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5. Prinzipien des Zen-Buddhismus

Auf den vorstehenden Seiten habe ich eine kurze Skizze der Freudschen Psychoanalyse und ihrer Weiterentwicklung in der humanistischen Psychoanalyse gegeben. Ich habe über die Existenz des Menschen und die Frage, die sie aufwirft, gesprochen sowie über das Wesen des Wohl-Seins, das als Überwindung von Entfremdung und Getrenntheit definiert wurde, und über die spezielle Methode, mit der die Psychoanalyse versucht, ihr Ziel zu erreichen, indem sie in das Unbewusste eindringt. Ich habe die Frage behandelt, was das Wesen des Unbewussten und des Bewusstseins ist und was „Wissen“ und „Bewusstwerden“ in der Psychoanalyse bedeuten, und schließlich habe ich die Rolle des Psychoanalytikers bei dem Vorgang besprochen.

Um die Vorbedingungen für eine Diskussion der Beziehungen zwischen der Psychoanalyse und dem Zen zu schaffen, müsste ich eigentlich eine systematische Übersicht über den Zen-Buddhismus geben. Glücklicherweise ist das nicht notwendig, da Dr. Suzukis Vorträge in diesem Buch[19] (sowie seine anderen Veröffentlichungen) genau das Ziel verfolgen, ein Verständnis des Wesens des Zen zu vermitteln, soweit das mit Worten überhaupt möglich ist. Ich muss jedoch von denjenigen Prinzipien des Zen sprechen, die eine direkte Beziehung zur Psychoanalyse haben.

Das Wesentliche am Zen ist der Gewinn von Erleuchtung (Satori). Wer dieses Erlebnis nicht gehabt hat, kann Zen niemals vollkommen verstehen. Da ich selbst Satori nicht erlebt habe, kann ich über Zen nur am Rande und nicht so darüber sprechen, wie man es eigentlich sollte – aus dem Reichtum des Erlebnisses heraus. Aber das ist nicht deshalb, wie C. G. Jung gemeint hat, weil Satori „eine Art und einen Weg der Erleuchtung bezeichnet, welche nachzufühlen dem Europäer fast unmöglich ist“ (C. G. Jung, 1939). In dieser Hinsicht ist Zen für den Europäer nicht schwieriger als Heraklit, Meister Eckhart oder Heidegger. Die Schwierigkeit liegt an der ungeheuren Anstrengung, die zur Erlangung des Satori erforderlich ist; diese Anstrengung ist mehr, als die meisten Menschen auf sich zu nehmen bereit sind, und deshalb ist Satori sogar in Japan selten. Jedoch, wenn ich auch über Zen nicht als Autorität sprechen kann, hat mir das Glück, dass ich Suzukis Bücher kennengelernt, eine ganze Anzahl seiner Vorträge gehört und auch sonst alles über den Zen-Buddhismus gelesen habe, was mir zugänglich war, wenigstens eine ungefähre Vorstellung vermittelt, worin [VI-335] Zen besteht, eine Vorstellung, die, wie ich hoffe, mich befähigt, den Versuch eines Vergleichs zwischen dem Zen-Buddhismus und der Psychoanalyse zu wagen.

Was ist das Hauptziel des Zen? Mit Suzukis Worten:

Zen ist seinem Wesen nach die Kunst, in die Natur seines Seins zu blicken, und es zeigt den Weg von der Knechtschaft zur Freiheit. (...) Wir können sagen, dass das Zen alle Energien freisetzt, die in jedem von uns richtig und natürlich aufgespeichert, aber unter normalen Bedingungen verkrampft und verzerrt sind, so dass sie keinen angemessenen Kanal zur Betätigung finden. (...) Es ist deshalb das Ziel des Zen, uns davor zu bewahren, geisteskrank oder verkrüppelt zu werden. Das verstehe ich unter Freiheit, dass man allen schöpferischen und wohlwollenden Impulsen, die in unseren Herzen schlummern, freien Spielraum lässt. Im allgemeinen sind wir der Tatsache gegenüber blind, dass wir alle notwendigen Fähigkeiten besitzen, die uns glücklich und anderen gegenüber liebevoll machen. (D. T. Suzuki, 1956, S. 3.)

Wir finden in dieser Definition eine Anzahl wesentlicher Aspekte des Zen, die ich gerne hervorheben möchte: Zen ist die Kunst, in die Natur seines Seins zu blicken, es ist ein Weg von der Knechtschaft zur Freiheit, es setzt unsere natürlichen Energien frei, es bewahrt uns davor, geisteskrank oder verkrüppelt zu werden, und es zwingt uns, unserer Fähigkeit zum Glücklichsein und zur Liebe Ausdruck zu verleihen.

