Vorwort

Dieses Buch ist einer jahrzehntelangen Enttäuschung entsprungen, die sich sowohl im privaten als auch beruflichen Umfeld aufbaute. Es ist die Enttäuschung darüber, wie viele kluge Menschen sich tagtäglich mit einfachsten Mitteln täuschen und manipulieren lassen, obwohl sie es eigentlich besser wissen. Gewitzte Personen, die sich im Alltag nicht übers Ohr hauen lassen würden, versinken in andächtiges Schweigen, wenn jemand behauptet, dass sein Argument wissenschaftlich gesichert ist. Menschen, die in ihrem Berufsleben oder ihren Hobbies komplexe Probleme lösen, scheuen sich vor einfacher Prozentrechnung. Mediziner, die über Jahre systematisch methodisch ausgebildet wurden und ihre hervorragenden Kenntnisse auf ein hoch spezielles Fachgebiet anwenden, meiden die kritische Auseinandersetzung mit offensichtlichem Unsinn, weil sie sich unsicher fühlen.

Dieses Verhalten, das Ausweichen der Gebildeten und das Flüchten unter einen „Tarnschirm der Dummheit“, wird den meisten Menschen nicht gerecht, weil sie durch schwierige, sehr komplexe Entscheidungen und vernünftiges Handeln täglich beweisen, dass sie klüger sind, als sie sich geben. Dadurch, dass diese Menschen es aber dennoch kaum wagen, öffentlich ihren Verstand und ihre Vernunft zu gebrauchen, ebnen sie den Weg für die gegenwärtige Inflation von Halb- und Nichtwissen, das sich ungehindert auszubreiten scheint. Weil offensichtlicher Unsinn in den Zeitungen, Zeitschriften und Talk-Shows unwidersprochen bleibt, fühlen sich Spinner und Märchenerzähler berechtigt, ihre Phantasien als Wirklichkeit auszuweisen. Wir ärgern uns zwar alle über die zunehmende Verflachung von Argumenten und Diskussionen, tun aber selbst wenig, um das Niveau auf eine akzeptable und angemessene Ebene zu heben. Wir wundern uns alle über unsinnige Entscheidungen, die auf schlechten oder manipulierten Informationen beruhen, schreiten aber nicht ein, um die relevanten Informationen zu liefern oder zu fordern. Im Zeitalter des Internets bedarf es nicht unbedingt  Wikileaks, um viele relevante Informationen zu finden. Egal, wo wir uns gerade befinden und welches Kommunikationsmedium wir nutzen, überall begegnen wir Sinn und Unsinn, Wissen und Glauben, Wahrheit und Falschheit.

Das vorliegende Buch kann uns darin unterstützen, scheinbar wissenschaftlich fundiertes Wissen kritisch und konstruktiv zu bewerten. Ein fester und unkontrollierter Glaube an wissenschaftliche Erkenntnisse ist genauso wenig gerechtfertigt, wie das ausschließliche Vertrauen auf die persönliche Intuition oder der Glaube an Autoritäten. Um sich dieses Vermögen der kritischen Bewertung anzueignen oder es zu aktualisieren, wenn man es bereits hat, bedarf es keines intensiven Universitätsstudiums oder akademischen Abschlusses. Mit etwas Mühe und Ausdauer und angetrieben durch die erforderliche Neugierde sollte es möglich sein, die hier vorgetragenen Beispiele und Argumente nachzuvollziehen und zu verstehen. Es wird am Ende leichter sein als das Handbuch eines modernen Fernsehers oder die Anleitung für ein Betriebssystem von Computern – was bekanntermaßen Millionen beherrschen.

Berlin 2017

1. Die Mission

Im Beruf, beim Lesen, im Internet, im Gespräch oder beim Fernsehen werden wir mit Argumenten konfrontiert, die wir glauben sollen und die angeblich abgesichert sind. Einige Argumente werden durch die Eigenschaft „wissenschaftlich“ besonders ausgezeichnet. Sie erhalten ein Qualitätssiegel, das bewusst dazu verwendet wird, uns zu überzeugen. Mit dem zusätzlichen Gebrauch von „wissenschaftlich“ werden Argumente gezielt unterstützt, um unsere möglichen Zweifel schlagartig auszuräumen. Wir haben in den letzten Jahrhunderten gelernt, mehr Vertrauen in Argumente zu investieren, wenn sie wissenschaftlich überprüft oder untersucht wurden.

Dieses vermehrte Vertrauen gegenüber wissenschaftlich abgesichertem Wissen darf aber kein grenzenloses, blindes Vertrauen sein. Wir sollten verstehen, worauf dieses Vertrauen beruht, und dann ganz konkret prüfen, ob dieses Vertrauen auch gerechtfertigt ist. Auch wissenschaftlich abgesicherte Argumente können nämlich völlig falsch sein. Das mag uns auf den ersten Blick vielleicht verwundern, aber ein zweiter kurzer Blick in unsere Geschichte belehrt uns eines Besseren. Vor einigen Jahrhunderten wussten wir ganz sicher, dass die Sonne sich um die Erde dreht. Es war wissenschaftlich abgesichert, dass die Erde im Mittelpunkt des Universums steht und sich alles um die Erde dreht. Es bestand kein ernsthafter Zweifel daran, denn schließlich sahen die Menschen jeden Tag wie die Sonne wanderte. Vor wenigen Jahrhunderten waren weder Bakterien noch Viren bekannt, so dass äußerst gewagte und völlig falsche Erklärungen für die sehr häufigen Infektionserkrankungen existierten, die alle als gesichert galten. Viele Menschen wurden damals fälschlicherweise angeklagt, gefoltert oder hingerichtet, weil sie angeblich für eine Infektionskrankheit wie die Pest verantwortlich gewesen sein sollen. Wir sollten nicht hoffen, dass der gesunde Menschenverstand uns leiten wird, die guten von den schlechten Argumenten zu trennen, oder dass er uns vor krassen Fehlurteilen schützt. Früher haben gebildete Personen Tierprozesse geführt und dabei unter anderem Schweine wegen Mordes verurteilt oder Hähne wegen Hexerei angeklagt, weil sie ein Ei gelegt haben sollen. Unser so hoch geachteter Verstand lässt uns manchmal im Stich, so dass wir völlig abstruse Erklärungen glauben und danach handeln.

Worauf basiert unser gegenwärtiges Vertrauen, wenn wir von wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnissen sprechen? Warum fordern wir heute, dass die relevanten Informationen vor wichtigen Entscheidungen wissenschaftlich überprüft wurden? Warum verlassen wir uns nicht einfach wie früher auf die Erfahrung von Autoritäten, auf die geschriebenen und tradierten Weisheiten unserer Ahnen oder auf unsere persönlichen Intuitionen? Die Antwort ist einfach: Weil wir uns nachweislich häufiger irren würden, wenn wir uns nicht auf wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse beziehen, sondern stattdessen weniger objektive und fragwürdigere Erkenntnisquellen nutzen. Die wissenschaftlichen Methoden haben ihre Grenzesi und Schwächen, aber es sind die besten Methoden, über die wir gegenwärtig verfügen, um zu verlässlichem Wissen zu gelangen. Und wir wollen hier beschreiben, worauf diese Methoden beruhen und wie man mit ihnen gewissenhaft umgeht. Was allerdings nicht bedeutet, dass man diese Methoden nicht auch falsch oder schlampig anwenden kann oder sie gezielt einsetzt, um zu betrügen.

