Umschlag

Rainer Dissars-Nygaard, Jahrgang 1949, studierte Betriebswirtschaft und war als Unternehmensberater tätig. Er lebt als freier Autor auf der Insel Nordstrand. Im Emons Verlag erschienen unter dem Pseudonym Hannes Nygaard die Hinterm Deich Krimis »Tod in der Marsch«, »Vom Himmel hoch«, »Mordlicht«, »Tod an der Förde«, »Todeshaus am Deich«, »Küstenfilz«, »Todesküste«, »Tod am Kanal«, »Der Inselkönig«, »Der Tote vom Kliff«, »Sturmtief«, »Schwelbrand«, »Tod im Koog«, »Schwere Wetter«, »Nebelfront«, »Fahrt zur Hölle«, die Niedersachsen Krimis »Mord an der Leine«, »Niedersachsen Mafia« und »Das Finale« sowie der Kurzkrimiband »Eine Prise Angst« und die beiden »Tatort«-Krimis »Erntedank« und »Borowski und die einsamen Herzen«.
www.hannes-nygaard.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
 
Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG, Dr. Michael Wenzel, Frankreich (www.editio-dialog.com).

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.de/Mella
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-291-3
Hinterm Deich Krimi
Originalausgabe

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Zwei Dinge sind unendlich: Das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.

Albert Einstein

EINS

Der stetig aus Nordwest blasende Wind war heute eher eine Brise. Er streifte von der Nordsee über das Wattenmeer, kroch unsichtbar an der Außenseite des Seedeichs bis zu dessen Krone empor und ließ sich auf der steileren Binnenseite wieder hinabfallen, um sanft die saftig grüne Marsch zu streicheln. Heute hing nahezu ein Hauch Poesie über dem Land. Die Knicks und wenigen Baumgruppen hatten das sommerlich frische Grün gegen ein dunkleres getauscht. Beim näheren Betrachten waren an den Rändern der Blätter die ersten herbstlichen Laubfärbungen zu erkennen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der gewöhnlich eher frische Wind die bunten Blätter von den Bäumen fegen würde und der Herbst Einzug hielt. Davon war heute aber noch nichts zu merken.

Die vereinzelten Zirruswolken am tiefblauen Himmel wirkten, als hätte sie jemand mit hauchfeinem Pinselstrich ans Firmament hingetüncht. Sie zogen nur mit mäßiger Geschwindigkeit landeinwärts.

Reimer Reimers atmete tief die reine Seeluft ein. Dies war seine Welt, nicht nur an einem schönen Septembertag wie heute, auch sonst, wenn die langen und hellen Sommertage vergingen, der oft stürmische Herbst die Regentschaft übernahm oder der nasskalte Winter es unbehaglich werden ließ. Hier war er geboren und aufgewachsen. Er konnte sich nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu leben als in der Weite Eiderstedts, direkt hinterm Deich, nur durch die mäßig befahrene Landesstraße von der See getrennt.

Ob Yannick das schon verstand?, fragte er sich und streichelte liebevoll über den Kopf des Vierjährigen, dessen Wangen vor Anstrengung glühten, als er mit seinen kurzen Beinen mächtig in die Pedale trat, um den Trettrecker mit der Schaufel vorweg in Bewegung zu halten.

»Papa?«, fragte Yannick kurzatmig. »Darf ich nachher mit auf die Wiese?«

»Wenn du artig bist«, sagte Reimers lachend.

Natürlich würde er seinem Sohn diesen Wunsch nicht abschlagen. Seit er von klein auf mit seinem Vater auf dem Traktor unterwegs war, interessierte sich Yannick für alles, was mit dem Leben auf einem Bauernhof zusammenhing. Für Reimers gab es keinen Zweifel daran, dass Yannick einmal den Hof übernehmen würde, wie er es von seinem leider viel zu früh verstorbenen Vater getan hatte. Seit Generationen bewirtschafteten die Reimers das Land in diesem Teil der grünen Halbinsel.

Es hatte seine Berechtigung, dass die achtzehn Kirchen der Halbinsel als bedeutende Kulturdenkmäler galten, stammten sie doch fast alle aus dem zwölften Jahrhundert. Ob die Menschen die Gotteshäuser damals als Dank dafür errichtet hatten, dass Gott ihnen eine so wunderbare Region zur Heimat geschenkt hatte?, hatte Reimers früher einmal überlegt, als er oben auf dem Deich saß und seinen Blick über die Weite des Landes hatte streifen lassen. Zur anderen Seite des Küstenschutzbauwerks erstreckte sich der Heverstrom, der Husum mit der See verband und sich als Tiefwasserarm durch das Weltnaturerbe Wattenmeer schlängelte.

»Wann kommt Mama aus der Schule?«, fragte Yannick.

»Das dauert noch zwei Stunden.«

»Ich will auch in die Schule.«

»Da musst du noch zwei Jahre warten«, sagte Reimers.

Karen, seine Lebenspartnerin und Yannicks Mutter, unterrichtete als Lehrerin die Schüler in der Tetenbüller Grundschule, die mit ihrer geringen Schülerzahl eine Außenstelle der Gardinger Theodor-Mommsen-Schule war.

In diesem abgelegenen Teil Deutschlands war die Welt noch überschaubar, lebten die Menschen nicht in der Anonymität und der räumlichen Enge der Metropolen. Hier waren es oft Kilometer bis zum nächsten Nachbarn. Trotzdem kannte man sich, wusste voneinander. In den Straßenschluchten der Großstadt konnte es vorkommen, dass man den Nachbarn, der Wand an Wand mit einem lebte, nie zu Gesicht bekam.

»Wo ist Oma?«, fragte Reimers.

»In der Küche. Macht was zu essen.«

»Was denn?«

»Weiß nicht. Wann fahren wir zu den Bullen?«

»Gleich«, sagte Reimers. »Kannst schon mal deinen Trecker an die Seite stellen.«

»Musst du noch in den Stall?«, wollte Yannick wissen.

»Da war ich schon. Ich will nur noch schnell zum Fermenter gucken«, erklärte Reimers.

»Musst du etwas nachladen?«, fragte der Junge. Er sprang von seinem Spielzeugtrecker und ließ das Gefährt dort stehen, wo er es verlassen hatte. »Ich will auch«, rief er und lief über den Hof zum Traktor mit der Schaufel.

Reimers lachte, bevor er zum Fermenter stiefelte, um einen Blick durch das Schauglas in das Innere zu werfen. Anschließend würde er mit dem Radlader weitere Silage aus der mit einer dunklen Plane abgedeckten Miete holen und in den Feststoffeintrag füllen, der wie ein großer Trichter aussah und über den der Fermenter gefüttert wurde.

Er stieg die Metalltreppe bis zur kleinen Plattform hoch, spritzte mit dem daneben hängenden Wasserschlauch Schmutzpartikel von der Scheibe und schwenkte den Schlauch über den Hofplatz. Dabei hielt er seinen Daumen vor die Öffnung, sodass sich der Wasserstrahl als kleiner Sprühregen verteilte.

»Iiih«, schrie Yannick und versuchte, der Feuchtigkeit zu entfliehen.

