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Sabine Ludwig

Am Ende der Treppe, hinter der Tür

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Sabine Ludwig

Sabine Ludwig arbeitet seit Jahren außerordentlich erfolgreich als Autorin und Übersetzerin und wurde als «Lesekünstlerin des Jahres 2010» ausgezeichnet. Ihr erstes Jugendbuch «Painting Marlene» erschien ebenfalls bei rotfuchs. Sabine Ludwig lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Über dieses Buch

Wie erpresst man einen Mörder, den man nicht gesehen hat?

Die 16-jährige Martha ist zufällig Ohrenzeugin des Mordes an ihrer Nachbarin geworden. Nun beschließt sie, dieses Wissen für sich zu nutzen. Denn sie braucht Geld. Damit sie endlich mit ihrer Mutter in eine eigene Wohnung ziehen kann. Und damit sie sich nicht mehr mit diesem Glatzkopf und seiner nervigen kleinen Tochter Poppy rumärgern muss. Gemeinsam mit ihrer Freundin Jill entwickelt Martha einen raffinierten Plan ... doch dann begeht sie einen entscheidenden Fehler.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Lektorat Christiane Steen

Umschlaggestaltung yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem

(Abbildung: Arcangel)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-21675-6 (1. Auflage 2013)

ISBN E-Book 978-3-644-51371-6

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-51371-6

Prolog

Sie weiß, dass sie sterben wird. Es ist nur noch eine Frage von Minuten. Sie hat nie über den Tod nachgedacht, schon gar nicht über ihren eigenen. Und dabei ist sie bereits mit dem Tod in Berührung gekommen. Mit dem Tod ihres Vaters. Doch das war eher ein Hinübergleiten vom Sein in das Nichtsein gewesen, kein abruptes Ende. Er war von Tag zu Tag weniger geworden, hatte erst aufgehört zu sprechen, dann zu atmen. Und dieses Verlöschen hatte sie fast als Erlösung empfunden.

Ihr Tod wird sie nicht erlösen, er wird sie gewaltsam allem entreißen, was ihr wichtig ist – und er wird weh tun, schrecklich weh tun!

Sie spürt, wie ihr die Tränen übers Gesicht laufen, und will die Hand heben, um sie abzuwischen, doch ein scharfer Schmerz in ihrem Arm hindert sie daran. Die Tränen fließen ungehindert und vermischen sich mit Rotz. Sie zieht die Nase hoch, doch das hilft nichts. Sie schluchzt laut, heult wie ein kleines Kind, das hingefallen ist und versucht, mit seinem Weinen die Mutter herbeizurufen. Aber ihre Mutter wird nicht kommen. Niemand wird kommen. Niemand kann ihr helfen.

Sie war so dumm. Hatte geglaubt, es mit einem Mörder aufnehmen zu können. Sich überlegen und stark gefühlt. Und jetzt hockt sie hier, in diesem finsteren Loch. Es stinkt nach Fäulnis und Moder und nach etwas anderem. Nach Angst. Es ist ihre eigene Angst, die sie riecht.

Ihr Herz schlägt schnell und laut in einem unheimlichen Takt … nein, es ist gar nicht ihr Herz, es sind Schritte auf der Treppe. Er kommt zurück. Er wird sein Werk vollenden.

1.

Wen sollst du abholen?», fragt Jill und schnipst die Asche von ihrer Zigarette.

«Penelope», sagt Martha.

«Ist das ein Hund?»

«Schön wär’s.» Martha klappt ihr Handy zu und steckt es ein. Hätte sie es doch bloß zu Hause gelassen.

Zu Hause? Großartiger Witz. Nur dass ihr überhaupt nicht zum Lachen zumute ist.

Jill bläst Rauchkringel in die Luft. «Sag nicht, das ist die Tochter von dem Typen deiner Mutter?»

Martha nickt.

Jill lacht laut. «Wenn ich mir vorstelle, wie der auf dem Spielplatz ruft: ‹Penelope, du Sau, komm ma raus aus die olle Buddelkiste!› Zum Brüllen.»

«Der ist kein Proll», sagt Martha.

«Stimmt ja, Arzt, oder? Hat der irgendwo ’ne Praxis?»

Martha schüttelt den Kopf. «Krankenhaus.»

Jill hat das Interesse an Marthas neuen Familienverhältnissen wieder verloren. Sie zeigt auf Hanna, die gerade auf mörderisch hohen Absätzen herangestöckelt kommt. «Musst ja eine schlimme Nacht gehabt haben», sagt Jill zu ihr.

«Ich? Wie kommst du denn darauf?», fragt Hanna.

«Na, du hast doch bestimmt mit Lockenwicklern geschlafen.»

Hanna schüttelt ihre krause Mähne. «Von wegen Lockenwickler. Meine Mutter hat mir lauter kleine Zöpfe geflochten. Sieht cool aus, oder?»

«Hm», macht Jill vage und zwinkert Martha zu. Hanna hat einen Haarfimmel, sie ist nur glücklich, wenn sie jeden Tag mit einer anderen albernen Frisur auflaufen kann.

«Macht aber verdammt viel Arbeit. Ich wünsch mir zum Geburtstag ein Kreppeisen, das ist einfacher», sagt Hanna und wickelt eine Strähne um ihren Finger.

Jill geht um Hanna herum. «Hinten baumelt noch ein Zopf, den hast du vergessen. Sieht aus wie eine Zündschnur.»

«Was?», kreischt Hanna. «Kannst du den aufmachen?»

«Das mach mal schön selbst», sagt Jill und nimmt einen Zug von ihrer Zigarette.

Hanna stakst eilig davon, um sich vor Unterrichtsbeginn auf dem Klo zurechtzumachen, und Jill und Martha lachen ihr hinterher.

«Meine Mutter würde mir was erzählen, wenn ich sie bitten würde, mir tausend kleine Zöpfchen in die Haare zu flechten», sagt Martha und fährt sich durch ihre dichten dunklen Locken.

«Du hast das ja auch nicht nötig», sagt Jill.

Sie streicht ihre glatten blonden Haare hinters Ohr und hält Martha auffordernd die Zigarettenschachtel hin. «Du auch?» Aber sie schaut Martha nicht an dabei, sondern Simon, der gerade um die Ecke biegt.

Anscheinend hat er sich die ersten beiden Stunden geschenkt, wie so oft. Er sieht aus, als würde er geradewegs aus dem Bett kommen, aber Martha ist sicher, dass er sich viel Mühe gibt, um diesen Eindruck zu erwecken. Er schnappt sich die Zigarette, bevor Martha sie nehmen kann.

«’tschuldigung, hatte noch kein Frühstück.»

«Seit wann bist du Existenzialist?», fragt Jill.

«Häh?» Simon lässt sein Feuerzeug schnappen.

«Noch nie von Jean-Paul Sartre gehört? Paris? Sechziger Jahre? Schwarze Rollkragenpullover?»

«Du sprechen irr», nuschelt Simon mit der Zigarette im Mundwinkel.

Jill stößt ein verächtliches Schnauben aus. «Deren Frühstück bestand aus einem doppelten Espresso und einer Gauloise.»

«Lecker», sagt Martha. Sie hat auch noch nichts von diesem Sartre gehört, aber das würde sie nie zugeben. Jill nimmt an der Französisch-AG teil, bestimmt hatten sie den Kerl da gerade am Wickel, aber wenn man sie so hört, könnte man meinen, dass sie mindestens zehn Bücher von dem gelesen hat.

