1

Sie knipste den Mixer an und beobachtete, wie das Mehl sich mit den Eiern, der Butter und dem Zucker vermischte.

Während das Gerät langsam vor sich hin rührte, fiel ihr Blick auf das Poster. Das verdammte Poster. Zu groß sei es, hatte Dirk gesagt. Zu groß! Das musste man sich mal vorstellen. Aber so war er eben, ließ sich etwas schenken, und wenn es nicht genau so war, wie er es haben wollte, nörgelte er herum.

Sie stach mit der Gabel in den Teig und machte die Probe. Füllte ihn zur Hälfte in die runde Form, schüttete zum Rest den Kakao und etwas Milch.

Das Poster war ihre Idee gewesen, und wenn sie Poster sagte, meinte sie auch Poster. Platz hatte Dirk genug. Bei ihrem Auszug hatte sie das Blumenbild mitgenommen und Dirk ein schönes helles Quadrat an der Wand hinterlassen. Das Poster hätte da genau hineingepasst.

Sie mischte den dunklen Teig mit der Gabel unter den hellen, und ein hübsches Muster entstand.

»Dein Marmorkuchen ist der beste der Welt«, sagte Dirk immer. Ach, es hätte doch etwas werden können mit ihnen. Etwas Großes.

Sie schob die Kuchenform in den Ofen und stellte den Wecker. Fünfundfünfzig Minuten. Dann schaute sie wieder zum Fenster hinaus. Drüben war immer noch alles beim Alten. Balkontür offen. Wahrscheinlich lag Dirk noch im Bett.

Sie wählte seine Nummer. Es tutete. Sie legte wieder auf, schloss das Fenster und ging ins Bad.

Sieben Haarklammern lagen bereit, alle in leuchtenden Farben. Sie nahm die grüne, die Dirk die »giftgrüne« nannte, obwohl sie eindeutig neongrün war, und klemmte sich damit die dunkle Locke aus dem Gesicht. Malte ihre Lippen an, machte einen Kussmund, und drehte ihr Gesicht ein wenig zur Seite. Alles schön.

Sie trug den mit Puderzucker bestäubten Marmorkuchen vor sich her, wie man einen perfekten Marmorkuchen vor sich herträgt, und die Leute auf der Straße drehten sich nach ihm um, als hätten sie noch nie einen Marmorkuchen gesehen.

Als sie vor Dirks Wohnungstür stand, hielt sie mit der einen Hand den Teller, mit der anderen drückte sie den Klingelknopf – und wartete.

Sie klingelte noch einmal.

Dann stellte sie den Kuchen auf die Fußmatte und wühlte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel.

Schlüssel ins Schloss. Sie drehte ihn, hob den Kuchen hoch, gab der Tür einen Schubs – und stieß einen Schrei aus.

Der Teller geriet aus der Balance, der Kuchen ins Rutschen. Das Porzellan zerschellte auf den Fliesen.

Überall Scherben und Blut. Und die Kuchenstücke dazwischen.

Monika würgte und wusste: Dieses Bild würde sie nie wieder vergessen.

2

»Dürf‌te ich bitte mal durch?«

Sebastian kannte die Stimme und schaute auf. Frau Börnemann aus der Verkehrsabteilung trug wie immer ein Kostüm mit einer Brosche am Kragenaufschlag, heute war es der bunte Vogel. Ihre blondierten Haare hatte sie aufgesteckt, ihr rundes Gesicht war vom Make-up leuchtend braun, über den Augen glitzerte es bläulich. Auf einem Tablett balancierte sie mehrere Kaffeetassen und einen Teller, auf dem sie verschiedene belegte Brötchen arrangiert hatte.

Sebastian stellte seinen Becher in den Kaffeeautomaten und trat beiseite.

»Haben Sie nicht bald Urlaub, Herr Fink?« Frau Börnemann schaute über ihre Schulter. »Wohin geht’s denn eigentlich?«

»Ist noch nicht entschieden.«

»Allein?«

Sebastian lächelte.

»Sehen Sie! Ich habe doch gleich gemerkt, dass Sie verliebt sind! Sie federn beim Gehen, und Sie sehen so entspannt aus.«

Das überraschte ihn. Er hätte nicht gedacht, dass man ihm so schnell ansehen konnte, wie er sich fühlte. Geschweige denn, dass man ihn überhaupt so genau anschaute. Er langte nach dem Zucker und folgte Frau Börnemanns Blick zur Theke, wo Eva Weiß, seine Chef‌in, am Obstkorb stand und auf einen Kollegen vom Rauschgiftdezernat einredete.

Frau Börnemann seufzte. »Ich muss hoch. Schicken Sie mir ein Kärtchen?«

»Aber klar doch«, sagte Sebastian. Er drückte den Knopf für Kaffee schwarz, und die Maschine begann zu dröhnen.

»Die ist noch Generation Postkarte«, sagte er zu Pia, als er sich zu ihr setzte. Hier am Fenster der Cafeteria war Pias Stammplatz. Seine Kollegin hatte eine Tasse Tee vor sich und las mit einer steilen Falte auf der Stirn ein Papier – wahrscheinlich war es der Bericht, den Jens gestern noch schnell vor Feierabend in die Tasten gehauen hatte. Die Tote aus Norderstedt, tragisches Familiendrama, demenzkranke Frau, mit einem Jagdgewehr erschossen von ihrem Ehemann, der sich dann freiwillig bei der Polizei meldete – Fall geklärt.

»Wie geht’s heute?«, fragte Sebastian.

»Alles okay«, antwortete Pia knapp, schaute kurz auf, blinzelte durch ihre runden Brillengläser hindurch, bevor sie sich wieder in ihre Lektüre vertief‌te.

Gerade als Sebastian seinen ersten Schluck nehmen wollte, rief Eva Weiß quer durch den Saal: »Wann bekomme ich denn Ihren Bericht, Herr Fink?«

Die Leiterin des Morddezernats war drahtig und so dünn, dass man sich wundern musste, wie ihr Organismus überhaupt funktionieren konnte. Als würde die Disziplin, die Eva Weiß an den Tag legte, auch noch das letzte Milligramm Fett verzehren.

»Den schicke ich Ihnen gleich«, antwortete Sebastian. Er hatte den Eindruck, dass einige Kollegen am Nachbartisch grinsten. Sie waren von der Nachtschicht und vermutlich froh, dass sie bald nach Hause konnten.

Kurz darauf verließen Sebastian und Pia gemeinsam die Cafeteria.