Reimers stellte das Wasser wieder ab, hängte den Schlauch ein und sah durch das runde Glasfenster, das einem Bullauge ähnelte, in den Behälter. Es war wie immer. Er wollte sich schon abwenden, als er stutzte. Man nahm im Unterbewusstsein etwas wahr, das man kannte. Erst danach registrierte man, dass es nicht an diesen Platz gehörte. Noch einmal sah Reimers durch das Glas. Dann musste er gegen die aufkommende Übelkeit ankämpfen.

Mit beiden Händen hielt er sich an den Griffen neben dem Bullauge fest. Es gelang ihm nicht, den Blick abzuwenden. Schließlich rieb er sich mit einer Hand über die Augen und sah erneut in den Fermenter hinein. Er hoffte, er wäre beim ersten Mal einer Sinnestäuschung erlegen.

Nein! Wieder tauchte das furchteinflößende Bild vor ihm auf. Nur durch die Glasscheibe getrennt lag ein menschlicher Finger vor ihm, an dem noch der Ehering steckte.

»Papa, mach schon. Wir wollen Silage holen«, drängelte Yannick von unten.

»Gleich«, murmelte Reimers kaum hörbar.

Mit beiden Händen umklammerte er die Geländer der Leiter und hangelte sich hinab. Zwischendurch rutschte er ab, fing sich jedoch wieder. Als er unten angekommen war, setzte er sich auf die zweite Stufe, angelte sein Handy aus der Brusttasche der Latzhose hervor und wählte mit zittrigen Fingern die Eins-eins-null.

* * *

Es war still im Raum. Nur ein gelegentliches Rascheln war zu vernehmen, wenn der Erste Hauptkommissar Christoph Johannes eine Seite in der Akte umblätterte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Ohne hinzusehen tastete sich seine Hand zur Teetasse, nahm sie mit spitzen Fingern auf und führte sie zum Mund. Er trank einen Schluck des von ihm geliebten Darjeelings und setzte das Trinkgefäß wieder ab.

Vor zehn Minuten war er aus der Dienstbesprechung der leitenden Beamten der Husumer Polizeidirektion zurückgekehrt. Seit neun Jahren leitete er die Kriminalpolizeistelle in der nordfriesischen Kreisstadt kommissarisch. Eigentlich war es eine Position, die mit einem Beamten des höheren Dienstes zu besetzen war.

Die Besprechung war Routine gewesen. Der Flensburger Polizeidirektor war an die Westküste gekommen. Seit der Versetzung des Vorgängers Jochen Nathusius, der zum stellvertretenden Leiter des Landeskriminalamts nach Kiel befördert worden war, wurde die kleinste Polizeidirektion des Landes in Personalunion vom Flensburger Polizeidirektor mit verantwortet. Es war eine Frage der Zeit, bis Husum vermutlich in die Flensburger Direktion aufgehen würde.

Christoph nutzte die Ruhe im Raum, den er sich aus alter Tradition mit einem Kollegen teilte, obwohl die Beamten seiner Dienststelle fast ausnahmslos in Einzelbüros untergebracht waren. Er schreckte hoch, als er auf dem Flur ein dröhnendes Lachen hörte. Es klang, als hätte jemand den Donner eines Gewitters in einem leeren Blecheimer eingefangen. Dann flog mit einem lauten Krachen die Tür auf, und der Griff schlug gegen die Wand. Das Loch im Putz verriet, dass es eine schon oft ausgeführte Übung war. Oberkommissar Große Jäger stieß die Tür mit der Fußspitze an, dass sie wieder ins Schloss fiel, und ließ sich krachend in seinen Bürostuhl fallen. Er lehnte sich zurück, so weit die Wippautomatik es zuließ, bis der Stuhl ächzte. Immer noch lachte er und rieb sich mit den Knöcheln die Tränen aus den Augen.

»Du glaubst es nicht«, begann er und drehte sich zu Christoph um. »Das gibt Doofe auf der Welt, da staunt selbst ein alter Krieger wie ich.« Dann brach er erneut in Lachen aus.

Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten hatte er nicht die Schublade herausgezogen und seine Füße darin geparkt.

Christoph ließ dem Oberkommissar Zeit und betrachtete seinen Kollegen. Die dunklen Haare – natürlich ungewaschen – wurden von Jahr zu Jahr von immer mehr grauen Streifen durchzogen. Auf Wangen und Kinn sprießten die Bartstoppeln. Hatte Große Jäger wirklich nur dieses eine Holzfällerhemd? Oder wechselte er es regelmäßig, und in seinem Kleiderschrank lag ein ganzes Dutzend des gleichen Modells? Die Fingernägel wiesen Trauerränder auf, der Schmerbauch hing über dem Gürtel der schmuddeligen Jeans, und die Lederweste mit dem Einschussloch war inzwischen sein Markenzeichen geworden.

»Hast du dir die Idee, dieses Design in Serie zu fertigen, eigentlich patentieren lassen?«, hatte Christoph Große Jäger gefragt.

»Viele Leute laufen mit einer Wolfstatze auf dem Rücken oder Oberarm herum.« Große Jäger hatte den Finger durch das Einschussloch gesteckt. »Das hier! Das hat Stil! Und ist individuell.«

Es dauerte eine Weile, bis der Oberkommissar sich beruhigt hatte. »Also«, prustete er, »ich habe eben ein Verhör durchgeführt. Das glaubst du nicht.«

»Und das hat so viel Heiterkeit bei dir ausgelöst?«

Sie wurden durch das Telefon unterbrochen. Christoph nahm den Hörer ab.

»Hensson«, meldete sich eine sympathische weibliche Stimme. Vor Christophs geistigem Auge tauchte das Bild der jungen blonden Beamtin der Schutzpolizei auf, die noch nicht lange in Husum Dienst tat. »Die Leitstelle in Harrislee hat einen Anruf erhalten, dass ein Landwirt in Everschopkoog bei sich einen Finger gefunden hat. Daran steckt noch ein Ehering.«

»Ein – was?«, fragte Christoph ungläubig. »Ein Unfall?«

»Das ist alles sehr nebulös. Die Kollegen von der Präsenzstreife Eiderstedt sind schon unterwegs. Ich habe mit denen gesprochen. Die meinten, wir sollten die Kripo verständigen.«

Die drei Polizeidienststellen Eiderstedts in Tönning, Garding und St. Peter-Ording bildeten gemischte Besatzungen – die Präsenzstreife –, die auf der gesamten grünen Halbinsel Akuteinsätze abdeckten.

»Danke. Das ist richtig gewesen«, sagte Christoph. »Wir kümmern uns darum. Wo war das?«

»In Everschopkoog 7. Der Landwirt heißt Reimers.«

»Gibt es dort keine Straßennamen?«

»Alle Häuser des Dorfes liegen wie aufgereiht an der Landesstraße 310. Es gibt nur diese eine Straße.«

Danach informierte er Große Jäger.

»Ein Finger?« Der Oberkommissar kratzte sich am Haaransatz. »Wenn es ein Unfall war, würde sich das Opfer gemeldet haben. Niemand verliert einen Finger und sagt ›Pech gehabt. Pflaster drauf. Fertig.‹ Wo wurde der Finger gefunden?«

Christoph erklärte es ihm.