Jill wendet sich Martha zu. «Huis clos? Kennst du doch, oder?»

Martha wird einer Antwort enthoben, denn ein Motorrad donnert die Straße entlang und hält direkt vor ihnen an.

Marthas Herz klopft bis zum Hals. Der Fahrer steigt ab, bockt die Maschine auf und nimmt den Helm ab. Blonde Locken quellen hervor. Er streicht sie aus der Stirn.

Martha kann nicht anders, sie muss ihn anstarren, den Mann, der jetzt mit federnden Schritten auf sie zukommt. Es ist Alexander Miller, ihr Englischlehrer.

Er lächelt Martha an. Na ja, um ehrlich zu sein, nicht nur sie, sein Lächeln schließt auch Jill und Simon mit ein.

«Wenn ich euch sehe, weiß ich sofort, dass ich in Berlin bin und nicht in New York», sagt er.

«Weil wir so sensationell gut aussehen?», fragt Jill.

Miller grinst. «Nein, weil ihr raucht. In New York raucht kein Mensch mehr.»

«Nicht mal im Freien?»

«Ihr findet eher einen 100-Dollar-Schein auf der Straße als eine Kippe.»

«Krass», sagt Simon.

«See you!» Miller hebt grüßend die Hand und eilt über den Hof.

«Kann mir mal einer verraten, wie man eine Highschool in New York gegen diese Klitsche hier eintauschen kann?», sagt Jill und sieht Miller hinterher.

«Er hat doch erzählt, dass seine Mutter hier lebt, um die er sich kümmern muss», sagt Martha. «In seiner ersten Stunde bei uns.»

Jill zieht eine Augenbraue hoch. «Das hast du dir natürlich gemerkt, wie jedes Wort von ihm, stimmt’s?»

Martha spürt, wie ihr heiß wird. Bestimmt bekommt sie wieder die verräterischen roten Flecken am Hals. Sie zieht den Reißverschluss ihrer Jacke bis oben hoch.

«Mein Typ wär der nicht, viel zu soft», sagt Jill.

«Und was ist mit mir?» Simon nimmt die Positur eines Bodybuilders ein, was bei seinem Schlabberpulli und den ausgebeulten Jeans etwas albern aussieht.

Jill boxt ihn in den Bauch. «Um bei mir zum Zug zu kommen, reichen Muskeln nicht aus.» Sie tippt sich an die Stirn. «Sex findet im Kopf statt.»

Die Schulklingel schrillt.

 

Nach Unterrichtsende gibt es für Martha keinen Grund, sich noch länger in der Schule aufzuhalten. Miller ist längst weg. Donnerstags hat er nur die dritte und vierte Stunde bei denen aus der Siebten. Sie kennt seinen Stundeplan fast besser als ihren.

Als sie über den Hof kommt, schaut sie trotzdem, ob sein Motorrad noch da steht. Natürlich nicht. Und wieder fragt sie sich, was er wohl macht, wenn er nicht an der Schule ist. Wo und wie er lebt. Ob er vielleicht eine Freundin hat. Bei diesem Gedanken wird ihr jedes Mal ganz anders, aber sie tröstet sich damit, dass er ja erst seit wenigen Wochen in Berlin ist, wo soll er da so schnell eine Freundin gefunden haben.

Martha schaut auf die Uhr. Sie soll Penelope spätestens um halb vier abholen. Jetzt ist es Viertel vor zwei. Der Kindergarten befindet sich auf ihrem Nachhauseweg, sie könnte die Kleine auch jetzt schon einsacken, aber sie wird den Teufel tun.

«Hast du Lust, noch kurz mit mir ins Engelmann zu gehen?», fragt sie Jill.

«Nee, ich hab um drei Ballett und will vorher nach Hause.» Sie grinst Martha an. «Muss mir die Zähne putzen. Wenn Madame Olga riecht, dass ich geraucht hab, bringt sie mich um. Einmal hat sie sogar in der Garderobe an meiner Jacke geschnüffelt.» Jill ahmt gekonnt den russischen Akzent nach. «Jiiihl, wenn du willst haben Errfolck, du musst haben Dissziplin.»

«Warum machst du es dann, wenn’s so schrecklich ist?», fragt Martha.

«Wenn ich mich an der Schauspielschule bewerbe, bin ich auf jeden Fall im Vorteil, wenn ich jahrelang Ballett gemacht habe. Und man bekommt eine gute Haltung.» Jill stellt sich auf die Zehenspitzen und hebt die Arme über den Kopf. Dann dreht sie sich einmal um sich selbst. Martha muss zugeben, dass das sehr elegant aussieht, und nicht zum ersten Mal fragt sie sich, wie Jill das alles schafft: Ballett, die Französisch- und Theater-AG, im Schulchor ist sie auch noch, und am Wochenende geht sie joggen oder schwimmen, und trotzdem ist sie Einserschülerin. Jedenfalls seit sie auf dem Gymnasium ist. Martha ist mit Jill schon auf die Grundschule gegangen, und damals war es Jill, die immer von Martha abgeschrieben hat.

Das einzige Fach, in dem Martha immer noch eine Eins hat, ist Kunst. In allen anderen Fächern quält sie sich mehr oder weniger herum, am schlimmsten ist Mathe.

«Dann tschüs, meine Liebe, und viel Spaß mit Pe-ne-lo-pee!»

«Man spricht den Namen englisch aus», sagt Martha. «Ihre Mutter war Amerikanerin. Aber sie wird sowieso meistens Poppy genannt.»

«Danke für die Information», sagt Jill spöttisch und bückt sich, um ihr Rad aufzuschließen, das sie am Zaun direkt unter dem Schild Fahrräder anschließen verboten! geparkt hat.

Martha läuft langsam die Straße entlang und überlegt, ob sie allein ins Engelmann gehen sollte, aber sie hat nur noch zwei Euro. Natürlich könnte sie einen Espresso nehmen, aber erstens mag sie den bitteren Geschmack nicht, und zweitens kann sie sich daran ja wohl kaum eine Stunde lang festhalten. Sie könnte auch erst nach Hause gehen und Penelope später abholen, aber vielleicht ist die Glatze da und schläft.

Martha nennt Johannes, den Freund ihrer Mutter, nur die Glatze. Ihr ist nicht ganz klar, ob er wirklich so wenig Haare hat oder ob es nur so aussieht, weil er sie sich immer abrasiert. So genau will sie da gar nicht hingucken.

«Du scheinst es ja nicht sehr eilig zu haben», sagt eine Stimme hinter ihr. Martha dreht sich nicht um. Es ist Vincent. Der hat ihr zu ihrem Glück noch gefehlt.

Jetzt läuft er neben ihr her. «Ich lad dich ins Engelmann ein. Was darf’s denn sein? Latte macchiato? Heiße Schokolade? Kamillentee?»

Martha schüttelt dreimal hintereinander den Kopf.

«Champagner?»

Gegen ihren Willen muss sie lachen. Sie überlegt kurz. Warum soll sie sich eigentlich nicht von Vincent einladen lassen? Aber das könnte er als Ermutigung auffassen. Jeder in der Klasse weiß, dass er in sie verknallt ist. Er gibt sich auch gar keine Mühe, das zu verbergen. Dummerweise erwidert sie seine Gefühle nicht, schon gar nicht, seit Alexander Miller in ihr Leben getreten ist. Hilfe, wie klingt das denn? In ihr Leben getreten!

