein um den Hals rupfen das Gras in der Wiese vor dem Waldrand ab. Der Föhn, der am Vormittag noch die Sonne entwölkt hat, ist zusammengebrochen. Die letzte warme Luft streift mich. Langsam wird es kühler, wohltuend kühl. Bald wird es regnen.

Der Wind weht mir gute Walddüfte in die Nase, Waldluft mit Seeluft vermischt. Die grün gesättigten Laubbäume bilden eine herrliche Kulisse. Wie eine Wand verbergen sie die Geheimnisse des Waldesinnern. Meine Gedanken und Emotionen spielen verrückt, die Erinnerung springt in die Gegenwart. So stand ich vor ein paar Jahren noch im Amazonastiefland auf einer gerodeten Fläche oder saß im Einbaum auf einem Flussarm und starrte in den Dschungel, der sich um mich ausbreitete. Der Urwald versteckt sich hinter seiner Eingangsfassade, denn drinnen modert ein tiefer starker Schmerz, der nicht entschlüsselt werden darf, sonst ist der tropische Wald endgültig verloren.

Lerchen, Drosseln, Meisen und Buchfinken trillern um die Wette, vereinigen sich mit dem Zirpen der Grillen und Heuschrecken. Ähnlich wie im tropischen Regenwald sind hier im gemäßigten Klima die Waldränder dichter als das Interieur. Im Urwald muss man sich also nicht überall Meter um Meter mit der Machete vorwärtsschlagen, wie in Abenteuerfilmen behauptet wird. Die vielfach großen und starken Bäume der Waldränder behüten sozusagen das Geheimnis in allen Tropen- und Regenwaldzonen der Welt. Grüne Hölle – oder besser grüne Lunge!

Buchen, Föhren, Tannen, Ulmen und Eschen besetzen den Eingang am Hummelzonas. An der Lagune Sandoval in Madre Dios, Perú, sind es Palmen, Mandel-, Kapoka- und Kastanienbäume.

Die Schafe fressen ohne Pause, verschieben sich in eine Richtung, kehren zurück. Aber immer bleiben sie zusammen. Die Wölfe sind weit weg in einer anderen Region und der Bär hat sich eben im Bündnerland die Schnauze mit Bienenhonig versüßt und verklebt.

Der Jaguar lauert einsam im Unterholz nahe an einer Tränke, wo sich der Tapir suhlt und den Durst löscht. Die Pranken der Großkatze hauen sich in das zentimeterdicke Leder des Rückens, die Reißzähne bohren sich in den Nacken. Gemeinsam tauchen die beiden Tiere in das undurchsichtige Schlammwasser des Amazonas. Und was ist denn das? Ein paar Meter weiter unten wuchtet sich das Schabrackentier, blutig, zerrissen, aus dem Wasser und bricht ins Unterholz in den Dschungel. Und der König dieses Dschungels, der Jaguar? Er erscheint nicht mehr, bleibt verschwunden.

Monate später findet man in Jona neben Schafen mit durchgebissenen Kehlen und herausgerissenen Eingeweiden tassengroße Prankenabdrücke in der aufgeweichten Erde nahe des kleinen Wasserlaufs. Ein Biologe aus dem Zürcher Zoo weist sie eindeutig als Pfotenabdrücke des Jaguars aus.

Gleichzeitig liest man in der Tageszeitung „Comercio“ in Lima, dass in der Nähe von Iquitos in der Region Loreto fünf Wölfe mit dichtem Fell einen verwundeten Tapir angegriffen und ihn anschließend verzehrt haben. Nur die lederartige Haut und ein paar Knochen überließen sie den Urubus, den Aasgeiern am Amazonas.

Die Globalisierung hält auch im Tierreich Einzug.

Arroz con pollo1 im Knast

1 Reis mit Huhn

*

Der gigantische Bau mit Stacheldrahtverhauen in der Wüsteneinöde stand vor uns und wir mussten Ja oder Nein sagen. Ja dazu, ob wir eintreten wollten oder nein, umkehren und uns aus dem Staub machen.

Wir, eine Kollegin und ein Kollege vom Colegio Pestalozzi in Lima und ich, angestellt an dieser Schweizer Schule, wollten die Tochter eines Arbeiters im Penal2 in San Juan de Lurigancho besuchen. Die Tochter des Arbeiters wurde beschuldigt, mit dem Leuchtenden Pfad zu fraternisieren, respektive sorellisieren. Es war in der dunklen Zeit, als Perú heimgesucht wurde von der Terrororganisation „Sendero Luminoso“, dem Leuchtenden Pfad.