»Ich wollte wissen, wo der Finger lag?«

»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte Christoph.

»Dann sollten wir es uns ansehen«, beschloss der Oberkommissar. Er fragte nicht, ob Christoph ihn begleiten würde. Das war für Große Jäger eine Selbstverständlichkeit.

Wenig später saßen sie in Christophs Volvo.

»Ist der neu?«, fragte der Oberkommissar und rümpfte die Nase, als hätte er Witterung aufgenommen.

»Der andere war jetzt sechs Jahre alt«, erklärte Christoph.

Große Jäger schüttelte die Hand, als hätte er sich verbrannt. »Oh weia. Wir kennen uns jetzt neun Jahre. Wann tauschst du mich aus?«

Christoph lachte. »Für jemanden wie dich gibt es einfach kein Nachfolgemodell.«

Sie mussten an der Ecke der Poggenburgstraße eine Ampelphase warten, bevor sie nach links abbogen, die Eisenbahn unterquerten und gleich darauf wieder abbogen, um kurz darauf Husum zu verlassen. Als sie die abzweigende Straße »Riecke Reech«, was mit »Reiche Reihe« übersetzt werden konnte, passierten, erinnerte Große Jäger Christoph an die Todesfälle im Seniorenheim am Ende der Straße. Das Haus war als »Todeshaus am Deich« in die Geschichte eingegangen.

»Warum fährst du ohne Blaulicht?«, beschwerte sich Große Jäger unterwegs.

»Weil keine Gefahr im Verzug ist. Deshalb nehme ich keine Sonderrechte in Anspruch.«

Zur Rechten drehten sich die Windenergieanlagen im Finkhaushalligkoog nur mäßig.

»Heute gibt es nicht viel zu verdienen«, kommentierte der Oberkommissar die Anlage. »Das soll mächtig viel Mäuse bringen. Darum sind alle Gemeinden so heiß darauf, sich solche Anlagen hinzustellen. Und weil die Bayern das auch gemerkt haben, planen die jetzt, auch Windparks zu bauen und unseren Strom nicht abzunehmen. Und dann?«

Sie hatten das Ende der Straße erreicht und fuhren nun auf dem Deich durch die kleine Ortschaft Simonsberg. Etwas weiter entfernt tauchte in der Marsch der Rote Haubarg auf, der mächtigste Vertreter dieser angeblich größten Bauernhäuser der Welt, die typisch für Eiderstedt waren. In einer scharfen S-Kurve zweigte die Landesstraße ab, die zunächst durch Uelvesbüll führte und dann an der Binnenseite des Deichs entlang verlief. Hier zeigte sich, dass das Land seit Langem die Infrastruktur vernachlässigte, zumindest in diesem Teil. Die schmale Straße war ein einziger Flickenteppich. »Eine Patchwork-Allee«, hatte Große Jäger es einmal genannt, auch wenn die Bäume fehlten.

Nach fünf weiteren Kilometern, die nur aus dem Deich zur Rechten und der weiten Marsch zur Linken bestanden, verkündete ein grünes Ortsschild, dass sie ihr Ziel Everschopkoog erreicht hatten.

Christoph wunderte sich, dass Große Jäger heute so gesprächig war.

»Ein Koog ist durch Deichbau und Entwässerung dem Meer abgerungenes Land«, dozierte Große Jäger. »Die Holländer sagen Polder dazu. Meistens ist der Koog hinterm Deich tiefer gelegen als das Wasser vor dem Deich. Es gehört Gottvertrauen dazu, hinterm Deich zu leben.«

»Und warum heißt der Ort Everschopkoog?«, fragte Christoph.

»Weil Everschop der Name einer Harde ist. Und dieser Begriff lässt sich am besten mit ›Verwaltungsbezirk‹ übersetzen, also so etwas wie ein Landkreis. Na ja. Nicht ganz«, relativierte Große Jäger. »Detlev von Liliencron war eine Zeit lang Hardesvogt, so eine Art Landrat, auf Pellworm. Während dieser Zeit hat er die Story von Rungholt geschrieben.«

Christoph unterließ es, zu antworten, setzte den Blinker und bog auf das Areal eines Bauernhofs ab. Dort stand bereits ein blau-silberner Ford Focus der Tönninger Polizei. Christoph parkte direkt daneben.

Auf dem Hof standen zwei uniformierte Beamte und ein jüngerer Mann in Arbeitskleidung. Als sie auf die Gruppe zugingen, tippte sich der Ältere der Polizisten lässig an den Mützenschirm.

»Moin. Das ist Herr Reimers, der Hofbesitzer. Er hat bei der Kontrolle in seiner Biogasanlage eine merkwürdige Entdeckung gemacht.« Dann berichtete der Polizeihauptmeister, was er von Reimers erfahren hatte. »Wir hielten es für besser, euch zu informieren.«

»Danke, Horst.« Große Jäger klopfte dem Beamten leicht auf die Schulter. »Gut gemacht. Dann zeig uns mal das gute Stück.«

»Da oben.« Reimers wies auf ein Podest am Ende einer Leiter. »Im Schaufenster.«

Christoph und Große Jäger erklommen die Metalltreppe und sahen durch das Glas.

»Das gibt es doch nicht«, war die erste Reaktion des Oberkommissars, nachdem er den Fund betrachtet hatte. »Wie kommt der Finger da hinein?«

»Den wird keiner freiwillig abgeliefert haben«, erwiderte Christoph.

»Ob da noch mehr herumschwimmt?«, überlegte Große Jäger laut und zeigte auf den Behälter.

Christoph zuckte mit der Schulter.

»Das wäre unschön.« Er zog die Stirn kraus und musterte den großen grünen Behälter mit der Halbkugel als oberen Abschluss, während Große Jäger nah an das Glas heranrückte und mehr zu sich selbst sagte: »Da sind rundum Schrauben, die das Schauglas halten. Wenn man die lösen würde, käme man an den Finger heran.«

»Das sollte die Spurensicherung übernehmen«, schlug Christoph vor.

»Traust du mir keine handwerklichen Fähigkeiten zu?«, fragte der Oberkommissar gespielt entrüstet.

»Ich traue dir alles zu.«

»So war das auch nicht gemeint.«

Sie hangelten sich wieder die Leiter hinab.

»Zunächst einmal würde ich Sie bitten, die Anlage abzuschalten«, wandte sich Christoph an den Landwirt.

»Ja. Natürlich«, versicherte Reimers und verschwand durch eine Stahltür in ein kleines Häuschen, an dessen Außenseite Armaturen angebracht waren und in der Wand ein großer Lüfter rauschte und zahlreiche Rohre hinein- und wieder herausführten.

»Wisst ihr etwas über diesen Reimers?«, fragte Große Jäger die beiden Tönninger Beamten.

»Hör mal«, sagte der Polizeihauptmeister entrüstet. »Wir kennen nicht jeden auf Eiderstedt. Zu den der Polizei bekannten Pappenheimern gehört er jedenfalls nicht. Mir ist nicht bekannt, dass er schon einmal mit uns zu tun hatte. Weißt du etwas?« Er sah den zweiten Streifenbeamten an.

