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Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
Widmung
Geleitwort
Worum es geht
Vorwort
Noch ehe das Kind geboren ist …
Lieben Frauen ihre Kinder anders als Männer?
Reichen meine Kräfte aus für das kommende Kind?
Wird er mich wirklich heiraten?
Von unfreiwilligen Vätern und schwangeren Männern
Was Kinder innerlich erleben
»Futter« macht nicht nur den Magen satt
Frühe Angst kann »böse« machen
Tanja soll verzichten lernen
Zärtlichkeiten sind das Brot für die Seele
Wie viel »neue Welt« können kleine Kinder verkraften?
»Ich lasse mich nicht ausnehmen«
Wer versteht wen?
»Ich kann noch gar nicht fliegen«
»Wo wohnt der Alle?«
Von der Süße der Zitronencreme
Toleranz kann bitter enden
Trotzköpfe kann man »züchten«
»Meine Sonne ist immer blau«
»Mutti hat Vati – und wen habe ich?«
»Oma hat immer einen Kamm« oder: Vom frühen Lesenlernen
»Hast du auch eine Scheidung?« Von möglichen Hilfen für kleine Kinder nach einer Scheidung
»Ich will auch ›blöder Papa‹ sagen« oder: Die Geschichte eines Konflikts
Von einer überzeugenden Intelligenz oder: Von der Schulreife und was diese ausmacht
Was kleine Kinder sich von ihren Eltern wünschen
Aus dem Alltag zweier Schulkinder
Dieter könnte, wenn er nur wollte
Von der Kinderseele eines Dichters
Wie können Flügel wachsen?
Ich bin nicht du
Johannes darf nichts
Freiheit will verantwortet sein
Ich soll so sein, wie meine Mutter mich will!
Über das Erziehen – ein unendliches Thema
Zum Kindergarten heute
Nachwort: Ein Brief an Chiara-Franziska
Anmerkungen
Literaturempfehlungen
Register
Copyright

Autorin

 

Ursula Neumann ist Psychotherapeutin für Kinder, Jugendliche und Familien, Erziehungsberaterin und Supervisorin. Nach langer klinischer Tätigkeit arbeitete sie viele Jahre als Leiterin einer Münchner Erziehungsberatungsstelle, danach in freier Praxis. Sie lebt in Gauting bei München.

Über das Erziehen – ein unendliches Thema

Gewiss unerwartet für den Leser lauten die beiden ersten Sätze in diesem Kapitel: Der Mensch kommt mit den nur ihm eigenen Genen zur Welt. Schon durch die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ist seine Einmaligkeit im Mutterleib festgelegt.

Der Mensch kann sich also seine Erbanlagen ebenso wenig aussuchen wie seine Eltern, die Zeit seiner Geburt oder das Land, das ihm Heimat wird. Auch Eltern können über die Gene ihrer Kinder nicht bestimmen. Erziehen geschieht nicht auf völlig freiem Feld. Ein deutscher Säugling, der in China aufwüchse, von Chinesen betreut und erzogen würde, nähme selbstverständlich die chinesische Kultur in sich auf. Erziehung und Kultur sind untrennbar miteinander verbunden.

Wir fügen hier hinzu: Die seelische Entwicklung ist nicht im gleichen Sinn vorbestimmt wie die individuelle körperliche Entwicklung oder auch die stammesgeschichtliche Entwicklung des Zentralnervensystems. Diese seelische Entwicklung ist kein biochemischer Vorgang, der sich in voraussagbaren Zeitgrenzen lediglich der Natur gehorchend vollzieht. Mit diesen wenigen Sätzen soll darauf hingewiesen sein, dass Anlage und Umwelt immer zusammen im Menschen wirksam sind. Der Forschung bleibt hier noch viel zu tun, um dieses Ineinander weiter aufzuklären. Die folgenden Seiten möchten auf diesem Hintergrund verstanden sein.