»Ist doch eigentlich schade, dass man kaum noch Postkarten schreibt«, sagte Sebastian, als sie nebeneinander die Stufen hinaufstiegen. »Oder schreibst du noch Briefe?«

»Früher mehr. An meine Omi.« Pia klemmte die Papiere unter den Arm.

»Lebt sie noch?«, fragte Sebastian.

Pia schüttelte den Kopf.

»Wann ist sie gestorben?«

»Ist schon lange her.«

»Vermisst du sie manchmal?«, wagte Sebastian zu fragen, denn eigentlich mochte Pia private Fragen nicht.

»Ich liebte sie«, antwortete Pia. »Über alles.« Und bevor Sebastian etwas sagen konnte, lenkte Pia das Gespräch auf ihn. »Du verstehst dich ja auch gut mit deiner Oma. War sie nicht zu dir gezogen?«

»Ja, vorübergehend. Sie wohnt noch in meiner Wohnung, ist aber gerade verreist.«

Die Kollegen saßen schon bei der Arbeit, schauten in Bildschirme, telefonierten, tippten. Das Großraumbüro war durch Scheiben in verschiedene Bereiche getrennt, wo man einigermaßen in Ruhe arbeiten konnte und trotzdem Sichtkontakt hatte.

»Brauchst du Hilfe wegen dem Bericht?«, fragte er.

Pia setzte sich an ihren Schreibtisch, starrte auf das gerahmte Foto von ihrem Hund, einem Golden Retriever, und machte eine Kopfbewegung, die sowohl »nein« als auch »raus hier« bedeuten konnte.

Sebastian ging den Gang hinunter, an dem sein Büro lag, ein eigener Raum, der ihm als Hauptkommissar zustand. Nur noch wenige Tage, dann ging ihn die Arbeit hier für eine Weile nichts mehr an. Sebastian fühlte sich bei dem Gedanken so leicht und froh, dass er sich schon fast dafür schämte. Er stellte seinen Becher ab, hängte seine Jacke an den Haken und öffnete das Fenster.

Heringsdorf an der Ostsee. Seit ein paar Tagen stand der Vorschlag im Raum. Man käme da relativ schnell hin, hatte Marissa gesagt, und es sei der ideale Ort, »um mal komplett die Birne freizukriegen«, wie sie es nannte.

Sebastian schaute aus dem Fenster in den grauweißen Himmel. Das Wetter war noch nicht stabil, an der Ostsee hieß das womöglich Wind, Regen, Gummistiefel.

Er ging ins Internet und klickte auf die Wettervorhersage für Italien. Weiter zu den Hotelangeboten. Fotos mit blauem Himmel. Kleine Balkons, verschnörkelte Geländer, schiefe Fensterläden, wild wuchernder Efeu. Vespa-Verleih um die Ecke. Sebastian stellte sich das Knattern des Rollers in den engen Gassen vor, mit Marissa an seinen Rücken geschmiegt. Fischrestaurant am Meer. Hand in Hand durch die Altstadt bummeln, verwunschene Plätze finden, sich treiben lassen. Er griff zum Telefon.

Marissa war sofort dran.

»Hör mal, mein Schatz«, sagte er. »Ich habe mir etwas überlegt.«

»Sekunde.«

Er hörte undeutlich, wie sie auf der anderen Leitung telefonierte, lachte, mit kurzen Sätzen das Gespräch zu Ende brachte.

»Liebling?« Ihre Stimme klang etwas atemlos. »Ich habe die Zusage!«

»Echt?«, antwortete Sebastian.

»Nur Topleute, und das Honorar ist der Hammer.«

»Wann ist noch mal das Festival?«, fragte er.

»Wie süß du bist. Keine Sorge. Im Herbst.«

»Zweite Frage«, sagte Sebastian. »Warst du schon mal in Neapel?«

»Neapel?«

»Es gibt ein wunderschönes Hotel an der Piazza Bellini.«

Marissa lachte leise. »Manchmal denke ich: Das mit uns kann doch gar nicht wahr sein.«

»Heißt das, ich kann buchen?«

»Ja! Und wann sehen wir uns?«

»Um fünf bin ich hier raus.« Sebastian hörte noch ihren Kuss. Dann hatte sie aufgelegt.

Er buchte das Hotel für einige Tage, alles andere würden sie vor Ort entscheiden. Er schloss die Augen und vergegenwärtigte sich noch mal Marissas Kuss an seinem Ohr.

Als sich hinter ihm jemand räusperte, drehte er sich herum. Pia stand in der Tür. Ihrem Gesicht war sofort anzusehen, dass etwas passiert war.

»Was gibt’s?«, fragte er.

Pia antwortete mit beherrschter Stimme: »Mord in Billstedt.«

Sebastian merkte, wie ihm der Blutdruck absackte.

»Wo?«, fragte er.

»Schiffbeker Weg. Jens ist schon unterwegs.«

Sebastian stand auf und nahm seine Jacke vom Haken. Bevor er das Büro verließ, klickte er die Wettervorhersage für Neapel weg.

3

Der Schiffbeker Weg durchzog den Stadtteil Billstedt, der zu den sozialen Brennpunkten Hamburgs gehörte: Von seinen siebzigtausend Einwohnern waren zehn Prozent arbeitslos, dreiundzwanzig Prozent Ausländer und zweiundzwanzig Prozent Hartz-IV-Empfänger. Damit lag Billstedt deutlich über dem Hamburger Durchschnitt.

An der Ecke stand das Hochhaus – sechzehn Stockwerke, kleine Fenster, kleine Balkons. Auf dem von Blumenrabatten eingefassten Gehweg parkten zwei Polizeiautos und ein Krankenwagen. Auf der Straße hielt ein Leichenwagen, wendete und setzte rückwärts über den abgetretenen Rasen zum Eingang.

Sebastian folgte dem Plattenweg zum Haus. Jugendliche in Bomberjacken, Rentner und Hausfrauen mit Einkaufstüten drängelten sich, rauchten, glotzten und hielten Handykameras in die Höhe.

»Bitte machen Sie Platz«, bat ein uniformierter Polizist. »Gehen Sie nach Hause.«

Die Leute traten stumm zur Seite und bildeten eine Gasse für Sebastian. Neben dem Eingang, einem gläsernen Kasten, der wahrscheinlich nachträglich an das Hochhaus gebaut worden war, stand das Motorrad von seinem Kollegen und Freund Jens.

Im Treppenhaus roch es schon ein wenig nach Verwesung. Warum, dachte Sebastian wieder, verabschiedete sich eigentlich die Seele auf so hässliche Weise?

