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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Vorwort

Odyssee der Angst

Geradewegs in den Abgrund der Hölle

Das „friedliche“ Zeichen des Himmels

Ich mal dir einen Regenbogen

Als der Hass zu lieben begann

Leben in einer anderen Welt

Vom Bettnässer zum Schachspieler

Gelegenheit macht Kinder

Der grüne Funken Hoffnung

Der plötzliche Tod des Vaters

Der unbekannte Onkel

Heimatlose Vagabunden

Die Rebellion des Andersdenkens

Freundschaft via Autobus

Abschied

Fliegen müsste man können

Raus hier! Aber schnell!

Willkommen im Leben

Um- und Aufbruch in eine neue Zeit

Ohne Wendehälse keine Wende

Wien ist anders

Dank an das Unerklärliche

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2016 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-522-4

ISBN e-book: 978-3-99048-523-1

Umschlaggestaltung: Grafikstudio Andrea Reynolds, www.andreareynolds.at

Umschlagfoto: istockphoto.com | imgorthand

Layout & Satz: novum Verlag

www.novumverlag.com

Vorwort

„Dass es mir schlecht ging, heißt nicht, dass ich schlecht bin.

Dass ich Hilfe suche, heißt nicht, dass ich schwach bin.

Dass ich Fehler mache, heißt nicht, dass ich dumm bin.

Dass ich Liebe fühle, heißt nicht, dass ich krank bin.

ICH BIN!

Was immer das heißt.“

*

Odyssee der Angst

‚MAMA! Wo bist du? Hilf mir! Wohin bringen die mich? Ich werde sterben! Ich hab so große Angst!‘

*

Das Jahr 1971 zählte erst wenige Monate. Lea, ein zartes, verängstigtes Kind von fünf Jahren, befand sich im Kindergarten, als es geschah. Sie stammte aus verwahrlostem Hause und war Kummer gewöhnt. Doch was heute passieren sollte, übertraf alle ihre Befürchtungen.

Die friedliche Ruhe der Mittagspause täuschte. Alle Kinder hatten bereits gegessen, ruhten auf den ungemütlich harten Liegen im gemeinschaftlichen Schlafraum. Keiner gab einen Laut von sich. Durch die geschlossenen Fenster, welche in Richtung Spielgelände des Kindergartens zeigten, vernahmen sie das zarte Frühlingslied der ersten Singvögel. Es schien überall im Geäst der noch kahlen Bäume zu stecken, um diese aus ihrem Winterschlaf zu wecken. Wie sehr es sich doch von dem ganzjährigen, frechen Zwitschern der Spatzen unterschied.

Etwas war heute anders als sonst. Lea spürte eine innere Unruhe, die sie sich aber nicht erklären konnte. Nebenan, im Büro der Leiterin, wurde leise, aber aufgeregt diskutiert. Irgendwelche Fremden mussten gekommen sein. Manche Stimmen kannte das Mädchen nicht. Zu Hause waren auch oft Fremde, vor denen sie Angst hatte. Es wurde gefeiert, getrunken, geraucht und laut über Witze gelacht, die das Kind abscheulich fand. Sooft sie an solche Szenen dachte, schmeckte sie auch den abscheulichen Gestank nach Bier und Zigaretten in ihrer Nase. Mutter hatte immer einen Grund zum Feiern. Für ihre abartigen Freunde kam sie auf die irrsinnigsten Ideen und ließ die Puppen tanzen – ihre eigenen Töchter! Aber dazu später mehr.

Im Kindergarten war Lea sicher und fühlte sich geborgen. Alles war sauber, es gab immer eine Mahlzeit, sie konnte malen, spielen, träumen. Alle waren so nett zu ihr! Hier war sie wirklich gern.

Tante Hilde – eine zierliche Frau mittleren Alters und Leas Lieblingserzieherin – schien das Kind besonders zu mögen. Lag das vielleicht an ihren äußeren Ähnlichkeiten? Beide hatten braunes, glattes Haar. Die Frau trug es kurz, das Mädchen etwa schulterlang. Sie waren von kleiner, schlanker, ja fast zerbrechlicher Gestalt, liebten ähnliche Düfte und fanden sich auch in ihrem warmherzig-mitfühlenden, höflichen und sehr hilfsbereiten Wesen. Auf der geistigen Ebene wurden mit der Zeit viele Parallelen erkennbar. Lea blühte auf, wenn Tante Hilde Geschichten erzählte. Sie lachten, sangen, tanzten ungezwungen frei und ergänzten sich wie in einem geheimnisvollen Selbstlauf.

Auffallend bei Lea war ihre angeborene Linkshändigkeit, ihre zurückhaltende Stille, eine ausgeprägte Geruchsempfindlichkeit sowie hartnäckige Beständigkeit in ihrem Tun. Was sie einmal begonnen hatte, wollte sie unbedingt zu Ende bringen! Sonst wurde sie unzufrieden, ärgerte sich, wagte es aber nicht, über ihren Unmut zu sprechen. Zu groß war die Angst vor Strafe oder Ablehnung.

An besagtem schicksalhaften Tag kam diese Erzieherin in den Schlafraum, direkt zu ihr und flüsterte, sie möge sich anziehen und mit hinauskommen. Sie brauche keine Angst zu haben. Ein Polizist sei da und hätte nur ein paar Fragen an sie. „Tante Hilde?“, stammelte die erschrockene Kleine, der die Angst natürlich bis in den Nacken fuhr, was sie frösteln ließ. „Liest du uns nachher wieder eine Geschichte vor? Das ist immer so schön. Ich kann mir alles wünschen, was ich will, Und wenn ich die Augen schließe, dann kann ich es sehen.“

Lea liebte es, in die fantastische Welt der Vorstellung zu reisen und für diesen Moment den Kummer in ihrer wahren Umgebung zu vergessen. Heute jedoch wusste sie instinktiv, dass es keine Geschichte mehr für sie geben würde. Panik machte sich breit.

Sie überlegte krampfhaft, was sie ausgefressen haben könnte, befolgte aber verängstigt die Anweisungen der Erzieherin.