1.1 Voraussetzung

Wer solch ein Buch in die Hand nimmt und es durchblättert, hat eigentlich schon die erste Hürde genommen und seine Neugierde bewiesen. Der Leser wird aber wissen wollen, ob sich die Zeit lohnt, dieses Buch tatsächlich zu lesen. Er wird wissen wollen, was vorausgesetzt wird, was er erwarten kann und wie er am Ende belohnt wird. Allen drei Fragen werden wir uns jetzt widmen.

Was wird vom Leser erwartet? Zunächst einmal nicht mehr als eine natürliche Neugierde und ein unkompliziertes Interesse an wissenschaftlichen Fragestellungen. Verlangt wird ein gesunder und kritischer Menschenverstand, der sich nicht durch einfache Tricks hinters Licht führen lässt, sondern der bereit ist, die einzelnen Argumente sorgfältig abzuwägen. Wer blind und bedingungslos anderen Menschen vertraut, weil sie etwas behaupten, oder wer einfach an etwas glaubt, weil es irgendwo geschrieben steht, der ist für dieses Buch ungeeignet und sollte es nicht lesen. Was hier erwartet wird, ist eine generelle Skepsis gegenüber vermeintlich sicherem Wissen. Immer wenn jemand besonders intensiv und vehement behauptet, dass er etwas ganz genau und ganz gewiss weiß, sollten wir skeptisch reagieren. Unser Zweifel sollte darin münden, dass wir nachfragen, woher er das denn so genau weiß bzw. wie er zu dem sicheren Wissen gelangt ist. Jemand, der von seiner Grundeinstellung nicht skeptisch ist, sondern alles glaubt, was gedruckt oder in anderen Medien veröffentlicht wurde, der sollte zu anderen Büchern greifen.

Zusätzlich zu einer minimalen Skepsis wird ein gewisses Durchhaltevermögen erforderlich werden, was für Mediziner eigentlich kein Problem sein sollte. Da die Argumentationen meistens aufeinander aufbauen, kann das Buch nicht von hinten nach vorn gelesen werden. Wenn jemand einzelne Abschnitte überspringt, dann könnten Verständnisschwierigkeiten auftreten. Es wird deshalb dazu geraten, es von vorn nach hinten zu lesen. Da die Dichte der Argumente hier höher sein wird als in der Unterhaltungsliteratur, werden wir uns gelegentlich beim Lesen und beim Nachdenken über das Gelesene anstrengen müssen. Vielleicht wird es auch erforderlich, den einen oder anderen Abschnitt noch einmal zu lesen. Das soll uns aber nicht abschrecken, denn für die Mühe, die wir dabei aufbringen müssen, werden wir reichlich belohnt. Anstrengen müssen wir uns jedenfalls, denn ohne eine gewisse Mühe werden wir uns nicht weiterentwickeln. Und dass das hier ein interessanter Unterhaltungsroman ist, den wir im müden Zustand als Bettlektüre genießen werden, würde uns sowieso keiner glauben.

Was nicht erwartet wird, sind Kenntnisse in höherer Mathematik, Logik oder gar Wissenschaftstheorie. Die vier Grundrechenarten und ein wacher Verstand sind zum Verständnis völlig ausreichend. Einige mögen sich darüber wundern, warum wir von vornherein auf die gesamte komplizierte Mathematik verzichten können. Die Antwort ist auch dieses Mal einfach: Weil wir heutzutage exzellente Computerprogramme haben, die uns die Rechenarbeit abnehmen. Wenn wir ein ausreichendes Verständnis über die Methoden gewonnen haben, dann können wir die Berechnung mit gutem Gewissen den überall verfügbaren Softwareprogrammen überlassen. Heutzutage würde auch keiner mehr auf die Idee kommen, hundert Zahlen mit der Hand zu addieren. Wir verwenden Taschenrechner oder geben die Daten in ein Tabellenkalkulationsprogramm ein.

Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Sie suchen an einem kalten Dezembertag in einem großen Einkaufszentrum Weihnachtsgeschenke für Ihre Familie. Nach erfolgreicher „Jagd“ kehren Sie mit Ihrer „Beute“ zu Ihrem Auto zurück, das Sie in einem Parkhaus abgestellt haben. Ein älterer Herr nähert sich Ihnen und bittet Sie um Starthilfe, weil sein alter Nissan nicht mehr anspringt. Er sagt, das wäre bereits kürzlich schon einmal geschehen, so dass er eine leere Batterie als Ursache vermutet. Können Sie dem Mann helfen und ihm Starthilfe geben, damit sein Auto wieder anspringt? Wahrscheinlich wird es Ihnen so gehen wie den meisten Personen. Sie würden die Frage bejahen, aber zugleich nach der Gebrauchsanweisung im Auto suchen. Dort steht nämlich genau beschrieben, welches Kabel an welcher Stelle in welcher Reihenfolge anzuschließen ist, damit kein Auto Schaden nimmt.

Sollten Sie die Frage nach der Starthilfe bejahen können, dann können Sie auch erfolgreich dieses Buch studieren, denn es kann wie eine Gebrauchsanweisung gelesen werden. Sollten Sie aber noch nicht ausreichend von Ihren geistigen Fähigkeiten überzeugt sein, weil es zu einfach klingt, um wahr zu sein, werden wir jetzt einen schwereren Test wählen. Stellen Sie sich vor, Sie haben gerade einen neuen Fernseher gekauft. Können Sie den Fernseher gemäß der beiliegenden Gebrauchsanweisung anschließen? Können Sie die Batterien in die Fernbedienung legen und den Fernseher dann so konfigurieren, dass Sie tatsächlich die Fernsehkanäle sehen, die Sie sehen wollen? Wenn Sie diese Frage mit „ja“ beantworten können, dann sind Sie bereits überqualifiziert für dieses Buch. Wenn Sie sogar noch einen DVD-Spieler anschließen können, dann ist der Erfolg mehr als garantiert. Ja, dieses Buch wird Sie unterfordern – aber Sie sollten es dennoch lesen.

1.2 Erwartung

Dieses Buch wurde in erster Linie aus dem Grund geschrieben, die vordergründige Missempfindung oder gar die Abscheu gegenüber wissenschaftlichen Methoden abzubauen. Die Überfrachtung der wissenschaftlichen Methodik mit unverständlichen Begriffen, eingebettet in komplexe mathematische Formeln, hat dazu geführt, dass viele Personen es strikt vermeiden, sich mit modernen wissenschaftlichen Methoden vertraut zu machen. Komplexe Überprüfungsverfahren erscheinen so verwirrend, dass wir eher Täuschungsversuche hinter ihnen vermuten als mehr Transparenz. Allein die Verwendung von Begriffen wie „Statistik“ oder „statistisch“ führt bei einigen Personen zur reflexartigen Abwehr und manchmal auch zu Übelkeitsattacken.