Erziehen ist ein unendliches Thema, vor allem für Mütter und Väter, die mit Kindern leben. Und natürlich auch für die professionellen Erzieher. Es zahlt sich aber nicht aus, sich deshalb nicht mit diesem Thema zu beschäftigen. Erziehen ist und bleibt ein schwieriges »Unternehmen«, zumal dann, wenn man den erzieherischen Umgang ähnlich wie andere Unternehmungen einschätzt, etwa wie einen Sonntagsausfug oder die Übersiedelung an einen neuen Wohnort. Erziehen wird mir oft als zu leicht angeboten und suggeriert daher, etwa mit bestimmten Regeln zurechtzukommen. Regeln können gewiss hilfreich sein und zu klaren Orientierungen für kleine Kinder werden. Sie können sich jedoch auch zu »heiligen Kühen« auswachsen, wenn sie keinen Spielraum für den unvorhersehbaren Augenblick und die ebenfalls nicht vorhersehbare Verfassung von Mutter und Kind lassen. Die Leser werden hier keine Regeln und auch keine Sollforderungen zu lesen bekommen. Anhand von drei Fragen werde ich versuchen, das »Unternehmen Erziehung« transparenter zu machen, wenn auch nur mit wenigen stichwortartigen Antworten. Diese Fragen und Antworten möchten deutlich machen, was auf Eltern zukommt, wenn sie ihrem Kind zu seiner persönlichen Entfaltung und zugleich dazu verhelfen wollen, dass es sich immer sicherer auch in seinem Umfeld zurechtfinden lernt. Erziehen ist immer abhängig von der jeweiligen Kultur und ihrer Zeit. Darum kann es nicht ausbleiben, dass jede Generation neu herausgefordert ist, zu überdenken, was sie der nachfolgenden vermitteln, was sie ihren Kindern gegenüber verantworten will. Die erste Frage geht daher auf unsere heutige Gesellschaft ein, auf eine Gesellschaft, die unter anderem als individualistisch charakterisiert werden kann.

 

Wie steht es mit dem Kind in unserer Gesellschaft?

Sind wir eine kinderfreundliche Gesellschaft? Übertragen auf den einzelnen Leser: Mögen Sie Kinder? Räumen Sie ihnen das Recht auf ein eigenes Dasein ein? Wir fragen nicht nur nach ihrem Stellenwert für Mütter und Väter, sondern auch für Passanten auf der Straße, für einkaufende Erwachsene in Supermärkten, auf verkehrsreichen Straßen oder in U- und S-Bahnen. Wir alle bilden die gegenwärtige individualistische Gesellschaft.16 Die Menschen von heute und daher auch die Mütter und Väter von heute sind in dieser Gesellschaftsform aufgewachsen. Sie haben von klein an ihr Klima eingeatmet.

Der Individualismus ist seit der Mitte unseres Jahrhunderts zur vorherrschenden Ideologie geworden. Ideologien haben es an sich, dass man an sie glaubt und sie nicht hinterfragt. In dieser individualistischen Ideologie gilt nicht mehr die Gemeinschaft, sondern der Einzelne als Ausgangspunkt aller ethischen, gesellschaftlichen und auch religiösen Werte und Normen. Schon das Wort »Gemeinschaft« kann heute abwehrende Gefühle wachrufen. Solange das Individuum andere nicht beeinträchtigt, fühlt es sich »frei«. Es macht sich damit gleichsam zu seiner eigenen Autorität und beruft sich auf seine persönliche Meinung. Dass viele Einzelne in unserer Gesellschaft nicht glücklich sind, dafür sprechen die nicht mehr zu bändigenden Kosten für ärztliche Hilfen ebenso wie der anhaltende Boom nach psychologischen Hilfen. Es gibt heute mehr als 600 verschiedene psychologische Therapieformen, ein untrügliches Zeichen für das wohl nicht aufzulösende und uns aufgegebene Rätsel Mensch. »Die Vorrangstellung des Einzelnen hat zur Vereinzelung geführt. Die Vereinzelung hat einen ausgeprägten Wettbewerb in Gang gesetzt und zu ungeahnter Produktionssteigerung geführt, für die kein geschichtliches Vorbild besteht. Zugleich sinkt die Fruchtbarkeit in den individualistischen Bevölkerungen so tief, dass ihr Bestand gefährdet ist.«17 Zu welchen bedrückenden Folgen die Überproduktion von nicht wirklich gebrauchten Konsumgütern führt, zeigt nicht nur die Not um den Arbeitsplatz an. Kinder atmen etwas von dieser Not ein oder bekommen sie hautnah zu spüren.

