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Nr. 83

 

Die Namenlose

 

von Hubert Haensel

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Mythor, der Sohn des Kometen, hat in der relativ kurzen Zeit, da er für die Sache der Lichtwelt kämpfte, bereits Großes vollbracht. Nun aber hat der junge Held Gorgan, die nördliche Hälfte der Welt, verlassen und Vanga, die von den Frauen regierte Südhälfte der Lichtwelt, erreicht, wo er von der ersten Stunde seines Hierseins an in gefährliche Geschehnisse verstrickt wurde.

Diese Geschehnisse nahmen ihren Anfang im Reich der Feuergöttin, wo Mythor für Honga, einen aus dem Totenreich zurückgekehrten Helden, gehalten wurde. Es kam zur Begegnung mit Vina, der Hexe, und Gerrek, dem Mann, der in einen Beuteldrachen verwandelt worden war. Es folgten Kämpfe mit Luftgeistern und Amazonen, es kam zu Mythors Gefangenschaft, zur Flucht und zu erneuten Kämpfen mit denen, die sich an Mythors Fersen geheftet hatten.

Gegenwärtig setzt Mythor alles daran, den Hexenstern zu erreichen, wo er seine geliebte Fronja, die Tochter des Kometen, in schwerer Bedrängnis weiß. Doch seine Fahrt mit der Lumenia kommt zu einem jähen Ende.

Auf wundersame Weise vor dem Ertrinken errettet, sitzen Mythor und seine Gefährten, sowie eine von Burras Amazonen, nun in der versunkenen Welt nahe dem Nassen Grab fest. Sie müssen sich einer dunklen Macht stellen, gegen die jeder Kampf aussichtslos erscheint.

Diese Macht – das ist DIE NAMENLOSE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Mythor – Der Sohn des Kometen im Reich der Meermutter.

Scida, Kalisse und Gerrek – Mythors Gefährten.

Burra – Zaems Amazone handelt befehlswidrig.

Zaem – Die Zaubermutter in Gefangenschaft.

Die Namenlose – Zaems schlimmste Feindin.

Learges – Ein Okeazar opfert sich.

1.

 

Der Raum maß höchstens fünf Schritte im Viereck. Den Boden zierte ein kunstvoll gearbeitetes Mosaik, dessen Farben im Laufe der Zeit verblasst waren. Aber noch strahlten die Darstellungen etwas von ihrer einstigen Schönheit aus. Viele kleine Bilder ergänzten sich zu einem Ganzen; sie zeigten sonnenüberflutete Inseln inmitten strahlend blauer See und ließen Ansiedlungen erkennen, die sich trutzig an den Küsten erhoben. Große Schiffe lagen in den Häfen, und über allem dominierte das Antlitz einer Frau, als hielte sie Wache über dieses Land.

Der Blick ihrer steinernen Augen war dazu angetan, jeden Betrachter schaudern zu lassen. Allerdings lag nichts Böses in ihnen, nur ein Ausdruck erhabener Größe.

»Das Reich Singara«, sagte Scida mit leiser Stimme.

Kalisse zuckte mit den Schultern. Während sie langsam weiterging, schien das Mosaik sich zu verändern.

»Wer ist sie, die den Schein einer Zaubermutter trägt?«, fragte Kalisse.

Niemand konnte ihr Auskunft geben. Und Sosona, die es vielleicht vermocht hätte, schwieg.

Die Frauen, die in diesem Raum gefangen waren, redeten nicht, sondern stierten stumpfsinnig vor sich hin. Schmutz bedeckte zum größten Teil ihre bleiche Haut.

»Nennt mir wenigstens eure Namen, damit ich weiß, mit wem ich rede.« Kalisse trat vor die beiden hin und stemmte ihre Fäuste in die Hüften. Ein scheuer Blick streifte sie, während gleichzeitig ein Funke von Hoffnung in diesen tief in den Höhlen liegenden Augen aufglomm.

»Ich bin Gerta ...«, fahrig fuhr jene sich durch ihre verfilzten schwarzen Haare, »... und sie heißt Omera.« Die andere, rotblond, mit im Nacken zu einem Nest geflochtenen Zöpfen, sah nicht einmal auf. »Sie hat mit dem Leben abgeschlossen, seit ihr Bruder bei einem Fluchtversuch ums Leben kam«, erzählte Gerta weiter.

