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Inhalt

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2016 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-541-5

ISBN e-book: 978-3-99048-542-2

Lektorat: Dr. phil. Ursula Schneider

Umschlagfoto: Rfischia | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum Verlag

Innenabbildung: Raven Vanis

www.novumverlag.com

Widmung

Für V

als Dank für alles,

was du für mich getan hast

Prolog

Sakuya Liev

Jeder in Cinaria kennt meinen Namen – er wird gefeiert, geehrt und respektiert. Ich bin die erste Leiterin der First Organisation, die den Frieden über unseren schönen Kontinent gebracht hat. Und nun bin ich bewegungsunfähig ans Bett gefesselt und warte auf den Tod. Die Zeit ist längst reif, um meine Geschichte niederzuschreiben. Dieser Idiot von Schreiberling … ja, du sollst Idiot schreiben. Warum? Ich bin alt, ich darf schimpfen. Und jetzt lenk mich nicht ab! Also dieser Idiot soll nach meinem Tod dem neuen Leiter dienen. Ob das allerdings was wird, weiß ich nicht. Meine über alles geliebte Tochter Natsumi wird von nun an die Führung übernehmen, sie ist ein guter Mensch und wird den Frieden wahren. Doch nun zu meiner Geschichte, bevor ich jämmerlich abkratze:

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Alles begann vor 50 Jahren mit der Eifersucht eines sehr labilen Mannes. Sein Name war Cedric Gunister – in der Öffentlichkeit nannte man ihn aber schlichtweg Gun. Er war ein verwöhntes Muttersöhnchen, von Geld und Langeweile umgeben. Aufgrund der Stellung seiner Mutter, welche im früheren Rat tätig war, genoss er Narrenfreiheit. Niemand zügelte oder bestrafte ihn. So wurde er in dem Glauben groß, dass ihm alles erlaubt sei. Im Alter von 25 Jahren verliebte sich Gun in ein Mädchen von der Straße, sie hatte weder Eltern noch ein Dach über dem Kopf. Trotzdem faszinierte sie ihn mit ihrer Schönheit, ihrem Auftreten und ihrem Lächeln. Jeden Tag ging er zu ihr und brachte ihr Essen, Sachen zum Wechseln und bot ihr jedes Mal an, dass sie zu ihm ziehen könne. Dort hätte sie Geld und Macht, niemand würde sie schlecht behandeln. Das Mädchen, Finnja Hime, lehnte sein Angebot jedoch jedes Mal ab mit der Begründung, dass sie hier alles hätte, was sie bräuchte. Eines Tages fasste Gun den Entschluss, sie einfach mitzunehmen, dann würde sie verstehen, wie schön das Leben sein könne. Doch an ihrem üblichen Platz fand er sie nicht vor. Er suchte sie in der Nähe und wollte schon zurück nach Hause gehen. Da hörte er zwei Stimmen, eine davon gehörte definitiv Finnja, doch die zweite konnte er nicht zuordnen. Es war eindeutig, dass beide Stimmen aus der schmalen Gasse zwischen Obst- und Fleischhändler kamen, und so spähte er um die Ecke. Ihm blieb beinahe das Herz stehen, als er Finnja in den Armen eines anderen Mannes sah – dieser sah genauso verwahrlost aus wie sie, ein Niemand von der Straße. Er presste sie mit seinem Körper gegen die Wand und küsste sie hart, woraufhin sie die Arme um ihn legte. Das war also der Grund, warum sie nicht mit Gun gehen wollte. Blanke Wut packte ihn, er stürmte in die Gasse, riss die beiden auseinander und schlug dem Straßenjungen ins Gesicht. Finnja schrie auf und wollte ihrem Geliebten helfen, doch Gun hielt sie am Arm fest. „Caleb! Geht’s dir gut?“, fragte sie panisch. Dieser rappelte sich auf und ging auf Gun zu, funkelte ihn böse an und sagte: „Lass die Finger von meiner Verlobten! Geh und such dir ein reiches Mädchen, du hast einen so guten Menschen wie Finnja nicht verdient!“ Bei dem Wort Verlobte drehte sich Guns Magen um. Was bildete sich dieser Straßenjunge überhaupt ein? Als er noch immer nicht von Finnja ablassen wollte, schlug Caleb auf ihn ein. Gun musste feststellen, dass sein Gegner äußerst stark war, und so zog er sich zurück. Kein weiteres Mal würde er sich so demütigen lassen, dafür würde er schon sorgen. Gun heuerte ein paar Schlägertypen an, doch auch diese kamen mit blutigen Nasen und eingezogenem Schwanz zurück. „Die haben uns fertiggemacht! Du hast uns belogen, er war nicht allein und seine Freunde waren genauso stark wie er!“, jammerte einer von ihnen.

Am nächsten Tag traf Gun sich mit seinem besten Freund, einem dubiosen Wissenschaftler.

„Du hättest die erbärmlichen Angsthasen sehen sollen! Wie können stinkende Penner nur so stark sein?“, fragte er ihn.