„Nein, Lea“, sagte Tante Hilde. „Nicht die Hausschuhe! Zieh bitte deine Straßenschuhe an! Du musst auch nach draußen gehen.“

Nun war es mit Leas zwanghafter Ruhe endgültig vorbei! Verzweifelte Tränen quollen aus den erschrockenen Kinderaugen. „Ich muss mal!“, rief sie leise und rannte aufs WC. In ihrem kindlich unbeholfenen Denken war das sicher der einzige Ort, von dem man sie nicht holen würde. Wenn sie sich dort ganz still verhielt, vergaßen die Fremden vielleicht, weshalb sie gekommen waren.

‚Wenn ich doch nur wüsste, warum die da sind und was sie ausgerechnet von mir wollen. Ich hab doch nichts gemacht!‘, dachte das Kind, während es in der Hocke auf dem WC-Sitz kauerte, damit man von außen ja ihre Füße nicht sah. Fieberhaft dachte sie über die Geschehnisse nach.

‚Tante Hilde hat auch so komisch geschaut. Ob sie sie beleidigt haben, als vorhin gesprochen wurde? Ich glaube, sie hat geweint.‘

Lea wurde jäh aus dem Grübeln gerissen, als jede WC-Tür sanft geöffnet wurde. Sie wehrte sich nicht. Tante Hilde nahm sie in die Arme, trug die Kleine in den Garderobenraum und half ihr beim Ankleiden.

„Du, Tante Hilde? Warum muss ich eigentlich immer ‚Tante‘ zu dir sagen? Mama hat gesagt, ich hab gar keine Tante. Nur einen blöden Onkel. Sie kann ihn nicht leiden. Der wohnt aber so weit weg, dass wir ihn nicht besuchen können. Ich habe ihn noch nie gesehen. Das finde ich schade. Weißt du, wann meine Mama heute kommt, um mich abzuholen?“

Lea versuchte, die Erzieherin in die verschiedensten Gespräche zu verwickeln, um ja so lange wie möglich bei ihr bleiben zu können. Die starke Verunsicherung des Kindes äußerte sich im weinerlichen Ton ihrer Stimme. Sie erhielt keine Antwort und wusste auf einmal, dass sie heute auch nicht nach Hause kam! Zitternd vor Angst klammerte sie sich an die Frau, die das Kind hinaustrug. Zwei Beamte warteten an einem Auto der Volkspolizei auf den kleinen Passagier und einen Kollegen, der drinnen alle Formalitäten erledigte. Frau Hilde musste ihnen die Kleine übergeben, die sich nur schwer von ihr löste. Letztendlich wurde Lea in das Dienstfahrzeug gedrängt, rechts und links stiegen die Polizisten zu. Eine Fahrt nach nirgendwo begann.

Tausend Gedanken gingen dem Mädchen durch den Kopf. Um sich besser zu fühlen und die Angst nicht so mächtig werden zu lassen, machte sie in ihrer Vorstellung aus den anwesenden Beamten lustige Witzfiguren, die sie aus dem Fernsehen oder aus Bilderbüchern kannte. Doch das gelang ihr nur für kurze Augenblicke. Zu groß war das Entsetzen über die Geschehnisse.

‚Die zwei hier schauen aus wie Roboter. Wenn ich denen auf den Bauch klopfe, klingt das bestimmt wie eine leere Blechdose. Ob ich die auch etwas fragen kann? Lieber nicht. Das sind bestimmt keine echten Polizisten, sondern Verbrecher, die mich jetzt irgendwo umbringen werden! Ich hab ja nichts gemacht, also kann die Polizei auch nichts von mir wollen!‘

Noch nie war Lea bisher aus dem Ort gekommen, doch es interessierte sie nicht, wohin man mit ihr fuhr. Wie versteinert saß sie da, sprach kein Wort und hatte mit ihrem Leben abgeschlossen! Innerlich aber überschlugen sich die Gedanken. Ihr schien, als seien sie seit Stunden unterwegs. Das Auto wollte einfach nicht mehr anhalten. Sicher waren sie schon Hunderte Kilometer weit weg von zu Hause! Ein Gefühl für Entfernungen hatte Lea nicht. Ein Auto besaßen die wenigsten. Wer etwas in der Stadt zu erledigen hatte, fuhr mit dem Bus. Nur Lea nicht! Wahrscheinlich war sie für die große, weite Welt noch viel zu klein. In dem Dorf, wo jeder jeden kannte, drohte sie zu ersticken. Doch heute wünschte sie sich, nur geträumt zu haben, gleich aufzuwachen, und alles war wie immer.

‚Ob ich heute Nacht zum Schlafen in ein Bett gelegt werde? Wo wird das sein? Vielleicht bin ich ja dann schon tot und brauche keines mehr. Was wird Mama sagen, wenn sie mich abholen will und ich bin nicht mehr da?‘

Lea Müller liebte ihre Mutter Gerlinde Müller bedingungslos. Man konnte nicht sagen, warum, denn ihr junges Leben bestand aus einem Martyrium von Schmutz, Gewalt, Hunger, Angst und immer wiederkehrender Demütigung, die ihre Mutter als „Gegenliebe“ für das Kind hatte. Das „dirnenhafte“ Erscheinungsbild von Gerlinde ließ auf schlechte Körperpflege schließen. Die etwas mollige Figur steckte oft in viel zu enger Kleidung. Hervorquellende Rundungen, einschneidender Stoff an den deutlich erkennbaren Speckringen einer Frau, die im Grunde nicht übermäßig dick war, gaben ihr das Antlitz der Zügellosen auf Freiersuche.

Ihre Haut wirkte gelblich grau und war meist überzogen von einem fettigen, unsauber glänzenden Talgfilm. Manchmal, wenn sie in die Stadt musste, schminkte sie sich auffällig. Dennoch blieb ihr Gesicht ausdruckslos kalt und zeigte keinerlei Freude, Mitgefühl oder gar Begeisterung für das Leben, das sie umgab. Im Bewegungsablauf wirkte sie oft fahrig, unterstrich ihre tief verwurzelte Unruhe mit dem nervösen, energisch-zornigen Griff nach der Zigarette. Gierig schnell sog sie an dem stinkenden Giftgemisch, während der eisige, feindselige Blick ihrer graublauen, halb zugekniffenen Augen unaufhörlich die Umgebung zu durchsuchen schien, welche sie meist überhastet eilig durchrannte. Ihr kurzes, dauergewelltes Haar kämmte sie streng nach hinten. Es war strähnig, ungepflegt und roch schlecht. Die ganze Frau roch schlecht!