Hinzu kommt, dass wir mögliche Irrungen und Wirrungen als Laien nicht wirklich durchschauen. Komplexe Analysen erscheinen uns zunächst als sehr verdächtig, obwohl sie fast immer erforderlich sind und meistens völlig korrekt durchgeführt wurden. Aber weil wir uns mit den Methoden nicht auskennen, bleibt unser Misstrauen bestehen. Zusätzlich wird unsere Skepsis genährt durch Sprüche wie: „Traue keiner fremden Statistik, sondern nur der eigenen.“ oder „Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast.“.

Dieses allgemeine Misstrauen ist nicht angebracht und die unterstellten Vermutungen über grundsätzliche Betrügereien sind schlichtweg falsch, denn sonst würde es wohl kaum dieses Buch geben. Es gibt zwar auch Bücher darüber, wie wir durch Statistik lügen und betrügen können. Aber wenn wir den Inhalt dieser Bücher genauer betrachten, beschreiben die Verfasser eher, in welcher Art und Weise die „Lügner“ und „Betrüger“ gegen anerkannte wissenschaftliche Methoden verstoßen. Wir werden hier die korrekten Methoden vorstellen und zugleich auf mögliche Fallstricke eingehen. Aus den negativen Beispielen können wir dann lernen, wie wir nicht vorgehen sollten. In diesem Buch wollen wir unter anderem erlernen, wie wir uns nicht durch einfache Tricks täuschen lassen. Damit können wir natürlich nicht ausschließen, dass versierte Betrüger uns gezielt und bewusst täuschen, indem sie sich komplizierter Tricks der Statistik bedienen. Solche Betrüger können nur von Fachleuten entlarvt werden, die die angewendeten publizierten Methoden und Daten überprüfen. Ob ein Betrüger erfolgreich ist,  hängt letztlich von den Fähigkeiten des Betrügers und des Betrogenen ab. Wer als Betrogener nicht vorsichtig und umsichtig ist, wer nicht skeptisch ist und wer die Behauptungen nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft, der macht es den Betrügern allzu leicht.

1.3 Belohnung

Dieses Buch wurde für diejenigen geschrieben, die eine systematische Einführung in die Sinnhaftigkeit und Struktur wissenschaftlicher oder statistischer Methoden suchen, es aber bisher nicht gewagt haben, sich mit diesen auseinander zu setzen. 

Wir werden an einfachen Beispielen die Grundbegriffe moderner wissenschaftlicher Methoden erläutern. Es werden praktische Vorgehensweisen erklärt, um die Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit von Informationen zu beurteilen. Es werden die grundlegenden Vorgehensweisen wissenschaftlicher Methoden schrittweise eingeführt, so dass jeder in die Lage versetzt wird, die ersten selbständigen Schritte zur eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit zu wagen. Es werden komplexe Probleme verständlich analysiert, so dass auch umfangreiche Probleme lösbar erscheinen. Letztlich wird eine Einführung in die wissenschaftliche Vorgehensweise geboten, die im Alltag und wissenschaftlichen Betrieb erforderlich ist, um unserer heutigen Welt kritisch gegenübertreten zu können. Und wenn Sie dann wissbegierig geworden sind, wird es Ihnen auch leichter fallen, weitere und tiefergehende Werke über wissenschaftliche Methoden zu verstehen.

Wir wählen hier den Weg einer „Statistik ohne Statistik“, was sich zunächst so seltsam anhört wie „Brot ohne Brot“ oder „Auto ohne Auto“. Es klingt, als ob wir hungern oder zu Fuß gehen müssten, obgleich wir es besser haben könnten. Es klingt, als ob wir auf etwas Gutes, auf etwas Bekanntes verzichten müssten. Dieser Eindruck ist falsch, denn das soll mit dem Titel nicht nahe gelegt werden. „Statistik ohne Statistik“ soll meinen, dass wir das Gute an der Statistik bewahren und beherzigen und das vermeintlich Schlechte, das Abschreckende über Bord werfen. Wir wollen die unbegründeten Vorbehalte gegenüber der Statistik wegräumen, die häufig veröffentlichten Missverständnisse aufklären und die Ängste beseitigen, man könne Statistik nur als Mathematiker verstehen.

25. Unser Weltbild

Wir könnten unsere Ausführungen über Statistik an dieser Stelle mit gutem Gewissen beenden. Aber wir sind neugierige Wesen und fragen uns, worauf diese statistischen Verfahren beruhen. Gibt es möglicherweise ein Fundament, auf dem sie aufbauen? 

Wir werden jetzt die methodischen Grundlagen unseres wissenschaftlichen Weltbildes skizzieren. Wir werden dabei keine philosophischen Fragen stellen und auch jeder vermeintlich richtigen philosophischen Antwort ausweichen. Wir unterstellen, dass die grundlegenden Annahmen der Wissenschaftler richtig sind. Wir akzeptieren das gegenwärtige wissenschaftliche Weltbild als unser Fundament, als unseren Fels, auf dem wir die Wissenschaften errichtet haben. Wenn wir dieses Fundament nicht nutzen oder es kritisch in Frage stellen würden, dann müssten wir uns der philosophischen Argumentation der letzten Jahrtausende stellen. Das wäre zwar auch ein sehr interessantes Thema, aber nicht unseres. Wer sich außerhalb dieses wissenschaftlichen Weltbildes stellt, der steht konkret vor dem Problem, eine praktische Alternative bieten zu müssen, die genauso erfolgreich zu sein hätte. Eine solche Alternative ist bisher nicht bekannt.

Natürlich bedeutet die Akzeptanz des wissenschaftlichen Weltbildes nicht, dass wir bornierte Dogmatiker sind, die irgendeinem tradierten Aberglauben angehören. Es bedeutet nicht, dass sich dieses Weltbild nicht in der Zeit geändert hat und sich weiterentwickelt. Man wird die Weltbilder eines antiken Ägypters oder Chinesen, die vor vier Jahrtausenden ihre Kulturen entwickelten, nicht mit denen eines Westeuropäers oder Azteken am Ende des Mittelalters vergleichen können. Und auch unser gegenwärtiges Weltbild wandelt sich mit allen neuen Informationen, die wir den modernen Wissenschaften verdanken. Dabei sollten wir nicht nur an Astrophysik oder Nanotechnologie denken, sondern auch an Neurophysiologie, Sprachwissenschaften und Soziologie.

25.1 Kommunikation

Die wichtigste Forderung der modernen Wissenschaften besteht in einer adäquaten Kommunikation. Wir unterstellen immer stillschweigend, dass wir eine gemeinsame Sprache sprechen, durch die wir uns verständigen können. Wir wissen zwar, dass die Kommunikation zwischen verschiedenen Personen sehr anfällig für Missverständnisse ist, glauben aber fest daran, dass sich die Missverständnisse soweit ausräumen lassen, dass wir uns erfolgreich verständigen können. Unser gesamtes Leben in einer sozialen Gemeinschaft basiert auf erfolgreicher Kommunikation.

