Sabine Bode

Kriegsenkel

Die Erben der vergessenen Generation

Klett-Cotta

Impressum

Dieser Text beruht auf der Neuausgabe aus dem Jahr 2013.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2009, 2013, 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,
gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von © Papa Matz

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-96488-2

E-Book ISBN 978-3-608-10131-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Ronja

Vorwort zur Neuausgabe

Als dieses Buch 2009 erschien, war »Kriegsenkel« noch ein unbekannter Begriff. Er stammt aus den Reihen der Kinder der Kriegskinder; sie haben sich den Namen selbst gegeben. Dahinter stand der Wunsch, bislang unbeachteten Gemeinsamkeiten ihrer Generation eine Überschrift zu geben. Sich als Kriegsenkel zu definieren, sprach sich herum. Netzwerke entstanden und verbreiteten die Erkenntnis, dass sich die Spuren kollektiver Katastrophen nur gemeinschaftlich entdecken lassen. Erst im Austausch in einer Gruppe werden kollektive Muster sichtbar. Von den Medien wurden die Kriegsenkel, überwiegend die sechziger und siebziger Jahrgänge, bislang wenig beachtet, im Fernsehen überhaupt nicht. Im Internet allerdings zeigt sich, wie das Bedürfnis, sich mit der eigenen Familiengeschichte im Kontext mit der unheilvollen deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen, stetig wächst.

Immer wieder werde ich seit Erscheinen von »Die vergessene Generation« und »Kriegsenkel« gefragt, ob dann, wenn bei den Nachkommen das Verständnis für die schwere Kindheit ihrer Eltern wachse, die Beziehungen zwischen den Generationen heilen könnten. Ja, das ist möglich, aber es geschieht eher selten. Heilung würde voraussetzen, dass beide Seiten, die erwachsenen Kinder und die älter werdenden Eltern, gemeinsam in einen intensiven Prozess einsteigen. Ohne Anleitung und ohne Selbsterfahrung gelingt das wohl nur in Ausnahmefällen. Ich höre davon gelegentlich und es freut mich sehr. Was ich aber relativ häufig höre – und das scheint mir die tragfähige gute Nachricht zu sein –, ist, dass bei vielen Kindern und Eltern das Gespräch über die Familienvergangenheit nach anfänglichen Irritationen mehr Nähe und ein bisschen mehr Frieden gebracht hat. Am Ende eines solchen Prozesses stand nicht selten eine gemeinsame Reise nach Ostpreußen oder Polen, zum Geburtsort der Eltern.

Bis vor kurzem – und das zeigt sich in diesem Buch – konzentrierte sich bei den Kriegsenkeln das Interesse auf die eigenen Eltern. Weitgehend ausgeblendet wurde jener Teil deutscher Vergangenheit, der die Frage aufkommen lässt, ob die eigenen Großeltern sich womöglich als Profiteure oder Täter in Schuld verstrickten. Der ZDF-Dreiteiler »Unsere Mütter, unsere Väter« machte deutlich, in welchem Ausmaß in der NS-Zeit Menschen für ihre schlechtesten Seiten belohnt wurden, und wie selbstverständlich junge Leute als Folge der Nazipropaganda Verrat an Verfolgten begingen. Dieses Fernsehereignis hat in den Jahrgängen der Kriegsenkel für Unruhe gesorgt, weil ihnen klar wurde, wie wichtig es für die heutigen Familienbeziehungen ist, sich auch den Fragen nach Schuld zu stellen. Das Verleugnen war oft genug die Ursache für das Entstehen von Familienlegenden: Es durfte kein Schatten auf den guten Namen fallen.

Häufig haben die Kriegskinder ihre Eltern geschützt, viele tun es bis heute. Sie mögen es nicht, wenn sie dazu von ihren eigenen Kindern ausgefragt werden. Das ist verständlich. Aber wenn sie, die sich nichts so sehr wünschen wie Frieden auf der Welt, noch etwas zum Familienfrieden beitragen möchten, dann wäre es jetzt an der Zeit über ihren Schatten zu springen und zu sagen, was sie wissen. Wer soll nach ihnen noch Auskunft geben?