Es wird hiermit deutlich, dass die individualistische Zeitströmung gegenläufige Tendenzen zur mütterlichen und väterlichen Aufgabe anzeigt. Darum ist der Erwachsene heute in besonderer Weise herausgefordert, wenn er als Mutter oder Vater seinem Kind das Recht auf seine eigene Lebensform zugestehen will, also handeln und für es sorgen muss. Da für viele junge Erwachsene diese Herausforderung durch ein Kind nicht vorauszusehen ist, sind heute nicht selten unterschwellige Konkurrenzkämpfe zwischen Eltern und ihren noch sehr kleinen Kindern zu beobachten. Mütter und Väter fühlen sich in ihren persönlichen Aktivitäten begrenzt, was ja tatsächlich auch der Fall ist. Zugleich haben dieselben Mütter und Väter auch ein Gefühl dafür, dass ihre kleinen Kinder zu ihrer eigenen Lebensbewältigung auf ihre Begleitung und ihren Schutz angewiesen sind. Sie können aufgrund ihrer zwiespältigen Gefühle leicht ihre Unbefangenheit dem Kind gegenüber verlieren oder sich in eine künstlich anmutende Aktivität hineinsteigern. Kinder können oft nur auf dem Umweg von Schlafstörungen oder Ess-Störungen ihr Bedürfnis nach individueller Beachtung ausdrücken. Dass viele Eltern sich von diesen »Umwegen« anrühren lassen, haben wir in den Alltagsbeispielen aufzuzeigen versucht.

In diesem Zusammenhang sei auch kurz auf das immer noch missverstandene Wort »Selbstverwirklichung« eingegangen. Mir sind nur wenige Menschen bekannt, die es wirklich in seinem konstruktiven Sinn verstanden haben. (Es ist das Schicksal von Modewörtern, aus denen Fachwörter werden können, dass ihre Unbestimmtheit jede subjektive Deutung zulässt. Ein solches subjektives Verständnis von Selbstverwirklichung kann bis zur Freigabe an Lust und Laune führen – vermutlich der sicherste Weg, nicht wirklich erwachsen zu werden, das heißt die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen.)

Was ist dieses »Selbst«, das da verwirklicht werden soll? Eine eindeutige wissenschaftliche Definition liegt nicht vor. Jedoch wird jeder Leser eine Antwort auf die Frage haben, wie er seine Persönlichkeit sieht, welches »Selbstbild« er von sich hat. Dazu gehören unsere Stärken genauso wie die schwachen Seiten, die wir gern verändert haben möchten. So entsteht ein »Idealbild« von uns, das helfen kann, uns etwa in Geduld zu üben, freundlicher zu anderen Menschen zu werden oder nicht zu verzweifeln, wenn Wünsche nicht in der erwarteten Weise in Erfüllung gehen. Das Bemühen, die Kluft zwischen dem Selbstbild und dem Idealbild zu verringern, das ist die Bedeutung vom Sich-selbst-Verwirklichen. Und dieses Bemühen ist gewiss eine lohnende und hervorzuhebende Aufgabe eines jeden Menschen.18

Nun muss hier ausdrücklich betont werden, dass viele Mütter und Väter sich für Kinder und die damit verbundene Erziehungsaufgabe entschieden haben und wohl auch weiter entscheiden werden. Wir haben in der kleinen Skizze von Renate und Hans den Weg zu einer solchen Entscheidung kennen gelernt. Natürlich reagieren auch verantwortliche Mütter und Väter ungeduldig und gereizt auf ihre Kinder, weil Kinder eben anders als Erwachsene sind. Sie leben den Augenblick, packen auch da unbekümmert zu, wo schon mehrfach Scherben entstanden sind. Sie weinen, wenn ihnen keiner zuhören will, und schreien im nächsten Augenblick, weil alles Spielzeug nichts taugt, sich nicht gefallen lässt, was sie mit ihm vorhaben. Sie essen ihre Nudeln mit Tomatensoße nicht, auch wenn sie sich Nudeln heiß gewünscht haben. Sie haben noch immer Durst im Bett, obwohl sie schon dreimal zu trinken bekommen haben. Die noch »nicht planenden und nicht vernünftigen« Kinder brauchen vor allem einen Erwachsenen, der ihnen ihre lustbetonten Aktivitäten und auch ihren Weltschmerz an für uns uneinfühlbaren Stellen nicht übel nimmt. Das heißt nun keinesfalls, dass Erwachsene nicht reagieren dürfen.