Nur wenn wir uns über eine gemeinsame Sprache verständigen, können wir tatsächlich über dasselbe reden. Nur wenn der andere versteht, was wir behaupten, kann er zustimmen oder ablehnen. Nur wenn der andere unsere Beschreibung versteht, kann er sich davon überzeugen, ob die Tatsache besteht oder nicht. Nur wenn wir uns untereinander verständigen können, dann kann Wissenschaft ihren Zweck erfüllen, uns objektiv über die Realität zu informieren. Deshalb werden wir unsere Argumente in einer einfachen Sprache vortragen und erforderliche Fachbegriffe nur verwenden, nachdem wir sie hinreichend erklärt haben. Dadurch sollten alle Argumente gut nachvollziehbar sein.

25.2 Realität und Schein

Wir unterstellen, dass wir als geistige Wesen an einer gemeinsamen Welt teilhaben, die wir Realität nennen. Unser Zugang zu dieser Realität ist selbstverständlich unterschiedlich. Jedes einzelne Individuum hat einen jeweils eigenen Zugang zu dieser gemeinsamen Realität und eine jeweils eigene Perspektive. Deshalb sprechen wir auch von der jeweils individuellen Wirklichkeit des Einzelnen. Im wissenschaftlichen Kontext geht es uns aber nicht um die subjektiven Wirklichkeiten, sondern um die gemeinsame Realität, über die wir uns verständigen, an der wir alle teilhaben und über die wir etwas Objektives erfahren wollen. Dabei ist uns bewusst, dass es keine Erkenntnisse ohne Subjekte geben kann. Objektive Erkenntnis steht im Gegensatz zur subjektiven Erkenntnis. Objektive Erkenntnis meint hier lediglich so viel wie intersubjektiv nachvollziehbare Erkenntnis, in der die subjektive Komponente so wenig Einfluss wie möglich gewonnen hat. Streng genommen, gibt es keine „rein“ objektive Erkenntnis. Wir akzeptieren, dass jede Beobachtung und jede Erfahrung immer eine subjektive Komponente enthält. Im wissenschaftlichen Kontext versuchen wir aber den Einfluss des subjektiven Eindruckes zu minimieren, um den objektiven (intersubjektiven) Charakter zu erhöhen.

Der Realität stellen wir den Schein gegenüber. Wir sprechen von Schein, wenn wir feststellen, dass ein Auto doch nicht rot, sondern grün ist; wenn ein Apfel doch nicht so süß schmeckt, wie wir vermutet haben; wenn das Einkommen doch nicht ausreicht, um ein lebenswertes Leben zu führen; oder wenn das Schmerzmittel doch nicht so stark wirkt, wie behauptet wurde. Wir unterscheiden in der Wissenschaft Tatsachen von Sachverhalten. Sachverhalte sind alle möglichen Zusammenstellungen von Dingen oder Geschehnissen, die wir sprachlich ausdrücken können. So kann unser Auto rot, gelb, schwarz oder grün sein, der Apfel kann süß oder sauer sein, und die Person kann blond, rot- oder dunkelhaarig sein. Alle diese Sachverhalte können wir in Sätzen formulieren. Wir können die Sachverhalte allesamt behaupten. Aber nur dann, wenn sie tatsächlich zutreffen, wenn die Sätze, Aussagen oder Behauptungen tatsächlich wahr sind, wenn die Sachverhalte in der Realität bestehen, erst dann sprechen wir von Tatsachen. In der Wissenschaft geht es um Tatsachen, denn wir wollen wissen, wie die Realität wirklich beschaffen ist. Wir wollen nicht wissen, wie sie beschaffen sein könnte oder welche Gesetzmäßigkeiten möglich sind, sondern wir wollen die tatsächlichen Gesetzmäßigkeiten herausfinden.

25.3 Wahrheit

Wir sprechen in wissenschaftlichen Argumenten über Tatsachen. Wir behaupten, dass etwas genauso und nicht anders ist. Wir behaupten, dass ein Dieselmotor eine bestimmte Kraft entfaltet, dass ein Medikament eine bestimmte Krankheit heilt und ein Kunststoff aus bestimmten Molekülen besteht. Mit allen diesen Behauptungen erheben wir den Anspruch auf Wahrheit. Wahrheit ist eine Eigenschaft von Sätzen. „Wahr zu sein“ bedeutet nichts anderes, als dass etwas zutrifft bzw. dass es in der Realität besteht. Demnach ist der Satz „mein Auto hat eine grüne Farbe“ genau dann wahr, wenn mein Auto grün ist. Wenn jemand die Hypothese aufstellt, dass das Operationsverfahren A den Krebs häufiger heilt als das Verfahren B, dann ist die Hypothese genau dann wahr, wenn durch das Verfahren A tatsächlich mehr Krebsleiden geheilt werden.

Wenn wir eine Behauptung ernsthaft äußern, dann behaupten wir zugleich die Wahrheit der Aussage. Das ist aber noch nicht alles. Wir übernehmen nämlich zugleich eine Verpflichtung. Wenn wir etwas behaupten, dann verpflichten wir uns, diesen Anspruch auf Wahrheit auch einzulösen. Sollte jemand eine Aussage bezweifeln, dann müssen wir ihm auch sagen, warum wir die Behauptungen für wahr halten. Es mag auf den ersten Blick ein bisschen kleinlich sein, darauf hinzuweisen, dass ein Wahrheitsanspruch auch einlösbar sein muss. Dieser Anspruch ist aber in der Wissenschaft elementar. Sollte jemand nämlich etwas behaupten und dann aufgrund berechtigter Zweifel den Anspruch nicht einlösen können, dann entzieht er sich der Überprüfbarkeit. Wer diese Verpflichtung nicht eingeht, der könnte dann Beliebiges behaupten. Damit bewegt er sich aus der wissenschaftlichen Welt heraus, denn berechtigte Zweifel sind immer erlaubt. Und unüberprüfbare Behauptungen sind für andere Personen wertlos, weil sie subjektiv und völlig willkürlich sind. Hier unterscheidet sich Wissenschaft von Scheindiskussionen, wie sie zum Teil am Stammtisch oder in Talk-Shows üblich sind. Während man dort eigentlich alles behaupten kann, weil niemand den Wahrheitsgehalt so richtig überprüfen kann, ist im wissenschaftlichen Kontext die Überprüfbarkeit eine unabdingbare Forderung. Gerade diese mögliche Überprüfbarkeit ist ein Qualitätsmerkmal der Wissenschaft, die sie von der üblichen Rede unterscheidet.