»Nö«, bestätigte dieser. »Everschopkoog ist ein ruhiges Nest. Hier ist nicht viel los.« Er lächelte dabei. »Das gilt in jeder Hinsicht.«

»Ist ausgeschaltet«, erklärte der Landwirt, als er zurückkehrte.

»Kann man das Fenster öffnen?«, fragte Große Jäger.

»Sicher. Soll ich Werkzeug holen? Man dreht die Schrauben ab. Das Glas sitzt in einer Gummidichtung.«

»Wir überlassen das den Kollegen von der Spurensicherung«, erklärte Christoph. »Wir können aber noch einmal nach oben gehen und nachsehen, ob jemand an den Schrauben manipuliert hat.«

»Oder der Finger auf andere Weise an diese Stelle gekommen ist«, fügte Große Jäger an und zeigte sich mit dieser Bemerkung von seiner unsensiblen Seite.

Prompt erfasste Reimers ein leichtes Frösteln. Nur zögernd folgte er Christoph die Leiter empor.

»Nichts berühren«, ermahnte ihn Christoph, als sie das Glas erreicht hatten.

Reimers näherte sich bis auf zwei Zentimeter der Befestigung.

»Das sieht nicht so aus, als hätte jemand daran herumgeschraubt.«

Dieser Meinung war auch Christoph, der anschließend die Schrauben eingehend musterte. Sie wiesen keine neuen Kratzspuren auf. Der leichte Anflug von Schmutz deutete darauf hin, dass hier seit Langem niemand mehr etwas verändert hatte.

»Soll das heißen …?« Reimers vollendete den Gedanken nicht.

»Das ist sehr wahrscheinlich«, erklärte Christoph und legte seine Hand leicht auf Reimers’ Schulterblatt. »Kommen Sie. Den Rest überlassen wir den Experten.«

Große Jäger hatte sich ein wenig abseits hingestellt und telefonierte. Als er sein Gespräch beendet hatte, kehrte er zu ihnen zurück.

»Ich habe die Spurensicherung aus Flensburg angefordert«, sagte er. »Klaus Jürgensen war hocherfreut, als er hörte, dass wir etwas für ihn haben.«

»Hast du ihm Einzelheiten berichtet?«, fragte Christoph.

Große Jäger grinste. »Bin ich verrückt? Wenn der hört, dass wir einen Finger in einer Biogasanlage gefunden haben, weigert er sich, an die Westküste zu kommen.« Er legte eine kleine Pause ein. »Welche Möglichkeiten gibt es für den Finger, in den Behälter zu kommen?«

»Herr Reimers erläutert uns bestimmt die Funktion der Anlage«, baute Christoph dem immer noch blassen Landwirt eine Brücke.

»Ja doch. Klar«, stammelte Reimers und zeigte auf das Wohnhaus. »Wollen wir uns hineinsetzen?«

Er stapfte in seinen Gummistiefeln über den Hof. Die beiden Beamten folgten ihm.

»Werden wir noch gebraucht?«, rief ihnen der Polizeihauptmeister von der Streife hinterher.

»Ja«, erwiderte Große Jäger.

Christoph wunderte sich nicht, dass die Hintertür unverschlossen war. Das traf man oft in diesem Teil der grünen Halbinsel an.

Reimers führte sie in eine modern eingerichtete Küche und zeigte auf einen Tisch mit acht Plätzen.

»Sind Sie eine so große Familie?«, fragte Christoph, während der Landwirt an einem Schrank hantierte und mit drei bunten Bechern zu ihnen trat.

»Warum?«

Christoph zeigte auf die Sitzgelegenheiten.

»Ach so. Nee.« Reimers schüttelte den Kopf und wies seinerseits auf den mitten im Raum stehenden Küchenblock. »Wir sind zu viert. Meine Mutter, meine Freundin Karen und Yannick, unser Sohn. Meine Partnerin ist Lehrerin an der Grundschule in Tetenbüll. Yannick ist vier. Ich habe ihn mit der Oma weggeschickt. Sie sind zu Heinrich und Else Matuschka, gleich nebenan.«

»Ihre Partnerin heißt mit Nachnamen?«, fragte Christoph routinemäßig.

»Karen Brunke.«

»Und Ihre Mutter?«

»Mariechen. Aber warum interessiert Sie das?«

Reimers war zu einer Arbeitsfläche an der Querwand gegangen und hatte eine moderne Kaffeemaschine in Betrieb gesetzt. Es entstand ein Höllenlärm, als der Apparat den Kaffee frisch mahlte. Kurz darauf zischte es, bis das aromatische Getränk in den Becher lief. Dieser Vorgang wiederholte sich noch zweimal. Mit den drei Gefäßen kehrte Reimers zurück und nahm ebenfalls Platz.

»Das ist reine Routine«, beantwortete Christoph die Frage.

»Was ist reine Routine?«, fragte Reimers geistesabwesend. »Ach ja. Die Namen meiner Mutter und meiner Freundin.«

Sie tranken einen Schluck Kaffee. Christoph nippte vorsichtig an seinem Becher. Er hatte erwartet, dass das Getränk brühheiß war.

»Sie wollten uns etwas über den Ablauf erzählen«, erinnerte er Reimers.

Der Landwirt drehte gedankenverloren seinen Becher in der Hand.

»Ich verstehe das nicht«, murmelte er dabei. »Und wenn das ein Gummifinger ist? Ich meine, ein Fake? Wenn sich jemand einen schlechten Scherz erlaubt hat?«

»Danach sieht es leider nicht aus«, enttäuschte ihn Große Jäger. »Wie bekommt man die Sachen in den Behälter hinein?«

»Wissen Sie überhaupt, wie Biogas entsteht? Haben Sie schon einmal Silage gegessen?«

»Bitte?«, fragten Christoph und Große Jäger übereinstimmend.

Reimers lächelte. »Sicher haben Sie das. Sie nennen es nur anders. Sauerkraut. Das ist das gleiche Prinzip. Der Weißkohl wird durch Milchsäure vergoren. Das, was wir dort draußen in diesem Behälter machen, ist im Prinzip nichts anderes. Wir nehmen nur keinen Kohl.«

»Ich kenne einen Helmut Kohl, den hätte man rechtzeitig silieren sollen«, murmelte Große Jäger leise und erntete dafür einen strafenden Blick von Christoph. Zum Glück hatte Reimers es nicht mitbekommen.

»Der runde Behälter, in den wir durch das Schauglas gesehen haben, nimmt die Silage auf.«

»Das ist der Mais, der jetzt überall angebaut wird«, warf Christoph ein.

»Das ist richtig. Da ist Mais drin. Aber nicht nur. Ich nehme auch Grassilage und GPS

»Dschi-Pi-Es?«, fragte Große Jäger.

