3Lorenzo Marsili/Niccolò Milanese

Wir heimatlosen Weltbürger

Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer

Mit einem Vorwort von Ulrike Guérot und Robert Menasse

Suhrkamp

7Vorwort zur deutschen Ausgabe

Ulrike Guérot/Robert Menasse

Vor mehr als zehn Jahren haben Lorenzo Marsili und Niccolò Milanese die transnationale Bewegung European Alternatives gegründet, die seither stetig gewachsen ist. In ihrem Buch Citizens of Nowhere, das nun auch auf Deutsch vorliegt, ziehen sie Bilanz über die erste Dekade ihrer unermüdlichen Arbeit an einem anderen, einem demokratischen und sozialen Europa. Sie rekapitulieren die Bankenkrise, die sich zu einer Staatsschuldenkrise entwickeln sollte, und zeichnen nach, wie seit 2011 in der EU eine horizontal vernetzte Zivilgesellschaft entstand, die auf dem Syntagma-Platz in Athen, vor der St. Paul's Cathedral in London oder auf der Puerta del Sol in Madrid ihr Recht einforderte, nicht länger Bürgerinnen und Bürger »von nirgendwo zu sein«, wie Theresa May einst verächtlich schnaubte, sondern Bürgerinnen und Bürger Europas.

Die europäischen Bürger spielen die zentrale Rolle im Buch von Marsili und Milanese: Wie können sie in Zukunft so an der transnationalen Demokratie mitwirken, dass Europa nicht länger über die Köpfe der Menschen hinweg gemacht wird? Marsili und Milanese plädieren für eine europäische Politik jenseits des Nationalstaats, und dies wirft die Frage auf, ob eine gemeinsame Demokratie ebenso möglich ist wie ein gemeinsamer europäischer Markt und eine gemeinsame Währung. Das Motto von European Alternatives lautet »Democracy, equality and culture beyond the nation state«. Bedeutet das »beyond the nation state«, aber nicht »beyond the state«?

8Implizit legen Marsili und Milanese damit die Frage nach einer europäischen Staatlichkeit auf den Tisch. Für ein deutschsprachiges Publikum dürfte dieses Buch besonders interessant sein, da die europäische Krise mitsamt ihrer Spar- und Austeritätspolitik, die vor allem in Südeuropa einen großen sozialen und politischen Flurschaden hinterlassen hat, an Deutschland und Österreich weitgehend unbemerkt vorbeigezogen ist. Wie sehr die Menschen im deutschsprachigen Raum dabei oft auf einer Insel der Seligen leben, zeigt exemplarisch Jean-Claude Junckers zwischen Absurdität und Populismus changierender Vorstoß zur Sommerzeit. Der Kommissionspräsident ließ eine Umfrage dazu veranstalten, ob die bislang zweimal jährlich erfolgende Zeitumstellung abgeschafft werden soll. Die Beteiligungsraten zeigen, dass dieses Thema vor allem Deutsche und Österreicher interessierte. Insgesamt votierten 84 Prozent der Teilnehmer für die Abschaffung der Zeitumstellung. Von den 4,6 Millionen Teilnehmerinnen stammten jedoch etwa drei Millionen aus Deutschland. Hier lag die Beteiligung bei 3,8 Prozent der Bevölkerung, in Österreich bei 2,9, in Luxemburg immerhin noch bei 1,8. Im übrigen Europa war sie jedoch verschwindend gering: 0,6 Prozent in Frankreich, 0,3 in Polen, 0,04 in Italien usw. Der Kommissionspräsident gab sich dennoch bürgernah und handlungsfähig: »Die Menschen wollen das, wir machen das.« Dass es im Wesentlichen nur die Deutschen wollten, focht ihn nicht an.

Europa, das heißt vor allem, europäische Mitte und Peripherie in Einklang zu bringen. Wenn die europäische Mitte keine zentripetalen Kräfte aufbringt, erliegen die peripheren Regionen zentrifugalen Fliehkräften. Am Ende steht die »Mitte« allein da. Das absurde Beispiel der Sommerzeit-Umfrage unterstreicht, dass es in Europa nicht immer nur um die 9deutsche Befindlichkeit gehen kann. Europäisch denken heißt die anderen Europäerinnen und Europäer mitdenken. Helmut Kohl hat das immer getan. Doch mittlerweile ist dieses Mitdenken Europas Deutschland weitgehend abhandengekommen.