Wer weiß, dass Regen nass macht und trotzdem trocken bleiben möchte, tut gut daran, sich Schutz zu suchen oder den Schirm zu nehmen. Wer mit offenen Augen beobachtet, dass kleine Kinder noch unvertraut und ungesteuert mit sich und ihrer Umgebung umgehen und sich trotzdem nicht aus der Fassung bringen lassen will, ist gut beraten, den Vorsprung des Erwachsenen nicht zu gefährden, indem auch er wie ein Kind unberechenbar reagiert.

 

Wir nehmen jetzt die zweite Frage auf: Was macht die Erziehungsaufgabe für den Erwachsenen, noch unabhängig von seinen persönlichen Zielvorstellungen, zu einem schwierigen Unternehmen?

Erziehen heißt gleichsam zwei Herren zu dienen. Der eine will, dass das heranwachsende Kind von Stufe zu Stufe zu einem verantwortlichen Erwachsenen wird. Es soll fähig zum Handeln und Entscheiden werden und auch fähig dazu, das Leben zu genießen. Er soll Ja zu sich und zur Welt sagen lernen. Der andere Herr tritt dafür ein, dass ein Kind sein Kindsein leben darf. Seine Reifestufen sollen berücksichtigt, seine Andersartigkeit im Vergleich zum Erwachsenen muss gesehen werden. Diese Andersartigkeit drückt sich nicht nur in seinem Körper, sondern viel entscheidender in seinem Fühlen, Denken und Handeln aus. Und dieses kindliche Fühlen, Denken und Handeln ist auf das Einfühlungsvermögen und die Bewertung durch seine Eltern angewiesen. »Das Kind hat ein Recht auf den heutigen Tag«, so hat es der polnische Arzt Janusz Korczak genannt, der freiwillig und gemeinsam mit seinen Waisenkindern in die Gaskammern gegangen ist.

Erziehen ist also in gewisser Weise eine widersprüchliche Aufgabe. Dieser Widerspruch wird noch deutlicher werden, wenn wir aufzeigen, was er für den Erziehenden selbst bedeutet. Das Kind braucht nämlich Freiheit und Anpassung, die Förderung seiner individuellen und sozialen Kräfte. Es muss seine Gegenwart leben dürfen, zugleich tun seine Eltern gut daran, auch seine Zukunft im Blick zu haben. Es muss wachsen dürfen, das heißt selbst bestimmen, und zugleich braucht es ein Führen, weil es noch ganz seinen naturgebundenen vitalen Impulsen ausgesetzt ist, die es ohne Hilfe von Erwachsenen in einer ihm undurchschaubaren Welt nicht steuern lernt. Die Entfaltung seiner persönlichen Entwicklung ist genauso Voraussetzung für ein gesundes, seelisches und geistiges Wachstum wie sein Lernen, mit anderen umzugehen und sich veränderten Situationen anzupassen. Wir nennen diesen Vorgang »Sozialisation«.

Schon das Kind ist wie der Erwachsene abhängig von seiner ihm gegebenen Natur und atmet vom ersten Lebenstag an die ihn umgebende Kultur ein. Sie wird ihm ohne Worte durch Mutter und Vater vermittelt. Im Gegensatz zum menschlichen Kind ist das Tier mit seinen Instinkten so ausgestattet, dass es mit den Bedingungen, denen es ausgesetzt ist, auch fertig werden kann. Es bleibt das Geschöpf, das sich seiner selbst nicht bewusst werden kann. Der Mensch hat schon als Säugling Wahrnehmungs- und Gefühlsantennen, die die Bedingungen und das Klima in seiner Kinderstube aufnehmen können. Die Beschreibung des Widerspruchs in der Erziehungsaufgabe kann vielleicht manchen Leser davon abrücken lassen, im »Entweder-Oder« zu verharren. Entweder Freiheit für das Kind oder Anpassung, entweder wachsen lassen oder führen. Das kleine Wort »und« zwischen den widersprüchlichen Erziehungsweisen kann die nicht ausbleibenden gedanklichen Kämpfe zwischen den verschiedenen Erziehungsauffassungen vielleicht an fruchtbarer Stelle verringern helfen.

