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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Widmung

Vorwort

I. Kriegstage

Beginn des Exodus aus unbeschwerter Jugendzeit

Der letzte Sommer in der Heimat

Intermezzo

Die Abschiedsfeier

Sommerausklang

Der erste Abschied, Abfahrt in die Ungewissheit

Die Batterie

Kleine Opportunisten

Kurze Heimkehr, danach der zweite Abschied

Der dritte und letzte Abschied

Tarnowitz

Görlitz

Marsch ins Ungewisse

Das letzte Gefecht

II. Nachkriegstage

Die Begegnung

Endspurt in den Frieden

Odyssee nach Wien

Epilog

Ausklang

Temporärer Quantensprung

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2016 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-620-7

ISBN e-book: 978-3-99048-621-4

Lektorat: Christine Schranz

Umschlagfoto: Helmut Hermann

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum Verlag

www.novumverlag.com

Widmung

Für meine Frau Martina!

Vorwort

In dem relativ kurzen Zeitraum von Mitte 1943 bis April 1945 erfüllten sich im Hitlerkrieg die Geschicke der Deutschen und Österreicher, die die zweite vernichtende Niederlage innerhalb eines Jahrhunderts erleben mussten. Viele Tausende Menschen haben die Kriegswirren nicht überlebt, andere verloren Haus, Hof, Eigentum und alles, was ein Mensch verlieren kann. Mir persönlich kommt es heute noch wie ein Wunder vor, alle diese Ereignisse relativ heil überstanden zu haben. Im Vergleich zu anderen Menschen lagen meine Lebensabläufe während dieser zwei Jahre stets am Rande einer Katastrophe, jedoch nie im Zentrum derselben, ohne dass ich viel dazutun musste. Wesentlich war vielleicht mein Entschluss, alles zu unternehmen, dem Beitritt zur Waffen-SS zu entkommen. Ich denke, dass meine Initiative, mich freiwillig als Offiziersanwärter zu einer anderen Waffengattung zu melden, richtig war, obgleich meine weitere militärische ‚Karriere‘ auch sehr oft zu einem Desaster hätte führen können. Ziemlich häufig geriet ich im Kriegseinsatz in unmittelbare Lebensgefahr; dass ich ihr entkam, verdanke ich in erster Linie meinem Schutzengel.

Alles in allem jedoch entdeckte ich, nicht zuletzt mit Hilfe meines Vetters Berti, dass man beim Militär seinen Alltagsablauf mitunter durch ein Quäntchen Opportunismus verbessern konnte, aber da waren wir zwei ganz sicher nicht allein.

War das Schreiben am Anfang noch ein chronologisches Aneinanderreihen von Ereignissen, so erkannte ich bald die Zusammenhänge zwischen mir und dem Zeitgeschehen im wahrsten Sinn des Wortes: Alles geschah mit mir, ob ich wollte oder nicht. Ich hatte nur zu versuchen, dabei nicht zu stolpern. In diesem Kontext entdeckte ich zum einen, dass Diktaturen wie der Nationalsozialismus durch den tierischen Ernst, mit dem nicht nur der Parteialltag, sondern auch Aufmärsche, Kundgebungen und öffentliche Veranstaltungen abliefen, nicht selten an den Rand von Lächerlichkeit und unfreiwilligem Humor gerieten, zum andern konnte man insgeheim sogar darüber lachen und so die Härte des Daseins etwas mildern. Da mit dem Schreiben auch Erinnerungen an bereits Vergessenes lebendig wurden, konnte ich solche Begebenheiten zu Papier bringen und sie mit entsprechenden satirischen und ironischen Bemerkungen garnieren. Hier vermischt sich oft das eigene Wissen aus Gegenwart und Vergangenheit, was durchaus positiv gesehen werden kann.

Ich wurde von meinen Kindern, Freunden und Verwandten im Verlauf vieler Jahre, vielleicht sogar von Jahrzehnten, immer wieder nach meinen Kriegserlebnissen befragt. Ab und zu wurde auch der Wunsch geäußert, ich solle alles aufschreiben, doch ich zögerte immer, nicht weil ich nicht wollte, sondern weil ich im Grunde zu bequem war, nach so langer Zeit alles wieder ins Gedächtnis zurückrufen zu müssen. Der unmittelbare Anlass war dann im Jahre 2012 das zufällige Wiederfinden meines Kriegsfreundes Walter N. nach sage und schreibe 67 Jahren, in denen wir nichts voneinander gehört hatten. Unmittelbar nach diesem Event kam mir die Idee, doch wieder ideell in die Vergangenheit zurückzukehren und darüber zu schreiben, und danach, so dachte ich, sollte auch Walter seine eigenen Kriegserinnerungen hinzufügen, denn er war ebenfalls im Kampfgeschehen gewesen und so wie ich auch leicht verwundet worden. Dazu kam es leider nicht.