Was mit Blick auf die Sommerzeit wie eine Posse anmutet, ist bitterer Ernst, wenn wir auf die komplizierten sozioökonomischen Zusammenhänge blicken, auf die Wirren der Eurokrise, die sich zu einer handfesten Populismuskrise ausgewachsen hat, die fast alle europäischen Parteiensysteme sprengt. Der Unterschied zwischen der Selbst- und der Fremdwahrnehmung Deutschlands war und ist dabei dramatisch: Nein, Deutschland hat zu keinem Zeitpunkt der europäischen Krise »für die anderen bezahlt«, sondern an Binnenmarkt, Euro und auch an der Eurokrise verdient. Nein, die europäischen Institutionen sind nicht alternativlos, sondern müssen dringend reformiert werden, vor allem die Eurozonen-Governance – wogegen sich vor allem Deutschland stets gewehrt hat; ja, Europa ist immer noch in einer tiefen politischen, institutionellen und ökonomischen Krise, auch wenn die deutsche Wirtschaft lange Zeit boomte! Und ja, auch wenn es für weite Teile der deutschen Öffentlichkeit das bestgehütete Geheimnis ist: Es gibt eine deutsche Mitverantwortung am derzeitigen Zustand Europas, weil Deutschland (und die Länder in seinem Speckgürtel, also Österreich, die Niederlande oder auch Finnland) während der Krisenjahre penetrant nur sogenannte nationale Interessen verteidigt, wirtschaftspolitische Diskussionen nationalökonomisch ideologisch überhöht (»schwarze Null«), institutionelle Reformen verschleppt und die ökonomischen Effekte der eigenen Politik auf die Nachbarstaaten in innenpolitischen Diskussionen stets ausgeblendet hat. Das vielzitierte »europäische Demokratiedefi10zit« lässt an dieser Stelle grüßen: Die Bürgerinnen und Bürger anderer Länder Europas können eben in Deutschland nicht wählen, von wo aus Politiker in ihr Leben hineinregieren. Wo Deutschland sich jahrelang in der Rolle des europäischen Paulus wähnte, war es in den Augen vieler Europäer längst wieder der europäische Saulus.

Dass es inzwischen gemeinhin als links gilt, Derartiges zu schreiben, ist frappierend und macht deutlich, wie weit zum Beispiel die CDU in Sachen Europa nach rechts gerückt ist. Thomas Mann sprach einmal davon, wir bräuchten kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland. Doch wo das europäische Deutschland in den letzten Jahren nicht im Angebot war, haben sich viele europäische Länder bei der Frage »deutsches Europa« (so auch der Titel eines kleinen Büchleins des verstorbenen Soziologen Ulrich Beck aus dem Jahr 2012) oder »kein Europa« für »kein Europa« entschieden. Deutschland zahlt längst einen Preis dafür, auch wenn die meisten deutschen Bürgerinnen und Bürger sich dessen nicht bewusst sind. Ein Blick auf die derzeitigen deutsch-griechischen, deutsch-polnischen oder auch die deutsch-französischen Beziehungen reicht: Völker haben Gedächtnisse, und Deutschland wird sich dieser Mitverantwortung für den Zustand Europas irgendwann stellen müssen. In den Geschichtsbüchern über die europäische Krise der letzten Dekade wird jedenfalls nicht stehen, dass Europa an fehlenden griechischen Katasterämtern gescheitert ist. Die anstehenden europäischen Wahlen könnten also ein guter Moment dafür sein, diese Diskussion endlich auch in Deutschland zu führen, denn inzwischen fängt Deutschland seinerseits an, unter seiner »Ent-Europäisierung« zu leiden. Vielleicht kann dieses Buch einen Beitrag dazu leisten, in die Köpfe und Herzen anderer Europäer zu schauen.

11Das neue, andere, demokratische und soziale Europa wird nicht ohne, geschweige denn gegen Deutschland (und seinen europäischen Speckgürtel) entstehen. Vor allem die bundesdeutsche Bevölkerung muss wieder für die Perspektive eines politischen Europa gewonnen werden, und die deutsche Politik muss aus ihrer Abwehrhaltung, die in öffentlichen Debatten gerne mit dem Totschlagargument, eine »Transferunion« sei deutschen Steuerzahlern nicht zumutbar, geführt wird, befreit werden. Es geht nicht um eine »Transferunion«, sondern perspektivisch darum, den gemeinsamen Markt und die gemeinsame Währung, auf die niemand verzichten möchte, in demokratische und soziale Strukturen einzubetten. Mit dem deutschen Ansatz, der an George Orwells Animal Farm erinnert (einige sind immer ein bisschen »gleicher«), wird kein demokratisches Europa entstehen.