«Hey, träumst du?»

Vincent wedelt mit der Hand vor ihren Augen herum. So übel sieht er gar nicht aus, mal abgesehen davon, dass er nicht viel größer ist als sie und Sommersprossen hat. Sommersprossen bei einem Jungen gehen gar nicht!

«Und wie ich träume», sagt sie. «Von der Mathearbeit nächste Woche.»

«Wenn du willst, üben wir zusammen», schlägt Vincent vor.

«Danke, das schaff ich schon», sagt Martha unfreundlicher als beabsichtigt. «Und jetzt muss ich los, bin eh schon spät dran. Mach’s gut.»

«Du auch!», ruft Vincent ihr hinterher.

Ins Engelmann an der Ecke kann sie nun nicht mehr gehen, denn Vincent schaut ihr sicher nach. Dann holt sie den Quälgeist eben jetzt schon ab und parkt ihn zu Hause vor der Glotze.

Sie schaut hoch zum Himmel. Es sieht schon wieder nach Regen aus. Dieser Sommer ist eine einzige Katastrophe. Aber sie hätte eh nichts von schönem Wetter gehabt. Die Ferien sind komplett für das Ausräumen ihrer alten Wohnung und den Umzug draufgegangen.

Martha könnte die eine Station zu Fuß gehen, es sind höchstens fünfzehn Minuten, aber sie nimmt die U-Bahn. Es ist, als wollte sie die Distanz zwischen ihrem alten und dem neuen Zuhause unbewusst vergrößern.

Bis zu den Sommerferien hat Martha mit ihrer Mutter in der Nähe der Schule gewohnt, in einer der engen Straßen mit den hohen Bäumen und den alten Gründerzeithäusern hinter gepflegten Vorgärten. Gut, ihre Wohnung war nicht besonders schön und nicht besonders groß gewesen, aber diese Gegend ist ihre Heimat, hier ist Martha aufgewachsen, in einer alten Klinkervilla war ihr Kindergarten. Sie ist hier in die Grundschule gegangen und schließlich in das Gymnasium gleich daneben.

Die neue Wohnung befindet sich auf der anderen Seite der S-Bahn, und obwohl die Luftlinie kaum einen Kilometer beträgt, liegen doch Welten zwischen Schöneberg und Wilmersdorf.

Wie spießig hier alles ist, denkt Martha, als sie aus dem U-Bahnhof kommt. Es gibt keine Bäckerei, keinen Zeitungsladen, keinen Gemüsehändler, stattdessen Physiotherapiestudios, Versicherungsbüros und Sozialstationen.

Als Martha mit ihrer Mutter das erste Mal die neue Wohnung angeschaut hatte, wollte die ihr die Gegend schmackhaft machen, indem sie auf den Volkspark hinwies, der direkt vor der Tür liegt. Martha interessiert sich nicht für Parks, das ist nur was für Jogger oder Mütter mit kleinen Kindern. Hoffentlich kommt Poppy nicht auf die Idee, dass Martha mit ihr auf den Spielplatz gehen soll. Sie hasst Spielplätze!

Martha biegt in die Straße ein, in der sich der Kindergarten befindet. Ein moderner Zweckbau, an den Scheiben hängen Papierdrachen mit dümmlich lachenden Gesichtern, die aussehen, als hingen sie schon seit Jahren dort, so verblichen sind sie.

Bisher kennt Martha den Kindergarten nur von außen. Sie hat ihre Mutter ein paarmal begleitet, wenn die Poppy abgeholt hatte. Mit reingegangen ist sie nie. Reicht ja wohl, wenn ihre Mutter sich zum Affen macht. Wahrscheinlich hat die Glatze sie auch nur bei sich aufgenommen, damit er ein Kindermädchen für sein verzogenes Gör hat. Nein, zwei Kindermädchen. Wie oft hat Martha in den letzten Wochen abends babysitten müssen, wenn ihre Mutter mit der Glatze ins Kino gegangen war oder ins Restaurant. Um gerecht zu sein, muss sie zugeben, dass Johannes ihr dann am nächsten Tag immer 20 Euro zugesteckt hat. Ihre Mutter darf davon nichts wissen. «Fehlt noch, dass du Geld dafür nimmst, du bist ja sowieso zu Hause», hatte sie gesagt. Die hat ja keine Ahnung, wie anstrengend das kleine Monster ist, wenn ihr Vater nicht da ist. Kriecht ständig aus dem Bett, will was zu trinken, eine Geschichte hören oder hat schlecht geträumt …

An der gläsernen Eingangstür zur Kita klebt ein Zettel: Achtung Läusealarm! Irgendein Scherzkeks hat ein paar dämlich grinsende Läuse dazugemalt. Sehr witzig. Martha fährt sich unwillkürlich an den Kopf und kratzt sich. Immerhin hat sie jetzt eine prima Ausrede, um sich die Kleine vom Leib zu halten.

Sie hat kaum zwei Schritte in den Flur gemacht, da saust Poppy auch schon auf sie zu. «Maahta! Maahta!», ruft sie begeistert. «Holst du mich ab?»

«Sieht so aus», brummt Martha und hält Poppy an den Handgelenken fest. «Komm mir nicht zu nahe, ich will deine Läuse nicht.»

Poppy schüttelt den Kopf, dass ihre dünnen Zöpfchen fliegen. «Hab keine. Laura hat welche und Adrian und –»

«Wer sind denn Sie?», fragt eine ältere Frau mit weißer Schürze und grauer Ponyfrisur und sieht Martha nicht sehr freundlich an.

«Das ist Maahta, meine neue Schwester», sagt Poppy stolz, dann steckt sie den Daumen in den Mund und sieht sehr zufrieden aus. Die Frau mit der Schürze hebt den Finger. «Aber, aber, so ein großes Mädchen nuckelt nicht am Daumen.»

Poppy zieht den Daumen aus dem Mund, betrachtet ihn nachdenklich, sagt «Doch» und steckt ihn wieder rein.

Jetzt eilt eine dicke Frau auf sie zu und schwenkt ein Stofftier in der Hand. Martha starrt sie an. Wie kann man nur so fett sein? Dabei ist die bestimmt erst Mitte zwanzig. Beim Laufen reiben ihre Oberschenkel aneinander. Aber sie strahlt Martha an, als ob sie die besten Freundinnen wären.

«Du bist Martha, stimmt’s? Deine Mutter hat angerufen und gesagt, dass du Penelope heute abholst. Die freut sich schon den ganzen Tag darauf.»

Ich nicht!, hätte Martha am liebsten gesagt.

Dann drückt sie Poppy einen Fisch aus abgewetztem Plüsch in den Arm, der irgendwann einmal grün gewesen sein muss. «Guck mal, du hättest beinah Flossy vergessen, der wär bestimmt ganz traurig gewesen, wenn er heute Nacht nicht bei dir hätte schlafen können.»

«Ich auch», sagt Poppy und presst das räudige Teil mit verzückter Miene an sich. «Aber dann wär ich zu Maahta ins Bett gegangen.»

«Bloß nicht!», ruft Martha, und als sie die entsetzte Miene der Dicken sieht, fügt sie schnell hinzu: «Ich meine, wo hier doch alle Läuse haben.»