»Wie lange ist das her?«

»Fünf, sechs Tage ...«

»Ihr wart mehrere?«

»Zehn«, nickte sie heftig. »Aber oft kamen die Tritonen und holten einen von uns, bis wir versuchten, zu fliehen ... Seither haben wir kaum noch zu essen, und die Fischmenschen kümmern sich nicht mehr um uns.«

»Wo sind wir?«, fragte Kalisse weiter.

»Auf dem Grund des Meeres«, sagte Gerta und erhob sich mühsam.

»In Ptaath?«

»Selbstverständlich. Wo sonst?«

»Eine Flucht ist nur dann sinnvoll, wenn man mindestens einen Ort kennt, an dem man sich verbergen kann«, warf Gorma ein. »Gibt es den?«

Je länger sie redete, desto mehr schien Gerta zu sich selbst zurückzufinden. Langsam wich der fiebrige Glanz aus ihren Augen, auch bekamen ihre Wangen wieder Farbe.

»Überall in Ptaath gibt es Luftblasen, viele der alten Gebäude dienen auf diese Weise als Kerker. Kennt ihr die Wasserspinnen, die trichterförmige Netze an der Oberfläche spannen und sie hinter sich her ziehen, wenn sie nach Beute tauchen? Die Fäden sind dicht genug, um die benötigte Atemluft nicht entweichen zu lassen. Das Opfer wird dann in dieser Blase ausgesaugt. Ähnlich machen es die Tritonen, sie sind Bestien.«

»Woher weißt du ...?«

»Einer dieser Fischmenschen hat vieles erzählt. Er war es auch, der uns zur Flucht überredete. Aber ich glaube, er wollte uns nur leiden sehen. Ich wünsche allen die Pest an den Hals, umkommen sollen sie samt ihrer Göttin.« Gerta unterbrach ihren Redefluss, als Sosona, Aufmerksamkeit heischend, beide Arme hob.

»Wer war dieser Tritone?«, wollte die Hexe wissen.

»Lear, glaube ich.«

»Learges?«

»Ja, so hieß er wohl.«

»Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst«, brauste Gorma auf. »Aber brauchst du einen besseren Beweis, um zu erkennen, dass der Okeazar ein Verräter ist? Auch uns hätte er beinahe in den Tod geführt.«

»Learges Gesinnung ist über jeden Zweifel erhaben«, erwiderte die Hexe.

»Wie willst du das wissen?«

»Vergiss nicht, wer ich bin, Amazone«, kam es scharf zurück.

Gorma schlug mit der Faust auf den Knauf ihres Seelenschwertes.

»Ich denke, deine Fähigkeiten haben gelitten ...«

»Keineswegs in dem Ausmaß, dass mein Kopf leer wäre wie der einer vorlauten Kriegerin.« Sosona wandte sich einfach ab und ließ Gorma stehen. Der Amazone war anzusehen, dass es in ihr kochte. Gleichzeitig erkannte sie, dass sie nahe daran war, den Zorn der Hexe auf sich zu ziehen.

»Es liegt mir fern, die Beraterin Burras zu maßregeln«, sagte sie deshalb. »Ich versuche nur, die Gefahr aufzuzeigen, der wir ausgesetzt sind.«

»Nimm dich der Tritonen an, sollten sie wieder angreifen – mehr verlange ich nicht von dir.«

»Ihr seid keine Gefangenen«, stellte Gerta unvermittelt fest.

»Bisher vermochten wir uns unserer Haut zu wehren.«

»Nehmt Omera und mich mit euch.«

»Kennst du einen Weg?«, fragte Sosona.

»Es gibt eine Straße, die aus südlicher Richtung zum Mittelpunkt von Ptaath führt. Mehrere Abschnitte, die vor langer Zeit durch den Fels gegraben wurden, sind angeblich noch gut erhalten und mit Luft gefüllt. Dort, sagte Learges, sollten wir auf ihn warten.«

»Was hält uns dann noch?«, platzte Kalisse heraus. Sosona hingegen warnte davor, die Dinge zu übereilen.