Ich will hinzufügen, dass ich dem biologischen Verständnis des kindlichen Entwicklungsweges, das die so lesenswerte und engagierte Alice Miller19 vertritt, nicht zustimmen kann. Mir scheint es eine gefährliche Illusion zu sein, dem Kind jegliche Konflikte ersparen zu können. Konflikte kommen nicht nur von außen. Die etwa häufig zu beobachtenden Kinderängste, die Mutter verloren zu haben, wenn sie nicht sichtbar oder greifbar ist, stellen sich zu jener Zeit seiner geistigen Entwicklung ein, in der ein magisches Weltverständnis vorliegt. Die hirnphysiologisch mit vorgegebene Denkentwicklung wird sich nicht ändern lassen, das heißt spürbare Ängste werden dem Kind nicht erspart werden können.

Das Wesen der Erziehung, so steht bei Sigurd Hebenstreit20 geschrieben, läge darin, dass Erziehung immer beide gegensätzlichen Fähigkeiten zugleich umfasst: »Das Ausblenden des einen [der Anpassung, der Zukunft, des Führens, der Sozialisation …] wäre naiv, das Ausbleiben der anderen [der Freiheit, der Gegenwart, des Wachsenlassens, der Natur …] wäre unpädagogisch … Erziehung hat mit Normen und Werten zu tun, aber dies ist nur eine Seite. Die andere Seite lautet: Erziehung hat damit zu tun, dass Kinder Kinder sein können.« Wer diesen nicht aufhebbaren Widerspruch der Erziehungsaufgabe erkennt, wird vor dem »faulen« Kompromiss bewahrt bleiben: Sonntags ein bisschen Freiheit und an den Wochentagen desto mehr Strenge und Auflagen. Hier will ich noch einmal ein konkretes Beispiel einfügen. Das vierjährige Einzelkind Anne weigert sich nach sechs Tagen Kindergartenbesuch, weiter dorthin zu gehen. Mit einer überzeugenden Stimme sagt sie mir: »Da gehe ich nicht mehr hin. « »Du weißt sicher, warum du nicht mehr in den Kindergarten gehen möchtest. Deine Stimme klingt klar und bestimmt.« »Da ist alles anders als zu Hause. Da kann ich gar nicht bestimmen, was die anderen Kinder tun sollen. « Ihre Eltern kommen mit der Frage, ob sie auch »an dieser Stelle« das Kind selbst entscheiden lassen sollen. Beide Eltern waren sich darüber einig, ihm eine unbeschwerte Kindheit zu schenken. Darum ließen sie es weitgehend selbst bestimmen und verhielten sich seinem Tun gegenüber zurückhaltend. Sie konnten sich kaum entschließen, auch eigene Impulse für das gemeinsame Leben mit der Tochter anzumelden. »Die Anforderungen der Gesellschaft kommen früh genug. Was verlangt man nicht alles heute schon vom Schulanfänger!« Vater und Mutter schauen ihrer Tochter häufig bei ihren fantasievollen Spielen zu. Sie wundern sich ein wenig, dass sie gern mit der Großmutter, die im gleichen Haus wohnt, spielt, obwohl diese sich eher vom Kind vereinnehmen lässt. Anne diktiere ziemlich eindeutig, was sie zu essen oder mitgebracht haben wolle. Der Leser wird sicher zustimmen können, dass sich Mutter und Vater von Anne wie Zuschauer verhalten. Sie nennen ihr Erziehungsverhalten »liberal«. Mit anderen Augen betrachtet haben sie das Kind empfindlich alleingelassen. Sie haben ihm eine Scheinwelt vorgemacht und mit dem Argument, dass das Leben früh genug hart an sie herantreten wird, die Chance verpasst, dass Anne schon jetzt im wirklichen Leben Erfahrungen sammeln und auch Konflikte erleben kann, die sie mit elterlicher Hilfe verarbeiten könnte. Auch kleinen Kindern können Konflikte nicht erspart bleiben. Die Großmutter, als einzige »Außenwelt« erlebt, hat sich vermutlich kompensierend zum Verhalten von Tochter und Schwiegersohn aktiv um das Kind bemüht und sich nicht gedemütigt erlebt, von der kleinen Tochter vereinnahmt zu werden.

Die bisherige Welterfahrung heißt für Anne, ich kann allein bestimmen. Wer wollte eine solche Erfahrung bereits nach sechs Tagen Kindergarten aufgeben? Anne hat den Schritt in eine neue Reifestufe nicht auf sich nehmen können. Sie konnte nicht mit Kindern umgehen, die auch bestimmen wollen. Man könnte deuten, dass Anne die neuen Mitspieler im Kindergarten wie ihre Eltern eingestuft und so etwas wie eine »größere Familie« erwartet hat. Sie hat die Unterschiede zwischen zwei Generationen, zwischen Jung und Alt, nicht ausreichend kennen gelernt. Fast könnte man es als eine Lebensaufgabe kennzeichnen, das Zusammenleben von zwei oder drei Generationen zu erlernen.

