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GRAENZ • IN DER NÄHE VON PALERMO

GERD GRAENZ

In der Nähe von Palermo

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A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12
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Copyright © dieser Ausgabe 2016 bei Wieser Verlag GmbH,
Klagenfurt/Celovec
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-99047-044-2

1

An diesem Abend saß im Restaurant des »Hotel Krone« eine Frau allein an einem der Tische beim Fenster. Sie starrte mit ungeduldigen Augen hinaus. Hinaus auf die Straße, die nass war von dem plötzlichen Regen. Das fahle Licht der Laterne in der Nähe des Hotels ließ den Asphalt schimmern. Der Himmel hing wie ein großes Stück Pappe über der Stadt. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite – dunkle, stumme Schatten. Ein verirrter Hund lief hin und her.

Die Frau war schön. Langes, schwarzes Haar fiel auf ihre weiße Bluse. Vor ihr auf dem Tisch, der mit einem blauen Tuch gedeckt war, stand ein leeres Glas. Daneben lag aufgeschlagen eine Zeitung. Eine Tasche mit Wäsche, Kosmetikartikeln und Pullis hatte sie neben sich zu ihren Füßen abgestellt.

Sie war der einzige Gast. Ab und zu sah sie auf die gelbumrandete Uhr über dem Eingang. Es war 10 Minuten vor Mitternacht.

Sie schien zu warten.

2

Eingebettet zwischen zwei mit Tannenbäumen bewachsenen Hängen lag die Stadt da. Im unteren Teil der Hänge sah man weiß-schwarze Birken und gelb-rote Blumen, die sich zwischen den Sträuchern versteckten. Über der Stadt ein weiß-blauer Himmel. Die Luft war ruhig, nur ein paar Vögel flogen kreuz und quer über die grünen Tannen.

Die – Stadt sie wurde »die schlafende Perle« genannt – gab es schon vor Hunderten von Jahren. Damals noch ein kleines Dorf mit wenigen Häusern, ein unbedeutender Ort, der auf keiner Landkarte eingezeichnet war. Lange Zeit habe es keine bedeutenden Ereignisse gegeben, las man in der Stadtchronik.

Dies änderte sich Jahre später. Dernhard, Robert von Dernhard, ein großer, schlanker Mann mit dunklen, vollen Haaren und mutigen Augen, baute die Zweiganstalt der Firma, die ihren Hauptsitz in Schlesien hatte, aus. Mit der Zeit erweiterte er die Zweiganstalt zu einer großen Fabrikanlage, die Leinenerzeugnisse, Tisch- und Bettdecken produzierte und in der ganzen Welt exportierte. Man schätzte die Qualität der Ware, die pünktlichen Lieferungen und die korrekten Absprachen. Dernhard baute Häuser für die Arbeiter, für sich und seine Frau aber ein großes, schlossähnliches Haus mit Park und Garten. Mit den Erfolgen der Dernhard’schen Fabrik wuchs die Stadt. Sie bekam auf einmal eine Bedeutung.

Jeden Monat kamen neue Menschen, meistens aus den benachbarten Orten, dazu. Schließlich hatte sie etwa 7000 Einwohner.

Vom Bahnhof aus, wo Regional- und Lastzüge stehen blieben und der Stationsvorsteher Kurt Pahl mit seiner roten Mütze und seinen flinken Händen jeden Zug, auch wenn er nicht hier hielt, mit einem wissenden Lächeln begrüßte, führte die Bahnhofstraße direkt zum Marktplatz, wo das Rathaus, ein grauer, quadratischer Bau, stand. Unterhalb des Bahnhofes, wo die Straße einen leichten Bogen machte, das Hospital. Ein Stück weiter Plattenbauten mit breiten Balkonen, Supermärkte und Autowerkstätten. Keine luxuriösen Bauten, einfache Häuser, auf deren Balkonen man keine Blumen sah, nur Wäsche, die auf dünnen Schnüren in dem Wind, der vom nahen Gebirge kam, flatterte.

Je näher man zum Marktplatz kam, desto mehr änderte sich die Stadt.

Es gab verschiedene Läden, zum Teil mit großen Auslagen, Geschäfte, die verschiedene Waren verkauften, Drogerien mit den neuesten Kosmetikprodukten, Häuser mit roten Dächern und hohen Fenstern. Nur wenige Meter vor dem Marktplatz das »Hotel Krone«, die Städtische Sparkasse, eine Konditorei und das »Café Altmann«.