So blieb es bei meiner Schilderung der Abenteuer eines Siebzehnjährigen, der durch Krieg und Nazipräsenz um die schönsten Jahre seiner Jugend betrogen worden war. Jetzt habe ich Enkelkinder, die schon ein oder zwei Jahre älter sind, als ich damals war. Trotz aller Negativerfahrungen der letzten Jahrzehnte mit Kindersoldaten in Afrika, mit Flüchtlingswaisen im Nahen Osten und vielem mehr, fehlt mir die Vorstellungskraft, dass sie eines Tages Ähnliches erleben könnten wie ich 70 Jahre zuvor.

I. Kriegstage

Beginn des Exodus aus unbeschwerter Jugendzeit

An einem kühlen Morgen in den Apriltagen des Jahres 1943 wehte der kräftige Frühlingssturm einen fremden Mann zur breiten Eingangstür unseres Gymnasiums in Neutitschein herein. Zielstrebig begab er sich zum Konferenzzimmer, wo er nur einmal kurz anklopfte, und ohne auf ein ‚Herein‘ zu warten, sofort eintrat. Keiner der Schüler, die ihn beobachtet hatten, erinnerte sich an einen ähnlichen Fall; stets musste gewartet werden, bis man die Erlaubnis bekam, einzutreten. Das galt für alle Besucher, auch für Eltern und ganz besonders für uns Schüler.

Es dauerte nicht lange und die Schüler wussten, dass es sich hier um jemanden handeln musste, der genug Einfluss besaß, sich über herrschende Gepflogenheiten hinwegzusetzen. Und weil wir damals in einer Zeit lebten, in der nichts normal war und die Obrigkeit absolutistische Befugnisse besaß, denen niemand widersprechen durfte, ahnten wir, was den Besucher betraf, nichts Gutes. Fredi John, der Phlegmatischste und Unerschütterlichste in der Klasse, schaute nachdenklich drein: „Dass sich unser Direktor das ohne Widerspruch gefallen hat lassen, hätte ich nicht gedacht. Noch nie ist so etwas vorgekommen!“

„Vielleicht hat er sich’s gar nicht gefallen lassen“, sagte einer aus der sechsten Klasse, der gerade dazukam, „als ich an der Tür vorbeiging, hörte ich laute und erregte Stimmen, die alles andere als freundschaftlich klangen! Ich habe keine Ahnung, wer der Mann ist, aber ich denke, wir werden es bald erfahren.“

Die Geschichtsstunde unter Professor Knopp begann wie immer. Wir mochten den alten weißhaarigen Herrn, den man nach vielen Jahren Ruhestand wieder aktiviert hatte, wie viele andere auch. Die jungen Lehrer waren irgendwo an der Front, um das deutsche Vaterland gegen den Rest der Welt zu verteidigen, ein Unterfangen, das schon zum Scheitern verurteilt war, bevor es begonnen hatte.

Professor Knopp nahm es mit der Einhaltung des Lehrplanes nicht so genau und erzählte uns Fronterlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg, Dinge, die für uns große Aktualität besaßen. Und weil er wusste, dass wir Fünfzehn- und Sechzehnjährigen über kurz oder lang auch in den Kampf würden ziehen müssen, versuchte er, uns auf seine Weise ein bisschen die Angst vorm Schießen und Erschossenwerden zu nehmen.

„Die Natur hat uns Menschen die Fähigkeit gegeben“, pflegte er zu sagen, „dass wir die Angst vor einer großen Gefahr zu verdrängen imstande sind, noch bevor sie wirksam wird. Stürmen Soldaten gegen den Feind, so wird das Denken an den Tod zurückgesetzt oder sogar ganz ausgeschaltet! Ich habe es immer wieder erlebt.“ Und als wollte er den Beweis für seine Behauptung erbringen, pflegte er die linke Hand hochzuheben; zwei Finger hatte man ihm im Ersten Weltkrieg weggeschossen und den Rest konnte er nur beschränkt gebrauchen.