Das höchste Ziel des Zen ist das Erlebnis der Erleuchtung, Satori genannt. Dr. Suzuki hat es in diesen Vorträgen und seinen anderen Veröffentlichungen so genau beschrieben, wie dies überhaupt möglich ist. Ich möchte hier einige Aspekte hervorheben, die für den westlichen Leser und vor allem für den Psychologen von besonderer Bedeutung sind. Satori ist keine abnorme Geistesverfassung, es ist kein Trancezustand, in der die Wirklichkeit verschwindet. Es ist kein narzisstischer Gemütszustand, wie man ihn bei manchen religiösen Erscheinungen beobachten kann. Es ist höchstens „der vollkommen normale Zustand des Geistes“. Wie Joshu erklärte: „Zen ist euer tägliches Denken“, und: „es hängt von der Art, wie eine Türangel angebracht ist, ab, ob die Tür nach innen oder nach außen aufgeht“. Satori hat auf den Menschen, der es erlebt, eine eigenartige Wirkung.

Alle deine geistigen Kräfte wirken in einem neuen Grundton, beglückender, friedvoller, freudiger als je zuvor. Die Tonart des Lebens ist geändert. Es liegt etwas Verjüngendes im Besitz des Zen. Die Frühlingsblumen lachen heiterer, der Bergstrom rinnt kühler und klarer zu Tal. (D. T. Suzuki, 1934, S. 97°f.; dt.: S. 136.)

Offensichtlich ist Satori die wahre Erfüllung des Zustandes des Wohl-Seins, den Dr. Suzuki im oben zitierten Absatz beschrieben hat. Wenn wir versuchen, die Erleuchtung mit psychologischen Ausdrücken zu beschreiben, möchte ich sagen, sie sei ein Zustand, in dem der Mensch mit der Wirklichkeit in sich und außerhalb seiner vollkommen übereinstimmt, ein Zustand, in dem er sich ihrer vollkommen bewusst ist und sie vollkommen erfasst. Er ist sich ihrer bewusst – das heißt, weder sein Gehirn noch irgendein anderer Teil seines Organismus, sondern er, der ganze Mensch. Er ist sich ihrer bewusst, und zwar nicht als eines Objektes, das er mit seinem Denken erfasst, sondern ihrer, der Blume, des Hundes, des Menschen, in ihrer oder seiner vollen Realität. Wer erwacht, ist für die Welt offen und aufnahmefähig, und er kann offen und aufnahmefähig sein, weil er aufgehört hat, an sich als an einem Ding festzuhalten, und [VI-336] weil er dadurch leer und aufnahmebereit geworden ist. Erleuchtung bedeutet „das volle Erwachen des ganzen Menschen zur Wirklichkeit“.

Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass der Zustand der Erleuchtung kein Zustand der Dissoziation oder Trance ist, in dem man glaubt, erwacht zu sein, während man in Wirklichkeit tief schläft. Der westliche Psychologe wird natürlich geneigt sein zu glauben, dass Satori nur ein subjektiver Zustand, eine Art selbstinduzierter Trance sei, und selbst ein Psychologe, der dem Zen so anteilnehmend gegenübersteht wie Dr. Jung, verfällt in den gleichen Fehler. Jung schreibt:

Auch die Einbildung ist ein psychischer Vorgang, weshalb es völlig irrelevant ist, ob eine „Erleuchtung“ „wirklich“ oder „eingebildet“ genannt wird. Der, welcher eine Erleuchtung hat oder zu haben vorgibt, meint auf alle Fälle, erleuchtet zu sein. (...) Selbst wenn er löge, wäre seine Lüge eine seelische Tatsache. (C. G. Jung, 1939.)

Das entspricht natürlich Jungs allgemeiner relativistischer Einstellung in Bezug auf die „Wahrheit“ religiöser Erfahrungen. Im Gegensatz zu ihm glaube ich, dass eine Lüge niemals eine „geistige Tatsache“ oder irgendeine andere Tatsache ist, außer, dass sie eine Lüge ist. Wie dem aber auch sein mag, Jungs Einstellung wird ganz gewiss nicht von Zen-Buddhisten geteilt. Im Gegenteil, es ist für sie von höchster Bedeutung, zwischen dem echten Satori-Erlebnis, in dem wirklich ein neuer Gesichtspunkt gefunden wird und das daher wahr ist, und einem Pseudoerlebnis zu unterscheiden, das hysterischer oder psychotischer Natur sein kann und in dem der Zen-Schüler überzeugt ist, dass ihm Satori zuteilwurde, während ihm der Zen-Meister klarmachen muss, dass es nicht der Fall ist. Genau das ist eine der Funktionen des Zen-Meisters, wachsam zu sein, dass der Schüler wirkliche und eingebildete Erleuchtung nicht verwechselt.