Anne geht nach zwei Wochen wieder in den Kindergarten. Den Eltern habe ich empfohlen, den erneuten Versuch erst dann zu unternehmen, wenn sie selbst sicher sind, dass er für ihr Kind gut ist. Die einfühlsame Leiterin, die nicht »böse« war, wie die Eltern es erwarteten, begrüßte das Kind mit etwa folgenden Sätzen: »Schön, dass du wiederkommst. Ich weiß, Kinder ohne Geschwister haben es nicht leicht, mit fremden Kindern auszukommen. Willst du mit einer kurzen Woche beginnen? Nicht mit fünf Tagen, sondern nur mit drei Tagen?« In diesen wenigen Sätzen greifen die beiden Erziehungsformen, Selbstbestimmung und Anpassung, in geglückter Weise ineinander. Diese Sätze sind nicht in erster Linie Folge einer Sprachfähigkeit, sondern eine Folge der inneren Haltung einem kleinen Kind gegenüber. Nach meiner Erfahrung ist das Konzept einer allein gültigen Subjektivität des Kindes noch immer häufig anzutreffen. Eine lebensvorbereitende Erziehung wird damit ausgeschlossen, weil es die soziale Entwicklung, einen einigermaßen realitätsgerechten Austausch des Kindes mit seiner Umwelt und ihren Menschen ausschließt. Das Kind erlebt, die Umgebung steht mir zur Verfügung. Damit kann die Beziehungsfähigkeit des Menschen vereitelt werden.

 

Nach diesem Beispiel kommen wir zur dritten und letzten Frage: Welche persönlichen Erziehungsziele haben Eltern heute?

Eltern wollen, dass ihre Kinder glücklich sind. Sie möchten, dass sie selbstständig werden und viel Erfolg haben. Sie möchten, dass sie ihren Egoismus aufgeben und auch für andere Menschen, zunächst einmal für ihre Familie, sorgen und Schwächeren helfen lernen. Sie wünschen sich, dass ihre Kinder sich durchsetzen und auch lieben lernen werden. Dass sie sich nicht unterkriegen lassen, wenn etwas schiefgeht. Natürlich wünschen sich Eltern auch, dass ihre Kinder gesund und von schlimmen Erkrankungen verschont bleiben. An Antworten besteht kein Mangel.

Die elterlichen Zielsetzungen hängen mit der eigenen Lebensgeschichte, dem eigenen Lebensgefühl und auch mit der Einstellung gegenüber Kindern zusammen. Als in einer Elterngruppe ein Vater einmal vorschlug, sich untereinander auch darüber auszutauschen, was die Einzelnen sich nicht für ihre Kinder wünschen, blieb es zunächst stumm in der Runde. Es gelang uns damals, gemeinsam herauszufinden, dass Antworten, fingen sie mit den Worten an: »Auf keinen Fall will ich, dass mein Kind …«, die Eltern als egoistisch entlarvt hätten. Wir empfanden es als völlig in Ordnung, dass der Mensch sich nicht gern bloßgestellt, sozusagen ertappt fühlt. Der eine und andere Teilnehmer nahm den Entschluss mit nach Hause, über diese gefühlsmäßige Abwehr gegen das Bloßgestelltwerden auch bei seinem Kind nachzudenken.

Hier geht es um die vielen positiven Zielsetzungen, mit denen sich sicherlich viele Leser identifizieren können. Man wird sich mit gutem Gewissen mit jedem der Ziele einverstanden fühlen. Wie anders könnte der immer wieder gebrauchte Satz zustande kommen: »Wir meinen es doch nur gut mit unserem Kind. « Dieses Gut-Meinen kann keinem Erwachsenen abgesprochen werden. Es reicht jedoch heute und auch im Hinblick auf die uns noch unbekannte Zukunft nicht mehr aus, zumal gleiche Ziele sehr unterschiedliche Auslegungen ermöglichen. Wir tun uns daher keinen Dienst, uns nur an wünschenswerte Ziele zu klammern. Sie sind der kleinere Anteil am konkreten Erziehungsverhalten.