»Nein. G-P-S«, benutzte Reimers die deutschen Buchstaben. Das hat nichts mit dem Global-Positioning-System zu tun, das Sie in Ihrem Auto haben. In diesem Fall bedeutet es Ganzpflanzensilage. Weizen und Gerste werden gehäckselt und mit der Gras- und Maissilage gemischt. Das Ganze wird hinten auf dem Hof gelagert. Ich verdichte es noch, indem ich mit dem Trecker darüberfahre. Wenn da Luft herankommt, bilden sich Essig- und Buttersäure. Deshalb ist die Miete, das sind laienhaft ausgedrückt diese ›Haufen‹, auch mit schwarzer Folie abgedeckt.«

»Sie meinen jene, auf denen alte Autoreifen liegen?«

»Genau die. Und das wird zusammen mit Gülle in den Fermenter gefüllt. Das ist das runde Bauwerk mit der Kuppel obendrauf. Darin gärt die Silage. Es bilden sich Methangase, die oben in der Kuppel gefangen werden. Und diese werden für die Energiegewinnung genutzt. Etwa vierzig Prozent dienen der Stromerzeugung, der Rest ist Thermik, also Wärme«, erklärte Reimers.

»Sie können die Anlage aber auch mit anderen Stoffen füllen?«, fragte Große Jäger.

»Da gibt es viele Möglichkeiten. Sie können fast alle organischen Stoffe verwerten, zum Beispiel Speisereste. Aber Mais und Grassilage sind nun einmal am energiehaltigsten. Und das Schöne daran ist, dass die vergorenen Pflanzenreste hinterher als hochwertiger Dünger, wir nennen es Wirtschaftsdünger, wieder in der Landwirtschaft eingesetzt werden können.«

»Das Prinzip entspricht dann …«, begann Christoph.

Reimers fiel ihm ins Wort. »Die Biogasanlage arbeitet wie der Pansen des Rindes. Da passiert im Grund genommen nichts anderes. Die Silage wird dort vergoren, und es bildet sich unter anderem auch Methan.«

»Kritiker behaupten, die massive Rinderhaltung rund um den Globus würde zur Zerstörung der Ozonschicht beitragen.«

»Blödsinn«, tat Reimers den Einwand ab. »Wollen Sie die Rinder als Fleischproduzenten ausrotten? Wovon soll die Menschheit sich ernähren?«

»Es ginge doch auch vegetarisch. Ein Rind verbraucht ein Vielfaches an Grünfutter von dem, was ein Mensch benötigt«, sagte Christoph.

»Klar. Bestimmt.« Reimers reagierte sichtlich erbost. »Gehen Sie doch hinaus und futtern Sie die Silage. Ich wünsche Ihnen guten Appetit.«

Christoph zog es vor, die Diskussion nicht fortzusetzen. An anderer Stelle wurde heftig darüber gestritten, ob mit dem Anbau von für die Energiegewinnung genutzten Pflanzen Flächen verschwanden, die früher der menschlichen Ernährung gedient hatten, indem dort Getreide erzeugt worden war.

Große Jäger räusperte sich. »Sie haben also die Silage unter der schwarzen Plane aufbereitet. Und dann?«

»Dann kommt die Silage in den Fermenter.«

»Wie machen Sie das?«, fragte Große Jäger.

Reimers sah ihn an. »Ich sitze hier am Tisch, falte die Hände und sage einen Zauberspruch auf.« Dem Landwirt war anzumerken, dass er sich über Christophs Einwand geärgert hatte.

»Und wenn es mit dem Zauberspruch nicht klappt, weil die Fee in Urlaub ist?«, fand Große Jäger die richtigen Worte.

Reimers entspannte sich. Ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Das ist blöde«, erklärte er. »Dann muss der Bauer ran.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Ich füttere den Fermenter mit der Silage, die ich zuvor unter der Plane aufbereitet habe. Am Hoftraktor habe ich eine Schaufel. Die befülle ich und bringe das zum Fermenter.«

»Und wo kommt es dort hinein?«, fragte Große Jäger.

»Kommen Sie mit«, forderte der Bauer die Beamten auf, verließ das Haus und ging über den Hof. Reimers zeigte auf einen oben offenen roten Behälter, der entfernt an einen Trichter erinnerte.

»Von dort rutscht es in den Fermenter?«

»Dort unten am Feststoffeintrag, so nennen wir das rote Ding, sehen Sie einen Kasten. In diesem Kanal sitzt eine Schnecke. Diese Querschnecke transportiert die Silage bis zu der Stelle, an der der Kanal senkrecht verläuft. Von dort wird das Gut mit einer Steilschnecke aufwärts transportiert, bis es von oben in den Fermenter gefüllt wird.«

»Einfach so – klatschbumm?«, fragte Große Jäger und folgte dem von außen unscheinbaren kastenförmigen Transportkanal.

Reimers schüttelte den Kopf. »Im Fermenter übernimmt die sogenannte Stopfschnecke das eingefüllte Gut und rührt es – laienhaft ausgedrückt – in die fermentierte Menge. Damit ist ein Vermischungseffekt gegeben.«

»Das heißt, von dem Augenblick an, wo die Silage in den Trichter …«

»Feststoffeintrag«, korrigierte Reimers.

»Von mir aus. Überall sitzen scharfkantige Geräte im Gesamtsystem.«

»Das ist noch gar nichts«, erklärte der Landwirt. »Unten am Feststoffeintrag kreisen scharfe Messer, die alles erbarmungslos zermalmen. Es ist schon vorgekommen, dass mir beim Einfüllen ein Reifen, mit dem ich die Plane abdecke, hineingeraten ist. Der ist weg. Da finden Sie nichts, absolut nichts von wieder.«

Christoph und Große Jäger wechselten einen raschen Blick. Wenn statt des Reifens ein Mensch … Das war unvorstellbar. Zum Glück hatte Reimers diesen Gedanken nicht mitbekommen.

»Wie lange dauert es, wenn man oben einen Reifen hineinwirft, bis der im Fermenter gelandet ist?«, setzte Große Jäger die Befragung fort.

»Das kann ich einstellen. Da.« Reimers zeigte auf ein Schaltpult, das seitlich am Feststoffeintrag angebracht und durch ein kleines Dach vor dem Regen geschützt war. »Normalerweise habe ich es so geschaltet, dass es einen Tag dauert.«

»Geht es auch schneller?«

»Ja. Wenn ich die Geschwindigkeit der Schnecken hochdrehe, funktioniert das auch innerhalb einer Stunde.«

»Das ist eine Menge Technik, die Sie hier zu verwalten haben«, sagte Große Jäger fast beiläufig. »Das sieht nicht so aus, als könne da jeder mit umgehen.«

»Das ist zutreffend«, erklärte Reimers.

»Aber ein anderer Landwirt, der auch eine Biogasanlage hat, wüsste mit der Funktionalität Ihrer Anlage zu arbeiten.«

»Das bekäme er sicher schnell heraus.«

Reimers’ Handy piepte. Er warf einen kurzen Blick darauf. »Eine Nachricht von meinem Rechner, der den Melkroboter im Kuhstall überwacht. Ich muss da mal schnell hin«, sagte er und verschwand.