»Vorerst sind wir hier sicher«, gab die Hexe zu verstehen. »Weshalb also nicht zuerst neue Kräfte sammeln?« Und an Gerta gewandt, fuhr sie fort: »Wie weit ist es bis zu jener Straße?«

»Fünfzig Schritte, vielleicht auch sechzig.«

»Liegen Hindernisse dazwischen?«

»Nein«, machte Gerta erstaunt. »Ich glaube nicht. Zumindest hat der Tritone nichts davon erwähnt.«

»Für ihn ist es ein leichtes, diese Entfernung zu überwinden.« Sosona zeigte sich besorgt. »Aber wir besitzen keine Kiemen, sondern sind gezwungen, den Atem anzuhalten. Schon der kleinste Zwischenfall kann uns das Leben kosten.«

»Haben wir überhaupt eine Wahl?«, wollte Gorma wissen. »Ich bin dafür, das Risiko einzugehen, denn hier werden wir niemals erfahren, welches Schicksal die Zaubermutter und Burra ereilt hat.«

 

*

 

Der Übergang vom Tag zur Nacht vollzog sich beinahe unmerklich. Das Licht der Sonne drang nicht bis auf den Meeresboden vor, und so herrschte schon in einer Tiefe von dreißig Schritt ein gleichbleibend fahler Dämmer, der zwar erkennen ließ, was in weitem Umkreis geschah, der aber zu schwach war, um Schatten zu zeichnen.

Sosona hatte ihren Willen durchgesetzt und den Amazonen eine Ruhepause aufgezwungen. Sogar Gorma war innerhalb kürzester Zeit in Schlaf verfallen.

Lediglich die Hexe selbst hielt Wache. In kauernder Haltung, vornübergesunken und die Augen geschlossen, lauschte sie den vielfältigen Geräuschen, die von überall her auf sie eindrangen.

Ein Hauch von Gefahr war spürbar. Noch lauerte jene fremde, unheimliche Macht im Hintergrund. Die Drohung, die von ihr ausging, schien mittlerweile stärker geworden.

Sosona war erschöpft, ihr Körper benötigte dringend eine Zeit der Ruhe, die sie aber nicht fand. Immer wieder schreckte sie hoch, weil sie meinte, eine ferne Stimme vernommen zu haben, die nach ihr rief.

Aber sooft sie sich darauf konzentrierte, stießen ihre Sinne ins Nichts.

Irgendwo in den steinernen Wänden knisterte es. Eine mehrere Ellen messende Ranke tastete langsam über den Boden.

»Sosona ...«, murmelten die Steine.

»Sosona ...«, flüsterte das Meer, draußen, vor den Fensteröffnungen. »Komm ...«

Die Hexe verspürte ein seltsames Prickeln. Vom Mittelfinger der linken Hand ausgehend, erstreckte es sich schnell über den Unterarm und zog sich bis in die Schläfen hinauf. Sosona blinzelte. Zweimal musste sie hinsehen, um die Veränderung zu erkennen, die mit dem betreffenden Ring vor sich ging. Der Kristall leuchtete in allen Farben des Lichts.

»Zaem?«, hauchte die Hexe. »Wo bist du?«

Aber der winzige Regenbogen war nicht von Bestand. Schwärze erstickte das Funkeln und nahm dem Stein jeglichen Glanz. Es war dieselbe Finsternis, die in Sosonas Gedanken nagte, die den Keim des Zweifels in ihr nährte und zur Umkehr riet, solange noch Zeit dazu war.

... ihr Mantel kleidete nicht den Körper einer Tochter von Vanga, sondern umhüllte einen flüchtigen Schatten bloß ...

Erinnerungen wurden wach, die jedoch nie der Hexe gehört hatten. Nur Zaem konnte auf diese Weise versuchen, zu ihr zu sprechen.

»Lass mich dir helfen, Mutter.« Sosona vernahm nicht den verzerrten Klang ihrer Stimme, wusste nicht, dass die Worte zögernd nur über ihre Lippen kamen.

Plötzlich waren da Laute, die sie aus dem beginnenden Traum aufschreckten. Dumpf und düster, als würden die Zähne eines Sägeschwertes über steinerne Mauern kratzen.

Sosona schlug die Augen auf. Niemand außer ihr schien die Geräusche wahrzunehmen. Lediglich Gerrek bewegte sich unruhig, sein Rattenschwanz wischte über den Mosaikboden.