Lea kannte ihre Mutter nur mit stinkender Zigarette zwischen den Zähnen. Diese waren schon ganz gelb und faulig davon. Auch zwischen Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand waren deutliche, gelbe Druckstellen sichtbar, die jedermann erzählten, was sich dort am häufigsten befand. Das Kind war angewidert von der eigenen Mutter und manchmal sogar dafür dankbar, von ihr nicht geliebt zu werden! Womöglich hätte diese sie dann öfter geküsst, als sie es (gewöhnlich nie!) tat! Aus purem Ekel zog das Mädchen es vor, lieber von der Mutter geschlagen zu werden! Manchmal prügelte die Frau ohne erkennbaren Grund auf das Kind ein, beschimpfte es ohne Unterlass, bis sie einen Augenblick später unvermittelt verschwand. Ihre Tochter ließ sie dann einfach liegen, wo sie lag.

Dennoch liebte Lea ihre Mutter. Tief in ihrem Inneren war sie überzeugt, kein Mensch auf dieser Welt wurde mit Hass geboren! Es musste Schlimmes mit ihr geschehen sein, dass sie nicht lieben konnte.

Lea hatte oft große Angst davor, eines Morgens aufzuwachen und Mutter war nicht mehr da! Wie würde es dann nur weitergehen? Es gab schon einige Abende, an denen sie vergeblich darauf wartete, dass Mutter von der „Arbeit“ nach Hause kam. Mitunter wurde es dabei so spät, dass Lea es nicht mehr bemerken konnte und voller Ungewissheit in angstvolle Träume versank.

Jetzt aber sah es genau umgekehrt aus! Die Mutter würde kommen, um ihr Kind abzuholen, und es war nicht mehr da!

Tief gedankenverloren vor sich hin starrend, waren Lea die vielen Häuser gar nicht aufgefallen, die da überall standen, als der Pkw hielt und sie an fremde Menschen in weißer Kleidung übergeben wurde. Das Auto fuhr ohne sie weiter. Was für eine Erleichterung!

‚Puh, geschafft! Ich lebe noch, aber was ist los? Wo bin ich? …‘

„Ist das ein Krankenhaus? Bin ich krank?“, fragte Lea den lustigen jungen Doktor, der dauernd scherzte und lachte. „Nein, Mädchen, wir wollen dich nur mal wieder waschen!“, lachte er laut, erntete aber sehr tadelnde Blicke seiner Kollegin, die dem Kind pausenlos den Kopf streichelte und mit Leas Haar zu spielen schien.

„Du bist nur zur Sicherheit da“, fuhr der Mann nun mit ernsterer Miene fort. „Wir werden dich gründlich untersuchen, und wenn du gesund bist, ist alles in Ordnung.“

„Darf ich dann nach Hause? Weiß meine Mama, dass ich hier bin? Wann kommt sie mich abholen?“

„Keine Ahnung“, sagte der Doktor und nahm Hilfe suchend Blickkontakt zu seiner Kollegin auf.

„Das wirst du sicher morgen erfahren“, erklärte diese dem zutiefst verunsicherten Kind.

„Schauen wir uns doch erst einmal dein Zimmer an, wo schon andere Kinder und ein Bett auf dich warten.“

‚Ich werde heute Nacht also doch in einem Bett schlafen …‘, dachte Lea schwer traumatisiert von den Erlebnissen des Tages.

Inzwischen standen sie in einem hellen Zimmer, in dem es drei nebeneinanderstehende Betten gab, die jeweils am Kopf- und Fußende ein nicht sehr hohes, weißes Metallgitter hatten. Das Bett in der Mitte war leer. In den anderen beiden saßen zwei Kinder, von denen eines dem Neuankömmling zur Begrüßung lächelnd zuwinkte. Neben den Betten stand je ein kleiner Container aus Blech mit zwei schmalen Schubladen. Schränke schien es keine zu geben. Die Wände waren circa bis zur Hälfte mit einer hässlich glänzenden, hellgrünen Farbe versehen. Eigentlich mochte Lea die Farbe Grün. Aber hier sah es fast aus wie in einem Waschraum. Das riesige Fenster hatte keine Vorhänge, sondern nur ein Rollo, das schief am oberen Rahmen hing. Die Fensterscheiben waren – wiederum bis zur Hälfte – milchig weiß bestrichen, damit man nicht durchschauen konnte. Direkt davor stand ein kleiner, quadratischer Tisch mit drei winzigen bunten Holzstühlen.

‚Wo haben die nur ihre Sachen? Nirgendwo sind Schränke. Vielleicht waren die ja so wie ich hierhergekommen. Ich habe ja jetzt auch keine Sachen mehr‘, überlegte Lea, als sie unschlüssig vor ihrem vermeintlichen Bett stand. Die beiden anderen Mädchen standen auf, setzten sich zum Tisch und unterhielten sich. Die eine hatte eine wunderschöne Puppe mit seidigem langen Haar und zeigte der anderen daran, wie man einen Zopf flocht. Lea hätte jetzt auch gern eine Puppe oder ein Schmusetier gehabt. Bis jetzt war sie immer wenig begeistert von Puppenkram, Puppenwagen, Puppenstuben und den komisch übertriebenen Mama-Kind-Spielen im Kindergarten. Meist sonderte sie sich dann von den anderen ab, blätterte lieber endlos lange in Bilderbüchern oder lauschte verträumt den Geschichten, die ihre Tante Hilde manchmal vorlas.

Aber jetzt sehnte sie sich nach alldem. Nach jemandem, der ihr Freund sein wollte. An den sie sich kuscheln und dem sie ihre Ängste anvertrauen konnte. Sie fühlte sich schrecklich allein und wünschte sich so sehr nur ein kleines bisschen vertraute Nähe, Sicherheit, Geborgenheit.