Im August 2013

Sabine Bode

Dank

Als ich »Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen« schrieb, wünschte ich mir, das Buch würde Angehörige der Kriegskinder-Jahrgänge miteinander ins Gespräch bringen – was dann auch geschah. Womit ich nicht gerechnet hatte, war die große Resonanz der Kinder jener »vergessenen Generation«, also die Kinder der Kriegskinder, im Wesentlichen Angehörige der 1960er-Jahrgänge. Sie sagten, die Lektüre habe ihnen zu mehr Verständnis für ihre Eltern verholfen. Darüber hinaus signalisierten fast alle Kriegsenkel große Probleme mit Mutter oder Vater. Dabei waren die Töchter und Söhne schon zwischen 40 und 50 Jahre alt. Sie befanden sich also in einem Lebensabschnitt, in dem Menschen üblicherweise die Ablösung von ihren Eltern schon geraume Zeit hinter sich haben. Die im vorliegenden Buch wiedergegebenen Klagen über Mutter und Vater sind keine Schuldzuweisungen. Schon gar nicht handelt es sich eine pauschale Anklage gegen die Kriegskinder.

Gleichfalls berichteten viele Kriegsenkel von einem verunsicherten Lebensgefühl, von unauflösbaren Ängsten und Blockaden. Hatte man sich bis dahin als Generation ohne Eigenschaften gesehen, verblüffte und erleichterte die Kinder der Kriegskinder der Gedanke, offenbar doch generationsspezifische Probleme zu haben. Sie zogen daraus den Schluss, es könne sich lohnen, einem Themenkomplex auf den Grund zu gehen, der in der eigenen Altersgruppe auffällig oft anzutreffen ist.

Am Zustandekommen des vorliegenden Buches haben viele Menschen maßgeblich mitgewirkt, vor allem jene, die darin zahlreich zu Wort kommen – die Kriegsenkel selbst. Für ihre Bereitschaft und Offenheit danke ich ihnen sehr, denn ihre Erfahrungen, Einsichten und Bekenntnisse halfen mir, etwas zunächst schwer Fassbares zu begreifen. In ihnen sehe ich die Pionierinnen und Pioniere, die sich aufgemacht haben, die Spuren der deutschen Vergangenheit in ihrer Familiengeschichte und in ihrem eigenen Verhalten oder Vermeiden zu erforschen. Indem sie über ihre Lebenswege und Hemmnisse berichteten, tragen sie dazu bei, über ein noch wenig bekanntes gesellschaftliches Thema aufzuklären. Ihre Geschichten wurden anonymisiert und ihre geänderten Namen mit einem * gekennzeichnet.

Mit diesem Buch möchte ich die Kinder der Kriegskinder einladen, sich in ihren Jahrgängen unbefangener als bislang üblich über Spätfolgen von Krieg und NS-Zeit auszutauschen. Neugier ist eine gute Voraussetzung für ein zunächst beklemmendes, später dann spannendes und in der Konsequenz Erleichterung bringendes Thema. Ich möchte die Kriegsenkel ermutigen, ihre Familiengespenster endlich aus ihrem Schatten herauszulocken, damit diese keine Verwirrung mehr stiften können.

Köln, im Januar 2009

Sabine Bode

Erstes Kapitel

Gespenster aus der Vergangenheit

Familienweihnachten als Pflichtveranstaltung

Wie kommen die Kriegskinder und die Friedenskinder miteinander aus? Wie funktionieren die Beziehungen zwischen Generationen, die auf zwei völlig unterschiedlichen Planeten aufgewachsen sind? Wenn Eltern über die verheerenden Erlebnisse ihrer Kindheit in einer Weise redeten, als hätte ihnen das alles nichts ausgemacht (»Das war für uns normal«), wenn sie ihre frühen Erschütterungen und Prägungen nicht wahrnahmen, konnte das folgenlos für die nächste Generation bleiben?