Im zweiten Stock stand die Wohnungstür offen. Ein kaputter Teller und marmorierte Kuchenbrocken lagen auf dem Boden. Scheinwerfer verbreiteten ein gleißendes Licht. Die Kollegen von der Spurensicherung in ihren weißen Ganzkörperanzügen waren schon bei der Arbeit. Der leblose Körper lag in der Diele auf dem Rücken.

Sebastian zog sich die hellblauen Tüten über seine Schuhe, die ein Kollege ihm reichte. Es herrschte eine spezielle, fast feierliche Stimmung. Das empfand Sebastian oft, wenn er an einen Tatort kam, wo die Leiche noch lag.

»Darf ich vorstellen: Dirk Packer.« Jens machte einen großen Schritt über die Leiche hinweg.

Das war typisch Jens, er verhielt sich natürlich alles andere als feierlich, dachte Sebastian, als er näher an den Toten herantrat. Der Mann trug eine hellgraue Jogginghose und ein sauberes weißes T-Shirt mit einem riesigen dunklen Fleck auf der Brust. Arme und Beine waren gespreizt.

»Volltreffer«, sagte Jens. »Ist wahrscheinlich direkt hier an der Tür erschossen worden und einfach zu Boden gefallen.«

Der Gerichtsmediziner nickte Sebastian zur Begrüßung zu. »Zwei Tage liegt er schon hier. Genaue Uhrzeit kann ich aber noch nicht sagen.«

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Sebastian.

»Seine Exfrau«, antwortete Jens. »Monika Packer. Sie hat einen Schlüssel und wird gerade unten vom Notarzt versorgt.«

»War die Tür verschlossen?«

»Daran kann sie sich nicht mehr erinnern. Sie steht unter Schock. Kein Wunder, bei dem Anblick.«

Sebastian ging in die Hocke und betrachtete den Toten. Die Gesichtszüge waren verzerrt, als hätte der Mann, kurz bevor die Schüsse fielen, noch eine Grimasse gezogen. Der Mund stand offen, die Zähne waren nahezu perfekt, die aufgedunsene Haut im Gesicht war fleckig, ebenso die Haut an den Händen. Die Augen waren aufgerissen. Sie guckten starr ins Nichts, als wäre dort irgendetwas Hypnotisierendes.

»Welche Infos gibt es schon?«, fragte Sebastian.

Kollege Niemann schaute auf seinen Notizblock. »Vierundvierzig Jahre alt, KFZ-Mechaniker, zuletzt arbeitssuchend. Keine Familie.«

Hinter dem Kollegen hing ein Foto an der Wand. Sebastian musste genauer hinsehen, um zu erkennen, was es zeigte. Auf den ersten Blick war es ein großes grünes Insekt, auf den zweiten Blick war es Dirk Packer mit grün angemaltem Gesicht und verkleidet mit einem grünen Ganzkörperanzug, wahrscheinlich zu Karneval.

»Dirk Packer als Grashüpfer?« Jens trat näher an das Foto heran.

Sebastian betrachtete die Abbildung, den knallgrünen Anzug, die falschen dünnen Arme, die rechts und links vom Anzug abstanden. Der Mann auf dem Foto lachte. »Du hast recht«, sagte Sebastian, »als Grashüpfer. Da hinten, die Flügel.«

»Haben wir schon Aussagen von den Nachbarn?«, fragte Jens.

Kollege Niemann verneinte. Die Kollegen hätten die Befragung gerade erst begonnen.

Als Sebastian sich von dem Foto abwandte, um sich in der Wohnung umzuschauen, erfasste ihn auf einmal ein Schwindelgefühl, und ihm wurde übel. Er musste sich zusammenreißen und hoffte, dass von den Kollegen keiner etwas gemerkt hatte.

»Ist was?«, fragte Jens.

Das war ja zu erwarten. Jens ließ sich nichts vormachen. Aber jetzt klingelte zum Glück sein Handy, und Jens zog sich damit zurück.

Im Zentrum der Schrankwand im Wohnzimmer befand sich ein Fernseher, ein ziemlich großes Gerät. Im Regal darüber eine lange Reihe DVDs – Spielfilme, deutsche, amerikanische, und mehrere Ausgaben Schlagerparade. An der Seite, aber nach vorn gerückt, war das Foto einer Erdbeere im silbernen Rahmen. Sebastian schaute genauer hin. Links und rechts ragten Arme aus dem voluminösen roten Körper, unten zwei dünne Beine. Auf dem Kopf, über dem grinsenden Gesicht von Dirk Packer, saß wie eine Krone ein Kopfschmuck – das Erdbeergrün. Der Mann, der hier bis vor kurzem gelebt hat, war ganz offensichtlich ein Karnevalsfreund.

Sebastian ging durch die Diele in die Küche. Eine kleine Küche. Auf der Wachstuchdecke lagen ein paar Zettel, beschrieben mit krakeliger Schrift. Auf einem stand: Wir wollen unser Land behalten, so wie es ist! Sebastian schob ihn vorsichtig zur Seite und las den nächsten Spruch: Go home! Und dann noch: Nein zum Heim!

Sebastian zog eine kleine Tüte aus der Jackentasche, streif‌te die Handschuhe über, schob die Blätter zusammen und steckte sie in die Tüte. In diesem Augenblick brach die Sonne durch die Wolken und ließ die Blumen auf der Wachstuchdecke auf‌leuchten.

Sebastian schaute hinunter auf die Straße. Neben dem Leichenwagen war der Krankenwagen zu sehen, in dem die Exfrau des Ermordeten, Monika Packer, behandelt wurde. Die Menge da unten war angewachsen, und die Leute ließen sich kaum davon abhalten, durch die Milchglasscheiben des Krankenwagens zu gaffen.

 

»Einen Moment, bitte«, sagte der Notarzt im Krankenwagen, nachdem Sebastian sich vorgestellt hatte. »Sie braucht noch eine.«

Sebastian sah zu, wie der Mann eine weitere Spritze aufzog, und beobachtete, wie die geschiedene Ehefrau des Toten vor Erleichterung die Augen schloss, als das Beruhigungsmittel in ihre Venen schoss. Rundes Gesicht, spitze Nase, dunkel gefärbte lockige Haare, die von einer giftgrünen Spange aus dem Gesicht gehalten wurden. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie konnte Mitte fünfzig, aber auch zehn Jahre jünger sein.

»Fühlen Sie sich in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten?«, fragte Sebastian Frau Packer.

Die Frau seufzte tief, öffnete die Augen und wandte sich widerstrebend Sebastian zu.