2 Gefängnis

Eine Woche vorher: Wir informierten den Direktor von unserer Absicht. Er saß da gerade an seinem mächtigen Tisch, zufrieden, ruhig und voller Vorfreude auf das bevorstehende lange Wochenende. Nach unserer Mitteilung sprang er von seinem Stuhl auf wie von einer Shushupe3 gebissen, machte mit den Fingern ein nicht zweideutiges Zeichen an der Stirn und fragte uns, ob wir besoffen seien oder nach so kurzer Zeit in Lima schon von Kokaindealern kontaktiert worden waren. Schließlich willigte er dennoch ein, mit unserer Zusage, dass wir bei einem Zwischenfall nicht auf seine Hilfe zählen durften und er uns nicht kannte. Das war natürlich gelogen. Er hätte uns nie im Stich gelassen, aber wir wollten unsere Überzeugung nicht herausfordern und sie uns beweisen lassen.

3 Giftschlange in den Regenwäldern von Südamerika

Man hörte und hört allerhand über die peruanischen Gefängnisse. Diese waren und sind in keiner Art und Weise mit den „Filialen von staatlich bezahlten Hotels“ zu vergleichen, wie ein älterer Reisender vor Kurzem im Schweizer Club die Haftanstalten in der Schweiz beurteilte. Die Penales in Perú sind nicht gerade Erholungszentren und niemand geht da freiwillig hinein, außer Familienmitglieder, die ihren Angehörigen etwas zu essen bringen und mit ihnen beraten, wie man die Haftstrafe verkürzen kann, um von diesem apokalyptisch anmutenden Aufenthalt befreit zu werden.

Ein Taxi fuhr uns hin und da standen wir nun. Drei Gringos, noch nicht lange in Perú, fühlten sich auserkoren und beordert, in die Gefangenenhöhle der politischen Häftlinge zu marschieren, Gerechtigkeit walten zu lassen und Trost zu spenden.

Nach diversen Kontrollen durch die Wächterpolizei Carnet de Extranjería4, Gürtel und Schuhbändel abgeben, Rucksackkontrolle – ein Kuchen wurde uns augenzwinkernd weggenommen – und Hinterlassen der Fingerabdrücke mit Tinte passierten wir endlich das Eisentor und fanden uns im Block der gemeinen Häftlinge. Wir schauten links und rechts in eine dunkle vertiefte Galerie und gewahrten schlimme Bilder. Da hockten Männer mit Bärten, hager, ja ausgemergelt, die hielten eine Tasse, eine Zigarette in der Hand, brummelten vor sich hin oder schielten dreist oder scheu zu uns hinauf, oder sie spien anzügliche Sprüche an unsere Begleiterin hinaus. Gestalten wie aus einem römischen Gefangenenlager in einem Hollywoodfilm, wo die Unterschiede zwischen Gut und Böse besonders gemein und hartnäckig dargestellt werden. Wir wollten und konnten uns nicht weiter mit dieser Herausforderung auseinandersetzen, gingen zügig vorwärts und näherten uns einem geschlossenen Pavillon, der richtig einladend wirkte, sodass wir uns ansahen und fragten, was das denn in einem peruanischen Gefängnis sollte.

4 Ausweis für Ausländer in Perú

Auf der Türe stand: Penal de presos políticos, mujeres. Gefängnis für politische Gefangene, Frauen.

Und drinnen empfing uns nicht die Stille und die Aufgeräumtheit eines Benediktinerklosters, aber doch der total andere Pol zum Gefängnis der gemeinen Räuber und Mörder. Die Wände strahlten wider vom hellen Täfer ähnlich dem weißen Tannenholz aus Nordeuropa. Türe an Türe lag im geräumigen Gang. Einzelne standen offen und wir gewahrten Familienidyllen in den Zimmern. Muntere Gespräche, unterbrochen durch fröhliche Lachsalven, deuteten auf ein Ambiente im friedlichen Zusammensein hin. Dieses Hochsicherheitsgefängnis für politische Häftlinge erschien uns als Gemeinschaftshaus mit hellen Zimmern. Keine dunklen Zellen mit Gittern. Die Familien und Freunde nutzten den Sonntag, um den inhaftierten Frauen Esswaren und Zigaretten mitzubringen. Vor allem das Huhn, pollo a la brasa, also gebratenes Hühnchen, oder gesotten mit Reis, arroz con pollo genannt, durfte auch hier nicht fehlen. Dazu gehörte selbstverständlich das gelbe Süßgetränk, das Inca Kola. Wie zu Hause in den Häusern der Reichen und Armen in Perú üblich! Das Gefängnisessen war im Gegensatz zu den Wohngelegenheiten der Frauen unterirdisch, eben Fraß vom Knast und darum wurden die Gefangenen, die regen Besuch mit Fressalien erhielten, beneidet von den anderen. Mit den Wärterinnen wurden auch geheime Abmachungen und Tauschgeschäfte getroffen – die hin und wieder gar nicht immer so versteckt abliefen – damit beide, Insassin und Gefängnispersonal, auf ihre Kosten kamen. Mit einem von der Familie geschenkten Kuchen wurde so manche Wärterin willens, ihrer Tochter das Gefängnisleben kurzweiliger zu gestalten, um zuweilen beide Augen zuzudrücken, wenn die Penalregeln locker interpretiert wurden.