Mitte der 1990er Jahre hatte ich begonnen, der Frage nachzugehen: Wie geht es eigentlich den deutschen Kriegskindern heute? Meine Recherchen bezogen sich nicht nur auf die entsprechenden Jahrgänge von 1930–​1945, sondern ich wurde genauso hellhörig, wenn mir damals jemand aus der Generation der 30- bis 40-Jährigen von schlechten Beziehungen zu Mutter und Vater erzählte. Dabei tauchte wortgleich immer wieder auf: »Meine Eltern wissen gar nicht, wer ich bin.« Es stellte sich heraus, dass die Kinder eine weit bessere Ausbildung als ihre Eltern erhalten hatten und sozial aufgestiegen waren. Doch ein einleuchtender Grund für schlechte Beziehungen ist das nicht. Wenn Ältere und Jüngere nichts mehr miteinander anfangen können, wenn das Familienweihnachten für die erwachsenen Kinder eine reine Pflichtveranstaltung ist, wo nur über Banales geredet wird, wenn keiner mehr dem anderen zuhören mag, dann kann das nicht allein an einer kulturellen Entfremdung liegen.

Klagen über Eltern

Die meisten Klagen, die ich über Eltern hörte, bezogen sich auf unbegreifliches Verhalten, verbohrte Sichtweisen, auf ein extremes Sicherheitsbedürfnis und ein gänzliches Desinteresse an irgendeinem neuen Thema. In dieser Weise äußerte sich eine Werbefachfrau, die ich aus der Nachbarschaft kannte. Sie stand noch unter dem Eindruck eines spannungsreichen Besuchs bei ihren Eltern. Einzelheiten teilte sie mir nicht mit. Stattdessen fing sie an, deren Wohnzimmer zu beschreiben: Holzmöbel in der Optik »deutsche Eiche«, eine barocke Polstergarnitur, geraffte Stores, an der Wand eine Zigeunerin sowie ein Puzzle aus 4000 Teilen und auf dem Tisch ein Weinflaschenständer mit eisernem Blattwerk. »Keine Vase gefällt mir, kein Bild, kein Kissen«, sagte die Tochter, und es klang wie eine Beschwerde. »Nichts von der Einrichtung würde ich haben wollen. Kein einziges Buch würde mich interessieren, mal abgesehen vom ADAC Auto-Atlas.« Als ich fragte, ob es denn in ihrer eigenen Wohnung etwas gäbe, das ihren Eltern gefiele, stutzte sie und dachte nach. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nichts. Nicht einmal meine teure Espressomaschine.«

Einige Tage später rief mich die Werbefachfrau an und teilte mir mit, sie habe mit zwei gleichaltrigen Kolleginnen darüber gesprochen. Die hätten nur gelacht über den »clash of culture«. Obwohl man sich in völlig unterschiedlichen Welten aufhielt, war in ihren Familien das Verhältnis zwischen den Generationen entspannt. Dass Mutter und Vater sich mit den Grundgedanken der Werbung vertraut machten, wurde nicht erwartet. Geredet wurde über Enkelkinder, Verwandtschaft, Reisen und Kochrezepte, das ergab Gesprächsstoff genug. Beide Kolleginnen hatten auf die Frage »Was würdet ihr aus dem Wohnzimmer eurer Eltern gern mitnehmen?« spontan geantwortet: »Die Fotoalben von früher.« Meine Nachbarin erzählte mir, wie sehr sie das überrascht habe, denn ihre Eltern besäßen kaum Bilder aus ihrer Kindheit.

Durch Nachfragen erfuhr ich, ihr Vater habe als Fünfjähriger die Zerstörung Kassels erlebt, und ihre Mutter sei als Kleinkind mit ihrer Familie aus Ostpreußen geflohen. Als ich einwarf: »Vielleicht sind Ihre Eltern deshalb so wie sie sind, weil sie als Kinder Schreckliches erlebt haben«, herrschte eine Weile Schweigen in der Leitung. Dann kam der Satz, den ich schon von so vielen Kriegsenkeln gehört hatte: »Darüber habe ich noch nie in meinem Leben nachgedacht.«