Für die Wirklichkeit hellwach zu sein bedeutet, wieder in psychologischen Begriffen gesprochen, dass man eine vollkommen „produktive Orientierung“[20] erlangt hat. Das heißt, dass man sich zur Welt nicht rezeptiv, ausbeutend, hortend oder in der Weise des Marketing-Menschen in Beziehung setzt, sondern schöpferisch und tätig (im Sinne Spinozas). Im Zustand voller Produktivität gibt es keine Schleier, die das Ich vom Nicht-Ich trennen. Das Objekt ist kein Objekt mehr; es steht nicht mehr mir gegenüber, sondern ist bei mir. Die Rose, die ich sehe, ist kein Objekt für mein Denken, so wie wir sagen: „Ich sehe eine Rose“, und damit nur feststellen, dass das Objekt, eine Rose, zu der Gattung „Rose“ gehört, sondern in der Bedeutung: „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.“

Der Zustand der Produktivität ist gleichzeitig der Zustand der größten Objektivität; ich sehe das Objekt ohne Entstellung durch meine Gier und Angst. Ich sehe es, wie es ist, nicht wie ich will, dass es ist oder nicht ist. Bei dieser Art der Wahrnehmung gibt es keine parataktischen Entstellungen, sondern sie ist vollkommen lebendig, und es besteht eine Synthese zwischen Subjektivität und Objektivität. Ich erlebe intensiv – und doch bleibt das Objekt das, was es ist. Ich erwecke es zum Leben – und es erweckt mich zum Leben. Das Satori erscheint nur dem geheimnisvoll, der sich nicht bewusst ist, in welchem Ausmaß seine Wahrnehmung der Welt rein gedanklicher oder parataktischer Natur ist. Wenn man sich dessen bewusst ist, ist man sich auch eines anderen Bewusstseins bewusst, das man auch ein vollkommen realistisches Bewusstsein nennen kann. Vielleicht hat man nur Bruchstücke davon empfunden – und doch kann man sich vorstellen, was es ist. Ein kleiner Junge, [VI-337] der Klavier spielen lernt, spielt nicht wie ein großer Künstler. Und doch ist das Spiel des Künstlers nichts Geheimnisvolles, sondern nur die Vervollkommnung des rudimentären Erlebnisses, das der Junge hat.

Dass die unentstellte und ohne Denkarbeit gewonnene Wahrnehmung der Wirklichkeit ein wesentliches Element der Zen-Erfahrung ist, wird in zwei Zen-Geschichten deutlich zum Ausdruck gebracht. Die eine schildert das Gespräch eines Meisters mit einem Mönch:

„Bemühst du dich je, die Wahrheit zu lernen?“
„Ja.“
„Wie übst du dich?“
„Wenn ich hungrig bin, esse ich; wenn ich müde bin, schlafe ich.“
„Das tut doch jeder. Kann man von ihnen sagen, sie übten sich auf die gleiche Weise wie du?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Wenn sie essen, so essen sie nicht, sondern denken an verschiedene andere Dinge und lassen sich hierdurch stören; wenn sie schlafen, so schlafen sie nicht, sondern träumen von tausenderlei Dingen. Deshalb sind sie nicht wie ich.“
(D. T. Suzuki, 1934, S. 86; dt.: S. 120.)

Die Geschichte bedarf kaum einer Erklärung. Der Durchschnittsmensch, der von Unsicherheit, Gier und Angst getrieben wird, ist unaufhörlich in eine Phantasiewelt verstrickt (ohne sich notwendigerweise dessen bewusst zu sein), in der er der Welt Eigenschaften verleiht, die er in sie hineinprojiziert, die aber nicht in ihr vorhanden sind. Das traf schon damals zu, als dieses Gespräch geführt wurde; um wieviel mehr trifft es heute zu, wo fast jeder nur noch mit seinen Gedanken sieht, hört, fühlt und schmeckt, anstatt mit jenen Kräften in ihm, die sehen, hören, fühlen und schmecken können.