Die Türe zum Zimmer Nummer 34 war geschlossen. Hier würden wir die Tochter von Emilio finden. Wir klopften. Die Türe öffnete sich. Wir wurden mit einem strahlenden Lächeln empfangen und aufgefordert, einzutreten. Um einen Tisch waren Frauen, Männer und Kinder versammelt und diskutierten eifrig miteinander. Auf einer Couch saßen zwei junge Frauen. Eine hielt die andere umarmt. Diese weinte. Da standen wir drei nun, mit Taschen voll Kulinarischem und wussten nicht, wie und was tun. Die Türöffnerin, ein hübsches Mädchen mit blitzenden Zähnen und dunklen, großen Augen, bat uns näherzutreten und fragte uns, wen wir besuchen wollten. Sie selber stellte sich als Mariana vor, Gefangene des korrupten kapitalistischen Präsidenten und seiner Konsorten. Aber ihr Präsident sei Gonzalo Guzmán, der aufräumen werde mit dem ganzen Feudalismus! Viva el presidente!!!!

Wir staunten und fragten nach Cecilia. Sie wies mit der Hand zur Couch. Unbeholfen bewegten wir uns dahin und warteten, bis von uns Notiz genommen wurde. Die Trösterin bemerkte uns. Sie erhob sich, nicht ohne vorher ihrem Schützling über die Schultern zu streichen.

„Ist sie Cecilia?“ Sie bejahte stumm und neigte sich zu ihr. Diese trocknete die Tränen, schaute zu uns auf und erhob sich, ohne die geringste Ahnung, wer wir waren.

Cecilia versuchte zu lächeln. Scheu streckte sie uns die Hand entgegen.

„Hola Cecilia. Wir kennen deinen Vater. Wir sind Lehrer am Pestalozzi und er hat uns von dir erzählt …“

„Ah, ja, mein Papa. Ich mache ihm so viele Sorgen. Und meiner Mama und überhaupt …“ Sie brach wieder in Tränen aus. Aber sie beruhigte sich bald und erzählte, warum sie hier war. Die Polizei hatte sie in Pisco bei einem Protestmarsch für die Fischer festgenommen, weil sie einen Lenguado5 an einer roten Sichel in der einen und einen roten Hammer in der anderen Hand schwingend im Zug mitgelaufen war und dazu gerufen hatte: „Viva el presidente Gonzalo!!!“

5 Seezunge

Wir fragten sie, wo wir ungestört sprechen konnten. Sie antwortete mit einer hilflosen Geste und sagte: „Debo ir. Debo prepararme. Ich muss gehen, mich vorbereiten.“ Vorbereiten wofür? Zur Parade. Wir sollten in einer halben Stunde auch hinunter zum Platz kommen. Mit einem traurigen Lächeln verabschiedete sie sich, und weg war sie. Auch der Tisch war jetzt verlassen. Die Türöffnerin und die Trösterin waren verschwunden. Was hatte das alles zu bedeuten?

Wieder standen wir da. Zwischen den Taschen, die wir noch nicht an Cecilia weitergegeben hatten, schauten wir uns an und verstanden vom Ganzen so viel wie der Toggenburger von der Großstadt. Hilflos und unsicher dachten wir daran, vom Gefängnis aufzubrechen, als uns eine forsche Frauenstimme aufforderte, aus dem Zimmer zu gehen und uns in den Patio, den Innenhof des Gefängnisses, zu begeben. Wir sollten uns zu den anderen Besuchern gesellen. Als gehorsame Schweizer fassten wir die Taschen und folgten der Frau, die uns auf den Platz führte, wo schon ein rechtes Völklein versammelt war. Die Vordersten hatten auf Stühlen und Bänken Platz genommen und warteten scheinbar auf irgendein Spektakel.

Ein paar Frauen verkauften Inca Kola und Sublime-Schokoladen. Einige Männer riefen nach Bier und erhielten zur Antwort, dass sie das Cristal bald in anderer Form zu schmecken bekämen.

Plötzlich wurde es still. Eine Gefangene in roter Bluse und schwarzen Hosen trat aus einem Ausgang auf den Platz, in den Händen eine große rote Fahne mit Sichel und Hammer. Sie schritt hoch erhobenen Hauptes, stolz, die Anwesenden keines Blickes würdigend, stramm auf dem Platz nach vorne, die Fahne neben ihren rechten Fuß senkend. Dahinter folgte eine zweite Frau, die ich als die freundliche Pförtnerin von Cecilias Zimmer ausmachte. Rassig, hübsch, das Gesicht, die Lippen geschminkt, mit herrischem Blick trug sie ein Plakat mit der Aufschrift: Viva el presidente Gonzalo! Sie stellte sich hinter die Fahnenträgerin.