Überdosis NS-Geschichte

Im Unterschied zu den 1950er-Jahrgängen haben Menschen, die ein Jahrzehnt später geboren wurden, einen weit geringeren Bezug zur Vergangenheit. Für sie ist kaum vorstellbar, dass die unheilvolle deutsche Geschichte auch noch in ihr heutiges Leben hineinwirken kann. Dafür gibt es drei Gründe: der zeitliche Abstand, das weit verbreitete Schweigen in den Familien und eine Aversion gegenüber NS-Themen, weil man während der Schulzeit eine Überdosis eingetrichtert bekommen hatte. Alles nachvollziehbare Gründe, die letztlich zu einem Defizit führten. Dass es Nachteile haben kann, wenn geschichtliches Denken in der persönlichen Entwicklung negiert wird, dafür fand Cicero vor über 2000 Jahren klare Worte: »Nicht zu wissen, was vor der eigenen Geburt geschehen ist, heißt, immer ein Kind zu bleiben.«

Wir sprechen bei den Kriegsenkeln von einer Altersgruppe, die zu großen Teilen der »Generation Golf« (1965–​1975 geboren) zugerechnet wird. Buchautor Florian Illies, der den Begriff erfand, hat sich und seine Altersgenossen selbstironisch beschrieben: Die Generation Golf sei durch und durch konsumorientiert und vor allem von den achtziger Jahren geprägt, »das langweiligste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts«. Im Rückblick auf seine Kindheit hat Illies im Klappentext des Buches einen bemerkenswerten Satz formuliert: »Noch ahnte man nicht, dass man einer Generation angehörte, für die sich leider das ganze Leben, selbst an Montagen, anfühlte wie die träge Bewegungslosigkeit eines Sonntagnachmittags.«

Ich möchte hinzufügen: Noch ahnte man in der Generation Golf nicht, dass mit Globalisierung, Finanzkrise und Arbeitslosigkeit ganz andere Themen als Konsum auftauchen würden. Noch ahnte man nicht, dass man der ersten Nachkriegsgeneration angehörte, der im Unterschied zu Eltern und Großeltern kein behaglicher Ruhestand vergönnt sein würde, weil eben diese sich der öffentlichen Kassen gedankenlos bedient und ihren Nachkommen einen gigantischen Schuldenberg hinterlassen hatten. Noch ahnte man nicht, dass man zu gehemmt sein würde, um die Älteren mit ihrer Maßlosigkeit und ihrem Desinteresse an gesellschaftlicher Zukunftsgestaltung zu konfrontieren. Noch ahnte man nicht, dass die 60er- und 70er-Jahrgänge maßgeblich an einem folgenreichen gesellschaftlichen Phänomen beteiligt sein würden – der Kinderlosigkeit.

Flüchtlingshintergrund

Mein Buch »Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen« stieß bei den Kindern jener »vergessenen Generation«, also den Kindern der Kriegskinder – vor allem Angehörige der 1960er-Jahrgänge – auf große Resonanz. Wie in der Leserpost, aber auch auf Veranstaltungen zum Thema deutlich wurde, stammten ihre Eltern, Angehörige der 30er- und 40er-Jahrgänge, überwiegend aus Flüchtlingsfamilien. Die Kriegsenkel machten mir gegenüber deutlich, wie stark Mutter und Vater, ehemalige Flüchtlingskinder, durch Vertreibung und durch den Neubeginn in einer größtenteils feindseligen Umgebung Zeit ihres Lebens belastet blieben. Ich erfuhr von einem extremen Misstrauen, und dass sie nicht aufhörten, sich über die Zukunft existentielle Sorgen zu machen, auch dann, wenn sie ein gutes Auskommen hatten und gegen jedes Missgeschick versichert waren. Die Familiengeschichten bestätigten den wissenschaftlichen Befund von Andreas Kossert in seinem Buch »Kalte Heimat« mit gelebtem Leben: Das Bild von der rundum geglückten Integration der Vertriebenen nach 1945 ist ein Mythos.[1] An den Spätfolgen haben nicht selten auch die Nachkommen jener 14 Millionen Deutsche zu tragen, die nach Kriegsende ohne Heimat waren.