«Nicht alle. Läuse haben nur die Kinder aus der Marienkäfergruppe.»

«Und ich bin bei den Fliegenpilzen!», sagt Poppy stolz. «Die haben auch Pünktchen, aber die sind giftig.»

Passt ja, denkt Martha, aber sie sagt es nicht, sondern nimmt Poppys Jacke vom Haken und sucht unter der Bank nach ihren Schuhen.

 

Auf der Straße greift Poppy sofort nach Marthas Hand. Ihr erster Impuls ist, die klebrige Pfote abzuschütteln. Aber nachher kommt das Biest noch auf die Idee, auf die Straße und vor ein Auto zu laufen. Dieses Kind ist unberechenbar. Die Glatze erzählt immer, wie Penelope im Winter das erste Mal an der Ostsee gewesen war und sich, kaum angekommen, voll Begeisterung ins Meer gestürzt hat. Im Mantel mit Pudelmütze auf dem Kopf. Damals war sie drei. Aber jetzt mit fast fünf ist sie nicht viel besser.

«Du bist doch meine Schwester?», fragt Poppy und blickt erwartungsvoll zu Martha hoch. Aus ihrer Nase läuft Rotz, an ihrer Backe kleben Reste von irgendeinem Brei. Martha schaut schnell weg.

«Nein, bin ich nicht. Meine Mutter ist nicht deine Mutter.»

«Meine Mama ist tot.» Poppy sagt das ohne jede Spur von Bedauern. Dann scheint sie zu überlegen. «Und dein Papa ist auch tot.»

Martha spürt, wie ihr sofort die Tränen in die Augen stiegen. Das ist wie ein Reflex, selbst nach zwei Jahren. Sie muss nur hören, wie irgendjemand Papa sagt, und schon bekommt sie einen Kloß im Hals. Warum kann dieses Kind nicht einfach mal die Klappe halten?

Aber Penelope plappert fröhlich weiter. «Und jetzt ist deine Mama meine Mama und mein Papa dein Papa und du –» sie stößt einen triumphierenden Juchzer aus, «– du bist meine Schwester!»

Martha bleibt abrupt stehen und quetscht Poppys Finger, sodass es ihr selbst weh tut.

«Meine Mutter wird niemals deine Mama sein und dein Vater niemals mein Papa, kapiert?» Jetzt schüttelt sie Poppys Hand, als wolle sie ein ekliges Insekt loswerden. «Du-bist-nicht-meine-Schwester!» Sie legt die Betonung auf jedes einzelne Wort.

Penelope schaut Martha mit großen Augen an. Jetzt fängt sie bestimmt gleich an zu heulen. Doch es kullern keine Tränen. Statt zu weinen, lacht dieses Scheusal, es lacht sie einfach aus.

«Ich weiß es aber!»

Martha geht schneller. Penelope muss immer zwei Schritte auf einmal machen, aber das scheint sie nicht zu stören, wie ein Gummiball hüpft sie neben Martha her und erzählt irgendeinen langweiligen Quark aus dem Kindergarten. Martha kann kaum was verstehen, weil Poppy immer noch den Daumen im Mund hat.

An der Straßenecke, wo es nach rechts zu ihrem Haus und nach links in den Park geht, zieht Poppy den Daumen aus dem Mund. «Spielplatz.»

«Willst du nicht lieber einen lustigen Film gucken?»

Poppy schüttelt den Kopf. «Spielplatz.»

«Es regnet gleich», sagt Martha.

«Spielplatz!», wiederholt Poppy und zerrt an Marthas Hand.

Sie laufen die kopfsteingepflasterte Straße hinunter, die in den Park führt. Hier gibt es zwei Spielplätze. Einen großen mit Seilbahn, Riesenrutsche und mehreren Schaukeln, aber zu dem gelangt man nur über eine Brücke, die über die vielbefahrene Bundesallee führt. Poppy zieht Martha zu dem kleineren, der ein wenig versteckt zwischen Büschen und Bäumen liegt.

Dort verschwindet sie sofort in der großen Lokomotive aus Holz. Wenigstens verlangt sie nicht, dass Martha mit ihr in der Sandkiste herumwühlt und alberne Kuchen backt.

Martha setzt sich auf eine Bank, holt eine Glamour aus ihrer Schultasche und blättert sie durch. Die Mode interessiert sie nicht, die Sachen sind erstens unbezahlbar und zweitens nur was für Dünne. Sie liest zuerst das Horoskop. Es gibt jemanden, der Ihnen sehr zugetan ist, sich aber nicht traut, Ihnen seine Gefühle zu gestehen.

Martha muss unwillkürlich lächeln. Miller?

Als Nächstes kommt der Test dran.

Woran erkenne ich, dass er in mich verliebt ist?

Sie zieht einen Bleistift aus dem Rucksack und gibt sich Mühe, die Fragen so ehrlich wie möglich zu beantworten. Die letzte lautet:

Wie reagiert er, wenn Sie ihm zufällig begegnen:

  1. mit Verlegenheit

  2. mit einem lockeren Spruch

  3. mit einem betont gleichgültigen Blick

Martha kaut auf ihrem Stift herum. Eigentlich passen b und c, aber sie darf nur eine Möglichkeit ankreuzen. Sie entscheidet sich für b. Damit hat sie die meisten Punkte in der Kategorie: Er mag Sie, aber er ist nicht in Sie verliebt.

Verärgert schlägt sie die Zeitschrift zu. So ein Schwachsinn!

Nun fängt es auch noch an zu regnen.

Sie erhebt sich. «Penelope? Poppy, komm raus!»

Nichts rührt sich. Martha stapft durch den Sand zu der Lokomotive. Sie ist leer. Wo hat sich das Biest nur versteckt? Martha sieht sich um.

Mütter sammeln eilig Buddelzeug und Kinder ein. Von Poppy keine Spur.

Zur Rechten führt ein Trampelpfad durch das Gebüsch und auf die Rückseite vom Klohaus. Ob Poppy auf die Toilette gegangen ist? Sie muss ständig pinkeln. Oft genug macht sie auch in die Hose. Oder ins Bett.

Martha geht um das Klohaus herum. Auf einem Abfalleimer sitzt eine fette Krähe und pickt Teile einer schon schimmeligen Pizza aus einem Karton. Sie guckt kurz hoch und frisst weiter. Martha wird ganz übel bei dem Anblick. Sie reißt die Tür zur Damentoilette auf. «Poppy? Bist du da?»

Die beiden Kabinen sind leer. Plötzlich überfällt sie Panik. Wie lange hat sie die Kleine aus den Augen gelassen? Doch höchstens ein paar Minuten. Sie läuft aus der Toilette und sieht sich verzweifelt um.

Da geht die Tür unter dem Schild Herren auf, und ein Mann kommt heraus. Mit Poppy an der Hand!

Martha stürzt auf ihn zu und reißt ihm Poppy weg. «Was haben Sie mit ihr gemacht? Sie Schwein!»

Ein zweites kleines Mädchen erscheint und starrt Martha mit offenem Mund an.

Der Mann hebt abwehrend die Hände. «Nun mal langsam. Meine Tochter musste mal und –»

«Ich auch!», sagt Poppy. «Außerdem ist Flossy in den Sand gefallen. Den musste ich waschen.» Sie steckt ihr den völlig durchweichten Fisch hin.