Eine Krankenschwester kam herein. Sie erzählte, dass sie beide jetzt gemeinsam einen kleinen Rundgang machen würden, damit Lea wusste, wie es auf der Station aussah. „Frau Doktor, sag mir doch bitte, wie lange soll ich denn hierbleiben? Was habe ich denn, dass ich nicht nach Hause darf? Ich verstehe das alles nicht!“

„Das werden wir schon herausfinden, Lea. Deshalb bist du ja hier. Schau dich einfach um, und fühl dich wohl. Du bist hier vollkommen sicher und nichts wird dir geschehen!“ Jetzt bekam die kleine Patientin auch ein Nachthemd. Ein komisches Ding, das ihr viel zu groß war, aber egal. Hauptsache, sie durfte endlich in ihr Bett und sich verkriechen. Lea hatte keine Lust darauf, sich die Station anzusehen. Sie wollte endlich in Ruhe gelassen werden und die furchtbaren Eindrücke des Tages zu verstehen versuchen. Sie schien, ohne schützenden Halt, von einem riesigen Meer aus Angst verschlungen zu werden. Voll mit verwirrter Traurigkeit, stieg sie in ihr Bett, verkroch sich unter der Decke und versuchte krampfhaft herauszubekommen, warum das heute eigentlich geschehen war. Natürlich fand die Fünfjährige keinerlei Erklärung. Alles, was sie wahrnahm, war völlige Verzweiflung. Plötzlich überfielen sie heftige Weinkrämpfe. Die Erde war ein schwarzes Ungeheuer und verschluckte sie mit Haut und Haar, ohne dass sie sich wehren konnte.

‚Keiner sucht oder fragt nach mir! Alle hier sind fremd! Ich will nach Hause! Mir ist doch egal, ob Mama wieder wütend auf mich ist, weil ich die ganze Zeit weg war!‘, schluchzte sie leise vor sich hin.

Jemand zog an der Decke! Das Mädchen mit der Puppe war herübergekommen und schaute Lea mitleidig an. „Warum weinst du, und wie ist dein Name?“ Sie hatte warme, braune Augen und war – wie Lea – von kleiner, zarter Statur, mit mittelbraunem, halblangem Haar. Um die Nase herum sah man winzige Sommersprossen, die ihr einen aufgeweckt-fröhlichen Ausdruck ins Gesicht zauberten.

„Meine Puppe heißt Clara. Sie kann dich sehen! Du hast so schönes Haar wie sie. Ich bin Susanne!“

„Hallo Susanne. Hallo Clara. Deine Haare sind viel schöner als meine“, begann Lea mit der Puppe zu plaudern, und Susanne hörte aufmerksam zu. „Dein Haar ist so schön lang und glänzend wie das meiner Schwester.“

„Du hast eine Schwester? Ich auch!“, strahlte Susanne. „Sie ist um ein Jahr älter als ich.“

Leas Gesicht hellte sich plötzlich auf: „Was für ein Zufall! Meine Schwester ist auch ein Jahr älter als ich. Aber sie mag mich nicht! Sie ist auch viel hübscher und braver. Sie macht immer das, was Mama gefällt, und deshalb hat sie die Hanna viel lieber als mich. Bestimmt bin ich hierhergekommen, weil ich immer so schlimm war.“

„Aber wie kommst du denn auf so was? Das hier ist ein Krankenhaus, und alle sind nett! Also wie heißt du nun? Susanne vielleicht? Weil, das wär das Lustigste überhaupt! Meine Schwester heißt nämlich Hanna! Genauso wie deine Schwester.“

„Nein, ich bin die Lea! Du bist sehr lieb! Das ist schön.“ Leise flüsternd fügte sie hinzu: „Mir hat auch noch keiner gesagt, dass ich schönes Haar habe. Danke!“

Susanne ließ ihr hübsches Spielzeug noch eine Weile bei Lea, damit die beiden sich noch ein wenig ungestört unterhalten konnten. Diese kleine Episode zwischen den Kindern mag unwichtig und nebensächlich erscheinen. Für das eben noch extrem leidende Mädchen jedoch schien urplötzlich die Sonne. Es fühlte sich für diesen Moment nicht „unsichtbar“, wertlos. So eine liebe Person hatte Lea zuvor nie kennengelernt und freute sich darüber.

Susanne wurde abends immer mit einer grasgrünen Salbe eingerieben. Die Kinder wussten nicht, warum, aber es schaute lustig aus, und sie kicherten viel miteinander. Die beiden mochten sich auf Anhieb, und Lea wünschte sich insgeheim, eine solche Freundin zu haben.

An den Folgetagen wurde ihr Blut abgenommen, Haut, Haar, Körpergewicht untersucht. Man stellte Mangelerscheinungen fest, die aber unauffällig seien. Medikamente mussten nicht verabreicht werden. Nachdem man sie eingewiesen hatte, durfte sich Lea die frei zugänglichen Stellen der Station ansehen, denn sie war kerngesund. Alle waren überaus freundlich. Es ging der Kleinen noch nie so gut! Eigentlich gefiel es ihr hier. Aber wie war es zu verstehen, dass ihre Mutter nicht nach ihr suchte? Vielleicht hatte sie ihre Tochter längst vergessen. Doch es war wohl wahrscheinlicher, dass sie schon furchtbar böse auf die Unauffindbare sein musste.

Lea wusste nicht, wie lange sie nun schon da war. Eine Woche? Oder länger? Eines Tages erhielt sie Besuch von ihrer Mutter, die dafür sogar ein ordentlich passendes Kleid trug.

„Mama? Wie hast du mich gefunden? Bitte sei nicht wütend auf mich! Ich kann nichts dafür. Wirklich! Sie haben mich einfach mitgenommen!“

„Ist schon gut, Kind“, flüsterte die Frau dem Mädchen zu. Dabei beugte sie sich nah zu ihr hin. Der bekannte Geruch nach altem Körperschweiß und ungewaschenem Haar wurde von dem einer Deomarke begleitet, die Lea noch nicht kannte. „Hör mir jetzt genau zu!“, krochen zäh und widerlich stinkend einzelne Satzbrocken aus der nikotinvergifteten Mundhöhle in die Nase des geruchsempfindlichen Kindes.

„Morgen komme ich dich abholen. Aber ich warne dich! Sprich mit keinem darüber, sonst kommst du nie mehr nach Hause! Hast du mich verstanden? Auch nicht mit anderen Kindern, hörst du?“

Lea nickte nur stumm. Ihr war so übel! Panisch nahm sie wahr, wie übermäßig warm sich ihr Speichel im Mund anfühlte. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie sich bald übergeben musste! Wie schaffte sie es bloß, sich davon abzulenken?