Auffallend oft hörte ich Kinder der Kriegskinder über sich sagen, ihnen fehle der feste Boden unter den Füßen. Dabei waren sie als Friedenskinder in den besten aller Zeiten aufgewachsen. Zumindest in Westdeutschland hatte es ihnen an nichts gefehlt. Oder doch? Es war für die meisten ein völlig neuer Gedanke, sich vorzustellen, ihr verunsichertes Lebensgefühl könnte von Eltern stammen, die sich nicht von ihren Kriegserlebnissen erholt hatten. War es möglich, dass eine Zeit, die nun schon über 60 Jahre zurücklag, so stark in ihr Leben als Nachgeborene hineinwirkte? Und wenn ja, warum wussten sie nichts davon?

Sie konnten sich nicht mit dem Bild identifizieren, das in den Medien über die Generation 40 plus und die »Baby-Boomer« verbreitet wird. So ermittelte eine im Jahr 2008 von der Wochenzeitschrift »Stern« in Auftrag gegebene Forsa-Umfrage »eine zufriedene Generation«. In der Illustrierten wurde ausdrücklich darauf hingewiesen: »Jeder zweite sagt sogar: So gut ging es mir noch nie«.[2] Für diejenigen, die sich bei mir meldeten, galt das keineswegs.

Kein Mut zur Familiengründung

Eine Frau schrieb mir: »Ich bin 40 Jahre alt und frage mich schon lange, warum ich so verunsichert durch die Welt laufe. Ich habe eine gute Ausbildung, traue mir aber nichts zu. Wenn ich mich bewerben soll, bekomme ich Panik.« Ein Mann gleichen Alters teilte mit, er sei zwar beruflich äußerst erfolgreich und auch risikobereit, habe aber nicht den Mut zur Familiengründung – seine beiden Geschwister auch nicht. Für seine Eltern werde es wohl keine Enkel geben. In beiden Fällen wurden die Kindheiten der Eltern skizziert. Sie deckten sich im Wesentlichen mit den Geschichten in meinem Kriegskinderbuch.

Zunehmend melden sich heute Kriegsenkel zu Wort. In dem Theaterstück »Risiken und Nebenwirkungen« von Klaus Fehling, Jahrgang 1969, fand ich die Beziehung eines Kriegsenkels zu seiner Kriegskind-Mutter thematisiert. Tochter Sigrid kam nicht zu einem eigenen Leben, denn sie ließ sich von ihrer 70-jährigen Mutter Anni geradezu aussaugen. Als die Tochter sagte: »Sorgen macht sich Anni gern, aber immer nur um sich selbst«, kam aus dem Publikum ein zustimmendes Lachen. Hier saßen überwiegend die Kriegsenkel. Wie ich nach der Vorstellung im Osnabrücker Emma-Theater von den Schauspielerinnen erfuhr, handelt es sich um ein Stück mit hohem Wiedererkennungswert. Mutter Anni sorgt sich nicht um andere, sie eignet sich, wie ihre Tochter weiß, nur deren Missgeschicke an.

Sigrid:

Mir hat einer mein Handy geklaut.

So ein Rudel Rumänenkinder.

Im Café. Vom Tisch im Vorbeigehen.

Die können echt schnell laufen.

Sie ist fünf Tage nicht vor die Tür gegangen,

nachdem ich ihr davon erzählt hatte.

Und natürlich kein Auge zu. Wie immer.

Literaten entwickeln häufig ein Gespür für unverarbeitete kollektive Katastrophen und ihren Niederschlag in den nachfolgenden Generationen. Dass schwere Schuld an die Nachkommen weitergegeben wird, davon kann man in der Bibel lesen. Auf Grund der Ergebnisse der Traumaforschung und der Holocaustforschung wird der Generationentransfer in der Fachwelt nicht länger bestritten. Von einem »Trauma« wird bei den Nachkommen nicht mehr gesprochen, allenfalls von einem »sekundären Trauma«, wohl aber von »Menschen mit Bindungsstörungen«, oder abgeschwächt von solchen, die, wie es in der Fachliteratur heißt, »unsicher gebunden sind.« Der Hintergrund: Eltern konnten ihren Kindern in den frühen und damit entscheidenden Jahren nicht ausreichend Halt geben und nur wenig Vertrauen ins Leben vermitteln.