«Sie können doch nicht einfach ein fremdes Mädchen mit aufs Klo nehmen!», sagt Martha und hält Poppy am Arm fest.

Der Mann sieht Martha mit hochgezogenen Brauen an. «Penelope ist kein fremdes Mädchen, sie geht zusammen mit Leonie in den Kindergarten. Und du warst ja anscheinend zu beschäftigt, um dich um sie zu kümmern.»

Martha antwortet nicht, sie dreht sich um und zerrt Poppy unsanft hinter sich her. «Du darfst nicht einfach mit irgendwelchen Männern mitgehen, hörst du!»

«Aber das ist doch der Papa von Leonie», sagt Poppy und stopft sich den Daumen in den Mund.

«Trotzdem.»

«Papa hat gesagt, ich darf nur nich mit Leuten gehen, die ich nich kenne», nuschelt sie. «Und den Papa von Leonie kenn ich. Wenn einer kommt, den ich nich kenne, und der will mich klauen, schreie ich ganz laut.» Sie nickt bekräftigend mit dem Kopf.

«Schreien kannst du ja auch am besten!»

Martha ist so wütend, dass sie die Kleine am liebsten schlagen würde. Dabei weiß sie gar nicht, was sie eigentlich so wütend macht. Hat sie etwa Angst gehabt? Angst um die Nervensäge? Ach was, von ihr aus kann die mit hundert fremden Männern mitgehen. Hauptsache, niemand macht Martha dafür verantwortlich.

Der Regen wird stärker. Unsanft stülpt sie Poppy die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf, sodass die nichts mehr sieht.

Martha hat keine Kapuze, keinen Schirm. Morgen werden ihre Haare wieder aussehen wie explodiert. Und an allem ist nur dieses Monster schuld!

2.

Das Haus, in dem Martha seit vier Wochen wohnt, ist hässlich. Von außen jedenfalls. Es sieht aus wie in der Mitte durchgeschnitten. Die fehlende Hälfte ist durch einen sechsstöckigen Neubau ersetzt. Die Glatze hat erzählt, dass in den letzten Kriegstagen eine Bombe das Haus zerstört hat. Das Treppenhaus im Innern zeugt noch von der hochherrschaftlichen Vergangenheit, aber es gibt auf jeder Etage nur eine Wohnung.

Als Martha die Eingangstür aufschließen will, wird die im gleichen Moment von innen geöffnet, und vor ihnen steht eine untersetzte ältere Frau mit kurzen orangeroten Haaren in einem lilafarbenen sackartigen Gewand, die umständlich mit einem Regenschirm hantiert. Martha hält ihr die Tür auf.

«Hallo, Frau Dernburg!», ruft Poppy begeistert, aber die Frau nickt nur geistesabwesend und eilt die Straße entlang. Wenigstens Danke hätte sie ja sagen können.

Frau Dernburg wohnt im vierten Stock, direkt über ihnen. Martha weiß nur, dass sie Psychologin ist und früher in ihrer Wohnung irgendwelche Urschrei-Therapien durchgeführt hatte. Das hat die Glatze mal erzählt. Nachdem die Nachbarn mehrmals die Polizei alarmiert hatten, weil sie dachten, es würde gerade jemand ermordet, hatte sie sich Praxisräume angemietet und lässt die Leute dort herumbrüllen.

«Wahrscheinlich in irgendeinem schalldichten Keller», hatte Johannes gesagt und auch sonst deutlich gezeigt, was er von der Dame hielt. «Psychologie ist keine Wissenschaft», sagt er immer.

Seit sie bei ihm leben, sind auch sämtliche homöopathischen Arzneimittelchen und Bachblütentropfen aus dem Badezimmer verschwunden, auf die Constanze, Marthas Mutter, bisher so geschworen hat.

Endlich lässt Poppy Marthas Hand los und stürmt die Treppe hoch. Martha geht langsam, sehr langsam, hinterher. Durch den Flur wabert noch das Parfüm von Frau Dernburg, eine widerliche Mischung zwischen Weihrauch und Kloreiniger. Im dritten Stock sitzt Poppy vor der Wohnungstür und zieht sich die Schuhe aus.

Wiebrecht steht in großen blauen Buchstaben auf einem roten Schild, darunter klebt ein Zettel, auf dem mit Kuli gekritzelt Altenbourg steht.

Martha würde den Zettel am liebsten abreißen.

«Was spielen wir?», fragt Poppy und drückt Martha ihre Schuhe in die Hand. «Memory oder Mensch-ärgere-dich-nicht oder –»

«Wir spielen gar nichts», sagt Martha und schließt die Tür auf.

Als die Möbelpacker die paar Sachen von Martha und ihrer Mutter in die Wohnung schleppten, hatte einer beim Anblick des Flurs gesagt: «Janz schön bunt hier.»

Die Wände sind in einem leuchtenden Türkis gestrichen, die sich anschließende offene Küche in Orange. Poppys Zimmer ist natürlich ganz in Pink, und im Schlafzimmer, das ihre Mutter mit der Glatze teilt, fühlt man sich durch das dunkle Flaschengrün wie unter Wasser. Nur das Wohnzimmer ist in einem hellen Grau gehalten. Die ungewöhnliche Farbgestaltung ist das Werk von Johannes’ verstorbener Frau. Auch das riesige Aquarium, das zwischen den Türen von Bad und Gästetoilette steht, gehörte ihr. Außer ein paar Wasserpflanzen bewegt sich allerdings nichts darin.

«Die sind alle auf einen Schlag gestorben, nachdem es passiert ist», hat Johannes erzählt, als Martha nach den Fischen gefragt hatte. «Und Poppy will keine neuen.»

Mit «es» meint Johannes den Unfalltod seiner Frau. Sie war beim Radfahren von einem rechts abbiegenden Lkw übersehen und überrollt worden. Poppy hatte angeschnallt hinter ihr auf dem Fahrradsitz gesessen. Wie durch ein Wunder war sie unverletzt geblieben.

Poppy zieht die Schachtel mit dem Memory aus dem Regal und schleppt sie ins Wohnzimmer.

Martha folgt ihr. «Ich kann nicht mit dir spielen, ich muss ganz viel für die Schule machen.» Das ist noch nicht mal gelogen. «Du darfst fernsehen.»

«Du musst aber mitgucken.»

«Sag mal, kapierst du’s nicht?» Martha reißt Poppy die Jacke von den Schultern. «Ich hab zu tun!»

«Aber Papa sagt immer, ich darf nicht alleine gucken.»

«Benjamin Blümchen darfst du bestimmt allein gucken, das hast du schon tausendmal gesehen.»

Martha wirft Poppys Jacke achtlos auf einen Sessel – fehlt noch, dass sie deren Klamotten wegräumt –, dann legt sie eine DVD in den Player ein. Sie drückt auf Start und geht ohne ein weiteres Wort in ihr Zimmer.

Am liebsten möchte sie vor Wut irgendetwas zerschlagen, stattdessen stellt sie sich ans Fenster. Noch hat die Birke im Hof grüne Blätter, bald werden sie sich verfärben. Der moosige Stamm ist von Efeu überwuchert. Es sieht schön aus. Aber Martha will nichts schön finden, schon gar nicht dieses Zimmer. Es ist kleiner als ihr altes, aber ruhiger. Einmal ist sie morgens vom Gurren eines Waldtaubenpärchens aufgewacht und wusste erst nicht, wo sie war. In der alten Wohnung hatte sie zwar auch das Zimmer zum Hof gehabt, aber es war viel dunkler gewesen, das Fensterbrett verkrustet vom Dreck der Stadttauben.