Vom Marktplatz aus – gegenüber dem Rathaus in einem größeren, gelb gestrichenen Haus die Citybank und ein weiteres kleineres Hotel – gingen zwei fast gerade Straßen in verschiedene Richtungen. Die eine führte zu den Schulen – eine Volks- und eine Hauptschule, ein Gymnasium. Wenige Meter dahinter das städtische Freibad und der Sportplatz. Die andere Straße verlief durch einen grünen Park, wo Bänke und Tische standen und die Pensionisten ihre Frühstücksreste mit den frechen Spatzen teilten. Diese Straße führte weiter hinauf zum Sanatorium, das eingeschlossen zwischen den Birken und den Blumensträuchern lag. Entlang dieser Straße elegante Villen, gepflegte Gärten. Auf der Rückseite – die Gartenstraße. Keine lauten Geräusche, sondern eine seltsam ruhige Stille.

Hinter dem Rathaus – der pompöse Bau des Stadttheaters mit genau sechzehn Stufen und einem schwarzen Geländer zu beiden Seiten. Es glänzte in der warmen Sonne, wenn die Sonne darauf schien. Daneben das Kino und etwa zweihundert Meter weiter die Kirche.

Dahinter ein kleiner Sandplatz, niedrige, graue Häuser der Fabrikarbeiter und schräg gegenüber das große Haus der Dernhards. Ein Stockwerk höher als die anderen Häuser der Stadt, gelb gestrichene, hohe Fenster, ein paar Stufen bis zum Eingang. Vor dem Eingang eine Parkanlage, Rasen, Blumen, Heckenrosen.

Dann der Fluss und der Volksgarten mit seinen Bänken, Spielwiesen und zwei Denkmälern. Das eine, vor dem Blumen und Kränze lagen, war das Kriegerdenkmal mit Tafeln der Gefallenen und Vermissten, das andere stand auf einem hohen weißen Sockel und zeigte einen stolzen Mann mit Bart.

In den vielen Jahren, die die Stadt erlebt hat, gab es verschiedene Aufmärsche, oft große Brände, die besonders die Häuser nahe beim Bahnhof zerstörten. Im letzten Krieg von Artilleriegeschossen, Luftangriffen und Straßenkämpfen verschont, lag die Stadt jetzt friedlich da wie in einem Märchen.

Das war unsere Stadt.

3

Kurz nach 24 Uhr kam er. Groß, schlank, in dunkelblauen Jeans, blauem Hemd und eng geschnittenem Blazer.

»Sie entschuldigen, dass Sie so lange warten mussten, aber die Abrechnungen und der ganze Papierkram kosten Zeit.«

Die Frau sagte nichts, sah ihn nur an.

»Ich habe Ihre Unterlagen durchgesehen, sie scheinen in Ordnung.« Er blätterte weiter. »Sie kennen unsere Stadt?«

»Meine Eltern hatten in der Bahnhofstraße in der Nähe des Hospitals ein Haus. Sie sind leider bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich habe dann in der Buchhandlung am Ring gearbeitet.«

Er blätterte weiter in den Papieren, schaute ab und zu auf sie.

»Und dann waren Sie in Sizilien. In der Nähe von Palermo. Ein weiter Sprung von hier nach Palermo.«

»Ja, ein weiter Sprung. Meine Eltern hatten mir ein kleines Vermögen vermacht. Aktien, Sparbücher, Bargeld. Aktien, die einen hohen Kurs hatten und gute Dividenden ausschütteten. Der Leiter der Citybank meinte, ich solle mir doch einmal einen Urlaub gönnen, irgendwo Ferien machen, in der Sonne liegen und träumen. Geld hätte ich ja jetzt. Schon beim Verlassen der Bank dachte ich: Warum eigentlich nicht? Also ging ich ins nahe Reisebüro, wo ich nach meiner Arbeit in der Buchhandlung immer vorbeikam. Dort wurde mir ein Ort in Sizilien in der Nähe von Palermo empfohlen. Das Meer, der Himmel, der Strand und das ›Albergo Maria‹. Ich hatte ein Zimmer im ersten Stock mit Blick auf das Meer. Ich blieb länger als vorgesehen. Gehörte bald zur Familie und half im Service aus.«

»Warum sind Sie zurückgekommen?«

»Finanzielle Probleme.«

»Große?«

»Große.«

Er sah sie länger an. Sie gefiel ihm. Ihre stolze, klare Art. Selbstbewusst und schön war sie.

Er schob die Papiere zu ihr hin.