»Das ist auch nicht mehr die schöne heile Welt, die wir aus den Bilderbüchern kennen«, sagte Große Jäger. »Da läuft heute keiner mehr mit der Mistforke herum, stapelt die Strohballen von Hand auf dem Heuboden und lässt sich dabei von der Magd behilflich sein. Siehst du irgendwo Hühner auf dem Misthaufen?«

Christoph zeigte auf den Fermenter. »Der Misthaufen hier ist in dieser Anlage. Da würde es den Hühnern schlecht bekommen.«

»Erst recht Menschen, wenn sie da hineingerieten«, sagte Große Jäger. »Wir können kaum davon ausgehen, dass jemand beim Beladen, Reparieren oder irgendeinem anderen Hantieren verunglückt ist und dabei seinen Finger verloren hat. Davon hätte Reimers gehört. Vorsichtshalber werde ich aber Hilke bitten, die umliegenden Krankenhäuser zu befragen, ob dort ein entsprechender Notfall behandelt wurde. Das sind keine alltäglichen Geschichten. Was käme in Frage?« Große Jäger kratzte sich den Bart. Deutlich war das schabende Geräusch zu vernehmen. »Tönning. Husum. Das Westküstenklinikum in Heide. Vorsichtshalber soll Hilke auch in Schleswig und Rendsburg anfragen, obwohl ich das nicht glaube.«

»Wir sollten auch die Rettungswachen in Garding und Tönning fragen«, regte Christoph an.

Große Jäger hob seine Hände in die Höhe und ließ nacheinander die Finger hochschnellen. Dabei bewegte er tonlos die Lippen. Als alle zehn Finger emporgestreckt waren, beugte er sie wieder und begann von Neuem. Das Spiel wiederholte er mehrfach.

»Ganz schön lange schon«, sagte er und grinste.

»Du willst mir damit sagen, dass du schon ein paar Tage bei der Polizei bist und keine Ratschläge benötigst.«

»Du solltest mit deiner Auffassungsgabe auch zur Polizei gehen«, erwiderte der Oberkommissar und beeilte sich, außer Reichweite zu gelangen.

Christoph besah sich noch einmal die Biogasanlage. Wie kam der menschliche Finger in den Fermenter? Offenbar gab es nur den einen Zugang über den Einfülltrichter. Wem gehörte der Finger? War es ein Streit unter rivalisierenden Banden? Kaum, dachte er. So etwas war in Nordfriesland unwahrscheinlich. Und die Rockerszene, in der so etwas denkbar wäre, konzentrierte sich auf andere Landesteile – Neumünster, Kiel, Flensburg. In Nordfriesland traten andere Biker auf.

Bekannt war das österliche Bikertreffen in Husum, zu dem sich tausend friedliche Motorradfreaks zu einem Gottesdienst trafen. Und anschließend fuhr der Pastor mit. Mafiöse Strukturen waren hier auch unbekannt. Frauke Dobermann, die in Hannover die Organisierte Kriminalität bekämpfte, hätte den Finger möglicherweise als »Bestrafung« innerhalb einer Bande interpretiert. Aber hier – in Nordfriesland? Schon gar nicht auf Eiderstedt. Nein. Der Finger blieb ein Rätsel.

Große Jäger kehrte zurück.

»Tante Hilke war begeistert«, erklärte er. »Sie schlug vor, dass ich mit ihr tauschen solle. Sie würde auch gern mit einem so charmanten Kollegen wie dir unterwegs sein.« Er strich sich versonnen über den Schmerbauch. »Verstehe ich nicht. An mir ist doch viel mehr dran.«

Die rotblonde Kommissarin Hilke Hauck war nach Mommsens Wechsel nach Ratzeburg zu einer wertvollen Hilfe geworden. Auch wenn sie gelegentlich klagte, dass man ihr »nur« die Innendiensttätigkeiten übertrug, war die Hausfrau und Mutter nicht unglücklich über diese Situation. Sie sprach nie darüber, aber den Angriff auf sie auf dem Friedrichstädter Marktplatz hatte sie bis heute nicht überwunden.

ZWEI

Langsam kam ein weißer Mercedes Vito Kastenwagen auf den Hof gerollt.

»Hast du im Lotto gewonnen? Wo ist euer alter VW LT? Wie macht man das? Wen muss man in der Behördenleitung bestechen, um an so schicke Fahrzeuge heranzukommen?«

Der kleine Mann mit den extrem kurzen Haaren, durch die Kopfhaut sichtbar war, steuerte auf Christoph zu und wies dabei mit dem Finger auf den Oberkommissar.

»Wie hältst du das mit so einer westfälischen Sabbeltasche nur aus? Wie kann man den zum Schweigen bringen?«

Christoph lachte und streckte Hauptkommissar Jürgensen die Hand entgegen. Der Leiter der Spurensicherung von der Flensburger Bezirkskriminalinspektion erwiderte den Händedruck.

Große Jäger hatte sich von hinten herangeschlichen und fuhr über Jürgensens Kopfhaut. »Kein Wunder, dass du ständig niest. Bei so wenig Haaren muss man sich ja erkälten.«

»Jeder, der mir über den Kopf streichelt, bezahlt einen Euro«, knurrte Jürgensen.

»Deshalb hast du so wenig Haare. Und davon hast du den neuen Wagen bezahlt?«

»Die sind mir ausgegangen, weil ich mir jedes Mal meine Lockenpracht gerauft habe, wenn ich wieder zu euch an die Westküste kommen musste.«

»Klaus«, säuselte Große Jäger. »Heute überfordern wir dich nicht. Wir haben nur ein bisschen Mensch. Sozusagen als Anbiederung möchte ich dir den Finger reichen.«

Jürgensen sah auf Große Jägers Hände mit den Trauerrändern unter den Nägeln. »Lieber nicht.«

»Nicht meinen. Wir haben einen anderen für dich.« Der Oberkommissar zeigte auf den Fermenter. »Da.«

Christoph klärte Jürgensen mit wenigen Worten über den bisherigen Ermittlungsstand auf.

»Toll«, sagte Jürgensen. Es klang nicht begeistert. Dann begleitete er Christoph die Leiter hoch zum Schauglas. Nachdenklich betrachtete der Hauptkommissar den Fund.

»Wir werden zunächst eine Spurensicherung an der Verschraubung und der Umgebung vornehmen, bevor wir das Teil bergen«, beschloss er und instruierte seine Mitarbeiter. Ein Spurensicherer hatte mit Foto- und Filmaufnahmen vom Hof, der Anlage und den Details der Biogasanlage begonnen.

Christoph scharrte mit dem Fuß.

»Jetzt musst du nur noch gackern«, lästerte Große Jäger.

»Ist dir bewusst, dass bei der großen Marcellusflut, bei der auch das sagenhafte Rungholt untergegangen sein soll, das Meer hier durchgebrochen ist und eine Verbindung zwischen dem Heverstrom im Norden und der Eider geschaffen hat? Man nannte diese Verbindung ›Nordereider‹.«

»Damit war St. Peter-Ording auf einer Insel«, stellte Große Jäger fest. »Hatte also den Status, den Westerland heute auf Sylt hat.«

»Sicher hätte der damalige Kurdirektor das ausgenutzt«, erwiderte Christoph. »Aber da die Eisenbahn 1362 noch nicht erfunden war, blieben die Touristen aus. Diese dem Festland vorgelagerten Bereiche nannte man ›Utlande‹. Utholm und Everschop waren Inselharden, bis man in den folgenden Jahrhunderten durch Landgewinnung die ›Dreilande‹, so nennt man es bis heute, wieder verband. So entstand Eiderstedt in der heutigen Form.«

»Wenn du ein so kluges Köpfchen bist«, sagte Große Jäger, »dann verrate mir einmal, wie der Finger in die Biogasanlage kommt.«

Darauf hatte Christoph keine Antwort.