Der Mandaler stand kurz vor dem Aufwachen. Sein Maul zitterte bei jedem Atemzug und entblößte blitzende Fangzähne.

Krrrch ... krrch ...

»Gerrek, du Monstrum«, rief Sosona wütend aus.

»Hä?« Der Beuteldrache blinzelte und zog sein rechtes Lid in die Höhe. Indes schien ihm nicht zu gefallen, was er sah, denn sofort schlug er sich die Hände vors Gesicht.

»Hör endlich auf damit! – Gerrek!«

»Hmm.« Schmatzend wälzte er sich herum.

Krrrch ... erklang es dann von neuem.

»Du wirst nicht wieder einschlafen«, forderte Sosona.

»Doch ... doch ...«, zischelte Gerrek fast unverständlich.

Im nächsten Moment klatschte es laut mehrmals hintereinander. Mit einem heiseren Aufschrei fuhr der Beuteldrache hoch. Seine Nüstern röteten sich.

»Was ist ... wer ... wo?« Während Gerreks Rechte zum Schwert zuckte, fiel sein Blick auf Sosona, die ihn wütend anfunkelte. »Ach«, kam es erleichtert aus seinem Maul, »du bist es nur. Ich muss geträumt haben. Schrecklich.« Er schüttelte sich ab. »Stell dir vor, auf dem Grund des Meeres waren wir gefangen, von Wesen halb Fisch, halb Mensch. Und wir sollten ihrer Göttin geopfert werden. Zum Glück war alles nur Einbildung.« Vorsichtig wischte Gerrek über das Mosaik, und ein Seufzer entrang sich seiner Brust. »Trocken«, stellte er fest. »Kein Wasser. Wenn ich daran denke, zittere ich jetzt noch. – Was ist, warum siehst du mich so an, als möchtest du mich durchbohren? Habe ich etwas Falsches gesagt, oder ...? Du ... meinst ... es ist nicht so, da draußen gibt es Wasser, viel Wasser sogar? Wir sind wirklich dreißig Schritt unter den Wellen – puh.« Schweißperlen rannen über seine Schläfen, plötzlich schien er sich nicht sonderlich wohl zu fühlen. »Langsam erinnere ich mich wieder. Honga ist verschwunden, und Gudun ...«

»Dein Geschrei weckt selbst Tote auf. Doch was kann man von dir schon verlangen?«

»Warum sind wir nur mit ihm gestraft?« Ächzend kam Gorma auf die Beine. »Man sollte versuchen, ihn den Tritonen in die Arme zu treiben.«

»Spottet nur«, maulte Gerrek. »Ihr werdet schon sehen, wohin ihr ohne mich kommt.«

 

*

 

Der frühe Tag brachte keine Veränderung. Sooft die Amazonen zwischen den ineinander verwucherten Pflanzen hindurch ihre Umgebung beobachteten, schien es ihnen, als sei zumindest dieser Teil von Ptaath bar jeden Lebens. Nicht einmal Fische zeigten sich in der Nähe des Pferches.

Dank Sosonas Magie hatte Omera inzwischen ihre Gleichgültigkeit allen Geschehnissen gegenüber verloren. Zumindest gab sie sich den Anschein, dass sie das Leben wieder als erstrebenswertes Gut betrachtete.

»Wir schwimmen einzeln hinüber«, bestimmte Gorma. »Falls irgendwo Tritonen lauern, können wir ihnen so noch ausreichend Widerstand leisten.«

»Wenigstens stirbt dann nur eine von uns«, nickte Scida. »Wer macht den Anfang?«

»Weshalb schickt ihr nicht den Sklaven los?«, meinte Gerta. »Um ihn ist es nicht schade.«

Mit keiner Regung gab Gerrek zu erkennen, dass er dem Gespräch folgte, das allmählich eine für ihn unangenehme Wende nahm. Scheinbar unbeteiligt kramte er in seinem Beutel.

»Ich glaube kaum, dass er weit käme«, meinte Kalisse. »Allein auf sich gestellt, ertrinkt er schon nach den ersten zwanzig Schritten.«

»Dann bedeutet er wenigstens keine Last für uns«, stellte Gerta fest. »Außer seinem großen Mundwerk scheint er keine besonderen Fähigkeiten zu besitzen.«

»Du sprichst von mir?«, schreckte Gerrek unvermittelt zusammen und ließ die Flöte, die er gedankenverloren in Händen hielt, blitzschnell in seiner Hautfalte verschwinden.