Die andere, ebenso bezeichnende Feststellung ist die eines Zen-Meisters, der sagte: „Bevor ich erleuchtet wurde, waren die Flüsse Flüsse und die Berge Berge. Als ich den Weg zur Erleuchtung beschritt, waren die Flüsse keine Flüsse und die Berge keine Berge mehr. Jetzt, da ich erleuchtet bin, sind die Flüsse wieder Flüsse und die Berge wieder Berge.“ Wieder sehen wir die neue Einstellung zur Wirklichkeit. Der Durchschnittsmensch ist wie der Mann in Platos Höhle, der nur die Schatten sieht und sie für die Wirklichkeit hält. Sobald er einmal diesen Irrtum erkannt hat, weiß er nur, dass die Schatten nicht die Wirklichkeit sind. Aber wenn er erleuchtet ist, hat er die Höhle und ihre Finsternis verlassen und ist ins Licht getreten: Hier sieht er die Wirklichkeit und nicht die Schatten. Er ist wach. Solange er im Dunkel ist, kann er das Licht nicht verstehen (wie die Bibel sagt: „Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen“, Jo 1,5). Sobald er aus der Finsternis heraus ist, begreift er den Unterschied zwischen der Schattenwelt, die er sah, und der wirklichen Welt, die er jetzt sieht.

Das Ziel des Zen ist die Kenntnis des eigenen Wesens. Es strebt nach dem „Erkenne dich selbst! „Aber dieses Wissen ist nicht das „wissenschaftliche“ Wissen des modernen Psychologen, das Wissen des Verstandes des Wissenden, der sich als Objekt [VI-338] kennt; die Kenntnis des Selbst im Zen ist ein Wissen, das nicht intellektuell und nicht entfremdet, sondern die Total-Erfahrung ist, in der Wissen und Gewusstes eins werden. Wie es Suzuki ausgedrückt hat: „Die Grundidee des Zen besteht darin, mit dem inneren Wirken unseres Wesens in Berührung zu kommen, und zwar auf die unmittelbarste Weise, ohne auf etwas Äußerliches oder Überlagertes zurückzugreifen.“ (D. T. Suzuki, 1934, S. 44; dt.: S. 60.)

Diese Einsicht in das eigene Wesen ist keine intellektuelle und äußerliche, sondern eine erlebte und sozusagen innere Einsicht. Für das Zen ist dieser Unterschied zwischen intellektuellem und erlebtem Wissen von höchster Wichtigkeit und bildet gleichzeitig eine der Grundschwierigkeiten für den Menschen des Westens, wenn er versucht, Zen zu verstehen. Der Westen (mit nur wenigen Ausnahmen, wie den Mystikern) glaubt seit zweitausend Jahren daran, dass sich eine endgültige Antwort auf das Problem der Existenz gedanklich geben lässt. In der Religion und in der Philosophie ist die „richtige Antwort“ von überragender Bedeutung. Darauf zu bestehen, bildet die Voraussetzung für die Blüte der Naturwissenschaften. In ihnen ist der richtige Gedanke, wenn er auch auf das Problem der Existenz keine endgültige Antwort gibt, ein Teil der Methode, und er ist für die Anwendung des Gedankens auf die Praxis, das heißt für die Technik, notwendig. Das Zen hingegen setzt voraus, dass sich die letzte Antwort auf das Leben nicht durch Denken geben lässt.

Die intellektuelle Schablone von „Ja“ und „Nein“ ist ganz bequem, wenn die Dinge normal laufen, sobald jedoch die letzte Frage des Lebens aufgeworfen wird, ist der Verstand nicht imstande, eine befriedigende Antwort zu geben. (D. T. Suzuki, 1934, S. 67; dt.: S. 93.)

Aus diesem Grunde kann das Satori-Erlebnis niemals mit dem Verstand begreiflich gemacht werden. Es ist

ein Erlebnis, das durch keine Menge von Erklärungen und Argumenten anderen mitgeteilt werden kann, wenn es ihnen nicht bereits zuteil wurde. Wenn sich das Satori analysieren lässt, so dass es dadurch für einen anderen, der es niemals erlebt hat, vollkommen klar wird, so ist dieses Satori kein Satori. Denn ein Satori, das in einen Begriff verwandelt wird, ist nicht mehr es selbst; und es wird kein Zen-Erlebnis mehr geben. (D. T. Suzuki, 1934, S. 92; dt.: S. 128°f.)

Die letzte Antwort auf das Leben lässt sich also durch keine verstandesmäßige Formulierung geben; ja, um die Erleuchtung zu erlangen, muss man auch die vielen konstruierten Gebilde des Geistes fallenlassen, die eine wahre Einsicht behindern.