Sein Telefon meldete sich.

»Hallo, Hilke«, begrüßte er die Kollegin in Husum.

»Ich habe mich umgehört«, berichtete die Kommissarin. »In keinem der Krankenhäuser oder beim Rettungsdienst wurde in der letzten Zeit ein Fall behandelt, bei dem es um abgetrennte Gliedmaßen ging. Daran, so die übereinstimmende Aussage, hätte man sich erinnert. Eine solche Konstellation ist schließlich nicht alltäglich. Ich werde jetzt die Ärzte auf Eiderstedt befragen.«

Christoph warf einen Blick zum Fermenter hoch. Jürgensen, der mit einem seiner Mitarbeiter dort tätig war, bemerkte es.

»Wir beginnen gleich, die Schrauben zu lösen«, rief er herunter.

Inzwischen war Reimer Reimers zurückgekehrt. In seiner Begleitung waren eine ältere Frau sowie ein kleiner blonder Junge, um den ein Hund herumwuselte, den zu beschreiben schwerfiel. Er hatte ein weiß-schwarz geflecktes Fell, reichte etwa bis zur Kniehöhe und besaß spitze Ohren. Besonders auffällig war der schwarze Fleck, der eine Kopfhälfte und die halbe Schnauze bedeckte. Das verlieh dem Tier ein fast fröhliches Aussehen.

Große Jäger beugte sich nieder und kraulte den Hund hinter den Ohren.

»Du bist gar nicht scheu«, sagte er. »Wie heißt du denn?«

»Herr Lustig«, antwortete der Junge und reichte Große Jäger unaufgefordert die Hand.

»Und du?«, fragte der Oberkommissar.

»Yannick.«

»Unser Sohn«, erklärte Reimers und zeigte auf die Frau an seiner Seite. »Meine Mutter. Wir haben auch Ferienwohnungen auf dem Hof und bieten ›Urlaub auf dem Bauernhof‹ an. Besonders Familien mit Kindern zählen zu unseren Gästen, aber auch ältere Menschen, die die Ruhe zu schätzen wissen. Und wenn in Husum Messe ist, kommen auch Besucher zu uns, die nach einem anstrengenden Messetag in unserer gesunden Luft regenerieren möchten. Nachts können Sie hier die Stille hören.« Er lächelte. »Das glauben Sie nicht?«

Christoph nickte und zeigte in Richtung Deich.

»Doch. Ich wohne drüben auf der anderen Seite, auf Nordstrand. Ich weiß, was es heißt, die Stille hören zu können. Man kann es nicht beschreiben, man muss es erlebt haben.«

Große Jäger richtete sich wieder auf. Das missfiel dem Hund. Herr Lustig stupste ihn an das Knie und wollte den Oberkommissar damit auffordern, das Kraulen fortzusetzen.

»Du bist nicht von der Polizei«, stellte Yannick fest.

»Doch.«

»Nee. Du hast gar keine Uniform. Und keine Pistole.«

»Ich bin von der Kriminalpolizei. Und hier«, er zog seine Weste zurück und gab den Blick auf das Schulterhalfter frei, »ist meine Pistole.«

Yannick hielt sich die Hand vor den Mund. »Darf ich die mal haben?«, fragte er schüchtern.

»Das kommt nicht in Frage«, mischte sich sein Vater ein. »Du gehst jetzt am besten mit der Oma ins Haus.«

»Warum denn? Ich will sehen, was die machen.«

Frau Reimers nahm ihren Enkel an die Hand. »Komm, Yannick, wir machen Pfannkuchen.«

Doch der Junge sträubte sich. Erst mit »Nudeln und Tomatensoße« ließ er sich überreden. Das schien auch Herrn Lustigs Lieblingsgericht zu sein. Mit einem munteren Bellen lief der Hund voraus Richtung Wohnhaus.

»Wir sind so weit«, rief Hauptkommissar Jürgensen von der Plattform.

Die drei Männer machten sich auf den Weg. »Sie bleiben besser hier«, hielt Große Jäger den Landwirt davon ab, den Polizisten auf die Leiter zu folgen.

Der zweite Spurensicherer schoss noch schnell ein paar Fotos, bevor Jürgensen ein wenig zur Seite ging und den Blick freigab.

Ein unangenehmer Gestank drang aus dem Bullauge ins Freie. Große Jäger wies auf Jürgensens Mundschutz.

»Feigling!«

Der Hauptkommissar tippte sich an die Schläfe. »Irrtum, Intelligenz. Der kluge Mann baut vor. Darum haben wir in Flensburg auch eine Universität und ihr in Husum nicht.«

»Nicht erforderlich«, erwiderte Große Jäger. »Wir an der Westküste sind von Natur aus intelligent.«

Jürgensen angelte vorsichtig den Finger mit dem Ring heraus und besah ihn sich. Dann zog er eine Lupe hervor und betrachtete die offene Wunde. Große Jäger stieß Christoph an.

»Das hat er bei Sherlock Holmes gelernt. Jetzt fehlt nur noch die passende Mütze und der Umhang.«

»Die genaue Analyse bleibt dem Rechtsmediziner vorbehalten«, sagte der Flensburger und ging nicht auf die Frotzelei ein. »Ich würde aber als erste Vermutung behaupten, der Finger wurde nicht gesondert abgetrennt, also zum Beispiel mit einem Messer oder einem Skalpell, sondern wie bei einem Unfall abgerissen. Dafür sprechen das ungleichmäßige Muster und die ausgefransten Hautfetzen.« Während er den Finger weiter untersuchte, setzte er seine Erklärung fort.

»Alles spricht für deine Vermutung«, stimmte Christoph zu. »Da auch grobe Gewalttäter, die – aus welchem Grund auch immer – ihre Opfer verstümmeln, um beispielsweise bei einer Entführung Druck auszuüben, nicht so brutal vorgehen, sieht es zunächst wie ein Unfall aus.«

»Aber …«, warf Große Jäger ein.

Christoph kam ihm zuvor. »Das können wir jedoch ausschließen. Davon hätten wir Kenntnis erhalten.«

Große Jäger und Jürgensen nickten gleichzeitig. Alle drei sahen auf das Bullauge.

»Gut«, seufzte Jürgensen. »Ich spreche mit der Staatsanwaltschaft.« Er zeigte auf den Oberkommissar. »Und du erklärst es dem Bauern.«

Große Jäger grinste und streckte seinerseits den Zeigefinger in Christophs Richtung.

»Er.«

»Wir werden ein Foto vom Finger einschließlich Ring machen, sodass die Wunde nicht zu sehen ist«, erklärte Jürgensen.

»Das schickt ihr uns nach Husum.«

»Das könnt ihr gleich haben«, sagte der Flensburger. »Wir sind ja nicht von vorgestern. Ich schicke es dir aufs Handy.«

Erneut wies Große Jäger mit dem Zeigefinger auf Christoph.