Gerta nickte.

»Geh schon!«, befahl sie.

»Nein«, machte der Mandaler.

»Als Sklave hast du zu gehorchen.«

»Ich bin niemandes Diener.« Gerrek verzog sein Maul zur Andeutung eines Grinsens. »Jeder weiß, dass Beuteldrachen ein freies und stolzes Volk sind, das den Kampf nicht scheut ...«

»... aber das Wasser«, unterbrach Kalisse.

»Wo lebt dein Volk?«, fragte Gerta ein wenig verunsichert. »Obwohl ich weit herumgekommen bin, habe ich nie davon gehört.«

»Es steht vor dir«, schnauzte Gerrek.

Bevor die beiden sich gegenseitig an die Kehle gehen konnten – Gerta maß immerhin sechs Fuß und besaß fast die Statur einer Amazone –, trat Gorma zwischen sie.

»Ich werde es versuchen. Gerrek, du kannst trotz der Dämmerung den Hügel erkennen, durch den die Straße führt?«

»Als läge er im hellen Sonnenglanz vor mir.«

»Gut. Dann wirst du es Scida sagen, sobald ich mein Ziel erreicht habe. Sie ist die nächste.«

»Und wie gelange ich hinüber?«

Gorma sah den Mandaler erstaunt an.

»Du wirst ebenfalls schwimmen müssen. Oder willst du allein hier zurückbleiben?«

Betreten schwieg der Beuteldrache. Insgeheim verfluchte er die Hexe, die ihm diese Gestalt gab. Nicht nur die Flügel hatte sie vergessen, sondern auch Kiemen.

»Träumst du schon wieder?« Gerta versetzte ihm einen Stoß zwischen die Schulterblätter.

Gorma hatte inzwischen die halbe Strecke zurückgelegt. Das Gewicht ihrer Rüstung behinderte sie merklich. Die Amazone schwamm dicht über dem Grund; Seegras entzog sie vorübergehend den Blicken des Mandalers.

Gerrek wusste nicht, wie lange sie den Atem anhalten konnte. Aber bestimmt nicht länger, als er benötigte, um zehnmal seine Finger zu zählen. Ohne dass er es wollte, begann er lautlos damit.

Kein Tritone zeigte sich.

»Wo ist Gorma jetzt?« Gerta war anzumerken, dass sie an den eigenen fehlgeschlagenen Fluchtversuch dachte.

»Ich sehe sie nicht mehr.«

Wenn Gorma es nicht gleich geschafft hat, dachte der Mandaler, ist es aus für sie. Aber schon zwei Herzschläge später entdeckte er die Amazone vor dem langgestreckten Hügel. Sie winkte kurz herüber, bückte sich und war gleich darauf endgültig verschwunden.

Scida schob sich als nächste durch die Pflanzenwand, ihr folgte Gerta in einigem Abstand.

Unbehelligt erreichten beide ebenfalls die alte Straße.

»Ich glaube«, sagte Kalisse, »wir müssen es wagen, zusammen aufzubrechen.«

»Sollten wir nicht noch etwas bleiben«, gab Gerrek zu bedenken. »Wer weiß, was uns erwartet.«

»Unser Held will uns zurückhalten, weil die Angst vor dem Wasser seine Kehle zuschnürt«, meinte Sosona.

»Ich und Angst – niemals!« Mit beiden Fäusten schlug Gerrek sich auf den Brustkorb.

»Hoffentlich hat Learges nicht gelogen.« Sosona zwängte sich durch die Öffnung, in der einst eine Tür gehangen hatte. Gerrek trat zurück und ließ Omera an sich vorbei.

»Aber jetzt du!« Kalisse stieß den Beuteldrachen kurzerhand vor sich her. Er taumelte auf den Vorhang aus dicht wuchernden Pflanzenfasern zu und holte gleichzeitig tief Luft, bis seine Lungen zu zerspringen drohten. Dann umfing ihn eisige Kälte. Gerrek hatte das Gefühl, sanft angehoben zu werden.