Das Zen will den Geist frei und unbehindert; selbst die Idee der Einheit und Allheit ist ein Hindernis und ein Fallstrick, die die ursprüngliche Freiheit des Geistes bedrohen. (D. T. Suzuki, 1934, S. 41; dt.: S. 56.)

Als weitere Folge ist der Begriff der Anteilnahme und des Einfühlungsvermögens, die von westlichen Psychologen so sehr betont werden, für das Denken des Zen unannehmbar.

Die Idee der Anteilnahme und des Einfühlungsvermögens ist eine verstandesmäßige Interpretation einer ursprünglichen Empfindung, während die Empfindung selbst keinen Platz für irgendeinen Widerspruch lässt. Aber der Verstand drängt sich auf und zerbricht die Empfindung, damit sie verstandesmäßiger Verarbeitung zugänglich ist, was eine Unterscheidung oder Spaltung bedeutet. Das ursprüngliche Gefühl der Identität geht dann verloren, und der Verstand kann auf seine charakteristische Weise die Wirklichkeit in Stücke brechen. Die Anteilnahme oder das Einfühlungsvermögen ist das Ergebnis der [VI-339] Bearbeitung durch den Verstand. Der Philosoph, der keine ursprüngliche Empfindung hat, wird geneigt sein, sich damit zufriedenzugeben. (D. T. Suzuki 1957, S. 105.)

Nicht nur der Verstand, sondern alle autoritativen Begriffe oder Wendungen beschränken die Spontaneität des Empfindens, deshalb

misst das Zen den heiligen Sutras oder ihrer Auslegung durch die Weisen und Gelehrten keine wesentliche Bedeutung bei. Das persönliche Empfinden wirkt der Autorität und objektiven Offenbarung stark entgegen. (D. T. Suzuki, 1934, S. 34; dt. S. 45.)

Das Zen besteht weder auf einem Gott, noch leugnet es ihn. „Das Zen will absolute Freiheit, selbst Freiheit von Gott“ (D. T. Suzuki, 1934, S. 97; dt.: S. 135). Sogar von Buddha will es gleichermaßen frei sein; deshalb der Ausspruch des Zen: „Reinige deinen Mund, wenn du das Wort Buddha aussprichst.“

Gemäß der Einstellung des Zen zur verstandesmäßigen Einsicht ist sein Lehrziel nicht wie im Westen eine immer größere Verfeinerung des logischen Denkens, sondern seine Methode „besteht darin, jemand in eine Zwangslage zu bringen, aus der er sich bemühen muss, nicht durch Logik, sondern durch einen Geist einer höheren Stufe, zu entkommen“ (D. T. Suzuki, 1934, S. 40; dt.: S. 55). Demgemäß ist der Lehrer nicht ein Lehrer im westlichen Sinne. Er ist ein Meister, weil er seinen eigenen Geist gemeistert hat und daher imstande ist, dem Schüler das einzige mitzuteilen, was sich mitteilen lässt: seine Existenz.

Trotz allem, was der Meister tun kann, kann er doch den Schüler nicht das Ding erfassen lassen, wenn dieser dafür nicht vollkommen vorbereitet ist. (...) Die höchste Wirklichkeit kann man nur selbst erfassen. (D. T. Suzuki, 1956, S. 96.)

Die Einstellung des Zen-Meisters zu seinem Schüler ist für den modernen westlichen Leser verwirrend, der in der Alternative zwischen einer irrationalen Autorität, die die Freiheit beschränkt und ihr Objekt ausbeutet, und einem laissez-faire, das jede Autorität vermissen lässt, gefangen ist. Das Zen stellt eine andere Form der Autorität dar, die „rationale Autorität“. Der Meister ruft den Schüler nicht; er will von ihm nichts, nicht einmal, dass er erleuchtet wird; der Schüler kommt freiwillig und geht freiwillig. Aber wenn er von dem Meister lernen will, muss er die Tatsache anerkennen, dass der Meister ein Meister ist, das heißt, dass der Meister weiß, was der Schüler wissen will und selbst noch nicht weiß. Für den Meister

gibt es nichts, was durch Worte zu erklären wäre, nichts von der Art einer heiligen Lehre. Dreißig Stockschläge, ob du zustimmst oder ablehnst. Steh nicht schweigend da, noch ergehe dich in Reden. (D. T. Suzuki, 1934, S. 49; dt.: S. 68.)

Der Zen-Meister wird gleichzeitig durch das völlige Fehlen jeglicher irrationalen Autorität und durch die gleichermaßen starke Bejahung jener nicht gebieterischen Autorität gekennzeichnet, deren Ursprung genuine Erfahrung ist.

[VI-340]