Ich hatte meine Zweifel, ob die Sache funktionierte. Die Bestätigung meiner Skepsis erlebte ich anderthalb Jahre später bei einem Sturmlauf auf amerikanische Stellungen. Als die feindlichen Granaten um uns herum einschlugen, hätten wir uns am liebsten in ein Mauseloch verkrochen. Die Angst stand uns allen ins Gesicht geschrieben und sie blieb allgegenwärtig, so als hätte der gute alte Professor nichts zu uns gesagt. Vielleicht waren die Soldaten des Ersten Weltkrieges mutiger gewesen als wir!

Während der Geschichtestunde kam dann die Lösung des Rätsels um den geheimnisvollen Besucher: Begleitet vom Direktor, der ihn als Werber für die Waffen-SS vorstellte, suchte er die oberen Klassen auf, um möglichst viele von uns zu überreden, der Waffen-SS beizutreten, und zwar sollten wir uns freiwillig melden; ein Widerspruch in sich, denn wenn jemand einen anderen auffordert, etwas freiwillig zu tun, wird wieder Zwang daraus. Zur Ehrenrettung meiner Klassenkameraden. Es meldete sich kein Einziger, trotz eindringlicher Worte dieses militärischen Menschenfängers, eines hohen SS-Offiziers, dekoriert mit Eisernen Kreuzen aller Klassen, wie er sagte. Er, der vorsorglich nicht in seiner schwarzen Uniform erschienen war, sondern in schlichtem Zivil, war bei uns trotzdem erfolglos geblieben, denn im ganzen Land war die SS zu dieser Zeit ihrer unmenschlichen Härte wegen schon arg verschrien und verrufen. Allein der Anblick der schwarzen Uniformen mit einem Totenkopf als Emblem verbreitete schon Unbehagen, auch wenn man mit der ‚Schutzstaffel‘, wie die SS mit dem vollen Namen hieß, nicht direkt zu tun hatte. Sie war 1925 zum Schutz der Person Adolf Hitlers gegründet worden und erhielt 1940 den Namen ‚Leibstandarte‘, ein Terminus, der mehrere Deutungen zulässt, denn Standarte ist zum einen ein fahnenähnliches Feldzeichen und zum anderen der Schwanz eines Fuchses oder eines Wolfes in der Jägersprache. Ob sie das bei der Namensgebung gewusst hatten?

Das Auftreten des SS-Mannes in unserer Schule hatte zwar keinen unmittelbaren Erfolg beim Akquirieren von neuem Kanonenfutter für die SS, aber für mich und meine Freunde stellte sich in diesem Zusammenhang eine sehr wichtige Frage. Was wäre, wenn jeder von uns eines Tages per Post einen Einberufungsbefehl für die SS bekäme? Dann müssten wir ihr doch Folge leisten, ohne Wenn und Aber, und wir wären dann dort, wo wir absolut nicht sein wollten. Auch waren wir größer als einen Meter siebzig, einem wichtigem Parameter für die Tauglichkeit eines zukünftigen SS-Mannes. Gab es da einen Ausweg?

Wir trafen uns in der Konditorei Luchesi, unserem Stammlokal, mein Vetter Hubert Lacheta, der stets lustige Herbert Krumel, der Herbert Pfertner, und noch ein paar andere. Im Hinterzimmer saßen wir auf den rot gepolsterten Stühlen; es war unser Stammlokal, und der Herr Luchesi, ein lange vor dem Einmarsch der Deutschen in die Tschechoslowakei zugewanderter Italiener, sorgte persönlich dafür, dass die ‚Herren Studenten‘, wie er uns liebevoll nannte, ungestört blieben. Ob er ahnte, dass wir mit dem, was die Nazis wollten, nicht unbedingt konform gingen? Ich weiß es nicht, aber ich denke eher ja als nein, denn wir waren schon rein äußerlich anders als jene, die vom Regime begeistert waren und am liebsten von früh bis spät eine Uniform getragen hätten, die Frisur auf Streichholzlänge gekürzt trugen und schon von Weitem mit ‚Heil Hitler‘ und zackig ausgestrecktem Arm zu grüßen pflegten. Eine lächerliche Sache, dachte ich, denn sprach man ‚Heil Hitler‘ etwas schneller aus, wurde automatisch ‚Haitla‘ daraus, was eher finnisch oder indianisch als deutsch klang.