»Bitte erzählen Sie: Was haben Sie gesehen, als Sie heute Morgen zu Ihrem Exmann kamen?«

Sie legte ihre Hände ineinander und presste die Lippen zusammen. Ihre Stimme war ganz leise. »Also«, sagte sie. »Ich habe noch überlegt, ob ich etwas für Dirk einkaufen soll, vielleicht ein paar Bananen, damit er auch was Gesundes zu essen bekommt, aber mit dem Kuchen wollte ich nicht in den Supermarkt, also bin ich doch direkt zu Dirk ins Haus. Ich bin zu Fuß in den zweiten Stock.« Sie griff nach Sebastians Hand. »Ich habe geklingelt … Ich hatte kein gutes Gefühl. Es hat so komisch gerochen. Da war nichts, kein Laut. Dann habe ich aufgeschlossen«, sagte sie und stockte gleich wieder.

»War die Tür abgeschlossen?«, fragte Sebastian.

»Ich weiß es nicht mehr. Ich habe die Tür aufgemacht … Und da lag er.« Sie schluchzte laut auf.

Sebastian reichte der Frau ein Päckchen Taschentücher. Sie bediente sich und putzte sich geräuschvoll die Nase.

»Haben Sie einen Verdacht, wer Ihren Exmann getötet haben könnte?«, fragte Sebastian.

Sie antwortete nur mit einem Kopfschütteln. »Dirk ist nicht ans Telefon gegangen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie oft ich es bei ihm versucht habe.«

»Seit wann haben Sie es versucht?«

»Seit gestern Morgen. Dann in Abständen immer wieder. Zuletzt vorhin. Dann bin ich los.«

»Sie hatten also noch engen Kontakt zu Ihrem Exmann?«

Der Frau schien irgendetwas durch den Kopf zu gehen. »Was haben Sie gefragt? Ach so – ja, der Kontakt war gut.«

»Was war denn das Problem gewesen, wenn ich fragen darf?«

Sie stutzte. »Soll ich Ihnen jetzt etwa von meiner Ehe erzählen?«

»Es wäre gut …«

Tränen standen in ihren Augen. Sie wandte sich ab und schaute aus dem Fenster. Dann richtete sie sich wieder an Sebastian: »Ich sag’s mal so: Er war ein Muttersöhnchen. Total verwöhnt. Hat immer gleich alles hingeschmissen. Bei keiner Arbeit hat er’s ausgehalten. Immer hat er sich mit Kollegen gestritten. Und wenn er nicht rausgeschmissen wurde, hat er selbst gekündigt. Dann saß er wieder zu Hause herum.« Frau Packer sah Sebastian eindringlich an. »Sie können es sich wahrscheinlich nicht vorstellen, wie es ist, wenn der eigene Mann den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzt und den Arsch nicht hochbekommt. Natürlich kriegt man sich dann in die Wolle. Wir haben uns viel gezankt. Richtig gut haben wir uns eigentlich nur einmal im Jahr verstanden.«

»Einmal im Jahr?«

»An Karneval. Im Kostüm war Dirk echt zuckersüß. Er war ja Rheinländer. Ich bin aus Erfurt, da gibt es so was nicht.« Sie lachte kurz auf. »Wir sind immer als Paar gegangen: Ich war Dick, und er war Doof, er Frosch und ich König; er Aladin, ich die Wunderlampe. Kein Scherz! Zuletzt, im Februar, waren wir Biene Maja und Willi.« Monika Packer lachte, und ihr rundes Gesicht mit den sprühenden Augen bekam einen völlig neuen Ausdruck.

»Hatte Ihr Mann Feinde?«, fragte Sebastian.

Monika Packer verstummte, und die schlaffen Wangen zogen die Mundwinkel herab. »Feinde?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Quatsch!«

»Oder hatte er andere Probleme?«

»Allerdings.«

»Welche Probleme waren das?«

Die Frau machte eine Schnute und schwieg.

»Drogen?«, fragte Sebastian.

»Haschisch, manchmal auch Koks. Aber nur am Wochenende.«

»Wo bekam er das Zeug her?«

Monika Packer blickte kurz zum Dach des Krankenwagens. »Jörn. Das Arschloch, das über Dirk wohnt. Junkie und Dealer in einem – das Schwein.«

»Haben Sie versucht, Ihren Mann davon abzubringen?«

Empört schaute sie Sebastian an. »Ich habe ihm immer wieder gesagt: Dirk, habe ich gesagt, mach Schluss mit den Drogen – sonst ist Sense. Und lange habe ich mir das nicht angeschaut. Habe mir eine andere Wohnung genommen und die Scheidung eingereicht. So schnell konnte Dirk gar nicht gucken.«

Sebastian holte die Zettel, die er vom Küchentisch genommen hatte, hervor. Er fragte Frau Packer, ob das die Schrift von ihrem Exmann sei.

»Ja. Schön war sie nie.«

»Können Sie mir sagen, wo Ihr Exmann politisch stand?«

»Politisch waren wir immer einer Meinung.« Sie zupf‌te sich einen Fussel vom Pullover. »Aus unserer ehemaligen Schule ein Flüchtlingsheim machen – na, da sage ich nur: Gute Nacht.«

»Sind Sie politisch aktiv geworden?«

Wieder schaute sie ihn empört an. »Wir haben ja nichts gegen Flüchtlinge, aber warum müssen die sich ausgerechnet hier bei uns in Billstedt breitmachen? Uns die letzten Jobs wegnehmen, wo hier schon genug Leute ohne Arbeit sind? Jetzt kann man das endlich auch mal laut sagen. Ob es was bringt, ist eine andere Frage.«

»Sind Sie politisch aktiv geworden?«, wiederholte Sebastian.

»Haben Sie mich doch schon gefragt!«

»Sie haben die Frage aber noch nicht beantwortet.«

Frau Packer sah Sebastian unwillig an. »Ich bin nicht politisch aktiv geworden und Dirk auch nicht. Hätte ja nix gebracht. Das ist einfach unsere Meinung, und leider stimmt sie auch.« Sie nickte ihren Worten hinterher. »Ich möchte echt wissen, wer das Schwein ist«, sagte sie leise, und wieder weinte sie fast. Dann wandte sie sich an Sebastian. »Fassen Sie ihn bald?«

»Davon gehe ich aus«, antwortete Sebastian. Und er hoffte, dass es stimmte.

4

Es begann zu regnen, als Sebastian den Wagen am späten Nachmittag vor der Pathologie parkte. Ein richtiger Platzregen. Es prasselte aufs Autodach, und Wasser rann an den Scheiben herunter.