»Wann können Sie anfangen?«

»Morgen.«

Er lächelte. »Morgen ist Sonntag. Sonntags ist viel los bei uns. Großer Andrang mittags und abends. Nach der Kirche geht man bei uns zum Mittagessen. Gott sei Dank, die meisten kommen in die ›Krone‹. Abends das gleiche Procedere. An der Bar, dort drüben« – er zeigte mit der Hand in eine Richtung – »ist nachmittags und vor allem am späten Abend einiges los. Manche wollen eben nicht nach Hause gehen. Und Manuela, unsere Barfrau, versteht es auch, ihren Gästen Hoffnungen zu machen.«

Einige Minuten Stille.

Draußen regnete es heftig. Ein stürmischer Wind brachte kalte Luft in den nächtlichen Abend.

»Sie wollen also schon morgen anfangen?«

»Warum nicht?«

»Es gelten verschiedene Vorschriften bei der Anstellung von neuen Mitarbeitern, und am Sonntag sind bei uns alle diesbezüglichen Stellen geschlossen.«

»Sie können das doch nachholen.«

Wieder lächelte er. »Schön. Werde es versuchen«, sagte er dann, »wenn Sie es morgen schon wollen. Ihre Arbeitszeit ist von 10 Uhr bis 15 Uhr. Und am Abend von 17 bis 22 Uhr. Sie arbeiten im Service, und wenn Manuela nicht da ist, auch an der Bar. Sie werden nach dem Kollektivvertrag bezahlt. Sind Sie damit einverstanden?«

Sie nickte.

»Kommen Sie morgen etwas früher. Ich stellen Ihnen dann unsere Mitarbeiter vor. Wie es bei uns zugeht, was Sie wissen sollten, erfahren Sie auch morgen. Einverstanden?«

Sie sah ihn an und nickte.

»Sie wollen gleich hierbleiben?«

Wieder nickte sie. »Ich habe in meiner Tasche alles, was ich brauche.«

»Gut, Ihr Zimmer ist im zweiten Stock. Essen und Getränke sind frei. Ebenso das Zimmer. Bei der Sozialversicherung und am Arbeitsamt werden Sie angemeldet. Die Trinkgelder gehören Ihnen. Sprechen Sie diesbezüglich beim Finanzamt vor. Alles andere, was sich so im Lauf des Tages ergibt, können wir mündlich regeln. Wenn Sie mit allem einverstanden sind, unterschreiben Sie bitte hier.«

Sie unterschrieb.

»Ich heiße Hannes«, sagte er und nahm die Papiere wieder zu sich.

»Simone.«

»Gut, dann zeige ich Ihnen Ihr Zimmer.«

4

Sie schlief bis acht Uhr.

Als sie aufwachte, wusste sie zuerst nicht, wo sie war. Sie sah sich um. Fremdes Zimmer, fremde Umgebung. Ein großer Kleiderschrank, eine Kommode mit einem Fernsehapparat darauf, der Tisch und ein Sessel nahe beim Fenster. Dusche, das WC im Vorraum. Blumige Tapeten und zwei Bilder mit Feldern und Wald.

Der Regen hatte aufgehört. Dünne Sonnenstrahlen blinzelten in das Zimmer.

Sie erinnerte sich, wie die Stadt früher war, als sie hier mit ihren Eltern gelebt hatte. Nicht anders als jetzt.

Dennoch schien alles jetzt fremd. Auch das Lächeln und das Händeschwenken des Stationsvorstehers mit der roten Mütze konnten sie nicht daran hindern zu wissen, dass sie hier eine Fremde in einer fremden Stadt war.

Da unten in Sizilien war es eben anders. Nicht nur der Himmel, das Meer und der Strand, die Menschen waren es, die sie hier vermisste.

Sie hatte sich ein Taxi genommen. Ein fremder Fahrer mit großen, dunklen Augen und in einem abgewetzten Sakko nickte, als sie sagte, wohin sie fahren wollte. So fuhren sie die Bahnhofstraße hinunter, vorbei an Geschäften und Häusern, die ihr nichts sagten, bis zu dem Haus in der Nähe der Kirche, wo sie ihr Appartement hatte.

Später so – gegen 9 Uhr – stand sie auf, ging zum Fenster, sah einen blauen Himmel, der jetzt von dunkelroten Streifen durchzogen war. Sie sah lange hinauf. Einen solchen Himmel hatte sie schon lange nicht gesehen. In Sizilien war der Himmel, auch wenn es regnete, fast immer von der gleichen Farbe. Der Regen hatte aufgehört, aber die Straße glänzte noch wie ein nasser, langer Strich.

Was mache ich hier, dachte sie. Ist es ein neuer Anfang?