25.4 Zweifel

Können wir tatsächlich alles bezweifeln? Theoretisch ja, aber es macht wenig Sinn. Warum sollten wir unsere Existenz bezweifeln? Rene Descartes hatte es vor Jahrhunderten getan – aber mehr aus philosophischen Gründen und weil es ihm gerade am warmen Ofen zu langweilig war. Warum sollten wir daran zweifeln, dass vor uns auf dem Tisch ein herrlich duftender, leckerer Gemüseeintopf steht, auf den wir gerade Appetit haben? Es kann aus akademischen und methodischen Gründen sinnvoll sein, Sachverhalte oder vermeintliche Zusammenhänge in Zweifel zu ziehen. Aber selbst dort hat es sich erwiesen, dass man nicht alles ernsthaft bezweifeln kann. Im wissenschaftlichen Alltag stellen wir ebenfalls nicht alles gleichzeitig in Frage. In der Regel stützen wir uns auf ein verlässliches Gerüst, dem wir zunächst vertrauen, und tasten uns dann von dort weiter vor. Sollte sich erweisen, dass unser Vertrauen nicht gerechtfertigt war, dann sehen wir uns nach einem anderen Halt um.

25.5 Wissen und Glauben

Wir sind im Alltag gewohnt zwischen Wissen und Glauben zu unterscheiden. Gerade die wissenschaftlich fundierten Aussagen sollen sich ja dadurch auszeichnen, dass sie uns ein verlässliches Wissen präsentieren und nicht nur den einfachen Glauben von einigen Meinungsbildnern. Wir unterstellen dabei eine qualitative Unterscheidung von Glauben und Wissen. Worin aber besteht diese Unterscheidung? Warum unterstellen wir dem nur Gläubigen etwas Minderwertiges? Warum erscheinen uns bloße Glaubensbekenntnisse, Spekulationen oder Vermutungen als nicht so hochwertig wie tatsächliches Wissen?

Werfen wir dazu einen Blick auf die Begriffsbestimmungen von Glauben und Wissen bzw. von „ich glaube, dass …“ und „ich weiß, dass…“. Vor einigen Jahrtausenden behaupteten die Weisen der Menschheit, dass man Wissen von Glauben unbedingt unterscheiden müsse. Sie suchten damals nach einer Möglichkeit, zu tatsächlichem dauerhaftem Wissen (episteme) zu gelangen. Sie dachten darüber nach, wie sie zur Wahrheit vordringen können, zur objektiven Realität. Sie trachteten damals danach, das Wesen der Dinge und Geschehnisse zu erfassen, ihren Wesenskern. Dieses absolut sichere Wissen sollte die Realität so abbilden, wie sie ist. Nur wenn man zu diesem sicheren Wissen gelangt ist und somit weiß, was ein Gegenstand ist, wofür er da ist, woraus er besteht und wie er sich entwickelt, dann könnte man sich auch in Zukunft darauf verlassen, dass diese gefundenen Wahrheiten für immer richtig sind. Nur dieses Wissen wäre ein tragfähiges Fundament unserer Weisheit.

Im Gegensatz zu solch einem Wissen wurde damals das bloße Meinen, Glauben oder Vermuten (doxa) gesetzt, das lediglich vorläufig gilt und immer ungewiss bleibt. Dieser Glaube wurde im Vergleich zum Wissen als minderwertig und als nur wahrscheinlich eingestuft.

Diese qualitativ eindeutige Unterscheidung zwischen definitivem Wissen (episteme) und Glauben (doxa) wurde seit der Renaissance aufgeweicht und ist heute einer graduellen Bewertung gewichen. Wir haben uns davon abgewandt, dass es so etwas wie definitiv sicheres Wissen geben kann. Auf der einen Seite steht heute ein relativ sicheres Wissen und auf der anderen Seite ein unsicherer Glaube. Letztlich ist alles Glaube, doch mit einem unterschiedlichen Grad der Gewissheit. Absolute Gewissheit wird zwar angestrebt, sie ist aber bei allen interessanten Themenkomplexen unerreichbar. Vieles, was man früher als definitiv sicher zu wissen glaubte und was die klügsten Köpfe für unbedingt wahr hielten, erwies sich später als falsch: zum Beispiel Galens Anatomie, das geozentrische Weltbild, die Schöpfungsgeschichte oder die Phlogiston-Theorie.

Auch wenn die Trennlinie zwischen Glauben und Wissen nicht scharf ist, werden wir beide auch in Zukunft unterscheiden. Wir stützen uns dabei auf die folgende Interpretation: Wissen heißt, etwas zu glauben und zusätzlich berechtigte Gründe für diese Vermutung angeben zu können. Wir gestehen auch dem Wissenden zu, dass er nur glaubt. Daher fordern wir zusätzlich von ihm, dass er seinen Glauben gegenüber anderen rechtfertigt. Es sind demnach die Rechtfertigungen bzw. die Gründe, die Glauben und Wissen trennen. Es sind die intersubjektiven Rechtfertigungen des Wissens, die unsere höhere Gewissheit ausdrücken. Die Minderwertigkeit des Glaubens ist somit eine Minderwertigkeit der Rechtfertigung. Wenn jemand für seinen Glauben gute und überprüfbare Gründe angeben kann, dann werten wir das als Gewissheit. Wenn jemand dagegen nur sagt, dass er etwas glaubt und keine zusätzlichen oder nur schwache Gründe anbietet, dann werten wir das als Ungewissheit.

Ob jemand etwas zu glauben glaubt oder zu wissen weiß, hängt natürlich von seiner persönlichen Bewertung der Rechtfertigung, von den vorgefundenen Belegen oder Beweismitteln ab. Wenn wir uns ignorant verhalten und nur die Belege zulassen, die uns zusagen, dann halten wir alle unsere Behauptungen für absolut gerechtfertigt und schätzen den eigenen Glauben als sicheres Wissen ein. Wenn wir dagegen umsichtig nach den gesamten verfügbaren Belegen suchen, dann werden wir vielleicht häufiger zugeben, dass unsere Behauptungen doch nicht so sicher sind. Je umsichtiger wir werden, umso weniger borniert und toleranter werden wir.

25.6 Gründe

Eigentlich sollte bereits jetzt deutlich geworden sein, dass vieles, was wir heute für wahr halten und als Wissen schätzen, sich in Zukunft als falsch herausstellen könnte. Dabei sollten wir nicht an banale Sachverhalte denken, sondern an unsere komplexen Ideen über Demokratie, Wirtschaftssysteme, Chancengleichheit, Armut, Arbeitslosigkeit oder Klimakatastrophen. Über diese komplexen Sachverhalte kursieren sehr viele Hypothesen und viel „gesichertes Wissen“, das sich nicht selten widerspricht. Da das akzeptierte Wissen erheblichen Einfluss auf mögliche Lösungen ausübt und bessere Konzepte blockieren kann, sollte jedes vermeintlich sichere Wissen immer wieder überprüft werden.