Es gab eine Zeit, in der nicht nur Eltern sondern auch Ärzte glaubten, kleine Kinder seien äußerst robust, fast schmerzunempfindlich, und sie würden selbst von den größten Schrecken ringsherum nichts mitbekommen. Als Beweis wurde stets der »selige Schlaf« der Kleinen angeführt. Man war davon überzeugt, sie besäßen noch keinerlei Antennen für die Gemütsverfassung der sie umgebenden Erwachsenen, und lobte die beruhigende Wirkung von Babys in Zeiten des Schreckens.

Das Gegenteil ist richtig. Kinder sind äußerst feinfühlig. Sie spüren selbst jenes Grauen, das ihre Eltern tief in sich vergraben und deshalb nicht mehr in ihrem Bewusstsein haben.

Der Bindungsforscher und Kinder- und Jugendpsychiater Karl Heinz Brisch macht deutlich: »Klassischerweise werden eigene, unverarbeitete Erlebnisse der Eltern in der Interaktion mit dem Säugling wieder lebendig – geradezu wie Gespenster aus der Vergangenheit.«[3]

Waren Mutter und Vater in ihrem eigenen Lebensgefühl und in ihrer Identität verunsichert, konnten sie ihren Kindern wenig Orientierung geben. Die Kriegsenkel berichteten mir von relativ normalen Familienverhältnissen. Ihre Eltern waren keine Unmenschen gewesen. Es wurde nur übereinstimmend gesagt: »Ich kann meine Eltern emotional nicht erreichen.«

Die Kriegsenkel melden sich zu Wort

Hier und da wird in den Medien über »Kinder der Kriegskinder« berichtet. Man weiß noch wenig. Man tastet sich vor. Auch in der Forschung wächst das Interesse am Thema; entsprechende Untersuchungsergebnisse werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Bei meinen Gesprächen mit Kriegsenkeln über sechs Jahre faszinierte mich, wie sich in ihren Darstellungen Familiengeschichte mit Zeitgeschichte verknüpfte – vor allem mit deutscher Nachkriegsgeschichte bis hin zur Gegenwart. Anfangs ging ich von einem Buchprojekt aus, in dem nicht mehr als zehn Menschen zu Wort kommen würden. Während meiner Arbeit am Manuskript zeigte sich aber, dass die von mir gewünschte Überschaubarkeit der Komplexität und der Vielfalt nicht gerecht geworden wäre, die ich bei meinen Begegnungen mit den Kindern der Kriegskinder vorgefunden habe.

Ich habe schließlich 18 Geschichten ausgewählt, die sich gegenseitig kommentieren und ergänzen. Sie machen deutlich: Den Kriegsenkel gibt es nicht, genauso wenig wie das Kriegskind. Gerade die Verschiedenartigkeit der Erfahrungen neben den unübersehbaren Übereinstimmungen verstärkt meiner Meinung nach die Glaubwürdigkeit der Aussagen. In vielen Fällen brachte die Spurensuche in der eigenen Familiengeschichte verblüffende Ergebnisse. Überwiegend werden Schwierigkeiten und Unverständnis zwischen den Generationen geschildert. Damit möchte ich nicht behaupten, die Beziehungen zwischen den Kriegskindern und den Kriegsenkeln seien grundsätzlich spannungsreich. Aber mit Sachbüchern verhält es sich genauso wie mit Romanen und Filmdrehbüchern: Es macht keinen Sinn, über gesunde Familien zu schreiben. Mein Anliegen ist es, auf die Spätfolgen von NS-Zeit und Krieg in vielen deutschen Familien aufmerksam zu machen.