Sie dachte an die Stunden zurück. An das, was geschehen war und was sie nicht ändern konnte. Sie musste noch immer daran denken, was vorgestern geschehen war. Sie konnte einfach an nichts anderes mehr denken. Sie hatte Angst, dass man bald wissen würde, dass sie die Schuldige war. Auch dann noch, als sie unter der Dusche stand und das warme Wasser auf ihren unruhigen Körper prasselte, dachte sie daran. Ihre Schuld hing ihr wie ein schwerer Rucksack auf dem Rücken.

Sie schminkte ihre Lippen mit dem blassroten Stift, den sie sich noch beim Abflug in der überfüllten Flughafenhalle in Palermo gekauft hatte. Kämmte ihre Haare, knöpfte ihre Bluse zu und ging mit leisen Schritten die Treppe hinunter.

Ein paar neugierige, fremde Augen, die sie erstaunt ansahen. Frauen, ungeschminkt mit ungekämmten Haaren in grauen Arbeitskleidern und blauen Schürzen, räumten das Geschirr vom Frühstück ab.

Sie ging an ihnen vorbei, trat hinaus in den kühlen Morgen.

5

Es war am Sonntag.

Menschen waren gekommen, viele davon schuldbewusst, abgestempelt als Sünder, aus der nahen Kirche. Wie in einer Prozession gingen sie an ihr vorbei. Die Männer in dunklen Anzügen, die Frauen in ihren Sonntagskleidern mit großen Taschen in den Händen. Kinder lachten und hüpften aus der Kirche.

Im nahen Kirchencafé hatte Simone sich an einen der runden Tische gesetzt, einen Kaffee und ein Butterbrot bestellt, die Morgenzeitung genommen und in großen Lettern auf der ersten Seite gelesen, dass es sich beim Tod des bekannten Immobilienmaklers Sakransky um einen Unfall gehandelt habe und kein Fremdverschulden vorliege. Die polizeilichen Untersuchungen seien eingestellt worden. Das Begräbnis, las sie weiter, finde am Donnerstag 15 Uhr am Waldfriedhof statt.

Ihr Herz klopfte. Sie las noch einmal: Kein Fremdverschulden, die polizeilichen Untersuchungen eingestellt.

Sie sah sich um. Niemand schaute auf sie. Sie blätterte weiter in der Zeitung, sah die Kinoanzeige »Sehnsucht nach Paris«, mehrere Heiratsangebote, Kleinanzeigen für Küchengeschirr, Bücher und Second-hand-Kleider. Auf der letzten Seite unter »Stellenangebote« wurde eine Servicekraft im »Hotel Krone« gesucht. Sie legte die Zeitung auf den Tisch, trank schwarzen, ziemlich starken Kaffee aus dem Glas und biss in das Butterbrot.

Kein Fremdverschulden, die polizeilichen Untersuchungen eingestellt. Noch einmal las sie in ihren Gedanken diese Zeilen.

Sie war die Einzige, die die Wahrheit kannte. Nur sie.

6

Dr. Schneider, der Leiter der Citybank, legte den aktuellen Börsenbericht auf seinen Schreibtisch, als ihm der Besuch von Simone gemeldet wurde.

Sie möge hereinkommen.

Schneider, groß, athletisch, durchtrainiert, stand auf, ging Simone entgegen. Er, der stets ein frohes, zuversichtliches Gesicht hatte, änderte seine Miene und schaute sorgenvoll mitleidig Simone an, die beim Schreibtisch Platz genommen hatte. Schneider setzte sich ihr gegenüber.

»Sie hatten eine gute Reise?«

»Es war ein Direktflug. Nur wenige Stunden.«

»Unglaublich«, meinte Schneider, »wie sich doch alles so schnell ändert. Als ich noch zur Schule ging, erinnere ich mich, musste man nach Sizilien mehrere Male umsteigen. Die Technik ist rasant geworden. Sie beherrscht uns.«

Er sah wieder auf Simone, die still dasaß, die Beine übergeschlagen und ihre Hände fest auf ihre Handtasche gepresst.