Auch in unserer Klasse hatten wir ein paar Verrückte, die sich so benahmen und von uns toleriert werden mussten, vor allem, weil wir unsere Ruhe haben wollten; auch war es nicht ratsam, seine Abneigungen öffentlich zur Schau zu stellen.

Manchmal musste man mit den Wölfen heulen und gute Miene zum bösen Spiel machen. Natürlich gab es auch in der Professorenschaft schwarze, richtiger sollte man sagen, braune Schafe. Mit einem dieser sonderbaren Tiere hatte ich eine Begebenheit, die für die Nazimentalität bezeichnend war. Immer wieder mussten wir zu irgendwelchen Parteiveranstaltungen, die im Turnsaal des Gymnasiums stattfanden und deren Besuch Pflicht war, antreten. Auch wurden sie während der Unterrichtszeit abgehalten, so dass wir kaum die Möglichkeit hatten, uns zu verdrücken. Stets trachteten wir, uns möglichst weit hinten im Saal aufzuhalten; dort war man weniger beobachtet und musste weder Aufmerksamkeit noch Begeisterung heucheln. Denn die Themen waren meistens stinklangweilig, was in der Natur der Sache lag. Zum Abschluss mussten die Anwesenden aufstehen und mit erhobener rechter Hand das Deutschlandlied singen, eine Sache, die mich in keine große Begeisterung versetzte, und da ich immer schon ein schlechter Schauspieler war, dürfte man mir diese Aversion wohl angesehen haben. Einer der jüngeren Professoren stand plötzlich vor mir und brüllte wutschnaubend: „Wenn ich noch einmal sehe, dass du dich beim Singen der Deutschen Hymne so respektlos benimmst, werde ich dich zur Anzeige bringen; frage nicht, was dir dann blüht!“ Ich hatte keine andere Wahl als mich umzudrehen und wegzugehen, ohne etwas zu antworten. Was ich mir dachte, stand auf einem anderen Blatt. Was ihn dazu veranlasst hatte, so außer Rand und Band zu geraten, ist mir allerdings immer ein Rätsel geblieben.

Natürlich konnte man seine Kritik auch anders kundtun als durch Worte. Als eines Tages wieder so eine solche Veranstaltung im Turnsaal stattfand, bei der ein hochdekorierter Leutnant seine Fronterlebnisse schilderte, in einer monotonen und einschläfernden Art, dass ein großer Teil des Auditoriums bereits nach kurzer Zeit Mühe hatte, die Augen offenzuhalten. Als der wackere Krieger kurz innehielt, um Atem zu schöpfen und einen Schluck Wasser zu sich zu nehmen, da knallte plötzlich ein lauter Furz durch den Raum, dass die Fensterscheiben zitterten. Ich weiß nicht mehr, wie lange die Stille dauerte, die dann folgte. Schließlich brach ein eher verhaltenes Lachen aus, denn hellauf Heiterkeit zu zeigen, war unter den Augen der wütenden Ordner nicht angebracht. Sie versuchten zwar herauszubekommen, wer der Übeltäter war, aber seine Sitznachbarn hielten dicht und so blieb seine Anonymität für alle Zeit gewahrt. Der Erzähler hatte keine andere Wahl, er tat so, als hätte er nichts gehört, und setzte seinen Vortrag fort.

Nun, es gab in der Tat einen Ausweg aus unserer Misere mit der SS. Einer der Freunde, ich weiß nicht mehr, welcher es war, hatte erfahren, dass ein angehender Soldat mit einem gewissen Bildungsstand nach seiner Assentierung die Möglichkeit habe, sich als Reserveoffiziersanwärter freiwillig zu jener Waffengattung anzumelden, die ihm am meisten zusage. Zu den Fliegern beispielsweise, oder zur Marine, oder zur Infanterie. Er bekäme dann eine Bestätigung, dass keine andere Heeresabteilung mehr auf seine Person Anspruch erheben könne, auch die Waffen-SS nicht. Na also, das war doch eine gute Sache. Wenn man schon in den sauren Apfel beißen musste, dann sollte es doch in einer moderateren Art stattfinden und wenigstens in einem geringen Bereich steuerbar sein. Eine solche Bestätigung war in unseren Augen Goldes wert und unter Umständen lebensrettend, auch wenn für mich der Gedanke an ein freiwilliges Melden zum Militär erst einmal sehr gewöhnungsbedürftig war.