Aber was mache ich hier? Erfinde ich gerade ein gesellschaftliches Thema, das in Wahrheit nur wenige Einzelfälle betrifft? Richtig ist, ich kenne keine Prozentzahlen – sie wären aus der Luft gegriffen. Richtig ist aber auch: Es gab eine Zeit in Deutschland, die erst vor wenigen Jahren zu Ende ging, in der nicht einmal die Angehörigen der Kriegskinderjahrgänge – in etwa von 1930 bis 1945 – der Meinung waren, sie als Generation hätten ein besonderes Schicksal. Der Satz »Ich bin ein Kriegskind« fiel selten, und noch seltener sprach ihn jemand völlig unbefangen aus. Das wirklich Neue an der Thematik »Kriegskinder« sind nicht die Schrecken des Krieges. Es ist bekannt, dass Kinder, Alte und Kranke am stärksten unter kollektiver Gewalt leiden. Das Neue ist: Hier handelt es sich um eine große Gruppe von Menschen, die in der Kindheit verheerende Erfahrungen machte, aber über Jahrzehnte in der Mehrzahl eben nicht das Gefühl hatte, etwas besonders Schlimmes erlebt zu haben. Denn es fehlte ihnen der emotionale Zugang zu diesen Erfahrungen und damit auch der Zugang zu den wichtigsten Prägungen.

Die folgende Aussage stammt von einem 70-jährigen Mann, der bis vor zehn Jahren mit kaum zu steuernden Spannungen und Ängsten durchs Leben lief – ohne zu wissen, woher sie kamen. Er sagte: »Das Schlimme ist, dass man nicht weiß, dass man kriegstraumatisiert ist. Als Kind weiß man das nicht. Auch später hat niemand darüber geredet. So hört der innere Schrecken nie auf – und man beschimpft sich als Erwachsener auch noch dafür.«

Seit den 1970er Jahren, vor allem seit die amerikanische Fernsehserie »Holocaust« gesendet worden war, galt das Thema »Die Deutschen als Opfer« als kulturell nicht mehr erwünscht. In den Medien, an den Schulen, in der Forschung ging es fast ausschließlich um die Fakten und Hintergründe von Hitlerdeutschland, um die Opfer der NS-Verbrechen. Vor diesem Paradigmenwechsel hatten die Deutschen sehr wohl unüberhörbar darüber geklagt, wie sehr sie im Krieg, in der Gefangenschaft, während der Nachkriegsarmut gelitten hatten.

Wie aus Tätern Opfer wurden

Auf diese Weise ging auch die Umetikettierung der Täter zu vermeintlichen Opfern vor sich. Der Psychotherapeut Jürgen Müller-Hohagen, 1946 geboren, beschreibt, wie sich Väter und Mütter, die sich während der NS-Zeit schuldig gemacht hatten, eine überaus haltbare Loyalität von Seiten ihrer Kinder sicherten: »Es waren ja unsere geliebten Eltern, die uns so entgegentraten, die uns auf den Schoß nahmen und dann vom Krieg erzählten oder beim Zubettbringen oder beim Essen, beim Spielen, bei Familienfeiern …«[4]

Die Not und die totalen Verluste der Heimatvertriebenen waren im Westen des geteilten Landes ein unüberhörbares öffentliches Thema (im Osten dagegen überhaupt nicht). Doch es klagten diejenigen, die im Krieg bereits erwachsen gewesen waren – nicht aber deren Kinder. Ihnen wurde bedeutet: »Vergiss alles. Sei froh, dass du lebst. Schau nach vorn«. Daran hat sich die vergessene Generation gehalten. Den meisten Kriegskindern gelang es, vor allem auch durch unermüdliches Arbeiten, ihre Schreckenserinnerungen auf Abstand zu halten. Das bedeutete aber nicht zwangsläufig ein unbelastetes Seelenleben.