Las mujeres de Gonzalo. Die Frauen von Gonzalo.

Gemeint war der Präsident von Sendero Luminoso, des Leuchtenden Pfades, Guerillaorganisation von Perú.

Und nun ging es los! In Viererreihen stürmten die gefangenen Sendero-Frauen auf den Platz, rot-schwarz gekleidet, hübsch geschminkt, mit funkelnden Zähnen, den feurigen Blick geradeaus gerichtet. In einer offensichtlich gut und intensiv geübten Präsentation hielten sie ihre Gewehre aus Holz fest in den Händen, alle gleich ausgerichtet. Begleitet wurden sie von der „Internationalen“, der Kampfmusik der Kommunisten aller Welt. Alle nahmen ihre Plätze ein. Geordnet wie eine Abteilung einer kampferprobten Elitearmee. Bewegten sich nicht mehr. Grimmiger Blick in die Leere. Die Musik verstummte. Auf ein unsichtbares Kommando schrien alle Frauen. Gleichzeitig streckten sie ihre hölzernen Waffen gen Himmel. „Viva el presidente Gonzalo, viva el pueblo, viva el Perú! Viva!!“

Hilde, Markus und ich hielten den Atem an. Da explodierten Autobomben in Lima, wurden Hochspannungsmasten in die Luft gesprengt, die männliche Bevölkerung von Andendörfern gelyncht oder für Sendero rekrutiert und mitgeschleppt, Brücken in die Luft gesprengt, wurde in ganz Perú Schrecken verbreitet und die Armee und die Polizei waren Tag und Nacht in Alarmbereitschaft: Aber hier wurde gleichzeitig im Hochsicherheitsgefängnis in San Juan de Lurigancho Propaganda für eben diesen Leuchtenden Pfad erlaubt und den Besuchern als Spektakel vorgeführt.

Die Aktion dauerte etwa fünfzehn Minuten und bestand aus Waffendrill mit Holzscheit im rhythmischen Gleichschritt und seltsamen Körperverdrehungen, die mit Schlachtrufen gegen das Establishment und die Regierung, das Militär und die Polizei untermauert wurden.

Eine halbe Stunde später standen wir wieder im „Zimmer von Cecilia“ und warteten auf sie mit den zwei gerupften Hühnern, Reis und Früchten. Letztere waren übrigens in der Eingangskontrolle mit Messerstichen auf eventuelles Metall im Fruchtfleisch getestet und teilweise zerstört worden. Cecilia und die anderen Mädchen tauchten auf. Letztere zwitscherten fröhlich, suchten das Gespräch mit uns und in der rot-schwarzen Verkleidung lachten sie und gaben das Bild einer Zirkustruppe ab, die soeben von der gelungenen Vorstellung befreit zurückkamen.

Nur Cecilia nicht. Sie setzte sich stumm auf die Couch und suchte krampfhaft die Tränen zu unterdrücken. Wir gingen zu ihr, versuchten ein Gespräch anzufangen, sie aufzuheitern. Aber eben, im Gefängnis eine Gefangene glücklich zu stimmen: Geht denn das, ist das nicht absurd? Ist es nicht unehrlich? Man geht ja zurück in die Freiheit, lässt sie zurück. Allein in ihrer Not. Obwohl die jungen Frauen hier mehr Rechte hatten als die Kriminellen, waren sie doch Gefangene.

Wenn wir die anderen Frauen beobachteten, waren die allerdings aus sich heraus fröhlich. Oder rührte das daher, dass Kokain im Blut war? Wir fanden es nicht heraus, fragten auch nicht. Auf jeden Fall übergaben wir die Fressalien.

Als wir uns schon verabschiedet hatten von den glucksenden und heiteren Mädchen, die uns Kusshände zuwarfen und darauf bestanden, dass wir wieder kommen sollten, und von Cecilia, die uns nur unendlich traurig anschaute und den Kopf schüttelte, als wir schon unter der Türe standen, stürzte diese auf uns zu, umarmte uns und flüsterte:

„En Miraflores. Tengan cuidado!6 Sendero …!“

6 Seid vorsichtig in Miraflores

Dann wandte sie sich abrupt ab und drängte an uns vorbei hinaus. Wie wir später erfuhren, war „Cecilias Zimmer“ ein Gemeinschaftsraum. Sie ging zurück in ihre Zelle, die sie mit anderen teilte und das war dann Knast.

Eine Woche später tötete eine Bombe viele Menschen und zerstörte Gebäude in einem gediegenen Geschäfts- und Wohnviertel in Miraflores.