Wir durften nicht lange zögern. Schon ein paar Tage später fuhren wir mit der Bahn nach Troppau. Dort befand sich das zuständige Wehrbezirkskommando. In der Schreibstube dürften sie sich sehr gewundert haben, dass plötzlich sechs oder sieben Burschen auftauchten und es verdächtig eilig hatten, sich freiwillig zum Militär zu melden. Die Formalitäten dauerten nicht lange. Erleichtert nahmen wir die ersehnte Bestätigung in Empfang und fuhren wieder nachhause. Meine Mutter, informiert über das, was wir vorhatten, war froh, dass wir diese winzige Möglichkeit wahrgenommen hatten, den weiteren Verlauf unseres Lebens ins Positive zu lenken. Es blieben ja genug Imponderabilien (ein Lieblingsausdruck des Josef Goebbels, der ein Faible für markige Sprüche hatte) für die Geschehnisse der Zukunft übrig. Mein Vater war schon im vergangenen Jahr zum Militär eingezogen worden, wir wussten nur, dass er gerade irgendwo in den tiefen Wäldern der Karpathen Wache schieben musste.

Doch zunächst musste eine andere Hürde genommen werden und es kam zum ersten großen Abschied meines Lebens.

Der letzte Sommer in der Heimat

Wieder begann es im Gymnasium zu Neutitschein, der Hauptstadt des mährisch-schlesischen Kuhländchens. Hier herrschten nach vier Kriegsjahren noch relativ ruhige Zeiten. Dass an den Fronten gekämpft wurde, merkten die Menschen nur, wenn sie das Radio aufdrehten und die Nachrichten hörten. Siegesmeldungen wurden allerdings immer seltener, öfter hörte man von sogenannten Frontbegradigungen, aber was sich dahinter verbarg, konnte man nur ahnen. Und häufiger kamen Todesmeldungen von den Fronten; die Liste derer, die ‚für Volk und Vaterland‘ den Heldentod erlitten hatten, wurde von Tag zu Tag länger, und sie brachte unsägliches Leid über die Menschen.

Das Leben auf dem Lande nahm seinen Lauf, bestimmt von den Jahreszeiten und den damit verbundenen Arbeiten auf den Feldern. Immer mehr mussten die Frauen zupacken, denn die ‚wehrfähigen‘ Männer verbluteten an den Kriegsfronten.

In der Zeit vor der Ernte hatte ich, ohne etwas dazu beitragen zu müssen, eine Beschäftigung gefunden, die meine Ferien für ein bis zwei Wochen ausfüllen und etwas abwechslungsreicher gestalten sollte. Der alte Mitschka-Bauer war vom Bürgermeister damit beauftragt worden, alle Getreidefelder Seitendorfs zu begutachten und zu schätzen, welcher Ernteertrag in diesem Jahr zu erwarten sei. Und weil der Bauer einer war, der sein ganzes Leben auf seinen Feldern und Äckern zugebracht und die Landwirtschaft im kleinen Finger hatte, andererseits aber mit dem Schreiben von Zahlen und Buchstaben seine liebe Not erlebte, wandte er sich an die Frau Oberlehrerin um entsprechende Hilfe. Ein Oberlehrer auf dem Lande hat nicht nur die Aufgabe des Unterrichtens, er muss den Dorfleuten bei vielen Problemen des Alltags an die Hand gehen, sie beraten und vor allen Dingen alle möglichen schriftlichen Arbeiten, Eingaben bei Behörden und dergleichen, erledigen. Es war eine Tätigkeit um Gottes Lohn, schon mein Vater hätte sich eher die Zunge abgebissen, als Geld dafür zu verlangen. Ein ‚Vergelt’s Gott‘ und wenn’s hoch ging, ein paar frische Eier, die der Lieferung zur nächsten Sammelstelle entgangen waren, das war alles.