»Hast du einen Regenschirm?«, fragte Jens.

Sebastian schaute nach hinten auf den Rücksitz, wo manchmal einer lag.

»Keiner da?« Jens winkte ab. »Die Leute sagen immer, in Hamburg regnet es oft, aber man könnte auch sagen: In Hamburg hört es ständig auf zu regnen. Warten wir?«

Im nächsten Moment klingelte das Telefon. Es war Pia. Sie hatte Informationen über Dirk und Monika Packer.

»Das passt gerade sehr gut«, sagte Sebastian. Er stellte laut, und Pias Stimme knarrte aus dem Lautsprecher. »Dirk Packer ist in Köln geboren und aufgewachsen. Dort hat er die Lehre zum KFZ-Mechaniker gemacht. Seit zweiundzwanzig Jahren lebt er in Hamburg. Er hat in verschiedenen Reparaturwerkstätten gearbeitet, zuletzt in einer Werkstatt in Altona. Seit über einem Jahr ist er jedoch als arbeitslos gemeldet und bekommt Hartz IV. Im Polizeiregister gibt es keine Eintragungen.« Pia blätterte in Papieren. »Die Ex, Monika Packer, ist wiederholt durch zu schnelles Fahren aufgefallen, und jedes Mal hat sie versucht, das gegenüber der Polizei zu leugnen. Ansonsten ist sie aber nicht in Erscheinung getreten.«

»Gibt es einen Hinweis, dass sie Zugang zu Waffen gehabt hat?«, fragte Sebastian.

Pia verneinte. Sie habe geprüft, ob Frau Packer zum Beispiel Mitglied in einem Schützenverein war, aber da sei nichts. Ein Motiv, ihren Exmann zu töten, sei ebenfalls nicht zu erkennen. Dirk Packer hatte nichts zu vererben, die Scheidung war schon lange besiegelt, und die beiden ehemaligen Eheleute schienen sich an den neuen Umgang miteinander gewöhnt zu haben. »Das ist erst mal alles«, sagte Pia. »Ich recherchiere weiter.«

Sebastian bedankte sich. Auf Pia war Verlass.

Der Regen hatte nachgelassen. Sebastian und Jens sahen sich kurz an, dann öffneten sie die Türen und liefen los.

»Da sind Sie ja«, sagte Professor Szepeck mit seiner hohen schneidenden Stimme. Es hallte in dem rundum gekachelten Raum, als er sein Sezierbesteck klirrend in eine silberne Schale legte. Ein Blick auf die Uhr sollte ihnen signalisieren, dass sie einige Minuten später waren als angekündigt.

Vor ihnen lag die Leiche von Dirk Packer. Sie war von den Füßen bis unter den Bauchnabel von einem Tuch bedeckt. Oberhalb des Bauchnabels befand sich eine Narbe aus früheren Zeiten, und darüber, in Brusthöhe, klafften zwei Löcher.

»Die Sache ist klar wie ein Bergbach«, sagte Szepeck. Er ging gemächlich um den Seziertisch herum. Seine Finger mit den kurzgeschnittenen Nägeln näherten sich den Löchern und stoppten, kurz bevor er die aufgerissene Haut berührte. »Die Schüsse haben beide ins Herz getroffen und wurden aus nächster Nähe abgegeben. Ein Meter, nicht mehr.«

Jens strich sich über sein unrasiertes Kinn, schaute zur Tür und sagte: »Also. Es klingelt. Packer macht die Tür auf. Der Täter steht vor ihm, er schießt sofort, der Grashüpfer fällt nach hinten, das war’s.«

»Grashüpfer?«, fragte der Professor.

Sebastian winkte ab. »Warum denkst du, dass der Täter sofort geschossen hat?«, fragte Sebastian.

»Weil er mitten ins Herz traf, Packer hat sich nicht abwenden können.«

Das überzeugte Sebastian noch nicht. Er überlegte. Dann sagte er: »Offenbar hat das Opfer die Tür weit geöffnet, sonst hätte er nicht direkt von vorne getroffen werden können. Das spricht dafür, dass er entweder den Täter kannte oder dass es eine vertrauenserweckende Person war. Der Täter muss die Waffe dann blitzschnell gezogen und geschossen haben.«

»Dann wäre es ein geübter Schütze«, meinte Szepeck.

»Vielleicht war Packer nicht nur vertrauensvoll, sondern voll mit Alkohol«, sagte Jens. »Das wäre eine Erklärung für die weit offene Tür und null Reaktion auf die Waffe.«

»Haben Sie Alkohol in seinem Blut gefunden?«, fragte Sebastian.

»Kein Alkohol. Nicht ein Milligramm.«

»Und nach dem Schuss wurde die Tür von außen wieder geschlossen. Auch interessant«, sagte Sebastian. »Gibt es sonst noch etwas Auf‌fälliges?«

Professor Szepeck schüttelte den Kopf. »Bisher nicht.«

Sebastian betrachtete die Leiche, den nackten leblosen Körper, und dachte an die vielen verschiedenen Kostüme, die dieser Mensch sich im Laufe seines Lebens übergezogen hatte. Der Grashüpfer, die Erdbeere, Aladin, und das war nur eine kleine Auswahl der Kostüme seines nicht vollendeten Lebens. Jetzt war er, wie alle Menschen am Ende ihres Lebens, nackt, und den Rest würde – nach Abschluss der Untersuchungen – die Natur besorgen.

Als hätte Jens seine Gedanken gelesen, sagte er: »Tja, wie man hier wieder mal gut sehen kann, ist die Lebenszeit begrenzt. Man sollte seine Zeit gut nutzen. Nicht wahr, Herr Professor?«

Szepeck schaute Jens kurz irritiert an.

Sebastian stellte sich ans Fenster. Jetzt nieselte es nur noch. Als er sich wieder umdrehte, sah er, wie sich Szepeck über den Körper beugte und mit einer Pinzette in die Wunde im Brustkorb des Toten hineinfuhr. Und dazu summte er.

Die beiden Kommissare verabschiedeten sich von ihm. Als sie aus dem Gebäude traten, sogen sie die frische Luft tief ein.

Am Eingang wartete ein Mitarbeiter der Pathologie mit einer Styroporkiste. Was wohl darin lag? Organe? Ein Schmetterling flatterte von draußen herein und setzte sich auf die Kiste. Er hatte leuchtend orangefarbene Flügel mit feinen braunen Streifen. Der Mann versuchte den Schmetterling zu verscheuchen, erst mit der Hand, dann mit Pusten, aber das zarte Tier blieb sitzen, wollte nicht zurück in die nasse Welt. Schließlich ging der Mann einfach los, durch den Regen zum Auto. Sebastian und Jens schauten ihm hinterher, das Orange des Schmetterlings war noch immer auf der Kiste zu sehen. Der Mitarbeiter öffnete die Heckklappe und legte die Kiste mitsamt dem Schmetterling hinein.