‚Warum diese Geheimnistuerei? Wer kann mir nur sagen, was hier eigentlich los ist?‘

Leas Gedanken gerieten völlig durcheinander. Sie hatte sich so nach ihr gesehnt, aber jetzt, als Mutter bei ihr war, hätte sie am liebsten gewünscht, sie wäre nicht gekommen. Während der Zeit im Krankenhaus genoss Lea Ordnung und Sauberkeit von Mensch und Umgebung so sehr, dass die Erinnerungen an den ekelerregenden Schmutz zu Hause schnell verblasst waren. Umso mehr fiel er ihr jetzt an ihrer Mutter auf! Das Kind schämte sich dafür.

Erstaunlich, dass es die Frau schaffte, einmal nicht zu rauchen, denn auf der Station durfte sie das ja nicht. Doch vielleicht war das der Grund für ihre altgewohnt-übertriebene Eile.

Alle schlechten Gerüche von zu Hause waren wieder da!

Die Sterilität des Krankenhauses hatte den Schmutz vergessen gemacht, Leas tiefe Sehnsucht nach Sauberkeit gestillt, und sie fühlte sich hier wohl. Nun war sie total verwirrt über ihre schlechten Gedanken.

‚Mama! Bitte umarme mich nicht! Mich ekelt vor dir! Aber wie kann ich so denken? Ich hab dich doch so lieb, Mama! Was ist bloß los mit mir?‘

In der Nacht hatte das Kind dann einen schlimmen Albtraum und wachte schreiend auf. Diesen Traum kannte Lea schon. Er war immer wieder gleich. Hanna und sie spielten vor der Haustür des Nachbarn, bei einem marmorfarbenen Treppenaufgang. Unterhalb war ein schön gestrichener, weißer Metallzaun, der den gepflegten Vorgarten vom Grau der Straße trennte. Die reichlich blühenden Blumen und das satte Grün der schmalen Wiese bildeten einen starken Kontrast zur Umgebung. Selbst die spitzen Enden des Zaunes wirkten nicht bedrohlich. Lieblicher Duft üppiger Blütenpracht hing in der Luft. Vergnügt rutschten die Kinder am hölzernen Handlauf der Treppe hinunter, durften sich dabei aber nicht erwischen lassen. Man hatte es ihnen verboten. Vermutlich war es zu gefährlich. Wenn man nicht rechtzeitig absprang, landete man direkt auf dem spitzen Eisenzaun! Die Mädchen kümmerte das Verbot nicht. Die glatte Fläche aus Holz glänzte in der Sonne. Sie wurden immer übermütiger! Der Nervenkitzel, jeden Folgesprung minimal hinauszuzögern, war zu verlockend! Wer würde heute die Mutigere sein?

Hanna war wieder einmal besser als Lea, die sich sehr darüber ärgerte. Als die ältere Schwester gerade wieder zum Rutschen ansetzte, schrie ihr Lea ein böses Wort nach. Hanna schien zu überlegen, was sie entgegnen würde, und achtete eine Sekunde nicht auf ihren Absprung. Sie fiel mit dem Bauch auf die weißen Eisenstäbe, die sich durch ihren Körper hindurchbohrten und am Rücken blutrot wieder austraten. Hanna war tot!

An dieser Stelle des furchtbaren Traumes wachte Lea auf, weinte und schrie wie betäubt! Sofort kam das Stationspersonal, um nachzusehen, was los sei. Aus dem Schlaf gerissen, erzählte Susanne ihnen, was sie verstanden hatte. Lea erhielt ein Getränk und beruhigte sich bemerkenswert rasch. Die große Erleichterung, dass ja gar nichts passiert war, brachte eine so starke Müdigkeit zurück, dass Lea nicht einmal Angst vor dem Weiterschlafen und einer Fortsetzung dieses Traumes hatte. Das Getränk enthielt ein Beruhigungsmittel. Susanne erzählte es ihr später noch ausführlicher, denn die Kinder sollten sich in diesem Leben erneut begegnen. Damals hätte sie das Personal belauscht, das angeblich sehr beunruhigt über diesen Vorfall diskutierte. Die Begebenheit sei auf der Station noch eine Zeit im Gespräch geblieben, als Lea längst weg war.

Am Morgen nämlich wurde sie gleich nach dem Frühstück in ihre inzwischen gereinigte Straßenkleidung gesteckt. Sie würde heute aus dem Spital entlassen.

„Aber meine Mama ist doch noch gar nicht da! Es ist doch noch so früh!“

Sogleich klatschte sich Lea auf den Mund! ‚Mama hatte doch gesagt, dass ich nichts sagen darf …‘

Wie sich rasch herausstellte, sollte das Kind auch nicht nach Hause kommen. Wieder waren da unbekannte Leute, die mit Papieren hantierten, den Arzt über sie ausfragten und sie dann mitnahmen. Alles wiederholte sich. Die Reise ging weiter, und Lea wusste noch immer nicht, wohin eigentlich. Keiner sprach mit ihr auch nur ein Wort! Warum auch? Sie verstand ja sowieso nicht, was hier passierte. Nicht einmal von Susanne hatte sie sich verabschieden können. So schnell musste alles gehen. Wo würde wohl die nächste Station sein?

Diesmal wurde sie in einem großen, schönen, alten Haus abgegeben. Eine freundliche Dame mittleren Alters nahm sich ihrer an, und die Polizisten verschwanden wieder. Rein äußerlich hatte sie große Ähnlichkeit mit Tante Hilde. Das erschien der Kleinen vertraut. Ihr graues, kurzes Haar wirkte zerzaust, als wäre sie gerade von einer Kissenschlacht gekommen. Auch sie war klein und schlank. Nur die Stimme war tiefer. Ihr Geruch war fremd. Dies sorgte bei dem Kind sofort wieder für Vorsicht und Distanz.

Doch die lustigen, braunen Augen der unbekannten Frau hießen das Kind herzlich willkommen.

„Hallo Lea“, lächelte sie. Ich bin Frau Niemann. Gibst du mir zur Begrüßung die Hand?“

Ihre Hand fühlte sich hart und knöchern an. Gar nicht so weich wie bei Tante Hilde.