„Ich selbst habe zu wenig Zeit“, sagte die Frau Lehrerin zu dem Landwirt, „aber ich kann Ihnen den Sohn meines Vorgängers empfehlen, ich denke, als Gymnasiast wird er Ihnen eine Stütze sein.“

So kam es, dass wir beide, der Bauer und ich, gemeinsam loszogen, um die Ergiebigkeit der Seitendorfer Kornfelder zu ergründen. Nun war es so, dass ich den Unterschied zwischen Weizen und Hafer kannte, vielleicht auch den zwischen Roggen und Gerste, aber damit waren meine Kenntnisse in puncto Ackerbau schon erschöpft. Ob ein Feld viel Ertrag bringe oder wenig, davon hatte ich nicht die geringste Ahnung. Die Sache hatte nur einen Haken: Niemand konnte vorhersehen, ob das Wetter während der Ernte günstig sein werde. Schon ein Unwetter mäßiger Stärke hätte genügt, die Getreidehalme niederzudrücken und den Ertrag zu mindern.

Es ist eine schöne Zeit, bei strahlendem Sonnenschein durch die Fluren zu wandern. Ich habe Notizblock und Bleistift bei mir und schreibe auf, was mir Herr Mitschka ansagt. Von jedem Feld, dessen Besitzer er selbstverständlich kennt, pflückt er ein paar Ähren, um sie zu prüfen. Er legt sie in die linke Hand und mit der rechten zerdrückt er sie, bis ein paar Körner aus ihrer Hülle springen; alles geschieht bedächtig und ohne Hast. Manchmal zerbeißt er ein Korn, um den frischen Geschmack zu spüren, dann schiebt er den zerbeulten Hut aus der Stirn und teilt mir das Ergebnis seiner Prüfung mit, nicht ohne noch einen weiten Blick über das betreffende Feld zu werfen, ob das Getreide schütter stehe oder dicht gedrängt.

Ich notiere alles, und am Ende der Begehung wird zusammengerechnet. So und so viel Grund, gemessen in Metzen oder Morgen, bringt so und so viel Getreide, vorausgesetzt, dass kein Hagelschlag alle Berechnungen über den Haufen wirft.

Dann sitzen wir irgendwo am Rain, essen das mitgebrachte Butterbrot, löschen den Durst am klaren Bach und ich fühle mich weit weg von Krieg, Kampf, Sieg und Niederlage. Die Grillen zirpen, hoch über uns trillert eine Lerche ihr fröhliches Lied zur Sonne … Es hätte nicht friedlicher sein können. Warum konnte es nicht immer so sein? Weshalb müssen die Menschen immer wieder Kriege führen und sich gegenseitig umbringen? Eine Frage, die mich in meinem Leben immer wieder, bis zum heutigen Tag, beschäftigt hat: Warum kommt es immer aufs Neue zu Kriegen mit Hunderttausenden, wenn nicht gar Millionen Opfern, die völlig sinn- und schuldlos sterben müssen? Ich bin zu jung, um zu verstehen, ich höre nur aufmerksam, was die Menschen rund um mich reden, sie reden anders, als wir es in der Schule lernen, und ich reime mir so manches zusammen.

Herr Mitschka will mich etwas fragen, während wir ausruhen am Wegesrand. Sein von Sonne und Wind zerfurchtes Gesicht wirkt sorgenvoll. Er weiß nicht recht, wie er beginnen soll, denn sein Umgang mit Gymnasiasten hielt sich bisher wohl in Grenzen. Auch ist es nicht angebracht, seine Meinung, wenn sie mit dem herrschenden Regime nicht konform geht, einem Fremden gegenüber frei und offen zu äußern. Hier, in der Natur, ist vielleicht die beste Gelegenheit zu einem Gespräch, unbelauscht und ungestört.

„Heut haben wir ungefähr die Hälfte der Felder gesehen, ich denke, für die zweite Hälfte werden wir noch eine Woche brauchen, dann haben wir unsere Arbeit getan. Weißt du, warum wir das alles tun?“, fragte Herr Mitschka. „Nun, die da oben werden wissen wollen, ob es eine gute Ernte geben wird oder ein schlechte“, sage ich.