Erst seit wenigen Jahren ist »Kriegskinder« eine Generationsbezeichnung. Ihr Schicksal wurde im Jahr 2005 bei dem ersten großen Kriegskinderkongress in Frankfurt öffentliches Thema, und es wurde sichtbar: Natürlich haben frühe Begegnungen mit kollektiver Gewalt Folgen, auch wenn die Betroffenen im späteren Leben nicht spüren, wodurch sie untergründig gesteuert werden. Keine Frage, die Kriegserlebnisse sind sehr unterschiedlich gewesen, und unterschiedlich stark waren die Folgen der frühen Verlust- und Gewalterfahrungen. Wie hoch mag der Anteil derer sein, die Schlimmes erlebten, und derer, die Glück gehabt hatten? Seit diesem Kongress haben sich die Experten weitgehend zu der Einschätzung durchgerungen, eine Hälfte habe eine normale Kindheit gehabt und die andere Hälfte nicht. Weiter heißt es: 25 Prozent erlebten kurzfristig oder einmalig ein Trauma, weitere 25 Prozent waren anhaltenden und mehrfachen traumatisierenden Erfahrungen ausgesetzt. Es wird vermutet, dass die letztere Gruppe unter Spätfolgen litt oder immer noch leidet. Von den Angehörigen der Jahrgänge 1930–​1945 leben heute noch 16 Millionen Menschen.

Michael Ermann, der mit seiner Forschungsgruppe an der Universität München die Spätfolgen deutscher Kriegskindheiten untersuchte, geht davon aus, »dass der Weltkrieg und die NS-Zeit ihre Spuren wohl weniger in einer offensichtlichen Labilität, Einschränkung der Lebensbewältigung oder gar klinischen Symptomen hinterlassen haben, sondern dass sie sich eher als Leerstellen ins Identitätsgefühl« eingegraben haben.

Tatsächlich scheint das Erinnerungstabu in den Familien und in der Nachkriegsgesellschaft bei Kriegsende zu einer Identität beigetragen zu haben, die mit vielen unklaren Ahnungen und offenen Fragen verbunden ist: Ahnungen und Fragen über die familiären Biografien, aber auch über sich selbst. Denn solange sie – also die Kriegskinder – »alles mit sich selbst« ausgemacht haben, gab es weder die Erfahrung, vom anderen erkannt und begriffen zu sein, noch die einer tieferen Verbundenheit. Ohne Erinnerungsarbeit gibt es kein Gefühl der Kontinuität des eigenen Lebens – ohne diese gibt es keine positive Identität.[5]

Wenn also selbst die große Gruppe der Kriegskinder über viele Jahrzehnte völlig ahnungslos bezüglich ihren eigenen Prägungen und ihren Verunsicherungen war, wie sollten deren Kinder, die Kriegsenkel, auf die Idee kommen, sie könnten ein kollektives, belastendes Erbe mit sich herumtragen?

Das unterscheidet meiner Ansicht nach die 1960er-Jahrgänge von den zehn oder 15 Jahre früher Geborenen: Deren Eltern hatten die Kriegszeit überwiegend als Erwachsene erlebt; sie hatten ihre Kinder nicht mit Klagen verschont. Auch wenn man sich als Nachkriegsgeborener entsprechend überlastet fühlte und irgendwann nichts mehr davon hören wollte, so wurde doch zumindest gespeichert: Die Eltern hatten Schlimmes erlebt.

Die hier vorgestellten Biografien erzählen überwiegend von Menschen, die in den 1960er Jahren geboren wurden und denen es erst relativ spät in ihrem Leben gelungen ist, sich von ihren Eltern abzunabeln, und von solchen, die noch heute darum kämpfen, sich nicht von Mutter oder Vater steuern zu lassen. Diese Kriegsenkel haben alle geistigen Voraussetzungen, um ein erfolgreiches Leben zu führen, doch bei der Mehrzahl vermittelt sich der Eindruck: Sie sind emotional blockiert, sie stehen privat oder beruflich auf der Bremse.

Woher kommt der »Nebel«?

In den meisten Familien hatten keine Dramen stattgefunden. Stattdessen war die Rede von »Nebel« und von »Unlebendigkeit«. Ein 45-jähriger Sohn bezeichnete das Klima in seinem Elternhaus als eine »stillstehende graue Sauce.« Darüber möglichst anschaulich zu schreiben, fiel mir weit schwerer als die Arbeit an meinem Buch über das Leid der Kriegskinder. Für das Drama lassen sich leichter Worte finden als über das Fehlen des Dramas. Meine Aufgabe bestand darin, etwas völlig Unspektakuläres darzustellen, etwas Unsichtbares – ein Vakuum.