»Zu ihm. Ich habe nur ein dreißig Jahre altes Klapphandy.«

»Das hast du wohl zur Konfirmation bekommen.«

»Bei uns heißt es ›Kommunion‹. Und die begehen wir im Allgemeinen in jüngeren Jahren als ihr nordischen Heidenchristen.« Ein drittes Mal zeigte Große Jäger auf Christoph. »Er hat ein Smartphone.«

Jürgensen schüttelte den Kopf. »Ist dein Finger noch zu anderem zu gebrauchen, als ständig auf Christoph zu zeigen?«

»Klar«, erklärte Große Jäger lachend. »Ich bohre damit in der Nase. Aber nur am Schreibtisch oder bei Verhören, wenn es länger als zwei Stunden dauert. Und natürlich jedes Mal, bevor ich dem Scheiß-Starke begegnet bin und ihm die Hand reichen musste«, ergänzte er leise.

Christoph verließ die Plattform am Fermenter und suchte auf dem Areal Reimer Reimers. Er fand den Hofbesitzer beim Bullenstall.

»Haben Sie etwas herausbekommen?«, fragte Reimers.

»Wir stehen erst am Anfang der Ermittlungen«, wich Christoph aus. »Es gibt ein kleines Problem.«

»Klein? Was denn?«

»Wir müssen den Behälter leeren.«

Reimers starrte ihn entsetzt an.

»Sie wollen – was?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Das geht nicht. Wissen Sie, wie viel Kubikmeter der Fermenter beinhaltet?«

»Ich bedaure, wenn wir Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten müssen. Aber wir werden mit der Staatsanwaltschaft sprechen.«

»Die können doch nicht Teile meines Betriebes lahmlegen«, protestierte Reimers. »Wissen Sie, was das kostet? Wer bezahlt mir den Ausfall?«

»Das wird die Staatsanwaltschaft mit Ihnen klären.«

Reimers schüttelte immer wieder den Kopf.

»Ich Rindvieh, ich Dussel. Hätte ich nichts gesagt, hätte das kein Schwein gemerkt.«

»Sie haben richtig gehandelt. Wir gehen davon aus, dass kein Unfall vorliegt.«

»Kein … Was soll das denn sonst sein? Ein übler Scherz?«

»Ich fürchte – nein! Niemand trennt einem Menschen einen Finger ab.«

Erst jetzt schien Reimers Christophs Andeutungen zu verstehen.

»Sie meinen doch nicht …?« Er brach mitten im Satz ab und schüttelte sich. »Das kann doch nicht sein. Aber wieso denn? Das geht doch nicht.« Die Fassungslosigkeit war ihm deutlich anzusehen. »Wir sind doch hier in Everschopkoog. Da kommt so etwas nicht vor. Doch nicht hier auf Eiderstedt. Bei uns in der Marsch. Hier leben doch nur friedliebende Menschen. Wir kennen uns doch alle. Nichts bleibt verborgen. Da kommt niemand auf die Idee, solchen Unfug zu betreiben. Nein! Das ist ein Ulk. Das ist gar kein richtiger Finger, sondern ein Scherzartikel. Sie wollen mich veräppeln.«

Christoph ließ dem Landwirt ein wenig Zeit.

»Bedauerlicherweise nicht.« Er zeigte auf den Fermenter. »Was passiert mit dem Inhalt des Fermenters?«

»Sie meinen mit dem Gärsubstrat?«

Reimers zeigte auf eine Leitung, die oben aus dem Fermenter herauskam und auf einer Art Stelzen zu einem runden Betonbehälter führte, der wie ein überdimensionaler Betonring aussah.

»Das ist das Endlager. Dorthin gelangt das vergorene Substrat. Der Wirtschaftsdünger. Das wird wieder aufs Feld gebracht. So schließt sich der Kreislauf.«

Christoph musterte den Behälter.

»Wie viel fasst der?«

»Etwa siebenhundert Kubikmeter.«

»Wie kann man den Fermenter entleeren?«

»Den kann man abpumpen. Das dauert ungefähr einen halben Tag.«

Christoph sah sich um. Damit war eine Reihe von Fragen verbunden. Wohin sollte man den Inhalt pumpen? Wie konnte man das Substrat kontrollieren? War ein Filtern möglich? Oder musste jeder Liter von einem Menschen akribisch untersucht werden? Welche Chance bestand, dass die Spurensicherung fündig würde? Er warf einen Blick auf Hauptkommissar Jürgensen, der immer noch auf der Plattform oben am Fermenter tätig war. Sein Mitarbeiter und Große Jäger verfolgten interessiert Jürgensens Vorgehen.

Christoph wurde durch sein Handy abgelenkt. Erneut meldete sich Hilke Hauck.

»Ich habe mich mit den Arztpraxen in Verbindung gesetzt. Nirgendwo ist ein Behandlungsfall aufgetreten, der unserem entsprach. Übrigens: Frau Krempl aus Garding lässt besonders herzliche Grüße an Wilderich ausrichten? Was hat das zu bedeuten?«

»Das sollte er dir selbst erzählen«, antwortete Christoph ausweichend.

Immer mehr verdichtete sich der Verdacht, dass hier etwas Ungewöhnliches geschehen war.

»Christoph«, hörte er Große Jäger rufen. »Klaus hat dir das Bild geschickt. Sieh mal nach, ob es geklappt hat.«

Christoph rief auf seinem Smartphone die Eingangsfunktion auf. Noch war nichts eingetroffen. Er musste eine Weile warten, bis das Foto zu sehen war. Jürgensens Mitarbeiter hatte es so geschickt bearbeitet, dass man nur den Finger und den Ring sah. Christoph hielt das Gerät Reimers hin.

»Erkennen Sie darauf etwas?«

Der Landwirt wandte den Kopf ab.

»Ich will das nicht sehen.«

»Es ist harmlos«, versicherte Christoph.

Nur zögerlich drehte Reimers den Kopf, warf einen kurzen Blick auf das Display und sagte: »Nee.«

Christoph hielt ihm das Smartphone direkt vor die Augen. »Sie haben gar nicht hingesehen.«

Der Landwirt musterte Christoph. Dann senkte er den Kopf und betrachtete das Bild. Christoph bemerkte, wie der Adamsapfel dabei auf und ab hüpfte. Der Mann war extrem angespannt. Dann sah er Christoph in die Augen, blickte an ihm vorbei, um plötzlich Christophs Hand zu packen.

»Zeigen Sie es noch mal.« Jetzt besah sich Reimers den Finger länger. »Nein. Kenn ich nicht«, schloss er die Begutachtung ab.

Sie wurden durch Frau Reimers abgelenkt, die aus dem Haus zurückgekehrt war.

»Mama, komm mal«, forderte Reimers seine Mutter auf, bevor Christoph reagieren konnte. »Kennst du den?«

Vorsichtig näherte sich die Frau, rückte ihre Brille zurecht und sah Christoph fragend an. Erst als der ihr das Smartphone entgegenstreckte, beugte sie sich über das Gerät.

»Das hier?« Sie ließ sich Zeit. »Was ist das?«

Reimers wollte antworten, aber Christoph bedeutete ihm, zu schweigen.