 

Auf dem Weg zu Marissa dachte Sebastian darüber nach, dass achtundneunzig Prozent aller Mordfälle nach wenigen Tagen gelöst waren. Meist meldete sich der Mörder, weil er im Affekt gehandelt hatte und sein Gewissen ihn plagte. Ob der Fall von Dirk Packer zu den übrigen zwei Prozent gehörte?

Sebastian hatte ein ungutes Gefühl.

Er hielt am Supermarkt, schnappte sich einen Korb und kauf‌te ein: Feldsalat, Cocktailtomaten, gewürfelten Speck und Zwiebeln. Legte frische Tortellini, Tomaten und Basilikum dazu und dachte an Neapel, das Mittelmeer, Motorroller, Marissas Sommersprossen, die sich auf ihrem Nasenrücken und den Oberarmen bilden würden, wie er es auf Fotos bei ihr zu Hause gesehen hatte. Ein Glückgefühl durchströmte ihn wie aus einer inneren Energiequelle. Er war verliebt, und dieses Gefühl wirkte wie eine Droge.

Als er wenige Minuten später Marissas Wohnungstür öffnete, schlug ihm ein hämmernder Rhythmus entgegen, und die Luft vibrierte.

»Hallo!« Er zog geräuschvoll die Wohnungstür hinter sich zu.

Marissa saß hinter ihrem aufgeklappten Laptop, die Hand an dem kleinen Mischpult. Ihre Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der rhythmisch auf und nieder wippte. Sebastian küsste sie sanft auf den Nacken. »Hast du Hunger?«, fragte er.

»Ein bisschen.« Sie runzelte die Stirn. »Ich suche noch ein paar Tracks zusammen«, erklärte sie. »Was hältst du davon?« Sie schob die Regler hoch, und wieder kam ein dumpfer Rhythmus aus den Lautsprechern.

Sebastian konnte keinen Unterschied zu dem vorangegangenen Stück hören. Im Club fühlte sich das alles anders an. »Klingt gut«, sagte er vage.

Sie bewegte wieder rhythmisch den Kopf, in Gedanken bei ihrer Setlist. Sebastian nahm die Tüte mit den Einkäufen, und Marissa fragte: »Hast du gebucht?«

»Ja«, sagte er zögerlich. Bevor der Fall Packer nicht gelöst war, sollte er eigentlich gar nicht an Italien denken.

Sie schaute auf. »Was ist passiert?«

»Warum fragst du?«

»Du bist ja ganz blass.«

»Blass? Ach, lass uns nicht über den Tag sprechen. Es war das Übliche.«

»Was heißt das?«

»Ein neuer Fall.«

»Mord?« Sie machte die Musik aus. »Willst du mir nicht sagen, was passiert ist?«

»Sei mir nicht böse, aber ich will jetzt nicht darüber sprechen.« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände. Wie unglaublich grün ihre Augen waren. Und diese Wimpern.

Sie umfasste seinen Kopf, zog ihn zu sich heran, sie küssten sich. »Ist in Ordnung«, sagte sie.

Er verschwand mit der Plastiktüte in der Küche, durch deren Fenster der Hafen zu sehen war. Alles glitzerte in der Abendsonne. Kräne fuhren an riesigen Schiffen entlang, pickten sich einzelne Container, hoben sie in die Höhe und trugen sie davon, als wären sie nicht tonnenschwer, sondern Kästen aus Spielzeug.

Als Sebastian einen Topf mit Wasser füllte, hörte er wieder die Musik. Er wippte ein wenig zu dem Rhythmus, während er den Topf auf die Herdplatte stellte und die Zwiebeln aus der Tüte nahm, um sie kleinzuhacken.

Menschen waren seltsam, dachte er. Dirk Packer zum Beispiel. Zog sich aus Jux und Tollerei die seltsamsten Karnevalskostüme an und feierte, was das Zeug hielt, und gleichzeitig war er im Alltag offenbar ein engstirniger Zeitgenosse – wenn man den Aussagen seiner Exfrau glauben durf‌te.

Er holte den gewürfelten Speck aus der Verpackung und gab ihn in die Pfanne. Es zischte. Er nahm die kleinen Gläser, schenkte Weißwein ein, gab die Tortellini ins kochende Wasser und bemerkte, wie hungrig er war.

Sie würden die Nachbarschaftsbefragung intensivieren müssen. Irgendjemand musste doch etwas gesehen oder gehört haben. Schüler, die die Schule schwänzten, Rentner, die hinter der Gardine standen. Das Problem war, diese Leute zu finden. Sebastian zerpflückte den Feldsalat, verteilte ihn auf die großen flachen Teller. Drüben verstummte die Musik. Er drapierte die Tomaten auf dem Feldsalat, verteilte ein wenig Olivenöl über dem Salat, dann Essig, den guten Balsamico.

Die Stille in der Wohnung, Marissa nebenan, und zwischen ihnen ein Band, das mit jedem Tag inniger wurde. Er hatte gerade neulich wieder gelesen, dass man seine Glücksgefühle nicht für sich behalten, sondern dem anderen mitteilen solle. Sebastian war darin nicht gerade gut. Aber er hatte sich vorgenommen, an sich zu arbeiten.

»Weißt du«, sagte er nach nebenan, »ich kann kaum glauben, dass du mir über den Weg gelaufen bist.« Er wollte jetzt etwas sagen, das er noch nie zuvor jemandem gesagt hatte. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. »Marissa«, sagte er, und sein Hals fühlte sich eigenartig trocken an. »Ich liebe dich.«

Die Stille in der Wohnung war auf einmal mit Händen zu greifen. Sebastian nahm einen Schluck Wein. Dann noch einen Schluck hinterher. Warum antwortete Marissa nicht?

Mit dem Kochlöffel in der Hand schaute er vorsichtig um die Ecke.

Marissa saß reglos am Tisch. Als sie Sebastians Blick bemerkte, zog sie die großen Kopfhörer von ihren Ohren und fragte: »Ist das Essen schon fertig?«

Er lächelte, schüttelte den Kopf und gab ihr einen Kuss. »In fünf Minuten«, sagte er.