„Wenn du möchtest, gehen wir ein Stück zusammen. Dann kann ich dir in Ruhe erklären, wo du jetzt bist. Ich kann gut verstehen, wie verwirrt du sein musst, nach all dem, was du in der kurzen Zeit erlebt hast. Doch du wirst sehen, hier bei uns ist alles ruhig. Du musst keine Angst haben!“

Diese wildfremde Frau, die Lea noch nie gesehen hatte, nahm das Kind mit und erzählte pausenlos.

„Du bist jetzt in deinem neuen Zuhause angekommen, wirst dich sicher bald wohlfühlen und viele Freunde finden.“

„Frau Niemand … was für ein komischer Name“, flüsterte Lea und musste leise kichern. „Weißt du etwa, was ich erlebt habe? Ich kenn dich doch gar nicht! Und was mache ich jetzt – HIER BEI EUCH –, Frau Niemand? Warum bin ich hier? Ich habe doch schon ein Zuhause. Das sieht aber ganz anders aus! Und eine Mama habe ich auch, die mich sucht.“

Völlig verstört und willenlos ließ sich Lea von der fremden Person irgendwo hinziehen. Sie träumte das doch alles, oder? Wann würde sie endlich aufwachen und war an der gewohnten Stelle, die sie bisher für ihr Zuhause gehalten hatte?

‚Mama! Du wolltest mich nach Hause holen und bist wieder nicht gekommen! Frau Niemand sagt mir, dass das jetzt mein neues Zuhause sein soll. Ich habe Angst, Mama! Komm mich doch endlich abholen!‘

Das Haus war ein Kinderheim für noch nicht schulpflichtige Kleinkinder. Die Gruppenzimmer waren schön, mit Stockbetten und viel Platz zum Spielen. Im hellen und sehr sauberen Waschraum gab es mehrere nebeneinander angeordnete, kleine Waschbecken und richtige Duschen. Die hellblauen Fliesen an der Wand waren mit lustigen, bunten Bildchen versehen. An jedem Waschbecken sah man ein anderes Motiv. Das gefiel Lea sehr. „Schau mal, Lea“, zeigte Frau Niemann auf ein Bild, das eine lachende Ameise zeigte, die eine majestätische Krone auf dem Kopf trug und ihnen mit einem vierblättrigen Kleeblatt in der Hand zuwinkte.

„Unsere Ameisenkönigin hat nur auf dich gewartet. Sie möchte deine Freundin sein, den Tag mit dir beginnen und enden lassen. Möchtest du auch ihre Freundin sein?“, wandte sich die freundliche Frau dem Mädchen zu, das ihrer Geschichte aufmerksam folgte.

„Frau Niemand, weißt du, was? Du kannst ja genauso schön Geschichten erzählen wie meine Tante Hilde. Das mag ich.“ Das Kind strahlte ihr entgegen und schien für den Moment den gegenwärtigen Kummer zu vergessen.

„Darf ich sie Luise nennen? Den Namen finde ich so lustig.“ Augenblicklich drehte sich Lea dem Bild zu, strich mit dem Finger zart darüber und plauderte es an.

„Hallo Luise. Gefällt dir der Name? Möchtest du meine Freundin sein? Ich weiß schon, dass Ameisen sehr nützlich, klug und fleißig sind. Das finde ich gut.“ Lea winkte zurück, Frau Niemann nickte lächelnd und schrieb etwas in ihr Notizbuch.

Praktisch fand Lea auch die separaten WC-Räumlichkeiten.

Doch am besten gefielen ihr die Beschäftigungsräume. Dort konnte man zeichnen, basteln, Spiele spielen, was man sich eben gerade wünschte. Noch viel schöner als in ihrem Kindergarten.

‚Tante Hilde ist sicher sehr traurig, dass ich nicht mehr da bin. Ich will nicht, dass sie traurig ist! Ach, könnte ich ihr doch nur sagen, wie schön es hier ist.‘

Frau Niemann sollte recht behalten. Lea fand bald andere Kinder, mit denen sie sich gut verstand. Es machte Spaß, lustige Geschichten zu erfinden, die alle fröhlich stimmten. Sie freute sich so sehr, wenn andere Menschen mit ihr lachten. Die Kinder konnten ja noch nicht lesen und schreiben, also spielten sie alles, so als sei das Heim ein großes Theater und sie die Schauspieler. Es war herrlich, Sachen einfach darzustellen, von denen man gerade sprach oder die in den Gedanken saßen.

Dort, in diesem Heim, konnte Lea zum ersten Mal intensiv spüren, wie gut es tat, von Herzen zu lachen. Dieses großartige Lachen mit anderen Kindern ließ sie nicht einsam sein. Ja, sie schien glücklich. Ihr fehlte nicht die Geborgenheit von Familie und mütterlicher Sorgfalt. Kannte sie diese denn? Vielleicht hatte sie es auch völlig vergessen, denn Besuch erhielt sie nicht. Oder kamen diese wichtigen Schätze des Lebens von anderen Menschen zu ihr? Die, welche sie hier kennenlernte, waren Sonne für ihr kleines Herz, in dem sich tiefe Dankbarkeit für dieses wundervolle Gefühl entwickelte. Nur abends, wenn es ganz still wurde und alle in ihren Betten lagen, um auf den Schlaf zu warten, weinte Lea manchmal. Große Sehnsucht zerrte dann an ihrer Seele, und sie fühlte sich sehr allein. Am Tage jedoch vergaß sie schnell ihren Kummer und fühlte sich wohl in ihrem „neuen Zuhause“.

Wenn das Wetter es erlaubte, durften die Kinder draußen spielen. Es gab ein großes Gelände zum Toben oder um in Ruhe den Gedanken nachzuhängen. Lea lernte dort das Fahrradfahren. Sie erwies sich als sehr geschickte, experimentierfreudige Lenkerin. Bald hatte sie entdeckt, dass gerade das langsame Fahren am schwierigsten war. Wie faszinierend. Je schneller sie fuhr, umso stabiler war das Gleichgewicht. Sie musste herausfinden, wie auch der umgekehrte Fall besser beherrschbar wurde, und begann, spielerisch das Stehen und Ausbalancieren mit dem Fahrrad zu üben. Welch seltsame Neigungen ein fünfjähriges Mädchen doch haben konnte. Andere kokettierten mit dem Puppenwagen. Sie aber suchte unter Steinen nach einem sensationellen Fund. Einer Antwort auf ihr großes WARUM, über die Vielfalt von Farben, Formen, Gerüchen der nächsten Umgebung. Wollte sie das Universum neu entdecken?