„Das war nicht schwer zu beantworten, aber die Frage ist, warum wollen sie es wissen, bevor das Getreide reif wird?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

„Ich will es dir erklären. Warum glaubst du, dass der Hitler den ganzen Osten, Polen, Russland bis zum Ural, erobern wollte? Es ist nicht nur aus taktischen Gründen geschehen. Deutschland braucht die Möglichkeit, so denkt Hitler, sich auszubreiten; es geht nur nach Osten. Hitler will, dass Deutschland auch vom Ausland unabhängig wird, was die Ernährung betrifft. Wir brauchen Kornkammern, Weideland für das Vieh, und auch genug Lebensraum, meint Hitler. Deswegen verbluten unsere Soldaten in Russland. Anfangs ist die Sache gut gegangen, aber der vergangene Winter mit Temperaturen, die sogar für russische Verhältnisse sehr tief waren, hat die Erfolge zum Stillstand gebracht. Unsere Soldaten waren nicht darauf vorbereitet, hatten keine warme Kleidung und zu wenig Waffen, die bei Schnee und Eis, in Schlamm und Dreck funktionieren. Die Russen kamen mit diesen Umständen viel besser zurecht. Nun muss das Eroberte wieder hergegeben werden und ich fürchte, daran wird sich kaum mehr etwas ändern. Der Traum vom Sieg ist ausgeträumt und damit bleibt auch der Wunsch nach einer Unabhängigkeit Deutschlands in Sachen Ernährung unerfüllbar. Sie ahnen es, wollen es aber nicht glauben! Und jetzt fangen sie an zu überlegen, wo sie noch mehr rationalisieren können, und wieviel noch übrig ist zum Rationalisieren!“ Und nach einer Weile fügt er, mehr zu sich selbst sprechend als zu mir, hinzu: „… und niemand denkt dabei an das grenzenlose Unrecht, das dabei den Völkern angetan wird. Nein, nein, die Sache ist verloren!“

„Aber man arbeitet doch an neuen Waffen, die bald zum Einsatz kommen sollen!“

„Nein, selbst wenn diese Waffen um vieles besser sind und wirksamer sind als alles vorher, die Waffenfabriken können in so kurzer Zeit nicht so ausreichend genug produzieren, um sie auf allen Kriegsschauplätzen einzusetzen. Ich verstehe nicht viel davon, aber um zu begreifen, dass ein Staat gegen die ganze Welt auf Dauer nicht erfolgreich Krieg führen kann, dazu bedarf es keines großen Wissens, dazu genügt der gesunde Menschenverstand!“

„Sie glauben also, dass der Krieg für uns verloren ist?“, frage ich, und zum ersten Mal wird mir die Härte einer drohenden Niederlage mit allen ihren Konsequenzen bewusst; ein bisschen nur, denn als Sechzehnjähriger hat man einige Reserven an Optimismus. Unangenehme Tatsachen dringen nur zögernd in Kopf und Verstand.

„Ja, Bub, es ist noch keine fünf Monate her, als Stalingrad verloren ging, aber auch an anderen Kriegsschauplätzen mussten die deutschen Truppen Niederlagen einstecken. Die Russen stürmen vorwärts, wir laufen zurück. Sie bekommen jetzt Unmengen Kriegsmaterial aus den USA. Wir können sie nicht daran hindern, auch die Japaner nicht, niemand kann es. Die Russen werden uns überrennen, bis sie in Berlin zum Stillstand kommen! Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, auch Napoleon musste die selbe Erfahrung machen, auch er scheiterte an der russischen Eiseskälte; nur die Russen selber können sie leichter überstehen.“

Das Gespräch macht mich sehr nachdenklich. Die Welt um mich ist plötzlich nicht mehr so heil und sonnendurchflutet, ich spüre, was andere vor mir längst gespürt haben, vor allem die Älteren, die noch den ersten Krieg mitgemacht hatten. Auch damals wendete sich nach großen Anfangserfolgen das Blatt, die Deutschen und ihre Verbündeten erlitten die erste vernichtende Niederlage dieses Jahrhunderts. Und nun sollte, fünfunddreißig Jahre später, die zweite nachfolgen. Gesetz der Serie oder logische Abfolge der historischen Geschehnisse?