Wenn Martha ehrlich ist, will sie auch gar nicht mehr zurück in die Wohnung, in der am Ende alles nach Krankheit gerochen hat. Gestorben war ihr Vater, nachdem ihn der Krebs in einen kahlköpfigen Greis verwandelt hatte, aber nicht zu Hause, sondern im Krankenhaus. Marthas Mutter hatte ihn dort jeden Tag besucht, Martha hatte das nicht gekonnt. Sie wollte ihn auch nicht sehen, als er tot war.

Danach wäre sie am liebsten mit ihrer Mutter zusammen in eine nette kleine Wohnung gezogen. In Jills Haus war sogar eine passende frei geworden. Drei Zimmer, Südbalkon, einfach perfekt. Aber Constanze hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt: «Das kann ich nicht bezahlen, tut mir leid. In dem Haus können wir uns höchstens eine Besenkammer leisten.»

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Martha nie über Geld nachgedacht.

Ihr Vater hatte als Reisejournalist für verschiedene Medien gearbeitet; als er krank wurde, verdiente er nichts mehr. Ihre Mutter ist zwar als Bauzeichnerin in einem Architekturbüro fest angestellt, aber nur halbtags. Es war ein ziemlicher Schock gewesen, als Martha plötzlich feststellen musste, dass sie zwar nicht gerade arm waren, aber dass das Geld gerade für das Nötigste reichte.

Vor einem Jahr hatte Constanze Johannes kennengelernt. In einer Selbsthilfegruppe für Menschen, die einen Angehörigen verloren hatten. Vor zwei Monaten war dann die Bombe geplatzt.

«Es gibt da einen Mann», hatte Constanze Martha an einem Samstagvormittag eröffnet, als sie beim Frühstück zusammensaßen. «Er ist Witwer, hat eine kleine Tochter, und ich möchte gern, dass du ihn kennenlernst.»

«Ich? Wieso?», hatte Martha dumm gefragt.

«Weil wir beschlossen haben zusammenzuziehen.»

 

Aus dem Wohnzimmer sind außer den Trompetenstößen von Benjamin Blümchen keine Laute zu hören. Das ist verdächtig. Normalerweise kreischt Poppy an immer den gleichen Stellen vor Lachen.

Martha geht über den Flur und öffnet leise die Tür. Poppy sitzt auf dem Boden und kämmt hingebungsvoll die Fransen des Perserteppichs, mit Marthas gutem Kamm. Den Teppich hatte Marthas Vater von einer seiner Reisen mitgebracht, und er ist eins der wenigen Stücke, die sie von ihrem alten Zuhause mit in die neue Wohnung gebracht haben. Martha ärgert sich zwar, dass Poppy einfach ihren Kamm genommen hat, aber es gibt Schlimmeres. Sie will die Tür wieder schließen, da sieht sie, dass Poppy eine Schere nimmt und die Fransen einfach abschneidet.

«Bist du wahnsinnig!» Martha stürzt auf Poppy zu und reißt ihr die Schere aus der Hand. Poppy schaut erst zu ihr hoch und dann auf ihre Hand, von der Blut auf den Teppich tropft. Martha muss sie mit der Schere verletzt haben.

Andere Kinder würden jetzt ein Riesentheater veranstalten, aber Poppy betrachtet ihre Hand wie einen fremden Gegenstand, hebt sie hoch und leckt das Blut ab.

Martha läuft ins Bad und kommt mit einer Packung Pflaster zurück. «Tut mir leid. Tut mir leid, Poppy, das war keine Absicht. Aber du kannst doch nicht einfach unseren Teppich kaputt machen.»

Poppy zeigt auf die restlichen Fransen. «Die sehen aber nicht schön aus. Ganz dreckig.»

«Der Teppich ist alt», sagt Martha und klebt ein Pflaster über den Schnitt. «Alt und wertvoll. Er hat meinem Papa gehört.»

«Jetzt ist dein Papa aber doch tot», sagt Poppy.

«Ja, aber das ist kein Grund, an dem Teppich rumzuschnippeln. Halt still, da muss noch ein Pflaster drauf.»

Unter dem ersten quillt schon wieder Blut hervor.

«Mein Papa schimpft bestimmt», sagt Poppy.

«Ich hab’s nicht mit Absicht gemacht», wiederholt Martha.

Aber es wird Ärger geben, das weiß sie.

 

«Wie kannst du nur?», ereifert sich ihre Mutter, als sie nach Hause kommt und Martha ihr den Unfall beichtet. «Der blöde Teppich. Ist doch völlig wurscht, ob da Fransen dran sind oder nicht, aber dass du Poppy mit einer Schere allein gelassen hast, das ist schlimm.»

«Ich hab doch gar nicht gewusst, dass sie eine hat.»

«Du hättest auf sie aufpassen müssen, sie ist gerade mal vier.»

In Martha steigt heiß die Wut auf. «Ich bin nicht euer verdammter Babysitter, merk dir das!»

Sie geht in ihr Zimmer und knallt die Tür zu.

Nach einer Weile klopft es. «Lass mich in Ruhe!», brüllt sie.

«Ich bin’s.» Das ist nicht ihre Mutter.

Johannes öffnet vorsichtig die Tür. «Darf ich?»

Ist ja schließlich deine Wohnung, hätte Martha am liebsten gesagt.

Er schließt die Tür hinter sich, bleibt aber auf der Schwelle stehen.

Martha wird nie begreifen, wieso sich ihre Mutter ausgerechnet mit diesem unscheinbaren Mann einlassen musste. Die Ärzte, die sie bisher kennengelernt hat, haben alle irgendwie cool und wichtig ausgesehen, aber Johannes wirkt immer wie jemand, der sich für seine Existenz entschuldigen will. Er ist groß und dünn, geht etwas gebeugt und trägt ein Brillengestell, das viel zu wuchtig ist für sein schmales Gesicht.

«Der Schnitt ist nicht weiter schlimm. Vielleicht bleibt eine Narbe zurück, aber das wäre nicht Poppys erste.»

Er lächelt Martha aufmunternd zu. «Ich dachte, das beruhigt dich vielleicht.»

«Tut mir leid», sagt sie widerwillig.

«Und mir tut leid, dass der Teppich deines Vaters jetzt kaputt ist.

Martha zuckt mit den Schultern. «Ist ja nur ein Teppich.»

«Magst du mit uns essen?»

«Keinen Hunger, außerdem muss ich noch Schularbeiten machen.»

«Na, dann … Es gibt Lasagne. Ich heb dir was auf für später.»

Johannes verschwindet. Martha müsste erleichtert sein, aber sie ist es nicht. Ihr wäre fast lieber gewesen, wenn er sie angebrüllt hätte. Dieses verständnisvolle Getue nimmt ihr den Wind aus den Segeln.

Der Geruch von überbackenem Käse und Tomatensauce dringt sogar durch die geschlossene Tür.

Kochen kann die Glatze, das muss Martha zugeben, aber sie denkt nicht im Traum dran, sich mit ihm, ihrer Mutter und Klein-Poppy an den Tisch zu setzen. Sie wird nicht auf Familie machen, nie! Da kann der Hunger noch so groß sein.