Um die Wahrscheinlichkeit gering zu halten, dass wir uns irren, und um unsere subjektive Gewissheit zu erhöhen, sollten wir immer ein besonderes Augenmerk auf die verfügbaren Belege werfen, die als Gründe fungieren. Die Qualität dieser Belege ist ein ganz wichtiger Faktor, nach dem wir immer Fragen müssen. Die Qualität der Belege entscheidet letztlich darüber, für wie zutreffend wir die Gründe halten und inwieweit sie tatsächlich als gute Rechtfertigung geeignet sind. In einer wissenschaftlichen Argumentation sind die zugrunde gelegten Belege immer offen zu legen, weil wir sonst die Gründe nicht bewerten können.

Es ist heute völlig  unerheblich, welche Zeitung wir aufschlagen, welche Nachrichten wir im Fernsehen sehen, welche Bücher wir lesen oder auf welcher Webseite wir im Internet surfen, überall werden wir mit Informationen überhäuft. Diese Informationen erheben alle den Anschein, bedeutend und richtig zu sein. Beide Ansprüche können richtig oder auch falsch sein. Immer dann, wenn wir neugierig oder misstrauisch sind, sollten wir Handlungen, Verläufe oder Ergebnisse hinterfragen. Obgleich wir auf unsere Fragen eigentlich immer fundierte Begründungen erwarten, fallen diese doch sehr unterschiedlich aus. Deshalb sollten wir besonders gewissenhaft die Rechtfertigungen würdigen. Manchmal akzeptieren wir selbst schwache Begründungen und damit die vermeintlichen Zusammenhänge. Wir verlassen uns dabei einerseits auf unser Vorwissen, unsere früheren Erfahrungen und unsere Intuition und andererseits auf die Meinungen anderer.

Nicht alle Begründungen oder Informationen sind gleichwertig. Wer die Informationsbroschüren durchblättert, die in einer Apotheke ausliegen, der wird nicht dieselbe Verlässlichkeit und Genauigkeit wie in der Zeitschrift „Nature“ erwarten. Wer eine komplexe Frage über die genaue Wirkungsweise eines Laserstrahls stellt, der erwartet eine physikalische Erklärung, die möglicherweise nur einige Spezialisten im Detail verstehen und überprüfen können. Wer eine für Laien verständliche Antwort sucht, der wird sich damit zufrieden geben müssen, dass die Wirkungsweise nicht bis ins Detail, sondern nur „grob“ erklärt wird. In unserer arbeitsteiligen Welt ist es selbstverständlich, dass nicht jeder ein Spezialist für alles sein kann.

Bei schwierigen Rechtsfragen konsultieren wir Juristen, bei statischen Bauproblemen einen Statiker und bei Krankheiten Ärzte. Deren „korrekte“ Erklärungen sind für den Laien nicht immer vollkommen nachvollziehbar. Werden „korrekte“ fachmännische Erklärungen für den Laien vereinfacht, dann entstehen nicht selten „unkorrekte“, leicht verzerrte Erklärungen. Damit können wir aber gut leben, solange die Begründungen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fußen und nicht allein auf Intuition oder Glaube der Befragten. Wir würden unseren Hausbau nicht einem Statiker anvertrauen, der nur grob abschätzt, anstatt zu berechnen. Wir würden den Arzt wechseln, wenn wir das Gefühl bekämen, der Arzt spekulierte nur auf Krankheiten, anstatt sich durch Untersuchungen zu vergewissern.

Auch wenn wir nach wissenschaftlichen Erkenntnissen suchen und sie als Gründe für unser Wissen angeben, heißt das nicht, dass sie unbezweifelbar richtig sind. Auch wissenschaftlich fundierte Theorien haben sich nachweislich als falsch herausgestellt. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Niemand ist vor Irrtümern sicher.

26. Unser Abbild

26.1 Ordnung und Chaos

In unserem wissenschaftlichen Weltbild ist alles schön geordnet und unterliegt Gesetzmäßigkeiten. Für ein chaotisches Geschehen ist dort kein Platz. Wir schätzen Ordnung viel höher ein als Unordnung. Und zwar aus praktischen Gründen. Wenn wir eine Ordnung haben, dann finden wir Gegenstände oder Ereignisse leichter wieder, als wenn wir keine Ordnung hätten. Ordnung erleichtert unser Leben. Aber woher kommt die Ordnung? Gründet sie sich auf der Ordnung der Natur? Frühere Kulturen haben das vermutet und eine göttliche oder natürliche Ordnung unterstellt. Heute haben wir von dieser Vorstellung Abstand genommen. Wir schreiben unserer Umgebung heute keine Strukturen oder Informationen mehr zu, sondern akzeptieren unsere Umwelt so, wie sie ist. Es ist nicht die Umwelt, sondern der Mensch, der nach seinen Interessen einigen Teilen der Umwelt eine Struktur und damit einen Sinn gibt. Der Mensch schafft damit Informationen. Die Umwelt ist nur insofern informativ, als wir sie in einer bestimmten Art interpretieren.

Somit sind wir letztlich selbst die ordnende Hand. Wir erfinden die Ordnungen. Und je nach unterschiedlicher Interessenlage erfinden wir auch unterschiedliche Ordnungen. Wer das nicht glaubt, sollte seinen Schreibtisch einmal von einer anderen Person aufräumen lassen. Welche Eltern sind nicht daran verzweifelt, das Ordnungsprinzip im Kinderzimmer nachzuvollziehen. Was für den einen unordentlich aussieht, kann für den anderen durchaus ordentlich sein. Dasjenige, was dem einen als Unordnung vorkommt, erscheint dem anderen möglicherweise als wohlgeordnet.

Diesen Gedankengang wollen wir vertiefen, indem wir uns mit bekannten Beispielen von Heinz von Foerster beschäftigen. Von Foerster fragte: Was ist Ordnung? Wann sagen wir, dass etwas geordnet ist? Betrachten wir dazu die Zahlenfolgen: „2,4,6,8,10“ oder „1,4,9,16,25,36,49“, in denen wir sehr leicht erkennen, nach welcher Regel die Reihen aufgestellt wurden. Dadurch, dass wir eine Gesetzmäßigkeit hinter der Zahlenreihe erkennen, halten wir sie für geordnet. Doch betrachten wir nun die Zahlenfolge: „1,4,1,5,9,2,6,5,3,5,8,9“. Welche Ordnung verbirgt sich hier? Auf den ersten und zweiten Blick erkennen wir keine Ordnung. Wenn wir aber eine „3“ davor schreiben, dann wird deutlich, dass es sich um die Zahl π  (3,141592653589) handelt. Sie ist eine irrationale Zahl, d.h. dass es hinter dem Komma niemals zu einer ständigen Wiederholung kommt. Auch diese Zahlenfolge ist streng regelhaft und jede Folgezahl lässt sich nach einem Algorithmus exakt berechnen.