»Sie hatten«, sagte er nach einer kurzen Pause, »soviel ich weiß, in den letzten Tagen große Unwetter in der Nähe von Palermo.«

»Leider. Überschwemmungen, Zerstörungen, Brände. Alles kam auf einmal. Die ganze Gegend war betroffen. Unser Hotel wurde teilweise zerstört. Es ist jetzt geschlossen. Es war schrecklich.«

Schneider sah sie wieder voller Mitleid an. »Das kann ich mir vorstellen. Das Klima spielt mit uns. Regen, Gewitter und dann wieder die Sonne.«

»Was wollen Sie mir sagen, Dr. Schneider?«

»Ja, was will ich Ihnen, was muss ich Ihnen sagen? Wenig Erfreuliches. Sie wissen, Ihr Vater hatte sein beträchtliches Vermögen in eine noch vor Monaten große, internationale Firma investiert. Damals, als Ihr Vater die Aktien zeichnete, war es eine ausgezeichnete Geldanlage. Jetzt aber schaut es leider anders aus. Die internationale Finanzkrise, die schwache Konjunktur, die Fehler des Managements, die Unklarheiten bei der Bilanz haben einen rasanten Absturz der Aktien gebracht. Mit anderen Worten, Frau Simone, die Papiere werden an der Börse nicht mehr gehandelt, die Aktien sind wertlos.«

»Wertlos?«

»Ja, die Aktien sind gegenwärtig wertlos. Sie werden einsehen, dass wir reagieren mussten. Es tut mir leid, dass ich es Ihnen sagen muss. Bei dem Kapitalstand konnten wir keine Überweisungen mehr durchführen. Ein kleines Guthaben aus Sparbüchern besteht zwar noch, aber das reichte nicht aus. Glauben Sie mir, es tut mir leid, dass ich Ihnen alles das sagen muss«, wiederholte Schneider.

Simone schien das alles noch nicht zu begreifen. Kein Vermögen mehr, wertlose Aktien, kein Geld.

»Das ist ja alles fürchterlich«, sagte sie nach einer Weile.

»Was soll ich machen?«, fragte sie in die Stille hinein. »Ohne Geld kann ich nicht zurückfahren. Was mache ich hier?«

»Ja, Ihre Situation ist nicht sehr befriedigend. Ich kann mir gut vorstellen, wie Ihnen zumute ist. Aber Sie sollten die Hoffnung nicht aufgeben. Bei Ihrem Aussehen, verzeihen Sie, wenn ich so direkt bin, dürfte es doch nicht schwerfallen, eine geeignete Stelle hier zu bekommen.«

»Eine geeignete Stelle? Soll das heißen, dass ich mich um eine Arbeit umsehen muss?«

Schneider nickte. »Ich fürchte, ja.«

»Und einen Kredit? Einen Kredit bei Ihrer Bank, für die Übergangszeit?«

»Einen Kredit? Frau Simone, Sie haben keine Sicherheiten.«

»Haben Sie hier bei Ihnen vielleicht eine Arbeitsmöglichkeit? Vielleicht halbtags?«

»Leider. Bei uns ist kein Posten frei. Auch nicht halbtags. Im Gegenteil. Wir werden Personal abbauen müssen.«

Sie blieb sitzen. Erschrocken, mutlos. Was sollte sie machen? Was konnte man ihr raten? Unsicher stand sie auf.

»Es ist für mich schwer, in dieser Situation einen Rat zu geben. Aber ich glaube, Sie werden es schon schaffen. Lesen Sie die Stellenangebote in den Zeitungen. Und sollte alles schiefgehen, kommen Sie noch einmal zu mir.«

»Ich danke Ihnen.«

Beim Hinausgehen meinte der Banker: »Warten Sie! Im Stadttheater werden noch, soviel ich weiß, einige Rollen für das neue Stück besetzt. Versuchen Sie es dort! Vielleicht haben Sie Glück.«

So als wären die Worte, die sie zuletzt gehört hatte, der Strohhalm, an den sie sich klammerte, ging sie wie eine Traumwandlerin aus der Citybank, blieb minutenlang auf dem Gehsteig stehen, wartete, versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Autos, Fahrräder fuhren an ihr vorbei. Sie sah ältere Menschen mit mutlosen Mienen und ausgezehrten Augen, Jüngere mit schnellen Schritten und lauten Worten. Ein Radfahrer mit einer blauen Kappe grüßte eine Frau, die mit einem großen Korb in der Hand in einem tief ausgeschnittenen Kleid nahe bei ihr auf dem Gehsteig stand. Ein paar Kinder liefen über die Straße.

Die Luft war warm. Es roch nach Frühling.

Sie wartete noch etwas, ging dann in Gedanken versunken hinüber zum nahen Stadttheater, wo sie die sechzehn Stufen hinauf zum Eingang ging.

Vor der ersten Stufe ein großes, buntes Plakat. »Unsere nächste Premiere: Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame.«

»Der Besuch der alten Dame«. Sie kannte den Titel. Im Buchgeschäft am Ring hatte sie das dünne Buch mehrere Male in der Hand gehabt und darin gelesen.