Wir brauchen andere Fragen, die uns weiterhelfen können. Wir werden mit anderen Augen auch den Erziehungsvorgang sehen lernen müssen. Es sind Fragen, die nicht das persönliche Ziel des Erziehenden betreffen, sondern ihn selbst als erziehende Person, zum Beispiel: Welche Einzelschritte muss ich konkret unternehmen, um meinem angestrebten Ziel möglichst nahe zu kommen? Wie viel Zeit und Geduld muss ich einsetzen? An welchen Stellen muss ich aushalten lernen und auf das »Machen« verzichten? Versteht mich mein Kind in dem von mir gemeinten Sinn und wie kann ich das herausbekommen? Zum Abschluss dieses Kapitels werden noch weitere Fragen genannt, die zum Nachdenken anregen sollen. Sie möchten dazu beitragen, sich nicht nur mit dem »Zögling«, sondern auch mit seiner eigenen Person als Erziehendem zu befassen.

Erziehung geht nicht zwischen zwei Köpfen vor sich, sondern zwischen den Herzen von Eltern und Kindern. Das Erziehende ist immer etwas Persönliches. Es geht dabei stets um einmalige Menschen in einmaligen Lebenssituationen und Zeitverhältnissen. Wir betonen daher heute zu Recht die menschlich-persönliche Beziehung als das Wesentliche, das Umfassende, in das die Erziehungsaufgaben eingebettet sind.

Von dieser Betrachtung her wird verständlich, was als Qualität, als Gütezeichen von Erziehung bezeichnet werden kann. Sie besteht aus der bewussten Zuwendung des Erwachsenen zum Kind, aus dem Sich-Zulassen in seiner einmaligen Person bei gleichzeitiger Einfühlung in das einmalige Kind in seiner jeweiligen Entwicklungsstufe. Was hier vielleicht ein wenig schwerfällig ausgedrückt ist, wird Ihnen sofort zugänglich, wenn Sie sich eine Stunde Zeit nehmen, um mit Ihrem Kind bewusst zu spielen oder einen Spaziergang zu machen.

 

Die Bilanz aus meinen langjährigen therapeutischen Erfahrungen mit Kindern und Erwachsenen lässt sich in drei Kernsätzen zusammenfassen:

Und nun kommt vielleicht für manche Leser eine Enttäuschung auf sie zu, wenn sie erfahren, dass es keinen ultimativen Experten und kein unfehlbares Nachschlagebuch gibt, um pädagogische Einzelschritte zu erfahren beziehungsweise nachzulesen. Erziehung ist immer ein Risiko. Ihr Ergebnis lässt sich weder voraussagen noch berechnen. Psychologische Berater sind bekannt dafür, dass sie keine konkreten Erfolg garantierende Anweisungen geben. Sie tun das nicht, um ihr Wissen zu verheimlichen. Sie tun das, weil sie dieses Wissen nicht haben. Keine Wissenschaft, auch nicht die Psychologie oder Tiefenpsychologie, kann unsichtbare zwischenmenschliche Beziehungen im Detail entwirren oder erfolgreiche Schritte fest zusagen. Wer auf Effekt und Hinweise von außen angewiesen ist, wird unter Umständen die Psychologie in Bausch und Bogen verwerfen. Wir werden ertragen lernen müssen, dass Wissenschaften überfordert sind, wenn wir ihnen in Bezug auf menschliche Lebensprobleme Garantien abverlangen. Erziehen und Erzogenwerden gehören zu Grundsituationen des Menschen. Sie sind etwas anderes als Psychologie. Nichtsdestoweniger kann Psychologie hilfreich werden, jedoch Hilfe nicht »machen«. Wenn Eltern und Berater sich in ihren verschiedenen Ausgangspunkten respektieren lernen, ist es realistisch, dass im gemeinsamen Suchen konstruktive pädagogische Schritte sichtbar werden.

Die »10 Gebote der Kindererziehung«, die im Rahmen einer Sendung des Bayerischen Rundfunks im März 1996 ausgestrahlt wurden, habe ich bereits erwähnt. Auch diese Gebote sind nicht als Garantien für die Lösung von Erziehungsproblemen aufzufassen. Es sind vielmehr brauchbare Maßstäbe, die vielen Eltern hilfreich sein können.

 

Abschließend noch einige Fragen zum Nachdenken: