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Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größe und Grenzen

(Greatness and Limitations of Freud’s Thought)

Erich Fromm
(1979a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel

Erstveröffentlichung unter dem Titel Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größe und Grenzen, Stuttgart 1979 (Deutsche Verlags-Anstalt); der amerikanische Originaltitel lautet Greatness and Limitations of Freud’s Thought und ist erst 1980, ein Jahr nach der Publikation der deutschen Übersetzung, bei Harper & Row in New York erschienen.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band VIII, S. 259-362.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1979 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Inhalt

Einleitung

Um die außerordentliche Bedeutung der psychoanalytischen Entdeckungen Sigmund Freuds voll zu würdigen, muss man das Prinzip verstehen, auf das sie sich gründen.[1] Man kann dieses Prinzip nicht adäquater ausdrücken als mit dem Satz des Evangeliums: „Und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Jo 8,32). Der Gedanke, dass die Wahrheit errettet und heilt, ist in der Tat eine alte Einsicht, welche die großen Meister des Lebens verkündet haben. Niemand hat das vielleicht mit einem solchen Radikalismus und einer solchen Klarheit getan wie Buddha, aber es ist ein Gedanke, den auch Judentum und Christentum, Sokrates, Spinoza, Hegel und Marx teilen.

Für das buddhistische Denken ist die Unwissenheit zusammen mit Hass und Gier eines der Übel, von denen sich der Mensch freimachen muss, wenn er nicht im Zustand des Begehrens verbleiben will, das unausweichlich Leiden verursacht. Der Buddhismus bekämpft nicht die Freude, ja nicht einmal das Vergnügen in der Welt, vorausgesetzt, dass sie nicht in der Gier ihren Ursprung haben. Der gierige Mensch kann kein freier und daher auch kein glücklicher Mensch sein. Er ist der Sklave von Dingen, die ihn beherrschen. Dieser Prozess des Erwachens aus Illusionen ist die Vorbedingung für die Freiheit und die Befreiung vom Leiden, das die Gier unausweichlich hervorruft. Die Des-Illusionierung, die Ent-Täuschung ist die Voraussetzung für ein Leben, das der vollen Entwicklung des Menschen oder – um mit Spinoza zu reden – dem Modell der menschlichen Natur am nächsten kommt. Weniger zentral und radikal, weil mit der Idee eines Gott-Idols behaftet, ist der Begriff der Wahrheit und das Bedürfnis nach der Befreiung von Illusionen in der christlichen und jüdischen Tradition. Aber als diese Religionen einen Kompromiss mit der Macht eingingen, konnten sie nicht umhin, die Wahrheit zu verraten. In den revolutionären Sekten konnte die Wahrheit dann wieder einen hervorragenden Platz einnehmen, weil deren ganze Energie sich darauf richtete, die Widersprüche zwischen dem christlichen Denken und der christlichen Praxis aufzudecken.

Spinozas Lehren sind in vielem den Lehren Buddhas ähnlich. Der Mensch, der sich von irrationalen Trieben (passiven Affekten) hinreißen lässt, ist notwendigerweise jemand, der sich von sich selbst und der Welt falsche Vorstellungen macht, der also mit Illusionen lebt. Menschen, die sich von ihrer Vernunft leiten lassen, haben aufgehört, [VIII-262] sich von ihren Sinnen verführen zu lassen. Sie handeln entsprechend den beiden „aktiven Affekten“, nämlich Vernunft und Mut. Marx steht in der Tradition jener, für die die Wahrheit die Voraussetzung für Erlösung ist. Sein Werk diente nicht primär dazu, das Bild einer guten Gesellschaft zu entwerfen, es war eine rückhaltlose Kritik an den Illusionen, die den Menschen daran hindern, die gute Gesellschaft aufzubauen. Er sagt: „Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf“ (K. Marx, 1971, S. 208).

Freud hätte das ebenso formulieren können, und dieser Satz ist ein passendes Motto für eine Therapie, die sich auf die psychoanalytische Theorie gründet. Freud hat den Begriff der Wahrheit allerdings ungemein erweitert. Für ihn ist Wahrheit nicht mehr das, was ich bewusst glaube oder denke, sondern das, was ich verdränge, weil ich es nicht denken möchte.

Die Größe von Freuds Entdeckung liegt darin, dass er eine Methode aufgezeigt hat, wie man zur Wahrheit jenseits dessen gelangt, was der Einzelne für die Wahrheit hält. Er war dazu in der Lage, weil er die Auswirkungen der Verdrängung und dementsprechend die Rationalisierungen entdeckte. Er hat empirisch nachgewiesen, dass der Weg zur Heilung eines Menschen in dessen wahrer Einsicht in seine seelische Struktur liegt und dass dadurch die Verdrängung aufgehoben werden kann. Diese Anwendung des Prinzips, dass die Wahrheit befreit und heilt, ist die große und vielleicht sogar die größte Leistung Freuds – wenn auch dieses Prinzip bei seiner praktischen Anwendung oft entstellt wurde und oft neue Illusionen erzeugt hat.

In diesem Buch will ich die meiner Meinung nach wichtigsten Entdeckungen Freuds im Einzelnen aufweisen. Gleichzeitig werde ich zeigen, wo und in welcher Weise das für Freud charakteristische bürgerliche Denken seine Entdeckungen eingeschränkt und manchmal wieder verdeckt hat. Da meine Auseinandersetzung mit dem Freudschen Denken ihre eigene Kontinuität hat, liegt es nahe, dass ich in den folgenden Kapiteln auch auf frühere Äußerungen zurückgreife.

1. Die Begrenztheit wissenschaftlicher Erkenntnis

a) Warum jede neue Theorie fehlerhaft sein muss

Der Versuch, Freuds theoretisches System wie auch das eines jeden anderen kreativen systematischen Denkers zu verstehen, kann nur zum Erfolg führen, wenn wir erkennen, dass und weshalb jedes System, so wie es von seinem Urheber entwickelt und dargeboten wird, notwendigerweise auch Irrtümer enthält. Dies beruht nicht auf einem Mangel an Genialität, Kreativität oder Selbstkritik von Seiten des Autors, sondern auf einem grundsätzlichen und unvermeidlichen Widerspruch: Einerseits hat der Autor etwas Neues zu sagen, etwas, das noch nie zuvor gedacht oder gesagt wurde. Aber wenn man von etwas „Neuem“ spricht, dann ordnet man es nur in eine deskriptive Kategorie ein, die dem, was an dem schöpferischen Gedanken wesentlich ist, nicht gerecht wird. Kreatives Denken ist immer auch kritisches Denken, weil es mit gewissen Illusionen aufräumt und dem Gewahrwerden der Realität näherkommt. Es erweitert den Bereich menschlichen Bewusstseins und stärkt die Kraft menschlicher Vernunft. Immer hat kritisches und deshalb kreatives Denken eben dadurch, dass es das illusorische Denken negiert, eine befreiende Funktion.

Andererseits muss der Denker seinen neuen Gedanken im Geist seiner Zeit ausdrücken. Verschiedene Gesellschaften haben verschiedene Arten von „gesundem Menschenverstand“, verschiedene Denkkategorien und verschiedene Systeme der Logik: Jede Gesellschaft besitzt ihren eigenen „gesellschaftlichen Filter“, der nur für bestimmte Ideen, Begriffe und Erfahrungen durchlässig ist.[2] Die Ideen, Begriffe und Erfahrungen, die nicht unbedingt unbewusst bleiben müssen, können bewusst werden, wenn sich durch grundsätzliche Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur die Eigenart des „gesellschaftlichen Filters“ ändert. Gedanken, die durch den gesellschaftlichen Filter einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht hindurch können, sind „undenkbar“ und daher natürlich auch „unsagbar“. Dem Durchschnittsmenschen erscheinen die Gedankenmodelle seiner Gesellschaft schlechthin logisch. Die Gedankenmodelle völlig anderer Gesellschaften betrachtet er als unlogisch oder als schlechthin unsinnig. Aber nicht nur die Logik wird durch den „gesellschaftlichen Filter“ und letzten Endes durch die Lebenspraxis der [VIII-264] jeweiligen Gesellschaft bestimmt, sondern auch gewisse Denkinhalte. Man denke zum Beispiel an die herkömmliche Auffassung, dass die Ausbeutung unter Menschen eine „normale“, natürliche und unvermeidliche Erscheinung sei. Für ein Mitglied der neolithischen Gesellschaft dagegen, in der alle Männer und Frauen individuell oder in Gruppen von ihrer Hände Arbeit lebten, wäre eine solche Vorstellung undenkbar gewesen. Angesichts ihrer gesamten gesellschaftlichen Organisation wäre die Ausbeutung des Menschen durch andere Menschen eine „verrückte“ Idee gewesen, weil noch nicht soviel Überschuss vorhanden war, dass es einen Sinn gehabt hätte, andere für sich arbeiten zu lassen. (Hätte jemand einen anderen gezwungen, für sich zu arbeiten, so hätte das nicht bedeutet, dass hierdurch mehr Güter erzeugt worden wären, es hätte nur bedeutet, dass der „Arbeitgeber“ hierdurch zur Untätigkeit und Langeweile verurteilt gewesen wäre.) Ein weiteres Beispiel sind die vielen Gesellschaften, die kein Privateigentum im modernen Sinn, sondern nur „funktionales Eigentum“ wie Werkzeuge kannten, die zwar einem Einzelnen gehörten, solange er sie benutzte, die dieser aber bereitwillig mit anderen teilte, falls diese sie benötigten.

Was undenkbar ist, ist auch unsagbar, da die Sprache keine Worte dafür besitzt. Viele Sprachen haben tatsächlich kein Wort für „haben“, sondern müssen die Vorstellung des Besitzes mit anderen Worten ausdrücken, zum Beispiel mit der Konstruktion „es ist mir“, die den funktionalen, aber nicht den privaten Besitz bezeichnet („privat“ im Sinn des lateinischen privare, was soviel bedeutet wie „jemandem etwas vorenthalten“: nämlich den Besitz einer Sache, deren Benutzung jedem mit Ausnahme des Eigentümers vorenthalten wird). Sehr viele Sprachen hatten zunächst kein Wort für „haben“, im Verlauf ihrer Entwicklung jedoch, vermutlich mit dem Aufkommen des Privateigentums, entwickelten sie es. (Vgl. É. Benveniste, 1966.) Ein weiteres Beispiel: Im zehnten oder elften Jahrhundert war in Europa die Vorstellung einer Welt ohne Bezugnahme auf Gott undenkbar, weshalb es auch ein Wort wie „Atheismus“ nicht geben konnte. Die Sprache selbst ist das Ergebnis der gesellschaftlichen Verdrängung gewisser Erfahrungen, die nicht in die Struktur der betreffenden Gesellschaft hineinpassen, und die Sprachen unterscheiden sich insofern, als verschiedenartige Erfahrungen verdrängt werden und daher nicht ausdrückbar sind. (Auf ein ganz anderes Problem möchte ich hier nicht eingehen, nämlich auf die Möglichkeit, subtile und komplexe Gefühlserfahrungen in Worte zu fassen, was nur in der Kunst möglich ist.)

Hieraus folgt, dass der kreative Denker im Sinne der Logik, der Gedankenmodelle und der ausdrückbaren Vorstellungen seiner Kultur denken muss. Das bedeutet, dass er noch nicht über die geeigneten Worte verfügt, um die kreative, die neue, die befreiende Idee auszudrücken. Er sieht sich gezwungen, ein unlösbares Problem zu lösen: den neuen Gedanken in Begriffe und Worte zu fassen, die in seiner Sprache noch nicht existieren. (Es kann sehr wohl sein, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt existieren, nachdem man seine kreativen Gedanken allgemein akzeptiert hat.) Die Folge ist, dass der neue Gedanke, so wie er von ihm formuliert wird, eine Mischung aus etwas wirklich Neuem und dem konventionellen Denken ist, über das er hinausreicht. Dem Denker freilich ist dies nicht bewusst. Die konventionellen Gedanken seiner Kultur sind für ihn unbezweifelbar wahr, weshalb er selbst kaum den Unterschied merkt [VIII-265] zwischen dem, was an seinem Denken kreativ und was rein konventionelles Gedankengut ist. Erst im historischen Prozess, wenn sich gesellschaftliche Veränderungen in den Veränderungen der Denkmodelle spiegeln, wird offenbar, was am Denken eines kreativen Denkers wirklich neu war und bis zu welchem Grad sein System lediglich ein Spiegelbild des herkömmlichen Denkens ist. Seinen Nachfolgern, die in einem anderen denkerischen Bezugsrahmen leben, bleibt es dann überlassen, den „Meister“ zu interpretieren, indem sie seine „originären“ Ideen von seinen konventionellen unterscheiden. Sie können die Widersprüche zwischen dem Neuen und dem Alten analysieren und müssen nicht mit allen möglichen Ausflüchten versuchen, die seinem System immanenten Widersprüche miteinander in Einklang zu bringen.

Die historische Rezeption eines Autors, bei der die wesentlichen und neuen von den nebensächlichen und zeitbedingten Elementen unterschieden werden, ist selbst das Produkt einer bestimmten historischen Periode, die ihrerseits die Interpretation beeinflusst. Bei dieser kreativen Interpretation mischen sich wiederum kreative und gültige Elemente mit zeitgebundenen und nur zufälligen. Eine solche kritische Rezeption ist nicht schlechthin richtig, wie auch die ursprüngliche Auffassung nicht schlechthin falsch war. Einige Elemente der Revision behalten ihre Gültigkeit, nämlich da, wo sie die Theorie von den Fesseln eines früheren konventionellen Denkens befreien. Im Prozess der kritischen Durchsicht früherer Theorien gelangen wir zu einer Annäherung an die Wahrheit, aber wir dringen nicht bis zur Wahrheit vor und können sie auch nicht finden, solange gesellschaftliche Widersprüche und Zwänge ideologische Verfälschungen unumgänglich machen und solange die Vernunft des Menschen durch irrationale Leidenschaften beeinträchtigt wird, die ihre Wurzeln in der Disharmonie und Irrationalität unseres gesellschaftlichen Lebens haben. Nur in einer Gesellschaft, in der es keine Ausbeutung gibt und die daher nicht auf irrationale Annahmen zurückgreifen muss, um die Ausbeutung zu vertuschen oder zu rechtfertigen, nur in einer Gesellschaft, in der die grundlegenden Widersprüche gelöst sind und in der die gesellschaftliche Wirklichkeit unverzerrt erkannt werden kann, kann der Mensch vollen Gebrauch von seiner Vernunft machen, und erst dann kann er die Wirklichkeit unentstellt erkennen, das heißt, erst dann kann er die Wahrheit sagen. Anders ausgedrückt: Die Wahrheit ist geschichtlich, sie hängt davon ab, bis zu welchem Grad in einer Gesellschaft Vernunft herrscht und Widersprüche nicht vorhanden sind.

Der Mensch kann die Wahrheit nur erfassen, wenn er sein gesellschaftliches Leben auf eine humane, würdige und vernünftige Weise ordnen kann, ohne Angst und daher ohne Gier. Politisch-religiös gesprochen heißt das: Nur in der Messianischen Zeit kann die Wahrheit erkannt werden, insoweit sie überhaupt erkennbar ist.

b) Die Wurzeln der Freudschen Fehler

Wenn man das Gesagte auf Freuds Denken anwendet, so muss man – um Freud zu verstehen – versuchen herauszufinden, welche seiner Entdeckungen wirklich neu und kreativ waren, bis zu welchem Grad er sie auf eine entstellte Weise ausdrücken musste [VIII-266] und wie seine Entdeckungen dadurch, dass sie von diesen Fesseln befreit wurden, nur umso fruchtbarer werden.

Gilt dies ganz allgemein in Bezug auf Freuds Denken, so erhebt sich nun die Frage, was für Freud in der Tat „undenkbar“ und daher eine Art „Straßensperre“ war, die er nicht überwinden konnte. Ich kann hier nur zwei Bereiche sehen:

(1) Der erste betrifft die Theorie des bürgerlichen Materialismus, die in Deutschland vor allem Männer wie Vogt, Moleschott und Büchner entwickelten. Büchner glaubte entdeckt zu haben, dass es keine Kraft ohne Stoff und keinen Stoff ohne Kraft gäbe (vgl. L. Büchner, 1855). Freuds Lehrer, insbesondere sein bedeutendster Lehrer, von Brücke, waren Vertreter des bürgerlichen Materialismus. Freud blieb stark von der Denkweise von Brückes und ganz allgemein vom bürgerlichen Materialismus beeinflusst, und er konnte sich unter diesem Einfluss einfach nicht vorstellen, dass es starke seelische Kräfte geben könne, für die keine spezifischen physiologischen Wurzeln nachweisbar seien.

Freuds eigentliches Ziel war es, menschliche Leidenschaften zu verstehen. Bisher hatten sich Philosophen, Dramatiker und Romanciers mit den Leidenschaften befasst, jedoch nicht die Psychologen oder Neurologen. Wie löste Freud das Problem? Zu einer Zeit, als noch ziemlich wenig über die hormonalen Einflüsse auf die Psyche bekannt war, sah Freud ein Phänomen, bei dem die Verbindung von Physiologischem und Psychischem wohlbekannt war: die Sexualität. Wenn es gelingt, die Sexualität als die Wurzel für alle Leidenschaften nachzuweisen, dann ist der theoretischen Forderung Genüge getan, denn die physiologische Wurzel psychischer Kräfte war entdeckt!

Es war später Jung, der diese Verbindung in Frage stellte. Darin liegt meiner Meinung nach eine wirklich wertvolle Ergänzung des Freudschen Denkens.

(2) Der zweite Bereich von nicht denkbaren Gedanken hängt mit Freuds bürgerlicher und autoritär-patriarchalischer Einstellung zusammen. Eine Gesellschaft, in der die Frau dem Mann wirklich gleichgestellt ist; in der die Männer trotz ihrer angeblichen physiologischen und psychischen Überlegenheit nicht Herrschaft ausüben, war für Freud einfach undenkbar. Als der von ihm sehr bewunderte John Stuart Mill seinen Gedanken über die Gleichwertigkeit der Frauen Ausdruck verlieh, schrieb Freud in einem Brief: „Dafür (...) fehlte ihm der Sinn für das Absurde in manchen Punkten (...)“ (S. Freud, 1960, S. 73). Das Wort „absurd“ ist ein sehr charakteristischer Ausdruck für etwas, das undenkbar ist. Die meisten Menschen bezeichnen gewisse Ideen als absurd, weil für sie nur das normal ist, was innerhalb des Bezugssystems des konventionellen Denkens liegt. Was darüber hinausgeht, ist für den Durchschnittsmenschen absurd. (Etwas anderes ist es, wenn der Autor – oder der Künstler – großen Erfolg hat. Ist Erfolg nicht eine Gewähr für geistige Gesundheit?) Genau die Tatsache, dass die Idee der Gleichwertigkeit der Frau für Freud undenkbar war, führte zu seiner Psychologie der Frau. Meiner Meinung nach ist seine Vorstellung, dass die Hälfte der Menschheit der anderen Hälfte biologisch, anatomisch und psychisch unterlegen ist, die einzige Idee in Freuds Denken, mit der man sich in keiner Weise abfinden kann, es sei denn, man nimmt sie als Schilderung einer männlich-chauvinistischen Einstellung. [VIII-267]

Aber der bürgerliche Charakter von Freuds Denken kommt keineswegs nur in dieser extremen Form des Patriarchalismus zum Ausdruck. Tatsächlich gibt es ja nur wenige Denker, die in dem Sinn „radikal“ sind, dass sie die Gedankenwelt ihrer Klasse überschreiten. Freud hat nicht zu ihnen gehört. Die Klassenbezogenheit seines Denkens ist praktisch in allen seinen theoretischen Behauptungen und in seiner gesamten Denkweise zu spüren. Wie hätte es auch anders sein können, da er ja kein radikaler Denker war? Es bestünde auch kein Grund, sich darüber zu beklagen, wenn seine orthodoxen (und unorthodoxen) Nachfolger sich nicht hierdurch in ihrer unkritischen Haltung bestätigt gefühlt hätten. Diese Einstellung Freuds erklärt auch, dass seine Schöpfung, die eine kritische Theorie – nämlich die Kritik des menschlichen Bewusstseins – ist, kaum mehr als eine Handvoll politisch-radikaler Denker hervorgebracht hat.

Man müsste ein ganzes Buch darüber schreiben, wollte man Freuds wichtigste Vorstellungen und Theorien vom Standpunkt ihrer Klassenbedingtheit aus analysieren. Es ginge jedenfalls weit über den Rahmen dieses Buches hinaus. So möchte ich nur einige wenige Beispiele dafür anführen.[3]

(1) Freuds therapeutisches Ziel war es, die instinkthaften Triebe durch die Stärkung des Ichs zu beherrschen. Sie mussten dazu vom Ich und vom Über-Ich bezwungen werden. Hierin kommt Freud dem mittelalterlichen theologischen Denken nahe, wenngleich mit dem wichtigen Unterschied, dass in seinem System für die Gnade und die mütterliche Liebe – über das reine Nähren des Kindes hinaus – kein Platz ist. Sein Schlüsselwort heißt „Beherrschung“. Der psychologische Begriff entspricht dabei der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Genau wie in der Gesellschaft die Mehrheit von einer Minderheit beherrscht wird, die die Macht innehat, glaubt man, so werde die Psyche durch die Autorität des Ichs und Über-Ichs beherrscht. Der Durchbruch des Unbewussten bringt die Gefahr einer Revolution auf gesellschaftlicher Ebene mit sich. Beherrschung und Verdrängung sind repressive autoritäre Methoden, um den inneren und äußeren Status quo zu bewahren. Repression ist jedoch keineswegs die einzige Weise, mit Problemen des gesellschaftlichen Wandels fertig zu werden. Gewaltandrohung als ein Mittel, um „Gefährliches“ niederzuhalten, ist nur innerhalb eines autoritären Systems eine Notwendigkeit, denn dort ist das höchste Ziel, den Status quo zu erhalten. Andere Modelle der Strukturierung des Individuums und andere Modelle der Gesellschaftsstruktur können konstruiert und erprobt werden. Letztlich geht es immer um die Frage, wieviel Verzicht auf Glück die in einer Gesellschaft herrschende Minderheit der Mehrheit aufbürden muss. Die Antwort hängt davon ab, wie stark die produktiven Kräfte in einer Gesellschaft entwickelt sind und wie gering dementsprechend die notwendige Frustration des Einzelnen ist. Das gesamte Schema von „Über-Ich, Ich und Es“ ist aber eine hierarchische Struktur, welche die Möglichkeit ausschließt, dass eine Gemeinschaft freier, das heißt nicht-ausgebeuteter Menschen in Harmonie leben kann, ohne zuvor finstere Mächte unter Kontrolle bringen zu müssen. [VIII-268]

(2) Für Freud ist die Frau ihrem Wesen nach narzisstisch, unfähig zu lieben und sexuell kalt. (Vgl. die 33. Vorlesung in S. Freud, 1933a.) Es versteht sich von selbst, dass dieses groteske Bild, das Freud von der Frau zeichnet, männliche Propaganda ist. Die Frau der Mittelklasse war meist sexuell frigid, weil die bürgerliche Heirat mit ihrem Besitz-Charakter Frauen hervorbrachte, deren frigide Körper bewiesen, dass sie der Besitz des Mannes waren. Nur die Frauen der Oberklasse und die Kurtisanen durften zum Subjekt werden, aktiv sein (oder es wenigstens vortäuschen).

Kein Wunder, dass die Männer die sexuelle Lust als Eroberung erlebten. Die Überbewertung des „Sexualobjektes“, die es nach Freud nur beim Mann gibt (ein weiterer Mangel der Frau), ist – soweit ich das beurteilen kann – im wesentlichen Freude an der Jagd und an der schließlichen Eroberung. Nachdem die Eroberung durch den ersten Geschlechtsverkehr sichergestellt war, wurde die Frau zu der Aufgabe abgestellt, Kinder zu gebären und eine tüchtige Hausfrau zu sein.[4] Aus einem Jagdobjekt verwandelte sie sich in eine Nicht-Person. Hätte Freud viele Patientinnen aus der obersten Schicht der französischen und englischen Aristokratie gehabt, so hätte er vielleicht sein strenges Bild von der frigiden Frau geändert.

(3) Das wichtigste Beispiel für die bürgerlichen Züge von Freuds scheinbar universalen Vorstellungen ist seine Vorstellung von der Liebe. Tatsächlich spricht Freud von der Liebe häufiger, als seine orthodoxen Schüler das gewöhnlich tun. Aber was versteht er unter Liebe? Es ist höchst bemerkenswert, dass Freud und seine Schüler gewöhnlich von „Objektliebe“ (im Gegensatz zur „narzisstischen Liebe“) und von einem „Liebesobjekt“ sprechen, worunter die Person, die man liebt, zu verstehen ist. Gibt es denn wirklich so einen Gegenstand wie ein Liebes-“Objekt“? Hört nicht die geliebte Person auf, ein Objekt – das heißt etwas außerhalb von mir – zu sein, das mir gegenübersteht? Ist Liebe nicht gerade jene innere Aktivität, die zwei Menschen vereint, so dass sie aufhören Objekte – das heißt Besitz des anderen – zu sein? Wenn man von Liebesobjekten spricht, so spricht man vom Haben unter Ausschluss jeder Form des Seins (vgl. E. Fromm, 1976a). Wenn man von „Liebesobjekten“ spricht, so ist das nichts anderes, als wenn ein Geschäftsmann von einer Kapitalanlage spricht. Im letzteren Fall wird das Kapital investiert, im ersteren Fall die Libido. Es ist nur logisch, dass in der psychoanalytischen Literatur häufig von der Liebe als von einer Investition von Libido in ein Objekt die Rede ist. Nur die Banalität einer Geschäftskultur kann die Liebe zu Gott, die Liebe zwischen Mann und Frau, die Liebe zum Menschen, die Begeisterung eines Rumi oder eines Eckhart, eines Shakespeare oder eines Albert Schweitzer auf die Beschränktheit der Phantasie von Leuten reduzieren, die einer Klasse angehören, die den Sinn ihres Lebens in Kapitalanlage und Profit sieht.

Aufgrund dieser theoretischen Prämissen ist Freud gezwungen, von Liebes-“Objekten“ zu sprechen, weil: „Libido Libido bleibt, ob sie nun auf Objekte oder auf das eigene Ich gewendet wird.“ (S. Freud, 1916-17, S. 435°f.) Die Liebe ist sexuelle [VIII-269] Energie, die an ein Objekt gebunden ist; sie ist nichts anderes als ein physiologisch verwurzelter, auf ein Objekt gerichteter Trieb. Sie ist sozusagen ein Abfallprodukt der biologischen Notwendigkeit, dass die Rasse überlebt. Bei Männern ist die „Liebe“ meist eine Art Abhängigkeit von Personen, die ihnen dadurch wertvoll geworden sind, dass sie ihre anderen vitalen Bedürfnisse (Essen und Trinken) befriedigen. Das heißt, dass sich die Liebe des Erwachsenen kaum von der des Kindes unterscheidet: Beide lieben die, von denen sie ernährt werden. Zweifellos trifft das bei vielen Menschen zu. Ihre Liebe ist eine Art liebevoller Dankbarkeit dafür, dass man ernährt wird. Schön und gut. Aber zu behaupten, das sei das Wesen der Liebe, ist auf peinliche Weise banal. Wie Freud (1933a, S.142°f.) sagt, können Frauen zu diesen Höhen nicht gelangen, weil sie „narzisstisch“ lieben, das heißt weil sie sich selbst im anderen lieben. Freud postuliert: „Das Lieben an sich, als Sehnen, Entbehren, setzt das Selbstgefühl herab, das Geliebtwerden, Gegenliebe finden, Besitzen des geliebten Objekts hebt es wieder.“ (S. Freud, 1914c, S. 167; Hervorhebung E. F.)

Diese Feststellung ist ein Schlüssel zum Verständnis von Freuds Liebesauffassung. Lieben impliziert Sehnen, und das Entbehren setzt das Selbstgefühl herab. Zu denen, die die Begeisterung und Kraft gepriesen haben, welche die Liebe dem Liebenden verleiht, sagt Freud: Ihr habt alle unrecht! Das Lieben macht euch schwach; was euch glücklich macht, ist geliebt zu werden. Und was heißt geliebt werden? Das Liebesobjekt besitzen! Es ist dies die klassische Definition der bürgerlichen Liebe: Besitzen und Beherrschen führt zum Glück, ob es sich nun um materiellen Besitz oder um eine Frau handelt, die, weil sie der Besitz des Mannes ist, ihrem Besitzer Liebe schuldet. Die Liebe beginnt mit der Ernährung des Kindes durch die Mutter. Sie endet damit, dass der Mann die Frau besitzt, die ihn immer noch mit ihrer Liebe, mit sexueller Lust und Nahrung zu versehen hat. Hier ist vielleicht auch der Schlüssel zur Idee des Ödipuskomplexes. Hinter dem Strohmann des Inzests versteckt Freud das, was er als das Wesen der Liebe des Mannes ansieht: das ewige Gebundensein an eine Mutter, die ihn füttert und die gleichzeitig von ihm beherrscht wird. Wahrscheinlich hat Freud, soweit es sich um patriarchalische Gesellschaften handelt, tatsächlich recht mit dem, was er zwischen den Zeilen sagt: Der Mann bleibt ein abhängiges Geschöpf, verleugnet dies aber, indem er sich mit seiner Kraft brüstet, welche er dadurch unter Beweis stellt, dass er die Frau zu seinem Besitz macht. Zusammengefasst heißt das: Die Hauptfaktoren der Haltung des patriarchalischen Mannes sind seine Abhängigkeit von der Frau und die Verleugnung dieser Abhängigkeit durch die Beherrschung der Frau. Wie so oft verwandelt Freud auch hier eine spezifische Eigenschaft, nämlich die der patriarchalischen männlichen Liebe, in ein universales menschliches Phänomen.

c) Das Problem der wissenschaftlichen „Wahrheit“

Es ist Mode geworden zu behaupten, Freuds Theorie sei „unwissenschaftlich“, und Vertreter der verschiedenen Zweige der akademischen Psychologie neigen besonders zu dieser Ansicht. Diese Behauptung hängt natürlich ganz und gar davon ab, was man [VIII-270] unter einer wissenschaftlichen Methode versteht. Viele Psychologen und Soziologen haben von wissenschaftlicher Methode eine etwas naive Vorstellung. Sie besteht kurz gesagt darin, dass man zunächst Tatsachen sammelt, dass man diese Tatsachen quantitativen Messungen verschiedener Art unterzieht – was die Computer heute außerordentlich erleichtern – und dass man dann als Resultat seiner Bemühungen erwartet, dass man zu einer Theorie oder wenigstens zu einer Hypothese gelangt. Weiterhin wird angenommen, dass genau wie bei einem naturwissenschaftlichen Experiment die Wahrheit der Theorie davon abhängt, ob das Experiment von jedermann wiederholt werden kann und dabei immer wieder zum gleichen Resultat führt. Probleme, die sich nicht auf diese Weise quantifizieren und statistisch erfassen lassen, betrachtet man als nicht-wissenschaftlich und verbannt sie deshalb aus dem Bereich der wissenschaftlichen Psychologie. Nach diesem Schema erklärt man ein, zwei oder drei Einzelfälle, die dem Beobachter die Möglichkeit geben, zu gewissen definitiven Schlussfolgerungen zu kommen, für mehr oder weniger wertlos, da sie sich nicht in einer so großen Anzahl von Fällen nachweisen lassen, wie sie für eine statistische Auswertung notwendig sind. Bei dieser Auffassung von wissenschaftlicher Methode spielt die Annahme eine wesentliche Rolle, dass die Fakten selbst die Theorie liefern, wenn man nur die richtige Methode anwendet, und dass das kreative Denken des Beobachters nur eine sehr geringe Rolle spielt. Man erwartet von ihm lediglich, dass er ein voraussichtlich befriedigendes Experiment geschickt aufbauen kann, ohne dass er dabei von einer eigenen Theorie ausgeht, die er durch das Experiment beweisen oder auch widerlegen möchte. Diese mit einer einfachen Folge von ausgewählten Fakten, Experiment und Gewissheit des Resultats arbeitende Auffassung von Wissenschaftlichkeit ist überholt, und es ist bezeichnend, dass unsere heutigen Naturwissenschaftler – Physiker, Biologen, Chemiker, Astronomen usw. – diese primitive Auffassung von wissenschaftlicher Methode längst aufgegeben haben.

Was kreative Wissenschaftler heute von den Pseudo-Wissenschaftlern in den Sozialwissenschaften unterscheidet, ist ihr Glaube an die Macht der Vernunft, ihre Überzeugung, dass die menschliche Vernunft und das menschliche Vorstellungsvermögen die trügerische Oberfläche der Erscheinungen durchdringen und zu Hypothesen gelangen kann, die sich mit den Kräften befassen, welche unter der Oberfläche liegen. Das Wesentliche dabei ist, dass sie alles andere eher erwarten als Gewissheit. Sie sind sich darüber klar, dass jede Hypothese über kurz oder lang durch eine andere ersetzt werden wird, die nicht unbedingt die erste negiert, sondern die sie modifiziert und erweitert.

Der Wissenschaftler kann diese Ungewissheit eben deshalb ertragen, weil er an die menschliche Vernunft glaubt. Es kommt ihm nicht darauf an, zu einem endgültigen Resultat zu kommen, sondern die Illusionen abzubauen und tiefer zu den Wurzeln vorzudringen. Der Wissenschaftler hat nicht einmal Angst davor, sich zu irren. Er weiß, dass die Geschichte der Wissenschaft eine Geschichte von fehlerhaften, aber produktiven, fruchtbaren Feststellungen ist, aus denen dann neue Einsichten gewonnen werden, welche die relative Fehlerhaftigkeit der älteren Feststellung überwinden und zu neuen Einsichten führen. Wenn die Wissenschaftler von dem Wunsch besessen wären, sich nicht zu irren, wären sie nie zu relativ richtigen Einsichten gelangt. [VIII-271] Wenn der Sozialwissenschaftler natürlich nur triviale Fragen stellt und seine Aufmerksamkeit nicht fundamentalen Problemen zuwendet, dann gelangt er mit seiner „wissenschaftlichen Methode“ zu Ergebnissen, und er kann endlose Abhandlungen schreiben, wie er sie um seiner akademischen Laufbahn willen schreiben muss.

Es war dies keineswegs immer die Methode der Sozialwissenschaften. Man braucht nur an Männer wie Marx, Durkheim, Mayo, Max und Alfred Weber und Tönnies zu denken. Sie haben sich unverkennbar mit fundamentalen Problemen befasst, und ihre Antworten gründeten sich nicht auf die naive und positivistische Methode, sich darauf zu verlassen, dass die statistischen Ergebnisse von selbst eine Theorie ergeben würden.

Für sie waren die Macht der Vernunft und ihr Glaube an diese Macht genauso wichtig und stark, wie dies bei den hervorragenden Naturwissenschaftlern der Fall ist. Aber in den Sozialwissenschaften haben sich die Dinge geändert. Viele Sozialwissenschaftler haben sich der wachsenden Macht der Großindustrie unterworfen und befassen sich hauptsächlich mit Problemen, deren Lösungen das System nicht in Frage stellen.

Welches Verfahren kennzeichnet nun aber die wissenschaftliche Methode sowohl in den Naturwissenschaften als auch in einer ernstzunehmenden Sozialwissenschaft?

  1. Der Wissenschaftler geht nicht vom Punkt Null aus, sondern sein Denken ist bestimmt von der Kenntnis früherer Theorien und von der Herausforderung von noch unerforschten Gebieten.
  2. Eine höchst genaue und detaillierte Erforschung der Phänomene ist die Voraussetzung für eine optimale Objektivität. Für den Wissenschaftler ist kennzeichnend, dass er vor den beobachtbaren Phänomenen den größten Respekt hat. Viele große Entdeckungen sind nur deshalb gemacht worden, weil ein Wissenschaftler kleinen Ereignissen seine Aufmerksamkeit zuwandte, die jeder zuvor schon gesehen, aber nicht beachtet hatte.
  3. Auf der Grundlage der ihm bereits bekannten Theorien und möglichst genauer Einzelkenntnisse formuliert er eine Hypothese. Die Aufgabe einer Hypothese sollte es sein, eine gewisse Ordnung in die beobachteten Phänomene zu bringen und diese versuchsweise so anzuordnen, dass sie sinnvoll erscheinen. Von wesentlicher Bedeutung ist es auch, dass der Forscher jeden Augenblick in der Lage ist, neue Daten zu beachten, die vielleicht im Widerspruch zu seiner Hypothese stehen und zu einer Revision dieser Hypothese führen, und so weiter ad infinitum.
  4. Diese wissenschaftliche Methode setzt natürlich voraus, dass der betreffende Forscher von Wunschdenken und Narzissmus wenigstens einigermaßen frei ist. Er muss die Tatsachen objektiv beobachten können, ohne sie zu verzerren oder ihnen nur deswegen ein unangebrachtes Gewicht zu verleihen, weil er beweisen möchte, dass seine Hypothese richtig ist. Die Verbindung von weitreichender Phantasie und Objektivität wird nur selten erreicht, was vermutlich der Grund dafür ist, dass große Wissenschaftler, die beide Bedingungen erfüllen, so selten sind. Eine hohe Intelligenz mag erforderlich sein, aber sie ist noch keine hinreichende Voraussetzung dafür, dass man ein kreativer Wissenschaftler wird. Tatsächlich ist eine vollkommene Objektivität so gut wie nie zu erreichen. Erstens wird der Wissenschaftler, wie bereits erwähnt, stets vom „gesunden Menschenverstand“ seiner Zeit beeinflusst, und nur außergewöhnliche [VIII-272]„“