Stattdessen setzt sie sich an den Schreibtisch und schlägt das Buch auf, in das sie ihre Hausaufgaben einträgt. Man muss sich allerdings Mühe geben, um zu erkennen, was sie sich notiert hat, denn es verschwindet unter einem Geflecht verschnörkelter Buchstaben, Herzen und Blüten, die ihre Blätter verlieren. Wann immer Martha einen Stift in der Hand hat, fängt sie an – ja was? Kritzeln nennt es ihre Mutter. Aber es sind keine Kritzeleien, es sind kleine Kunstwerke. Wenn man genau hinschaut, kann man die Buchstaben A und M erkennen, zwei sehr schöne Buchstaben, mal einzeln, mal ineinander verschlungen, mal ducken sie sich an den Rand oder ragen über die Begrenzungslinien. A wie Alexander und M wie Miller. Doch das M könnte genauso gut für Martha stehen und das A für Altenbourg. Es kann kein Zufall sein, dass sie die gleichen Initialen hat wie Alexander Miller, nur umgekehrt.

Umrankt von einer Efeugirlande steht da: Bis einschließl. 8. Szene lesen.

Sie hat versucht, eine altmodische Straßenbahn zu zeichnen, aber das ist ihr nicht ganz gelungen. Das Stück, das sie gerade im Englischunterricht behandeln, ist A Streetcar named Desire von Tennessee Williams. Martha findet diesen Titel viel schöner als die deutsche Übersetzung: Endstation Sehnsucht. Mit dem Stück kann sie allerdings nicht viel anfangen. Ihre Englischkenntnisse sind eher mäßig, sie muss jedes zweite Wort nachschlagen und kapiert trotzdem nicht, worum es geht. Als es darum ging, welches Stück sie im Unterricht behandeln sollten, hatte sie für Romeo und Julia gestimmt. Aber die Jungs waren dagegen gewesen, typisch.

Martha versucht sich auf das zu konzentrieren, was sie da liest, aber es gelingt ihr nicht. Stattdessen denkt sie wie so oft an den Tag, an dem Miller das erste Mal in ihre Klasse gekommen war.

Natürlich war schon vorher über ihn geredet worden, der neue Englischlehrer sollte ein cooler Typ sein, direkt aus New York, doch Martha wollte keinen neuen Lehrer. Mit ihrer alten Englischlehrerin Frau Hahne-Klein, die alle nur Hühnerklein nennen, war sie eigentlich ganz zufrieden gewesen.

Und dann, an einem Freitagmorgen, war die Tür aufgegangen und Miller hereingekommen. Er hatte schwungvoll seine Aktentasche auf den Tisch geworfen, sie war heruntergerutscht und zu Boden gefallen, er hatte sie lachend aufgehoben und sich beim Aufrichten eine blonde Locke aus der Stirn gepustet. In diesem Moment war es um Martha geschehen gewesen. Es hatte «Peng!» gemacht, wie in einem kitschigen Liebesroman. Sie hatte das noch nie erlebt und war von dem Gefühl völlig überwältigt worden.

Und seither träumt sie.

Ihr Lieblingstraum ist der, in dem sie nach Schulschluss in der Klasse zurückbleibt, um ihre Sachen einzupacken. Miller sitzt am Tisch, schreibt etwas ins Klassenbuch, und plötzlich hört man einen Schlüssel im Schloss.

Miller springt auf, läuft zur Tür und rüttelt an der Klinke. Vergeblich. Der Hausmeister hat die Klasse abgeschlossen. Miller schlägt sich an die Stirn: «Shit, ich hab den Generalschlüssel im Lehrerzimmer gelassen.»

«Haben Sie kein Handy?», fragt Martha.

Miller sieht sie an, zuerst etwas verwirrt, dann leicht verlegen. Er kommt auf Martha zu. Sie steht wie erstarrt. «Doch, ich habe ein Handy. Ich werde auch gleich jemanden anrufen, der uns hier rausholt, aber …» – an dieser Stelle überlegt Martha immer, ob das wohl die Polizei oder eher die Feuerwehr sein könnte, aber eigentlich ist es völlig egal – «Aber was?», fragt Martha mit ganz trockenem Mund.

Miller ist jetzt ganz nah, sie kann die kleinen gelben Einsprengsel in seinen dunkelblauen Augen sehen, goldene Pünktchen wie Sterne an einem Abendhimmel.

«Aber erst muss ich mit dir reden!»

Er sieht sie flehentlich an, und Martha möchte sich ihm am liebsten sofort in die Arme werfen, doch sie will den köstlichen Moment noch ein wenig hinauszögern. Sie nimmt ihren Rucksack und sagt gespielt gelassen: «Ja, ich weiß, ich hab die Hausaufgaben nicht gemacht, aber ich hole es nach, versprochen.»

Miller legt ihr seine Hand auf den Arm. «Die Hausaufgaben interessieren mich nicht.»

Martha sieht ihn mit einem koketten Augenaufschlag an. «Nicht? Was interessiert Sie denn dann?»

«Das weißt du doch ganz genau», sagt er mit rauer Stimme. «Du weißt doch ganz genau, dass ich verrückt nach dir bin.» Bei diesen Worten lässt Martha abwechselnd ihren Rucksack fallen, und sie küssen sich gleich, oder sie schüttelt den Kopf und sagt: «Sie machen sich über mich lustig, Mister Miller, das ist unfair.»

«Bin ich wirklich nur Mister Miller für dich?», fragt er dann. «Nicht mehr?»

«Doch!», ruft Martha. «Viel mehr!»

Ein Klopfen reißt sie aus ihren Gedanken. «Was ist?», fragt sie unfreundlich.

Ihre Mutter kommt mit einem Teller in der Hand ins Zimmer.

«Ich dachte, ich bring dir was, wenn du schon nicht mit uns zusammen essen willst. Kalte Lasagne schmeckt nicht.»

Martha will sagen, dass sie keinen Hunger hat. Aber ihr Magen verrät sie durch lautes Knurren. Schließlich hat sie nichts zu Mittag gegessen.

«Danke, stell’s mir ans Bett. Ich will nicht, dass mein Buch fettig wird.»

Ihre Mutter beugt sich über ihre Schulter. «Was liest du denn da?»

«A Streetcar named Desire», sagt Martha etwas von oben herab.

«Gelesen hab ich’s nie, aber ich kenne den Film mit Marlon Brando. Wenn du magst, leih ich den mal aus, und wir schauen ihn uns zusammen an.»

«Ich glaube, wir sehen den in der Schule», sagt Martha. «Und jetzt lass mich weiterlesen.»

Constanze stellt den Teller auf Marthas Nachttisch und geht zur Tür. «Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Ich hätte dich nicht so anbrüllen sollen.»

«Schon gut, Mama.» Martha blickt nicht hoch, weil sie spürt, wie ihr die Tränen kommen.

«Ich weiß ja, dass du Poppy niemals absichtlich weh tun würdest.»

Das hätte sie nicht sagen dürfen, denn nun weint Martha wirklich. Nicht wegen Poppy, sondern weil sie sich selbst leidtut.

Poppy hat einen Vater und eine neue Mutter, und was hat sie? Martha hat keinen Vater mehr und eine Mutter, die sich nicht um sie kümmert. Ihr allenfalls was zu essen hinstellt wie einem Hund. Einem kleinen, traurigen Hund.