Ihre Mutter vermisste sie nicht! Keinen aus der Familie oder Verwandtschaft vermisste sie. Sie alle waren weit weg und wussten ganz bestimmt nicht mehr, dass sie überhaupt existierte! Wie war es sonst zu erklären, dass sie nie Besuch erhielt? Wie lange war sie jetzt schon hier im Heim? Ihr fehlte das richtige Zeitgefühl, aber es musste schon ganz schön lange sein. Ihr war nicht entgangen, dass aus dem Sommer Herbst, dann Winter und wieder Frühling wurde, den sie ganz speziell mochte. Dann hatte sie nämlich Geburtstag.

Es tat nur manchmal weh. Wenn sie sich allein und vergessen fühlte, ein fragender Geist nach ihr griff, der sie schmerzvoll an ihre zerstörten Wurzeln erinnerte.

Aber egal! Hier ging es ihr gut. Also musste es wohl richtig sein, so wie es war.

Lea hatte keine Ahnung, was richtig oder falsch war. Sie wusste auch nicht, wohin sie eigentlich gehörte, und fühlte sich dadurch oft verloren. Ohne sicheren Halt. An diesem Ort jedoch hatte sie endlich mehr Ruhe und Zeit für ihre Tagträume. Ihr Lehrer hieß Beobachten, was gerade war.

‚Ich möchte so gern schreiben können. Ob ich Frau Niemand einmal frage? Es gibt so viel, das ich nicht vergessen darf. Außerdem ist es langweilig, immer nur Bilderbücher anzusehen. Ich will in Büchern endlich lesen können! Oder selbst welche schreiben. Ja, genau! Das ist die Idee! Das werde ich einmal machen! Bücher schreiben!‘

„Auch wenn Mama mich vergisst,

was für mich sehr traurig ist.

Ich weine in mein Taschentuch

und schreibe bald ein Buch“,

begann Lea plötzlich wie aus heiterem Himmel vor sich hin zu murmeln, während sie im Takt dazu über das Wurzelwerk des riesigen Baumes sprang, unter dem sie eben noch saß.

War das die Geburtsstunde einer zukünftigen Schriftstellerin? Wer wusste das schon? Doch Lea war sofort überzeugt, dies später wirklich zu tun. Allein der Gedanke daran machte sie glücklich und beflügelte ihre Fantasie. ‚Ich muss es einfach nur machen!‘, überlegte sie.

‚Wenn ich lache, bin ich froh. Also denke ich auch so.

Was ich denke, will ich machen. Was das ist? Na lachen!‘

Der Sommer des Jahres 1972 nahm seinen Lauf. Obwohl Lea in der kurzen Zeit eines Jahres so viel Negatives erfahren hatte, das sie überhaupt nicht verstehen konnte, so fand sie doch auch stets Menschen, die mit ihrem Verständnis und dem fürsorglichen Tun von großem Wert für sie waren. Dafür öffnete sie gern ihr Herz und lernte für ihr Leben. Diese Menschen waren Vorbilder, die ihre Persönlichkeit nachhaltig zu prägen vermochten.

Eines Tages kamen neue Kinder in das Heim. Unter ihnen ihr kleiner Bruder Lukas! Sein strohblondes Haar leuchtete schon von Weitem. Die hellblauen Augen des Jungen blickten sich angstvoll verunsichert um. Lukas war ein sonst sehr fröhliches, aufgewecktes Kind. Die Ereignisse jedoch schienen auch ihm sein munteres Lachen genommen zu haben. Er war Linkshänder, genau wie Lea, nur viel ausgeprägter! Sie hatte den Kleinen sehr lieb und war außer sich, als sie ihn hier wieder traf.

‚Lukas, mein Kleiner, warum auch du? Mutter, was ist mit dir? Du schickst uns alle weg, irgendwo hin, wo wir nie vorher waren! Du fragst nicht und suchst uns nicht! Wo bist du? Warum holst du uns nicht nach Hause? Und was ist mit meinen beiden älteren Geschwistern? Sind die auch schon fort … in die weite Welt gestreut? Mutter! Komm her und hole uns zurück! Bitte!‘

Plötzlich versagten bei Lea die Kräfte. Hoffnungslose Leere wollte ihr das Herz zerreißen. Sie musste sich irgendwo hinsetzen, ihr war übel, und die Knie wurden weich. Frau Niemann eilte zu ihr, denn sie war – als Leiterin des Heimes – bereits davon in Kenntnis gesetzt, dass Leas Bruder bei den neuen Kindern dabei sein würde.

Sie nahm das Mädchen in die Arme, sagte aber nichts. Sie war einfach nur da. Und das Kind weinte seinen unfassbaren Schmerz laut heraus.

Frau Niemann und auch die anderen Erzieher mochten dieses kleine Mädchen inzwischen sehr. Es war achtsam, immer hilfsbereit zu anderen Kindern, sehr still und dennoch fröhlich, einfallsreich, lebendig. Das wesentlichste Merkmal jedoch war ihre offene Dankbarkeit. Es schien sie glücklich zu machen, für alles zu danken, was ihr Spaß machte, guttat, bunt, schön, interessant war. In ihren Augen lag dann tiefe Erfüllung und Freude. Heute aber waren sie voller Tränen der Verzweiflung.

Nachdem sich Lea etwas beruhigt hatte, lief sie zu Lukas hin, umarmte ihn weinend, fragte ihn, wie es zu Hause denn jetzt aussah, wo sie doch so lange nicht mehr dort war. Der kleine Junge war völlig verwirrt und wehrte sich gegen die ungestüme Umklammerung. Er erkannte sie nicht, wusste nicht, wer sie war, erinnerte sich weder an ihren Namen, noch daran, dass sie Geschwister waren!

„Ich verstehe das nicht! Hat mich denn wirklich die ganze Welt vergessen?“, rief Lea mit einem Gemisch aus völligem Unverständnis und verzweifeltem Zorn in der Stimme.

Natürlich konnte sie es noch nicht verstehen! Lea war gerade sechs Jahre alt, und Lukas zählte ganze drei Jahre! Wie sollte sich denn so ein Knirps an Zeiten erinnern, die schon eine Weile zurücklagen? Das war unmöglich, aber man mache das mal einem Mini-Dreikäsehoch wie dieser Lea klar! Für sie stellte es sich so dar, als sei sie niemand mehr, der irgendwo hingehörte!