5

Monika Packer hängte ihre Jacke über den Kleiderbügel. Die Stiefel ins Schuhregal. Trug die Einkaufstüten in die Küche, ging weiter ins Schlafzimmer. Zog Jeans und Pullover aus und ihre Lieblingsstoffhose mit Gummibund an. Darüber ein Sweatshirt. Unter dem Bett holte sie die Pantoffeln hervor. So, jetzt fühlte sie sich zu Hause. Endlich, nach diesem furchtbaren Tag.

Aus dem Kühlschrank nahm sie eine Flasche Gatorade, goss sich ein Glas mit der grünen Flüssigkeit ein und trank die Hälf‌te in einem Zug aus. Seit sie heute Morgen aus dem Haus gegangen war, hatte sie nichts mehr getrunken. Sie spürte, wie sich die Flüssigkeit in ihrem Körper verteilte, eine Kühle, die sich heilsam anfühlte.

Sie öffnete den Brotkasten, nahm eine Scheibe Graubrot heraus und bestrich das halbvertrocknete Ding fingerdick mit Schmelzkäse. Die Gewürzgläser im Gewürzregal standen da wie Soldaten, getrocknete Petersilie, Basilikum, Majoran. Sie nahm Muskatnuss. Sie brauchte jetzt Muskatnuss. Sie streute sie auf das Brot. Dann nahm sie die Packung mit den Schokostreuseln und ließ einen ordentlichen Schub von den leckeren Dingern auf den Schmelzkäse fallen.

Es tat gut zu essen. Sie kaute, atmete, lehnte sich an den Küchenschrank und schaute aus dem Fenster. Dort drüben war das Hochhaus, Dirks Wohnung. Seltsam, Dirk war tot, und das Haus stand da, als wäre nichts geschehen. Alles ging einfach so weiter. Und wer weiß, vielleicht wohnte der Mörder von Dirk im selben Haus. Irgendein Irrer, ein Drogenjunkie, der nicht mehr unterscheiden konnte, wo oben und unten war, sich in der Tür irrte und jemand Unschuldigen einfach wegballerte, nur weil der ihm keinen Stoff geben konnte oder Geld oder was auch immer. Die Zeiten wurden immer brutaler, und die Polizei schickte einen Grünschnabel vorbei, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte.

Sie trank aus und stellte das Glas in die Spüle. Auf dem Balkon, zwei Stockwerke über Dirk, spielten Kinder und ließen jetzt einen Luftballon steigen. Der rosafarbene Ballon stieg hoch in den Himmel, das Gejauchze der Kinder war durch das gekippte Fenster bis in ihre Küche zu hören. Monika wandte sich ab. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch diese Gören anfingen, in der Gegend herumzuhängen und zu klauen. Schwer atmend ließ sie sich ins Sofa fallen.

Dieser Polizist, Herr Fink, ja, so hieß er, der war ja ganz nett. Aber total ohne Plan. Dass sie ihm was über ihre Ehe erzählen sollte … hallo? Das war doch Voyeurismus. Wahrscheinlich war ihm sein Job zu langweilig. Da schaute man mal, was bei anderen so unter der Bettdecke abging, oder was? Sollte er mal lieber ’n schönen Abend auf St. Pauli verbringen, da konnten sich die Nutten um ihn kümmern, dann entspannte er vielleicht mal.

Sie saß irgendwie unbequem und zog die Fernbedienung unter ihrem Hintern hervor. Die Stille in der Wohnung nervte. Aber auf Fernsehen hatte sie jetzt auch keinen Bock. Sie schloss die Augen, lehnte sich in die Kissen. Im Halbschlaf sah sie das schreckliche Bild von heute Morgen, Dirk hinter der Tür, das Gesicht verzerrt, das Maul aufgesperrt wie ein Tier. Und dieser Gestank! Das würde sie nie mehr vergessen.

Sie öffnete die Augen. Ihr Herz klopf‌te. Die Wandfarbe im Wohnzimmer … dunkelrot. Als sie einzog, fand sie die Idee super. Dirk hatte es gar nicht gefallen, als er das erste Mal zu Besuch kam. »Ochsenblut«, hatte er gesagt und es dann genüsslich wiederholt: »Das Blut von einem fetten Ochsen …«, und sie hatten sich kaputtgelacht. Jetzt machte ihr die Farbe Angst. Gleich morgen würde sie den Polen anrufen, sie brauchte hier etwas Neues, etwas Nettes, vielleicht Rosa.

Am Fenster neben dem Farn stand das Foto vom letzten Karneval. Biene Maja und Willi. Sie streckte sich und nahm das Bild in die Hand. Sie konnte sich noch gut erinnern an diesen Augenblick. Stundenlang waren sie in Köln unterwegs gewesen, voll gut drauf, alles voller Jecken, Kölle Alaaf, Küsschen links, Küsschen rechts. Auf einmal war ihr eingefallen, dass sie die kleine Kamera dabeihatte. Ein riesiger Floh erklärte sich bereit, ein Foto zu machen, und rief, sie sollten mal in die Luft springen. Das machten sie ein paarmal, dann steckte sie die Kamera wieder ein, und weiter ging es, Hand in Hand mit Dirk, obwohl sie schon geschieden waren.

Sie schaute lange auf das Foto.

Dann stand sie auf, ging rüber ins Schlafzimmer, machte die Schranktüren auf, wo die Wintersachen verstaut waren, und zog die Truhe hervor. Da waren die Karnevalskostüme. Sie nahm die Bienenkostüme heraus, entwirrte sie, riss sich das Sweatshirt und die Hose vom Leib und schlüpf‌te in ihr Biene-Maja-Kostüm. Die Seitennaht riss, aber egal. Sie zwängte sich in den gelbschwarzgeringelten Anzug, zog die Kapuze über ihren Kopf und sah im Spiegel, wie die Fühler auf und nieder wippten. Ein Flügel hing schief von ihrem Rücken, aber der andere war intakt.

Sie schwitzte, das Kostüm zwickte unter ihrem Arm. Sie packte das Kostüm von Willi, zog es hinter sich her, breitete den schlaffen Bienenkörper über das Sofa. Die Kapuze auf das Kissen, den Bienenkörper gerade, die Beinchen ordentlich nebeneinander.

Schwer atmend setzte sie sich neben Willi und griff nach seiner Hand.

Das waren noch Zeiten.