3.

Martha steht vor dem Spiegel im Bad und malt mit schwarzem Kajal einen Strich auf ihr linkes Augenlid.

Es klopft an die Tür. «Beeil dich, Martha, ich muss zum Dienst.»

Die Glatze.

«Geh doch aufs Gästeklo.»

«Da sitzt Poppy.»

Er klopft energischer. Marthas Hand rutscht ab, der Lidstrich verschmiert, sie flucht. Dann reißt sie die Tür auf. «Nicht mal eine Minute hat man in dieser Scheißbude, ohne dass man gestört wird!»

«Martha!», ruft ihre Mutter aus der Küche.

«Scheißbude sagt man nich», tönt Poppy vergnügt vom Klo.

Martha geht in ihr Zimmer und knallt die Tür zu. Mit einem Kleenex wischt sie sich die Augen ab. Jetzt sieht sie aus, als hätte sie geheult. Na super, dabei haben sie die ersten beiden Stunden Englisch. Sie zieht ihren Rock zurecht. Er ist eigentlich zu kurz und auf jeden Fall zu eng. Warum hat sie bloß gestern Abend noch den Rest kalte Lasagne in sich reingestopft? Dabei war sie nach der Portion, die ihre Mutter ihr gebracht hatte, völlig satt gewesen. Etwas Obst hätte völlig gereicht. Aber nein, es musste die Lasagne sein mit dem erstarrten Käse obendrauf, und als wäre das noch nicht schlimm genug, hatte sie im Küchenschrank so lange herumgewühlt, bis sie eine noch fast volle Tüte mit Gummibärchen entdeckt und aufgegessen hatte. Das ist heute Morgen mindestens ein Kilo mehr.

Gut, Frühstück wird sie sich schenken, aber heute stehen acht Stunden auf dem Plan, das hält sie nicht durch.

Jill kann essen, was sie will, die nimmt nie zu, im Gegenteil. Ob es daran liegt, dass sie raucht? Das hat Martha auch probiert, dummerweise wird ihr schon nach den ersten Zügen schlecht.

Sie guckt in den kleinen goldgerahmten Spiegel auf ihrem Schreibtisch. Der Pickel auf der Stirn war gestern auch noch nicht da, aber wenn sie an dem jetzt rumdrückt, macht sie alles nur noch schlimmer. Sie schmiert Make-up drauf, doch jetzt sieht es erst recht scheiße aus. Schon Viertel vor acht. Verdammt! Sie kommt zu spät und alles nur wegen dem Glatzkopf und seinem verfluchten Balg.

Martha stopft Hefter und Bücher in den Rucksack und winkt nur ab, als Constanze ihr in der Küche einen Apfel und ein Brot hinhält. Lieber kauft sie sich eins der altbackenen Brötchen in der Schul-Cafeteria.

Obwohl es schon wieder nach Regen aussieht, muss sie das Fahrrad nehmen, nur so hat sie eine Chance, pünktlich zu kommen. Zu spät merkt sie, dass der Hinterreifen fast platt ist. Sie fährt trotzdem weiter und versucht elegant, eine Absperrung zu umrunden. Dabei rutscht ihr der Rock hoch, und zwei Bauarbeiter, die gerade die Straße aufreißen, pfeifen ihr hinterher. «Mann, die hat vielleicht Beene», sagt der eine.

«Wie ’n Elefant», sagt der andere.

«Scheiße!», murmelt Martha. «Scheiße, scheiße, scheiße.»

 

«What do you think about Stella?»

Martha zuckt zusammen. Miller hat sie angeschaut. Er meint sie.

«I think … äh …»

Hinter ihr hört sie leises Lachen und ein abfälliges «Ei sink».

Immer machen sich alle über ihre Aussprache lustig.

«Stella is …» Was heißt denn bloß schwanger auf englisch? «Pregnant», flüstert ihr Jill zu.

«Pregnant», sagt Martha. «Stella is pregnant and she loves her husband.» Das ist schon mal richtig.

«I like to hear something about her relationship towards her sister Blanche.»

Jill meldet sich. Glücklicherweise.

Warum muss Miller auch ausgerechnet Englisch unterrichten?, denkt Martha. Er könnte doch Kunstlehrer sein, so wie er aussieht, so unkonventionell. In Kunst ist Martha wirklich gut. Sie stellt sich vor, wie sie eifrig an einem Sonnenuntergang pinselt, er beugt sich über sie, seine Haare streifen ihre Wange, er flüstert ihr ins Ohr …

«Martha?»

«Was?»

«English please.»

Das Klingeln erlöst sie. Martha will so schnell wie möglich raus aus der Klasse, aber andererseits möchte sie auch bleiben, unter irgendeinem Vorwand mit Miller sprechen. Genau, warum sagt sie ihm nicht einfach, dass sie das Stück nicht kapiert hat?

Sie geht zum Lehrertisch, wo Miller gerade einen Eintrag ins Klassenbuch macht.

«Excuse me, Mister Miller, but I –»

Mit einem jungenhaften Lächeln schaut er zu ihr hoch. «Die Stunde ist vorbei, du darfst deutsch sprechen.»

«Ich hab das Stück nicht verstanden», stößt sie hervor.

Na, super! Das hätte sie ja auch etwas eleganter formulieren können. «Also, ich meine, der tiefere Sinn ist mir irgendwie nicht so richtig –» Sie bricht ab.

«Lass es dir von Jill erklären. Ich glaube, sie weiß, worum es geht.»

Martha beißt sich auf die Lippen.

Miller schlägt das Klassenbuch zu. «Vielleicht solltest du das Stück noch einmal ganz genau lesen. Ich überlege nämlich, ob wir es nicht aufführen sollen.»

«In der Theater-AG? Aber wir hatten uns doch für das Gespenst von Canterville entschieden?» Martha ist enttäuscht. Sie hatte das Bühnenbild, für das sie in der Theater-AG zuständig ist, schon im Kopf, düstere Schlossmauern, Ahnenporträts in goldenen Rahmen, Ritterrüstungen …

«Ich weiß, Martha, aber nun sind auch noch Vincent und Leon abgesprungen, weil der Termin mit ihrer Ruder-AG kollidiert, also brauchen wir ein Stück, das mit weniger Personal auskommt. Außerdem ist das Stück von Oscar Wilde zwar ganz nett, aber eher was für Jüngere, findest du nicht?» Wieder lächelt er Martha auf eine Art und Weise an, dass sie weiche Knie bekommt. Unwillkürlich zieht sie den Rock herunter.

«Aber natürlich müsst ihr alle damit einverstanden sein.»

Jill, die vor der Tür auf Martha gewartet hat, kommt in die Klasse. «Wenn ich die Blanche spielen darf, bin ich dafür.»

Miller sieht sie prüfend an. «Ich könnte mir keine bessere Besetzung vorstellen.»

Er erhebt sich. «Wir besprechen das dann Mittwochnachmittag.»

«Wolltest du nicht die Theater-AG sausenlassen?», fragt Martha, nachdem Miller gegangen ist.

Jill zieht eine Augenbraue hoch. «Für so eine Rolle würde ich nicht nur töten, ich ertrage auch Babyface Miller.»

«Er ist kein Babyface», sagt Martha gekränkt.