„Sie mussten womöglich schon ihr ganzes Leben kämpfen, um nicht zu krepieren, da ist das nur logisch. Lass es doch einfach gut sein, das Mädchen will dich sowieso nicht.“

„Sie weiß nur nicht, dass sie mich will! Ich kann ihr alles geben, angefangen von Geld bis hin zu einer hohen Stellung bei meiner Mutter.“

„Man kann sich Glück und Liebe nicht kaufen.“

„Natürlich kann man das! Denk doch mal nach, Oliver.“

„Das tue ich die ganze Zeit und du störst mich dabei! Ich habe wichtige Experimente am Laufen, da brauche ich dein Geschwafel nicht“, sagte Oliver und rückte sich seine Brille zurecht.

„Könntest du nicht ein Mittel erfinden, das einen Menschen stark macht? Ich meine, so richtig stark.“

„Ein Mittel vielleicht nicht, aber mir kommt da so eine Idee. Wenn du mir alles zur Verfügung stellst, was ich brauche, erschaffe ich dir eine starke Armee.“ Olivers fast schwarze Augen funkelten vor Aufregung.

„Ich besorg dir alles, was du willst! Du musst mir nur eine Liste geben.“

„Du brauchst keine Liste, es sind nur zwei Dinge. Zuerst brauche ich die Überreste der Tariana und dann sind nur noch Versuchskaninchen nötig.“

„Tariana? Wer soll das sein?“, fragte Gun.

„Sie sind unsere Vorfahren, du weißt schon, die Verrückten, die ums Feuer tanzten und angeblich magische Kräfte hatten. Du findest alles in den Gräbern in Silverland.“

„Silverland? Du weißt schon, dass wir hier in Ira sind, oder? Silverland ist genau am anderen Ende des Kontinents! Wie stellst du dir das vor?“

„Du hast doch genug Geld, um Leute dafür zu bezahlen, ohne diese Überreste geht gar nichts. Willst du sie nun oder nicht?“

Ohne Zeit zu verschwenden, engagierte Gun ein Team von Spezialisten, welche innerhalb zwei Monaten wieder zurück waren. Sie brachten die Überreste in Olivers Labor und wurden davor großzügig belohnt. Gerade, als sie sich mit dem Geld verdrücken wollten, sagte Oliver: „Entschuldigt bitte, meine Herren. Gun hat mir die Erlaubnis gegeben, mir meine Versuchskaninchen selbst auszusuchen. Sie sind alle in einem sehr guten körperlichen Zustand, daher wäre es mir eine Freude, mit euch zu experimentieren.“

Bevor sich die Männer aus dem Staub machen konnten, wurden sie von Olivers Assistenten gepackt und betäubt.

„Das wird das interessanteste Experiment meines Lebens!“, rief Oliver freudig.

Einige Tage später kam Gun ins Labor, um das Ergebnis des Experiments zu sehen. Oliver begrüßte ihn hocherfreut.

„Mein Freund, wie schön, dass du da bist! Ich habe nur ein Versuchskaninchen verloren, die restlichen sind mir ausgezeichnet gelungen. Meine Herren, seid so freundlich und zeigt Gun unseren Erfolg.“

Vier Männer traten vor und einer nach dem anderen zeigte ihm die neue Kraft.

Der Erste konnte sich in einen Tiger verwandeln, der Zweite konnte Feuer speien, der Dritte verwandelte sich in einen Steinmenschen und anstatt des Vierten sah er einen Minotaurus.

„Das ist unglaublich! Und sie sind wirklich stark? Wieso kann jeder was anderes?“, fragte Gun und konnte sein Glück kaum fassen. Bald würde er Finnja zu sich holen, für immer.

„Sie sind erstaunlich stark und haben sowohl einen stabileren Körper als auch eine höhere Schmerzgrenze als normale Menschen. Ich habe leider keinen Einfluss auf die Fähigkeiten, jeder Körper geht anders mit den gedopten Überresten um.“

„Und was ist mit dem Fünften passiert?“

„Zuerst lief alles glatt, er hatte eine mentale Fähigkeit – so eine Art Analytik. Doch sein Körper machte die Veränderung nicht mit und er starb.“

„Man muss auch Opfer bringen. Oliver, du bist ein Genie! Die sind so was von strange … wie nennen wir sie?“

„Strange, sagst du … wie wär’s mit Strange Ones?“

„Perfekt! Wie viele kannst du noch machen? Ich hol mir nicht nur Finnja, bald wird uns der ganze Kontinent gehören.“

„Ich wusste, dass du das sagst, ich habe noch genug Überreste, um wie versprochen eine ganze Armee von Strange Ones zu erschaffen. Beschaff mir einfach weitere Objekte und ich werde sie dir zu Soldaten machen! Soldaten, die keiner besiegen kann!“

Einige Jahre später befand sich Cinaria, unser schöner Kontinent, in einem fürchterlichen Krieg und ich wurde als Krankenschwester direkt nach Ira geschickt, um zu helfen. Leider konnte ich dieser Tätigkeit nicht lange nachgehen, denn bereits am dritten Tag wurde ich überfallen, von hinten betäubt und weggebracht. Ich erinnere mich nur noch an einzelne Bilder, ein Mann mit Brille und einem Furcht einflößenden Grinsen, grelles Licht und Schmerzen im Bereich des Herzens. Als ich wieder erwachte, fühlte sich mein Körper anders an. Ich konnte meinen Herzschlag hören, meine Sinne waren dreimal stärker ausgeprägt als sonst und meine Haut fühlte sich wie Stahl an. Der Mann mit Brille kam auf mich zu, er trug ein Klemmbrett mit sich herum. Freundlich lächelte er mich an und fragte: „Wie geht es dir? Fühlst du dich irgendwie anders?“

„Mir geht es gut, aber ich fühle mich wirklich etwas seltsam. Was ist passiert? Und warum bin ich hier?“

„Inwiefern fühlst du dich seltsam?“

„Ich habe gefragt, wo ich bin.“

„Und ich habe gefragt, inwiefern du dich seltsam fühlst. Du beantwortest meine Fragen und dann ich deine, abgemacht?“

„Zuerst meine Fragen!“

„Nein. Abwechselnd ist das letzte Angebot, was ich dir machen kann.“

„Gut, meine Haut fühlt sich wie Stahl an und ich bin so ausgeruht, als hätte ich drei Jahre durchgeschlafen.“

„Okay, das ist normal. Sonst noch irgendetwas? Kribbeln im Körper?“

„Ich bin mit Fragen dran! Wo bin ich?“

„In meinem Labor, du wurdest auserwählt, um Soldatin der neuen Welt zu werden. Du kannst dich glücklich schätzen.“

„Wie bitte? Neue Welt? Was ist mit mir passiert?“

„Na, na, deine Antwort bitte, Fräulein Liev.“

„Abgesehen davon, dass es mich gewaltig stört, dass Sie mich hier festhalten und meinen Namen kennen, fühle ich sonst nichts. Kein Kribbeln, gar nichts!“

„Du bist ab heute ein Strange One, auf gut Deutsch: Du hast übermenschliche Fähigkeiten bekommen. Welche, wird sich noch herausstellen.“

„Wollen Sie mich verarschen?“, schrie ich.

„Nein, das ist durchaus eine ernste Angelegenheit. Du gehörst nun zu Guns Armee und bald wird uns der ganze Kontinent gehören. Also überleg dir gut, auf welcher Seite du stehen willst“, drohte die Brillenschlange.

Und da wurde mir alles klar, warum ich hier war und was meine Aufgabe war. Ich sollte Menschen töten, unschuldige Menschen – nur weil einem Wahnsinnigen langweilig war. Das kam gar nicht infrage! Doch ich konnte mich in diesem Moment noch nicht wehren, zuerst musste ich die Lage checken und mir etwas einfallen lassen. Fast einen Monat spielte ich die brave Untergebene, beendete das Training als Beste und konnte auch mit meiner neuen Fähigkeit am besten umgehen. Ich konnte die magischen Kräfte anderer in mich aufnehmen und sie in alles umwandeln, was man sich nur vorstellen konnte. Damit konnte ich meine Heilung verbessern, mich unendlich stark machen und keiner konnte mir etwas anhaben. Bald war ich Guns rechte Hand, er vertraute mir blind und ich hatte die Möglichkeit, ihn zu studieren, um eine Schwachstelle in seinem System zu finden.

Eines Nachts, als ich in Guns Büro herumschnüffelte, öffnete sich schlagartig die Tür und Marco krachte herein. Marco war der Zweitbeste des Trainings und ein viel zu sorgloser Mensch.

„Was macht die rechte Hand des Tyrannen hier?“, fragte er grinsend.

„Das Gleiche könnte ich dich fragen“, antwortete ich und versuchte, mich normal zu benehmen.

„Ich schätze mal, ich will das Gleiche wie du. Wie kommt es, dass du Guns Büro durchsuchst? Du als seine Vertraute?“

„Wer sagt, dass ich es durchsuche?“

„Ich fühle die Anwesenheit der Strange Ones, ihre Bewegungen und ihren Gemütszustand. Mehr brauche ich nicht zu sagen, oder?“

„Vielleicht hast du dich getäuscht“, zischte ich ihn an, doch er lachte nur.

„Komm mit, ich zeig dir was“, sagte er und verließ den Raum. Zwar war ich total wütend, dass er mich beim Schnüffeln entdeckt hatte, trotzdem folgte ich ihm. Er führte mich aus dem Hauptgebäude, über den großen Trainingsplatz bis hin zu einem Werkzeugschuppen.

„Willst du mich jetzt töten und vergraben? Dann sag ich es dir gleich, gegen mich hast du keine Chance“, sagte ich kalt.

„Das weiß ich doch. Halt einfach die Klappe und komm mit.“

Er öffnete die Tür zum Werkzeugschuppen, schob eine Truhe zur Seite und öffnete eine Falltür. Danach bedeutete er mir, ihm nach unten zu folgen – natürlich hatte ich ein ungutes Gefühl, doch ich war viel stärker als er, also konnte mir im Prinzip nichts passieren. Ich folgte ihm durch einen feuchten Flur und landete mitten in einem riesigen Raum voller Stühle. Gut die Hälfte der Elite und auch andere Soldaten sprachen wirr durcheinander, bis sie mich sahen. Alle verstummten und sahen mich hasserfüllt an. „Was tut sie hier?“ „Spinnst du, Marco?“ „Die verpfeift uns sicher!“ Konnten ernsthaft alle Soldaten in diesem Raum gegen Gun sein? Wollten auch sie ihn stürzen?

„Jetzt haltet mal alle die Klappe! Unsere geschätzte Sakuya hat soeben im Büro des Königs geschnüffelt. Sie ist auf unserer Seite, also keine Panik. Oder?“, fragte er, drehte sich zu mir um und wartet auf eine Antwort.

„Genau.“

„Und warum hast du dann so eine hohe Stellung? Bist du nicht seine Vertraute?“, rief ein anderes Mädchen.

„Genau das bin ich. Schon mal was von Tarnen und Täuschen gehört? Je mehr er mir vertraut, umso weniger rechnet er mit einem Hinterhalt.“

Im Raum wurde es wieder still, alle starrten mich fassungslos an.

„Also ich trau ihr nicht!“, rief ein Soldat.

„Dann hast du eben Pech. Sie ist die Einzige, die überhaupt zu Gun durchkommt, das müssen wir ausnutzen. Wir haben nur noch einen Tag Zeit für die restliche Planung“, sprach Marco und alle beruhigten sich. Wahrscheinlich trauten sie mir trotzdem nicht, aber zumindest hielten sie die Klappe. Marco weihte mich in ihren Plan ein, den ich natürlich noch verbessern konnte.

„Okay“, begann er, „dann gehen wir alles noch einmal durch. Nachts sind wenige Soldaten im Gebäude, da Sakuya ja immer in Guns Nähe ist, das müssen wir ausnutzen. Gruppe 1 bewacht das Labor von Oliver, Gruppe 2 und 3 die Kasernen. Gruppe 1 der Elitesoldaten beseitigt die Wachen am Eingang und in den ersten zwei Stockwerken von Guns Haus, die zweite Gruppe kommt übers Dach und eliminiert die obersten Wachen. Guns Schlafzimmer liegt im dritten Stockwerk. Sobald Gruppe 1 der Elitesoldaten mit ihrer Arbeit fertig ist, stürmen Sakuya und ich die dritte Etage, und während ich mich mit den Wachen beschäftige, bringt Sakuya ihn um. Alles verstanden?“

„Aber wie wissen wir, dass Gun schläft?“, fragte ein Elitesoldat.

„Zwar geht er bereits um 22 Uhr ins Bett, doch er schläft erst so um 1 Uhr richtig fest“, antwortete ich ihm.

„Und was machen wir, wenn er tot ist? Wer übernimmt die Führung von Ira? Er hat den Rat samt seiner Mutter ausgelöscht …“

„Wir machen das! Wir haben ein paar schlaue Köpfe hier und sollten nach so einer Aktion immer zusammenarbeiten“, meinte Marco und ich sah ihn skeptisch an.

„Stimmt, wir sind doch jetzt auch schon so etwas wie eine Geheimorganisation. Wie wär’s, wenn wir uns First Organisation nennen? Wir helfen den Menschen, wo wir nur können mit unseren Kräften!“, rief ein weiterer Soldat und ich musste lächeln, denn ich wollte das Gleiche sagen. Wir sollten mit solch besonderen Fähigkeiten nicht gegen die Menschen kämpfen, wir sollten sie unterstützen!

Leise und heimlich begann die Operation. Nach unserer Ausbildung waren wir die perfekten Killer – schnell und lautlos. Die einzelnen Gruppen erfüllten ihre Aufgabe mit Bravour, Marco und ich versteckten uns in meinem Zimmer. Es lag nur drei Türen weiter von Gun, sodass ich ihm immer zu Hilfe eilen konnte. Dass das auch einen Nachteil haben könnte, war wohl nie ein Gedanke von ihm. „Du bist sicher, dass du 20 Elitesoldaten allein ausschalten kannst?“, fragte ich etwas besorgt. Ich wusste, dass er stark war, aber trotzdem machte ich mir Sorgen um ihn.

„Du solltest dir eher Sorgen um dich machen, ich bin der Einzige, der dir traut. Sollte die Operation scheitern, töten sie dich. Aus welchem Grund auch immer, also bemüh dich.“

Ich konnte nicht anders als zu lachen, als würde mir etwas passieren!

„Jetzt ist es genau 1:30 Uhr, wir sollten dann mal beginnen. Die ersten Wachen übernehme ich“, sagte ich und verließ das Zimmer. Die gewohnten Wachen begrüßten mich mit etwas überraschtem Gesicht, und ohne ihnen Zeit zum Überlegen zu geben, schaltete ich sie der Reihe nach aus. Bald würden die restlichen Wachen der Etage kommen, also gab ich Marco das Klopfzeichen und sperrte die Tür zu Guns Schlafzimmer auf. Nur Oliver und ich hatten einen Ersatzschlüssel, ein weiterer Fehler von Gun. Leise schloss ich die Tür von innen wieder ab und ging auf sein viel zu großes Bett zu. Im Schlaf sagte er immer wieder einen Namen. Finnja – das Mädchen, von dem er mir immer erzählte, das Mädchen, das sich selbst das Leben nahm. Ich kannte die Geschichte nur zu gut: Er hatte Finnjas Verlobten töten lassen und sie gefangen genommen. Sie erhängte sich in ihrem Zimmer mit den Kordeln des Vorhanges.

„Gun“, sagte ich mit lauter Stimme. Er sollte wach sein, ich musste ihm noch etwas sagen. Verschlafen öffnete er die Augen und sah mich verwirrt an.

„Sakuya? Was ist los?“

„Warum tötest du Menschen?“

„Was?“

„Warum tötest du Menschen?“

„Sie stellen sich mir in den Weg.“

„Das ist alles?“

„Ja natürlich! Mit meinen Strange Ones gehört mir bald ganz Cinaria!“

„Denkst du wirklich, dass du uns im Griff hast? Denkst du wirklich, nur weil du uns Fähigkeiten verliehen hast, bleiben wir auf deiner Seite? Da täuschst du dich aber gewaltig. Wir sollten den Menschen helfen! Durch die Fähigkeiten haben wir so viele Möglichkeiten, Gutes zu tun.“

„Aber das tue ich doch! Indem ich die schlechten Menschen töte“, verteidigte er sich.

„Nur weil jemand nicht deine Meinung teilt, ist er noch lange kein schlechter Mensch. Aber du bist ein schlechter Mensch. Es ist Zeit, deine Tyrannei zu beenden.“

Vom Flur drangen Kampfgeräusche zu uns, Marco schien doch einige Schwierigkeiten zu haben. Ich packte Gun am Hals und zerrte ihn aus dem Bett, dabei verstärkte ich meinen Griff, sodass er zu röcheln begann. Doch so einen Tod wollte ich nicht für ihn – also schleifte ich ihn zum Fenster, blieb stehen und fragte ihn nach seinen letzten Worten.

„Das alles habe ich nur für sie getan. Nur für Finnja.“

Eine Träne kullerte über seine Wange, doch da nahm ich auch schon alle Kraft zusammen und warf ihn durch die Scheibe. Einen Moment später hörte ich den Aufprall und das Jubeln der Soldaten – wir waren am Ziel! Anschließend half ich Marco, die anderen Wachen abzuwehren. Oliver fand man tot in seinem Labor auf. Niemand wusste, ob er sich selbst erschossen hatte oder nicht. Wir verloren bei dieser Operation zwei Soldaten, es ging alles glatt.

Dann begann eine neue Ära, ich wurde zum Leiter der First Organisation gewählt und verkörperte damit gemeinsam mit Marco, meinem nun verstorbenen Ehemann, die Exekutive von ganz Cinaria. Auch unsere Kinder hatten übermenschliche Fähigkeiten, was vielleicht nicht so schlecht war. Nie wieder würde ein Strange One gegen einen Menschen kämpfen, und wer sich nicht daran halten konnte, wurde von uns eliminiert!

Unser Plan hätte gar nicht schiefgehen können. Gerne hätte ich einen ausführlichen Bericht über die Kämpfe geschrieben. Kämpfe um Leben und Tod, doch so war es nicht – manch andere Soldaten ergaben sich gleich und schlossen sich uns an. Im Endeffekt wusste jeder, dass es nicht so weitergehen konnte. Und das war’s eigentlich. Nichts Besonderes, hm? Es sollte auch nichts Besonderes werden, es sollte bloß die Menschheit vor einem liebeskranken Mann retten.

Kapitel 1

Tazer

Wütend schlägt Kai das Geschichtsbuch zu und starrt mich finster an. „Das kann doch echt nicht dein Ernst sein?! Hast du gar nichts aus der Geschichte gelernt? Wenn du dich wirklich mit der stärksten Exekutive des gesamten Kontinents anlegen willst, bricht der Krieg doch erneut aus! Schnallst du das nicht?“ Aufgebracht fährt er sich durch die dunkeln Haare und gibt einen extra langen Seufzer von sich. Zwar ist Kai nicht mein leiblicher Bruder, doch wir beide wurden von demselben Mann großgezogen und deswegen fühlt es sich so an, als wäre er mein kleiner Bruder. Diese wütende Geste machte er schon immer. Anstatt ihm jedoch eine Antwort zu geben, packe ich weiter meinen Rucksack für die lange Reise. „Es ist beschlossene Sache, egal, aus wie vielen Geschichtsbüchern du mir noch vorliest. Du selbst weißt, dass die First Organisation nicht mehr das ist, was sie in diesen Büchern einmal war. Seit Kajetan die Führung vor 20 Jahren übernommen hat, werden immer mehr unschuldige Strange Ones eingesperrt oder sogar öffentlich hingerichtet. Die F. O. mag einmal gut gewesen sein, doch das ist lange her. Willst du oder kannst du nicht verstehen, dass ich etwas unternehmen muss?“ Mit schief gelegtem Kopf mustere ich meinen Rucksack und hoffe gleichzeitig, dass mein Vorrat bis in die nächste Stadt reicht. Kai ist aufgestanden und geht unruhig auf und ab. Der Holzboden unter seinen Füßen knarrt an derselben Stelle, an der er schon immer geknarrt hat. Welch heimisches Geräusch! „Natürlich versteh ich dich, aber du bist jetzt nur aufgebracht, weil sie den alten Strong abgeholt haben. Mir tut das genauso weh wie dir und trotzdem renne ich nicht einfach los und versuche, den Frieden zu vernichten!“ Nein, er versteht mich nicht. Nicht nur der Schmerz, meinen Ziehvater verloren zu haben, treibt mich dazu, es ist derselbe Schmerz, der mich auch heimsuchte, als sie meine Mutter vor 14 Jahren holten. Damals war ich gerade mal 6 Jahre und konnte rein gar nichts gegen die Haifische, also Kajetans Laufburschen, ausrichten. Doch zum Glück nahm unser Nachbar, der sich einfach nur Mr. Strong nannte, uns auf und begann, mich zu trainieren. „Auch anderen geht es so wie uns. Sieh dich doch mal in unserem Dorf um, von außen sieht alles normal aus, doch wenn man genauer hinsieht, kann man den Schmerz in den Augen der Leute erkennen. Und ich möchte, dass dieser Schmerz aufhört! Die F. O. ist bei den Leuten schon lange nicht mehr so beliebt, wie sie es früher war. Ich verhindere eher einen Krieg, als dass ich einen anzettle. Hör zu, Kai, ich will mich nicht mit dir streiten. Auch wenn du für mich wie ein Bruder bist, kannst du mich nicht von meiner Entscheidung abbringen. Irgendjemand muss endlich etwas tun – und das werde ich sein.“ „Du hast ja irgendwie recht“, stimmt er mir zu und folgt mir von der Küche zur Haustür. „Aber du solltest größere Städte, wie Nif zum Beispiel, meiden. Sie suchen dich bestimmt schon – immerhin hast du einen von Kajetans Leuten auf dem Gewissen.“ Ein mulmiges Gefühl breitet sich in meinem Magen aus wie immer, wenn ich daran denke. „Fast. Ich hab ihn fast getötet.“ Das alles ist nur passiert, weil ich ausgerastet bin, als sie Strong abholten. Ich hab die Kontrolle über mich verloren und bin auf einen von Kajetans Leuten losgegangen. Im Prinzip ist es also egal, ob ich mich mit der F. O. anlege oder nicht, sie suchen mich sowieso. „Am besten gehst du zuerst nach Siu. Es ist ein kleines Dorf an der Grenze zum Land der kalten Sonne. Die Leute dort halten nicht viel von der F. O. und halten sich aus so ziemlich allem raus“, schlägt Kai mir vor. Dankbar nicke ich ihm zu und verlasse, ohne mich zu verabschieden, das Haus. „Hast du überhaupt eine Karte eingepackt?“, ruft Kai mir nach. „Nö. Ich find schon hin“, antworte ich und mache mich auf den Weg nach Ira, dem nördlichsten Ort des Kontinents und zugleich Hauptquartier der F. O.

Nach ein paar Stunden bin ich bereits am Schattenwald angekommen. Silverland, das südlichste Land, ist nicht sehr groß und mein Dorf liegt nah an der Grenze. Um den Schattenwald zu durchqueren, würde ich aber bestimmt zwei bis drei Tage brauchen. Gut, dass ich so viel zum Essen eingepackt habe. Der Schattenwald ist ein unbewohntes, düsteres Stück Land. Die großen Wendelbäume, deren Wurzeln so hoch wie Häuser und ineinander verschlungen sind, lassen so gut wie kein Tageslicht durch. Meine Gedanken driften zum alten Strong ab. Es gibt einfach keinen plausiblen Grund, warum die F. O. ihn abgeholt hat – immerhin werden nur Strange Ones von ihnen „verhaftet“, was Strong ja nicht ist. Er ist ein einfacher, alter Knacker mit einer harten Schale und einem weichen Kern. Meine Mutter dagegen ist ein Strange One – oder war ein Strange One? Ich habe keine Ahnung, ob sie überhaupt noch am Leben ist oder im Gefängnis vor sich hinvegetiert. Aber falls sie noch lebt, werde ich sie schon da rausholen. Eigentlich ist das System der First Organisation nicht schwer zu verstehen; die Strange Ones werden in Gefahrenstufen eingeteilt. Je stärker ihre Fähigkeiten sind, umso höher ist auch die Stufe. Strange Ones ab der Gefahrenstufe 6 sind generell eine Bedrohung und werden bei dem kleinsten Vergehen weggesperrt. Das Seltsame an der ganzen Sache ist jedoch, dass meine Mutter zur Gefahrenstufe 3 gehört. Sie ist ein Wandler und kann sich, wie das Wort schon sagt, in einen Fuchs verwandeln. Es gibt weitaus gefährlichere Wandler als sie und doch wurde sie eingesperrt – was das wohl für einen Sinn hat? Immer wenn ich in den Spiegel sehe, meine ich, die grauen Augen meiner Mutter zu erkennen. So ziemlich das Einzige, was wir gemeinsam haben. Mein dunkelbraunes Haar muss ich von meinem Vater geerbt haben; ihn habe ich nie kennengelernt und kann mich deshalb auch nicht an ihn erinnern, aber Mama hat nie ein schlechtes Wort über ihn verloren. Außerdem muss ich bei dem Wort Vater an Strong denken, denn für mich ist er das. Während des Trainings war er zwar immer hart und wirkte unbarmherzig, aber sobald es Abend war, Kai und ich uns auf das Essen stürzten, war er wieder der gutherzige, verständnisvolle Mann. Gerade diese Erinnerungen treiben mich an – lange genug habe ich zugesehen, es wird Zeit, dass wir uns wehren! Ein Wimmern lässt mich aufhorchen und vertreibt all meine Gedanken. Sofort bleibe ich stehen und horche in mich hinein; eine Technik, die mir Strong beigebracht hat: Mithilfe des Instinktes kann ich die Anwesenheit anderer Lebewesen spüren. Nördlich von mir befindet sich definitiv jemand, ein Kind würde ich sagen. Im Laufschritt eile ich zu dem Fremden und entdecke einen Jungen mit blonden Locken, der unter einer Wurzel kauert. Seine Knie sind aufgeschürft und bluten ziemlich stark. Als er mich sieht, weiten sich seine Augen und er versucht, sich noch enger zusammenzurollen. Langsam gehe ich auf die Knie, suche im Rucksack nach meinem Erste-Hilfe-Koffer und frage den Jungen: „Welche blöde Aktion hat dich denn in den Schattenwald getrieben?“ Misstrauisch blickt er mich an, antwortet jedoch nicht. Also beginne ich, seine Knie zu verarzten. Der Junge tritt mich gegen die Brust und brüllt: „Hau bloß ab, du beschissener Haifisch! Ich brauch deine Hilfe nicht! Ihr wollt mich doch sowieso nur einsperren!“ Verwirrt lege ich den Kopf schief und schaue ihn lange an. „Erstens bin ich kein Haifisch. Zweitens brauchst du sehr wohl meine Hilfe. Und drittens, warum will dich Kajetan einsperren? Wie alt bist du? Zehn?“

„Wieso sollte ich dir glauben?!“

„Weil ich dich sonst sicher nicht verarzten würde.“

„Das heißt noch lange nichts! Gehört alles zu deiner Taktik!“

„Ich bin viel zu faul, um mir eine Taktik zu überlegen. Ich denke nicht viel nach, bevor ich handle.“

„Ist aber nicht immer klug.“

„Liegt im Auge des Betrachters. Aber versuch mal Folgendes: Stell dir selbst eine Frage und antworte, ohne nachzudenken – die Antwort entspricht der Wahrheit. So kann man sich nicht selbst belügen“, erkläre ich ihm.

„Das mag ja sein, aber etwas zu denken oder gleich zu handeln, sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Aber ich denke, ich weiß, worauf du hinauswillst.“ Der Junge macht eine kurze Pause und atmet tief durch. „Na gut, ich glaub dir. Aber nur, weil Haifische viel zu dämlich sind, um so etwas zu sagen; dass Dummheit nicht wehtut, macht mich echt traurig.“

Lauthals pruste ich los und beginne, seine Wunden zu versorgen.

„Starke Worte für ein Kind. Wie heißt du eigentlich?“, sage ich anerkennend.

„Ich bin kein Kind mehr! Okay, ich sehe aus wie ein Kind, aber ich hab bestimmt einen höheren IQ als die meisten Leute in Nif. Mein Name ist Thomas und ich bin elf Jahre. Nicht zehn!“

Sein Gesicht läuft puterrot an, während er sich beschwert. Wohl auch ein Strange One; für mich aber interessant, dass er eine mentale Fähigkeit besitzt, denn die sind verdammt selten. Die meisten sind Wandler, dann kommen die physischen Fähigkeiten und gerade mal 2 % der gesamten Strange Ones besitzen mentale Kräfte. Obwohl diese Art von Kraft gefährlicher werden kann als jede Muskelkraft, werden sie doch immer wieder unterschätzt. Ich begutachte zufrieden mein Werk an Thomas’ Knien und frage: „Also, was machst du hier?“ Mühsam richtet sich Thomas auf, woraufhin auch ich aufstehe und ihm hoch helfe.

„Nachforschungen“, murmelt er.

„Nachforschungen? Wonach?“

„Der F. O.! Ich suche den Stützpunkt im Schattenwald, dort gibt es angeblich viele Bücher und Dokumente …“

Misstrauisch hebe ich die Augenbrauen und starre ihn lange an. Meint er das ernst? Was findet man schon in Büchern darüber?

„Und was machst du hier, wenn du kein Haifisch bist?“, fragt Thomas energisch. Warum um alles in der Welt ist er denn so zornig?

„Ich bin auf dem Weg nach Ira. Es wird Zeit, dass jemand diesem Kajetan gewaltig den Arsch aufreißt!“

Thomas krümmt sich vor lauter Lachen und grunzt dabei jedes zweite Mal, aber diese Reaktion habe ich bereits erwartet. Alles andere als behutsam packe ich mein Verbandszeug wieder in den Rucksack, schenke Thomas ein Lächeln zum Abschied und mache mich auf den Weg.