Viel zu schnell neigten sich die Sommerferien ihrem Ende zu. Ein paar unbeschwerte Tage waren mir aber doch beschieden, obwohl ich immer wieder an das Gespräch mit Herrn Mitschka denken musste. Ich redete mir ein, dass es so schlimm nicht sein werde; aber sprechen wollte ich mit meinen Freunden nicht darüber – noch nicht. Ich musste erst selbst mit mir im Klaren sein, auch fühlte ich instinktiv, dass es für Herrn Mitschka gefährlich sei, wenn ich ihn als Quelle meines Wissens bezeichnete. Schon im Februar hatte Propagandaminister Goebbels mit viel Pathos den ‚Totalen Krieg‘ ausgerufen, seither sind tausende Menschen als Saboteure und Volksschädlinge eingesperrt, verurteilt und hingerichtet worden, aber davon wusste ich fast nichts, und das Wenige auch nur ansatzweise durch Gerüchte, die ich irgendwo aufschnappte. Niemand wusste etwas Konkretes, jeder wusste alles nur vom Hörensagen. Vieles stammte von Schilderungen der Frontsoldaten, die das Glück hatten, einen kurzen Urlaub zuhause verbringen zu können. Ihren Erlebnisberichten und Einschätzungen wurde insgeheim mehr Glauben geschenkt als den offiziellen Nachrichten. Aber auch sie mussten vorsichtig sein in der Wahl ihrer Worte. Wie hieß doch das geflügelte Wort in jener Zeit? ‚Achtung, Feind hört mit!‘ Ein Ausspruch mit Doppelsinn. Die Nazis meinten damit die Feinde Deutschlands, die aus der ganzen Welt ihre Spione zu uns schickten, wir aber, die kleinen Bürger, von der Last des Krieges niedergedrückt, wussten, dass der wirkliche Feind nicht aus dem Ausland kam. Er saß in Parteilokalen, Amtsstuben, Polizeidienststellen, und er war mitten unter uns, der Denunziant, jeder konnte es sein, der Nachbar, der Vorgesetzte. Niemand war sicher vor ihm, weil er kein Gesicht hatte und kein typisches Kennzeichen, an dem man ihn hätte erkennen können, und das machte ihn so gefährlich und unberechenbar.

Der Unterricht im Gymnasium hatte nach den Ferien schon einige Wochen seinen Fortgang genommen, als das Gewissheit wurde, worüber schon seit längerer Zeit gemunkelt worden war. Es war im Grunde nichts anderes als die Konkretisierung dessen, was drüben im ‚Reich‘ schon seit dem Jahresbeginn praktiziert wurde. Die deutsche Luftwaffe hatte zu wenig Soldaten für den Abwehrkampf gegen die Luftangriffe der Alliierten auf Städte, Dörfer und auf kriegswichtige Industrieanlagen. Nun sollten die Schüler der mittleren Gymnasiumklassen, Fünfzehn- und Sechzehnjährige, als sogenannte Flak-Helfer eingezogen und an den Flak-Batterien ausgebildet werden. Flakhelfer und Flakbatterien ergaben zusammen das, was man unter ‚Heimatflak‘ verstand; für mich ein schreckliches Wort, das noch heute meinen Ohren wehtut. Das Wort ‚Flak‘ bedeutete die Abkürzung für ‚Flugabwehrkanone‘, ein Terminus, der mit dem Wort ‚Heimat‘ nichts, aber schon gar nichts zu tun hatte!

Das Neue an der Angelegenheit war die Tatsache, dass wir nicht einfach ohne Begleitung in den Krieg ziehen mussten, sondern im Gefolge unserer Professoren des Neutitscheiner Gymnasiums, sofern sie männlichen Geschlechts und noch einigermaßen rüstig waren. Die Heeresleitung war offenbar der Meinung, dadurch zwei Fliegen mit einer Klappe zu treffen. Man brauchte Kanoniere und Akademiker gleichermaßen, erstere für den totalen Krieg und letztere für den Frieden danach. Es war eine ideale Konstellation, junge Leute zu haben, die beide Voraussetzungen zu erfüllen schienen: schießen und lernen zu können. Die Praxis allerdings sah anders aus, wie wir bald feststellen konnten, denn schon ein paar Wochen später war der Schulunterricht gegenüber den militärischen Anforderungen, die zu erfüllen waren, arg ins Hintertreffen geraten.

Um diese Zeit waren Überlegungen solcher Art eine nicht mehr überbietbare Naivität angesichts der immer zahlreicher werdenden Luftangriffe der Alliierten mit Pulks zu Hunderten Bombenflugzeugen, die von allen Seiten kommend deutsche Städte und Dörfer in Schutt und Asche legten. Auch aus dem Süden kamen sie, seit die ersten alliierten Verbände in Sizilien gelandet waren. Italien als verbündete Nation Deutschlands existierte nicht mehr, Mussolini war im Juli abgesetzt worden.