Eine Weile saß sie einfach nur so da. Doch auf einmal wurde es ihr heiß. Klingelte es bald auch bei ihr an der Tür? War sie vielleicht selber in Gefahr? Gut, dass sie in der Wohnungstür den Spion hatte. Auf den hatte sie damals bestanden. Nee, hatte sie zum Vermieter gesagt, ohne Spion wird das nix, und dann war das Ding in null Komma nix in der Tür. Aber vielleicht sollte sie dem Polizisten – wie hieß er noch? – den Tipp geben?

Sie seufzte matt. Das ging nicht. Dann käme die Polizei darauf, dass sie und Dirk sich strafbar gemacht hatten. »Nee, das lass mal lieber«, sagte Monika laut zu sich. Wenn auch der Tod noch schlimmer war als Gefängnis, es war eine Wahl zwischen Pech und Schwefel. Sie würde der Polizei nichts verraten, sie würde erst mal abwarten. Vielleicht hatte sie ja Glück.

Monika Packer lächelte ein wenig, bevor ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen.

6

Als Peer Wolfsohn am frühen Abend die letzten Stufen zur Wohnung hinaufstieg, hoffte er, dass Anke sich verspätet hatte. Es wäre ein kleines Wunder, aber vielleicht hatte er Glück. Er schob den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn vorsichtig und drückte fast lautlos die Tür auf. In der Wohnung war es still. In der Diele war weder Ankes Tasche noch ihre Jacke zu sehen.

Und trotzdem wusste er, dass sie da war. Er konnte es spüren, wie es wahrscheinlich ein Blinder spürt, wenn jemand schweigend anwesend ist.

Peer hängte seine Jacke an den Haken und rief: »Hallo!« Er hoffte, dass es möglichst neutral klang, entspannt, vielleicht sogar fröhlich, wie der Ruf eines Mannes, der nichts zu verbergen hat.

Er ging ein paar Schritte – und entdeckte auf dem Fensterbrett ihren Schlüsselbund: ein sicheres Zeichen, dass Anke verärgert war, dass im Büro irgendetwas schiefgelaufen war oder jedenfalls anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Wenn alles in Ordnung war, hing der Schlüssel am Haken, wo er eigentlich hingehörte.

Peer gönnte sich eine kurze Verschnaufpause und atmete erst einmal tief durch. Irgendwann im Laufe ihrer Ehe war ihm einmal aufgefallen, dass es immer auf die ersten Minuten ankam. In dieser Zeitspanne kippte die Stimmung entweder in die eine oder in die andere Richtung. Darum sollte auch immer alles tipptopp sein und perfekt funktionieren, wenn sie ankam, das hatten die Kinder inzwischen auch schon kapiert. Wenn Anke zur Tür hereinkam und alles in Ordnung war, kein Spielzeug, das herumflog, keine Zeitung auf dem Boden, entspannte sie sich und mit ihr die ganze Familie.

Er ging den Flur hinunter, rief noch einmal »Hallo!« und bemerkte, dass seine Stimme unsicher klang.

»Wo warst du?« Der Vorwurf in Ankes Stimme war sogar durch die geschlossene Badezimmertür zu hören. Aber Peer hörte noch etwas. Wasser. Anke lag in der Badewanne, das war gut.

»Ich habe Thomas getroffen«, sagte Peer und versuchte seiner Stimme einen beiläufigen Klang zu geben. »Im Supermarkt. Haben uns ein bisschen verquatscht. Alles okay bei dir?«

Thomas war der zweite Hausmann in der Straße, und Anke hatte normalerweise für alles Verständnis, was mit Thomas zu tun hatte, weil sie sich über jeden zusätzlichen Hausmann auf der Welt freute. Anke war der festen Überzeugung, dass sich alles auf der Welt zum Guten wenden würde, je mehr Hausmänner es gäbe. Sie meinte, Männer würden klüger, wenn sie sich mit dem ganz alltäglichen Familienleben auseinandersetzen müssten, dem »Klein-Scheiß«, wie sie immer sagte, und das sei, evolutionär gesehen, sogar dringend notwendig, damit die Gewalt unter den Menschen und die Gewalt gegen die Natur abnehme. Eine Diskussion mit ihr über diese Theorie zu führen war nutzlos und hatte schon die eine oder andere Stehparty gesprengt. Anke begann dann jeweils, die kriegerischen Konflikte der vergangenen zwanzig Jahre aufzuzählen, um triumphierend festzustellen, dass die Kriegstreiber ausschließlich Männer waren. Von den Jahrzehnten und Jahrhunderten davor mal ganz abgesehen. Katharina die Große sei da nur eine der wenigen Ausnahmen, die die Regel bestätigten.

Hinter der Badezimmertür blieb es still. Keine Antwort, und Peer bemerkte, wie seine Handflächen feucht wurden.

Wie blöd war er, ausgerechnet Thomas als Alibi zu benutzen? Womöglich traf sie ihn nächste Woche auf dem Elternabend und fragte ihn mit einem Augenzwinkern, warum er ihren Mann vom Einkauf und den Familienverpflichtungen abgehalten habe, und Thomas würde natürlich nichts begreifen und sie mit großen dummen Augen anschauen. Ankes Augen würden für einen kurzen Moment zu schmalen Schlitzen werden, und sie wüsste dann Bescheid.

»Sieh bitte mal nach den Kindern«, rief sie hinter der Tür.

»Mach ich!« Seine Stimme hatte jetzt einen artigen, fast kindlichen Ton. Auf jeden Fall musste er durchsetzen, dass er zum Elternabend ging, nicht Anke. Er musste es natürlich nicht durchsetzen, sondern einfach nur anbieten, sonst würde sie auch wieder Verdacht schöpfen.

Im Bad wurde wieder das Wasser aufgedreht, was hieß: Ende der Diskussion.

Als Peer später auf dem Balkon stand und auf dem Herd das Nudelwasser brodelte, sah er zu, wie sich der Rauch seiner Zigarette in der Dämmerung auf‌löste, und dachte: Wann war er eigentlich mal richtig frei gewesen? Freie Zeit. Zeit, wo es nur um ihn ging, Zeit für Peer. Hatte es das je gegeben? Vielleicht damals, auf der Kunsthochschule? Er fühlte sich immer unter Druck, war immer brav gewesen, schon als Kind. Er erinnerte sich, dass seine Mutter einmal zu ihm gesagt hatte: »Ich wünschte, es hätte dich nie gegeben, ganz ehrlich.« Dann strich sie ihm über den Kopf und fügte hinzu: »Aber jetzt, wo es dich nun einmal gibt, verhalte dich wenigstens so, als würde es dich nicht geben.«

Er hatte zwar genickt, aber verstanden hatte er gar nichts, nur die Kernaussage: brav sein, unauf‌fällig, am besten unsichtbar.