„Das kann doch nicht dein Ernst sein?! Du willst nicht ernsthaft allein nach Ira gehen, oder?!“, brüllt er mir hinterher. Seine Schritte klingen dumpf auf Waldboden, als er mir hastig nacheilt. Wie kann ein Zwerg wie er so einen gewaltigen Lärm veranstalten? Ich antworte ihm, dass ich genau das vorhabe, woraufhin ihm der Atem stockt. Schweigend geht er mir eine Zeit lang hinterher. Ich verlangsame meine Schritte, damit er mit seinen verletzten Beinen mithalten kann. Für seine Größe, die Verletzungen und sein Alter hält er wirklich gut Schritt mit mir, bleibt erst stehen, als ich mir einen Schlafplatz suche. Zwar ist es noch zu früh, um sich schlafen zu legen, aber der Kleine braucht eine Pause und ich bin mir zu 100 % sicher, dass er mir selbst auf allen vieren gefolgt wäre. Etwas abseits von mir lässt er sich auf den harten Boden fallen und atmet schwer. Die Verbände an seinen Knien haben bereits rote Flecken, weil er es einfach nicht lassen konnte, mir zu folgen. Ich werfe ihm meine dunkelblaue Wolldecke zu und beginne, kleine Äste für ein Feuer zu suchen. Thomas bedankt sich natürlich nicht, sondern folgt jeder meiner Bewegungen mit Argusaugen. Keine Ahnung, was in ihm vorgeht, aber es bringt mich zum Schmunzeln. Er sagt immer noch nichts, als ich die Äste auf den Boden lege, sie zu einem Berg auftürme und meine Hand darüber halte. Das so vertraute Kribbeln in meiner Haut kündigt meine Fähigkeit bereits an. Thomas fallen fast die Augen aus den Höhlen, als sich zwischen meinen Fingern kleine, schwarze Blitze bilden und wild umhertanzen. Schließlich schicke ich einen dieser Blitze auf den Holzhaufen, welcher kurz raucht und dann zu brennen beginnt. Ich lege den Kopf schief und sehe ihn mit einem fetten Grinsen an. „Das ist … der Wahnsinn! Ich hab schon viele Strange Ones getroffen, aber noch keinen mit so einer Fähigkeit! Wie viel Volt hat einer deiner Blitze? Wie groß ist die Reichweite? Bist du auch so eine Art Blitzableiter?“, die Fragen sprudeln nur so aus ihm heraus. Wer hätte gedacht, dass er auch weniger grantig klingen könnte? „Ich kann dir auf alle Fragen nur eine Antwort geben: keinen Schimmer! Ich hab dir schon gesagt, dass ich nicht viel von solchen Gedanken halte.“ Er brummt irgendetwas vor sich hin und hört sich dabei wie ein Bärenjunges an. „Auch wenn du starke Fähigkeiten hast“, beginnt er, „heißt das noch lange nichts! Du willst wirklich allein nach Ira spazieren? Einfach so? Ich will dir ja echt nicht zu nahetreten, aber bist du dumm?“

„Schon klar, dass es nicht einfach wird. Aber ich schaffe das schon!“, antworte ich.

„Du rennst in dein Verderben!“, brüllt der Schreihals wieder.

„Aber ich kann nicht länger mit ansehen, wie immer mehr unschuldige Strange Ones eingesperrt oder getötet werden! So kann das nicht weitergehen!“, ich werde nur selten laut, doch in diesem Moment ist meine Stimme sogar lauter als seine. „Tut mir leid, dass ich dich anbrülle! Ich weiß, du kannst nichts dafür!“, schreie ich weiter, bis wir uns vor lauter Lachen nicht mehr einkriegen. „Wieso recherchierst du über die F. O.?“, frage ich, nachdem wir es uns neben dem Feuer gemütlich gemacht haben. Thomas beißt von dem Apfel ab, den ich ihm gegeben habe, und antwortet: „Meine Schwester Rebecca wurde vor zwei Jahren von der F. O. abgeholt und seitdem suche ich nach Informationen. Mir wäre schon geholfen, wenn ich wenigstens die Baupläne vom Hauptquartier hätte, dann könnte ich vielleicht etwas unternehmen.“ Seine Augen verdunkeln sich zu zwei schwarzen Seen, während er spricht. Ich kann seinen Zorn nur zu gut verstehen. Trotzdem schmunzle ich: „Ah, so ist das! Ich renn also in mein Verderben, aber du kommst bestimmt ohne Probleme hinein, oder wie?“ Thomas beißt sich auf die Lippe, zieht die Augenbrauen zusammen und starrt mich finster an. Innerlich bereite ich mich schon auf seinen nächsten cholerischen Anfall vor. Zu meiner Überraschung lacht er nur kurz auf und schüttelt den Kopf. „Dann tun wir uns eben zusammen“, murmelt er nachdenklich. „Auf keinen Fall. Versteh mich nicht falsch, du bist ein intelligentes Kerlchen, aber Intelligenz hilft dir bei diesen Idioten, deren Gehirn so groß wie eine Erbse ist, nicht weiter. Manchen muss man Vernunft einprügeln und ich glaube kaum, dass du das in deinem Alter schaffst“, erkläre ich sachlich, um ihn nicht zu verletzen. Ich will damit nicht sagen, dass er schwach oder langsam ist, aber die gesamte Wache der F. O. wurde zu Killern ausgebildet. Resigniert seufzt er und reibt sich die Augen. „Das weiß ich“, haucht er, „aber lass mich dir wenigstens helfen, soweit ich kann.“ Mit einem Grinsen nicke ich, was sein Gesicht zum Strahlen bringt. „Es gibt in jedem Abschnitt von Cinaria eine Basis der F. O., auch hier im Schattenwald. Ich schätze, dass ich dort viele Dokumente, Aufzeichnungen und sogar eine Karte finden kann. Du musst nur die Haifische und den Patron ablenken, damit ich alles in Ruhe suchen kann.“

„Den Patron?“ „Ja … kennst du die nicht? Ist das dein Ernst?! Du planst, die F. O. aufzuhalten, aber weißt absolut nichts über sie?! Willst du mich verarschen?“ Thomas brüllt wieder einmal.

Ich muss mich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen, trotzdem klingt meine Stimme belustigt, als ich antworte: „Mach doch kein Drama draus. Ich mach bei den F. O. Leuten keinen Unterschied, sobald sie mich nicht durchlassen. Also was ist ein Patron?“