‚Frau Niemand, weißt du, was? Eigentlich passt dein Name viel besser zu mir als zu dir! Willst du meinen haben? Ich will ihn nämlich nicht mehr!‘

Trotzig beschloss Lea, sich heute an dem Geschehen nicht mehr zu beteiligen, schlich ums Haus, setzte sich dort unter ihrem Lieblingsbaum – der mächtigen Linde – ins Gras und schaute hinauf zu ihrem geliebten Himmel. Er war immer da, schien sie zu hören, zu sehen, zu verstehen.

Sprechen musste er nicht. Sie genoss seine Stille und erzählte ihm alles, was sie freute oder für ihre kleine Seele zu schwer war, um es zu halten.

„Lieber Himmel, siehst du mich?

Bin das wirklich ich?

Mein kleiner Bruder kennt mich nicht.

Ist das mein Gesicht?“,

weinte die Kleine heiße Tränen. Könnte sie doch nur verstehen, was das alles zu bedeuten hatte. Es tat so furchtbar weh.

Die Erzieher des Heimes waren besorgt. Sie wussten natürlich Bescheid. Erst viele Jahre später wurde Lea klar, mit wie viel klugem Geist diese Frauen die ihnen anvertrauten Kinder betreut hatten. Sie sorgten dafür, dass die Geschwister miteinander spielen konnten, obwohl sie in verschiedenen Altersgruppen waren. Lea durfte mit Lukas Übungen machen, die seine verkrampfte linke Hand etwas lockerten. Wenn er malte, brachen ihm oft die Buntstifte ab, durch den zu starken Druck seiner Finger.

Das Mädchen versuchte alles, ihm bewusst zu machen, dass sie doch seine Schwester war. Aber er verstand das nicht. Trotzdem liebten sie sich sehr! Er tat fast nichts ohne sie, und Lea passte auf ihn auf, wie es eine „große Schwester“ eben tat.

Das Entsetzen folgte bald! Eines Tages wurden Lea und einige andere Kinder gleich nach dem Frühstück in einen Bus verfrachtet, der vorgefahren war. Es hieß, sie würden verlegt. „Frau Niemand?“, wandte sich Lea an ihre liebste Erzieherin. „Ich weiß, wir sollen uns beeilen, aber darf ich dich schnell etwas fragen? Was bedeutet denn ‚verlegt‘? Müssen wir jetzt etwa anderswo schlafen?“

„Mach dir keine Sorgen, Lea! Ihr macht nur einen Ausflug“, log diese, um wohl das Kind nicht in Panik zu versetzen und einen geordneten Ablauf zu sichern.

Wie hätte sie ihr die Sache auch erklären sollen? Das verstand man ja als Erwachsener kaum. Lea war in einem sehr ungünstigen Alter von zu Hause weg in dieses Heim gekommen. Aber gab es für solche schlimmen Erfahrungen eines Kindes denn überhaupt ein „richtiges“ Alter? In die Obhut der Einrichtung, in welcher Niemann als Leiterin arbeitete, wurden ausschließlich Vorschulkinder übergeben. Lea zählte fünf Jahre, als sie kam. Sie würde also höchstens für ein Jahr bleiben können, bevor sie dann in einem Heim für Schulpflichtige weiter betreut wurde.

Die besondere Tragik des Wiedersehens der Geschwister, als auch ihr Bruder hierherkam, der noch viel zu jung war, als dass er sich an die Schwester erinnerte, brach der Frau fast das Herz. Die beiden begannen gerade, sich wieder aneinander zu gewöhnen und wurden nun erneut auseinandergerissen! Die Heimleiterin fühlte sich elend und schuldig gegenüber diesem kleinen Mädchen, das ihr vertraute. Sie stellte mit Bestürzung fest, dass sie dem Kind falsche Hoffnungen gemacht hatte, indem sie ihm sagte, dies sei jetzt sein neues Zuhause! Angesichts der Umstände hätte sie das so niemals darstellen dürfen!

Was passierte hier eigentlich, und wer hatte dieses große Leid der Kinder zu verantworten? Wie konnte sie in ihrer Funktion zukünftig mehr Einfluss geltend machen, damit es erst gar nicht zu solch traumatischen Situationen kam? Durch diese Ereignisse hatte Frau Niemann alle Freude an ihrem Beruf verloren und spürte nichts als lähmende Ohnmacht! Sie wusste zu wenig über die Hintergründe und Zusammenhänge der unglücklichen Zustände, diese beiden Kinder betreffend. Und hier hatte jeder nur seinen Job zu machen, ohne Dinge zu hinterfragen oder gar bewusst anderes zu entscheiden. Das Gefährlichste überhaupt!

Resignation und allumfassende Wirkungslosigkeit breiteten sich in ihr aus, wie es auch schon bei vielen ihrer Mitmenschen der Fall war. Was konnte sie schon ausrichten? Der Staat entschied über Sein oder Nichtsein.

Über das Heim, in welches die Kinder heute verlegt wurden, kursierten schreckliche Gerüchte. Doch Genaueres wusste Niemann nicht. Es war schwer, an wirklich glaubhafte Informationen zu kommen. Jedoch waren die über das andere Heim durchwegs die gleichen. Man erzählte sich, dass jeglicher Ungehorsam durch gewaltvolle Züchtigung, ganz im Sinne des Wortes, „niedergeschlagen“ wurde. Wie war es, um Himmels willen, nur zu diesem folgenschweren Irrtum gekommen, ein so intelligentes, freundliches Kind in eine Einrichtung für schwer Erziehbare zu bringen? Niemann dachte verzweifelt nach und sorgte sich sehr um die zerbrechliche Kleine. Vermutlich war es genau das Falsche gewesen, die Geschwister wieder zueinander zu führen, wenn man bedachte, wie wenig Zeit ihnen blieb. Doch wie hätte man das dem Mädchen verständlich gemacht? Noch immer sah die Erzieherin Leas Augen voller Tränen vor sich, nachdem ihr Bruder sie nicht erkannt hatte.

Betroffene Erklärungsnot machte das Atmen schwer.

Welches Schicksal würde dieses tapfere Kind wohl jetzt erwarten?