Die Tatsache, dass wir in den Daten keine Regel erkennen, so dass sie uns als zufällig erscheinen, bedeutet also nicht, dass sie tatsächlich ungeordnet sind. Solange wir die Gesetzmäßigkeit, die dahinter liegt, noch nicht erkannt haben, besteht immer noch die Chance, dass wir die Regel doch noch erkennen werden. Ein weiteres Beispiel von Heinz von Foerster: Betrachten wir die Reihenfolge: „8,3,1,5,9,6,7,4,2“. Was ist hier das Ordnungsprinzip? Es ist das Alphabet. Die Zahlen sind alphabetisch angeordnet - acht, drei, eins, fünf, usw. Selbst verworrene Ansammlungen von Objekten sind potentiell strukturierbar. Wir müssen nur das Prinzip der Regelmäßigkeit finden. Ordnung ist immer eine Eigenschaft des Beobachters und nicht der Dinge. Und jemand, der von etwas sagt, dass es ihm chaotisch erscheint, hat möglicherweise nur die dazugehörige Regel noch nicht gefunden.

Ordnungsprinzipien betreffen aber nicht nur Zahlenkolonnen. Wir sehen häufig etwas, erkennen aber nicht, wie es funktioniert bzw. was es ist. Wenn wir nicht die Theorie oder Regeln verstehen, die die Abläufe regieren, dann sehen wir zwar etwas, erkennen es aber nicht. Das sind keine Spitzfindigkeiten, sondern das ist ganz elementar. „Erkenne, was Du siehst!“ ist äußerst wichtig. Wie werden wohl die Antworten ausfallen, wenn wir zwanzig beliebige Personen unter die Motorhaube eines Lastwagens blicken lassen und sie fragen, was sie dort sehen und erkennen? Einige werden tatsächlich erkennen, was sie sehen. Die meisten werden aber nur sehen und nicht genau wissen, was sie dort sehen. Sie werden kaum etwas erkennen.

Dieses wichtige Prinzip gilt nicht nur für Laien, sondern auch für Fachleute. Wir haben in der Schule gelernt, dass bei allen Säugetieren das Blut im Kreis fließt. Wir verdanken unser Leben unserem Herzen, das zirka 8000 Liter pro Tag durch ein 96 000 km langes Gefäßsystem pumpt. Das sind nach 80 Jahren rund 233 600 000 Liter Blut. Man sollte erwarten, dass die Ärzte der Antike und des Mittelalters hätten wissen müssen, wie das Herz-Kreislaufsystem funktioniert. Obwohl über Jahrhunderte immer wieder anatomische Studien an Verstorbenen vorgenommen wurden – bevorzugt an Verbrechern – und obwohl täglich Rinder, Schweine und Schafe geschlachtet wurden, erkannten weder die Ärzte noch die anderen Menschen, was sie dort sahen.

Wir erkennen erst etwas, wenn wir eine Theorie haben, wie es funktionieren könnte. Haben wir die falsche Theorie, dann sehen wir vielleicht Dinge, die es nicht gibt. Der Arzt Galen war sicherlich einer der bedeutendsten Ärzte der Antike und sein anatomisches Verständnis war prägend über 1500 Jahre. Er kannte damals bereits den Unterschied zwischen dunklem, venösem und hellem, arteriellen Blut. Das dunkle Blut wird seiner Meinung nach in der Leber gebildet und sorgt für die erforderliche Energie. Es strömt zum rechten Herzen und fließt durch Poren in das linke Herz. Dort wird dann das helle Blut durch hinzuströmende Luft gebildet, was für die Vitalität sorgt. Das Blut strömt aber nicht zurück, sondern wird in den Organen verbraucht. Galens Modell setzt zwingend voraus, dass es Poren im Herzen gibt. Diese wurden aber nie nachgewiesen. Bei allen Sektionen der nachfolgenden Jahrhunderte wurden die fehlenden Fakten ignoriert und Galens Autorität bedingungslos geglaubt. Niemand brachte über 1500 Jahre den Mut auf, Galen zu widersprechen. Es war der Arzt und Anatom Andreas Vesalius, der die Fakten sprechen ließ. Er veröffentlichte seine Erkenntnisse 1543 in dem fundamentalen Werk „De humani corporis fabrica“. Der Erfolg war ihm sicher, weil er nicht einfach eine neue Lehre verkündete, sondern nur sagte: „Seht tatsächlich hin! Macht Euch Euer eigenes Bild!“ Und nachdem die Poren nicht nachweisbar waren, begannen die Menschen nach anderen Theorien zu suchen. Erst 1628 beschrieb William Harvey dann den Blutkreislauf so, wie wir ihn heute verstehen.

26.2 Individuum ineffabile est

Jetzt wollen wir nicht unsere Lateinkenntnisse testen, sondern wir wollen uns einen äußerst wichtigen Gedankengang nahebringen. Die lateinische Überschrift ist nur dazu gedacht, Aufmerksamkeit zu erregen, damit sich hier alle besonders konzentrieren. Die Übersetzung der Überschrift lautet sinngemäß: „das Individuum ist nicht zu fassen.“ Was ist damit gemeint? Wir wollen das Problem an einer einfachen Situation schildern.

Wir sitzen an einem frühen Abend in unserem Auto auf dem Weg nach Hause. An einer roten Ampel wartend blicken wir zum Beifahrersitz, auf dem ein Strauß mit 15 roten langstieligen Rosen liegt, den wir vor einigen Minuten gekauft haben. Er ist ein Geschenk zum Hochzeitstag. Während wir so auf den Strauß blicken, stellen wir bei den herrlich duftenden Rosen kleine Unterschiede in den Blütenblättern fest. Einige Blüten sind auch mehr geschlossen als andere. Unterdessen wir gemütlich weiterfahren, denken wir darüber nach, wie wir jede einzelne Rose so detailliert beschreiben können, dass sie sich von allen anderen Rosen unterscheidet. Erst durch diese umfassende und einmalige Beschreibung würden wir die Rose als etwas wirklich Einzelnes, als etwas Einmaliges denken können und nicht nur als ein Exemplar aus dem Rosenstrauß. Unsere Gedanken tragen uns schnell weiter zu der Frage, wie wir ein menschliches Individuum in allen seinen Facetten beschreiben müssten, um seiner Einmaligkeit gerecht zu werden. Da es bei einer Person sehr viel schwieriger sein dürfte als bei einer Rose, wenden wir uns wieder der Rose zu und versuchen erst einmal hier eine vollständige Beschreibung. Was müsste alles dazu gehören? Die Farbe und Größe reichen sicherlich nicht aus. Wir müssten nicht nur die Anzahl der Blütenblätter zählen, sondern jedes einzelne Blütenblatt bis ins Kleinste vermessen und nach allen Charakteristika bestimmen - wahrscheinlich bis auf die molekulare Ebene. Dasselbe wäre sicherlich für den Stiel, die Blätter und Dornen erforderlich. Damit hätten wir das Einmalige dieser Rose aber bei weitem noch nicht erfasst. Zur Einmaligkeit der Rose gehört sicherlich auch ihre gesamte Geschichte. Wo ist sie gewachsen? Wer hat sie abgetrennt und wohin transportiert, damit wir sie im Blumenladen auswählen konnten? Wohin wird sie jetzt gebracht? Welche Vase wird für die Rosen ausgewählt und in welchem Arrangement werden die Rosen in die Vase gesteckt?

Die Liste dieser Fragen ließe sich endlos fortsetzen. Da Objekte auch untereinander in Beziehung stehen und diese Beziehungen auch für die Objekte bedeutsam sind, müsste eine umfassende Beschreibung eines einzelnen Objektes unendlich viele Unterbeschreibungen enthalten. Jedes Individuum ist für sich gesehen nicht vollständig beschreibbar. Es ist als Individuum nicht vollständig bis in das letzte Detail zu erfassen. Mit diesem Sinnspruch „individuum ineffabile est“ wird diese Idee ausgedrückt, dass wir ein Individuum bzw. einen einzelnen Gegenstand nicht vollständig umfassend beschreiben können. Wir sind nicht in der Lage, alle Details, die zum Individuum gehören, in angemessener Form auszudrücken. Wir sind gezwungen, uns immer mit einer beschränkten Beschreibung zufrieden zu geben.

Ist dieses Unvermögen, einen Gegenstand nicht vollständig in allen Facetten beschreiben zu können, für uns relevant? Ja und Nein. Es ist für uns insofern wichtig, weil wir in manchen Situationen eine umfangreichere Beschreibung tatsächlich für notwendig erachten. Manchmal erwarten wir einfach mehr Details, als wir von unserem Gesprächspartner erhalten, um uns ein gutes Bild von der Situation zu verschaffen. Wir fordern dann unser Gegenüber auf, den Sachverhalt genauer zu beschreiben. Manchmal sind sehr ausführliche Beschreibungen aber auch nur hinderlich, weil sie die wenigen, wirklich wichtigen Details verdecken. „Individuum ineffabile est“. Wir sind gewohnt und haben gelernt, uns auf diejenigen Eigenschaften zu beschränken, die für uns in der jeweiligen Situation wichtig sind. Wir suchen im Alltag gar keine ausführliche, umfassende Beschreibung. Das wäre für uns viel zu aufwendig. Was wir vielmehr benötigen, sind zwei Beschreibungen. Mit der ersten Beschreibung werden wir in die Lage versetzt, das Objekt zu identifizieren, um das es geht. Die zweite Beschreibung vermittelt uns dann diejenigen Informationen, die wir uns über den Gegenstand wünschen.

Alle Beschreibungen sind interessengeleitet, so dass wir uns je nach unserem situationsabhängigen Interesse andere Informationen über denselben Gegenstand wünschen. Und da die Interessen sich ändern und auch zwischen verschiedenen Personen meistens unterschiedlich sind, sammeln verschiedene Personen andere Informationen über denselben Gegenstand oder dasselbe Ereignis. Das ist keine Schwäche unseres Vorgehens, sondern es schont unsere Ressourcen, indem wir uns nur mit den Informationen beschäftigen, die wir für relevant halten. Wir sollten uns grundsätzlich davor hüten, andere Personen allein deshalb zu verurteilen, weil ihre Informationen oder Beschreibungen unvollständig sind und für unsere eigenen Interessen nicht ausreichen.

26.3 Modelle

Was für Objekte gilt, trifft natürlich auch auf Ereignisse zu. Wir wollen in manchen Studien wissen, welchen Einfluss bestimmte Gifte auf die Umwelt haben, wir wollen den Einfluss von Elektrosmog auf das körperliche Befinden oder die Entstehung von Hirntumoren untersuchen. Uns ist dabei klar, dass wir niemals alle Einflussgrößen berücksichtigen, ja noch nicht einmal beschreiben können. „Individuum ineffabile est.“

Um Probleme zu lösen und interessante Fragen zu beantworten, stellen wir Modelle auf. Welches Modell wir aufstellen und wie ausgefeilt es ist, hängt vom Problem ab. Die Fragestellung entscheidet darüber, welches Modell wir wählen. Wenn wir das falsche Modell auswählen, dann erhalten wir im günstigsten Fall keine Antwort und im schlechtesten eine falsche. Deshalb ist es so wichtig, ein gutes Modell zu wählen. Ob ein Modell wirklich das Beste für die Fragestellung ist, kann niemals sicher beantwortet werden. Weder die erfolgreiche Durchführung, noch die plausiblen Ergebnisse garantieren, dass das Modell ein gutes Abbild der Realität ist. Gesunde Skepsis ist immer angebracht.

Was zeichnet ein Modell aus? Warum arbeiten wir mit Modellen und nicht mit der Realität als solcher? Weil die Realität viel zu komplex und unübersichtlich ist. „Realitas ineffabilis est“ könnten wir auch sagen.  Modelle enthalten nur kleine, überschaubare, ausgewählte Ausschnitte unserer Welt. Es werden nur ganz bestimmte Eigenschaften in diesem reduzierten Ausschnitt der Realität berücksichtigt. Es sind Eigenschaften, die wir kontrollieren und messen können. Wenn wir uns ein Modell ausdenken, dann sollten wir die wichtigsten Zusammenhänge in unserem Modell kennen. Sollten wir uns dabei irren und sollten wir wichtige Einflussgrößen vergessen haben, dann ist das Modell untauglich. Was aber nicht zwangsläufig bedeutet, dass ein „falsches“ Modell nicht zu „richtigen“ Ergebnissen führt. Wir können sogar Glück haben und selbst aus einem ungeeigneten Modell richtige Schlussfolgerungen ziehen. Das ist aber deutlich unwahrscheinlicher, als aus einem korrekten Modell richtige Folgerungen zu ziehen.

Wenn wir eine wissenschaftliche Antwort auf eine Frage suchen, dann entwerfen wir im Idealfall einfache experimentelle Modelle, um bestimmte Annahmen zu überprüfen. Wir reduzieren die möglichen Einflussgrößen auf wenige und modifizieren diese, um den Einfluss der einzelnen Größen einschätzen zu können. Alle anderen möglichen Einflussgrößen, die in unserem komplexen Universum sicherlich vorhanden sind, bleiben unberücksichtigt. Wir könnten auch provozierend sagen, dass die wissenschaftliche Methode auf der Annahme basiert, dass fast alles in unserem Universum irrelevant ist. Diese Annahme ist sicherlich falsch, aber wir sind aufgrund beschränkter Ressourcen gezwungen, unter dieser Annahme zu überleben. Wir haben weder die Zeit noch das Vermögen, alle Einflussgrößen zu berücksichtigen – weder in der Wissenschaft noch im Alltag. Wir sind immer gezwungen, nur einigen wenigen Einflüssen unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Sollten wir wichtige vergessen haben, dann werden wir durch die Realität rasch eines Besseren belehrt, weil dann unsere Vorhersagen nicht stimmen und die praktische Umsetzung theoretischer Annahmen erfolglos bleiben wird.

28. Nachwort

Jedes Werk muss einmal seinen Abschluss finden, obgleich sich mit jeder Zeile neue Zeilen aufdrängen. Der Wunsch, alle Argumente zu begründen und zu vertiefen, bleibt unbefriedigt, weil weder Raum noch Zeit zu einer erschöpfenden Darstellung ausreichen.

 Statistik für Dummies