Aber: Wenn es also einen gemeinsamen Blick auf die europäische Krise und ihre Auslöser gibt, die in den vergangenen Jahren eine bis dato in Europa unvorstellbare gesellschaftspolitische Regression, einen gefährlichen Rückbau der Rechtsstaatlichkeit und eine spürbare Re-Nationalisierung hervorgebracht hat, dann gibt es auch einen gemeinsamen Weg aus der Krise. Nur so hat Europa eine Chance, gemeinsam als soziale und gesellschaftlich akzeptierte Demokratie sowie politische Einheit ins 21. Jahrhundert zu gelangen, anstatt wieder in den Nationalismus abzugleiten. Erst der gemeinsame europäische Blick auf die Krisendekade kann gemeinsame europäische Alternativen hervorbringen. Und damit sind wir mitten im vorliegenden Buch von Lorenzo Marsili und Niccolò Milanese.

Differenziert, feinsinnig und vor allem gespeist aus eigenen Erfahrungen beschreiben Marsili und Milanese die Wechselwirkung zwischen dem Anschwellen des europäischen Po12pulismus und der fehlenden bzw. mangelhaften Demokratie in Europa. Sie beschreiben die Auswirkungen der Politik der Troika auf Südeuropa, vor allem aber, wie sich der europäische Populismus durch das institutionelle System der EU – das Trio Rat, Kommission und Parlament – gegenseitig hochschaukelt, der nordeuropäische Populismus den südeuropäischen, der westeuropäische den osteuropäischen bedingt und umgekehrt. In den Auseinandersetzungen über den italienischen Staatshaushalt tauchte das chauvinistische Grundmuster jüngst wieder auf: In Nordeuropa wurde das »Transferunion«-Argument reaktiviert, und AfD und FPÖ rieben sich lachend die Hände; in Italien wird auf Brüssel geschimpft, das es Italien mit »dummen Regeln« (Salvini) verbiete, das Richtige für das eigene Land zu tun, und die Lega freut sich. Kaum jemand – außer ein paar Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler – diskutiert öffentlich darüber, dass die Eurozonen-Governance nicht dauerhaft funktionieren kann, dass sie dringend um eine Haushalts-, Fiskal-, Budget- und letztlich politische Union ergänzt werden müsste (wie es übrigens im Vertrag von Maastricht von 1992 ursprünglich auch vorgesehen war). Es gab bereits mehrere Anläufe hierzu, zum Beispiel den sogenannten »Fünf-Präsidenten-Report« vom Dezember 2012, die aber jedes Mal politisch gescheitert sind – vor allem deshalb, weil Deutschland nicht wollte. Wer also wie Marsili und Milanese das politische Europa einfordert, zurückfordert, ist weder Spinner noch Häretiker, sondern nur Artikel 23 Grundgesetz und dem Ziel einer »ever closer union« verpflichtet.

Entscheidend an der Analyse von Marsili und Milanese ist, dass hier kein Land ungeschoren davonkommt, dass die Konfrontation und das Aufstacheln der über Kreuz liegenden Populismen in Süd-, West-, Ost- und Nordeuropa im13mer nur zu mehr Populismus, zur kompletten Handlungsunfähigkeit der EU und letztlich zur Spaltung fast aller europäischen Gesellschaften führt. Hier setzen Marsili und Milanese an, indem sie vorschlagen, die europäische Politik in die Hände der europäischen Bürgerinnen und Bürger zu legen und dem Europäischen Rat zu entziehen. In der Tat zementiert das derzeitige politische System mit dem Rat als maßgeblichem Entscheidungsgremium die Handlungsunfähigkeit der EU und befördert zudem den Populismus; ein europäischer Teufelskreis, der in diesem Buch nur zu gut beschrieben wird. Das liegt daran, dass die europäischen Bevölkerungen im Rat jeweils nur »aggregiert«, also nur durch die eine Stimme ihres jeweiligen Regierungsvertreters, repräsentiert werden. Die europäischen Gesellschaften sind aber mit Blick auf Europa inzwischen völlig gespalten. Eine Bundesregierung, die unter dem Druck der AfD im Rat gegen eine europäische Arbeitslosenversicherung votiert (so geschehen 2014), repräsentiert nicht alle Deutschen. Empirischen Untersuchungen zufolge könnte sich rund die Hälfte aller Deutschen eine solche Versicherung durchaus vorstellen. Olaf Scholz hat jüngst neue Vorschläge dazu auf den Tisch gelegt. Die vollständige Parlamentarisierung des europäischen Systems, die Marsili und Milanese perspektivisch anstreben, könnte für diese Fragen also durchaus der Ausweg sein: Alle europäischen Bürgerinnen und Bürger kommen vielleicht zu anderen Abstimmungsergebnissen als der Europäische Rat. Die De-Homogenisierung der Abstimmungen in Europa und die Durchbrechung der Dominanz des Rates wäre mithin ein wichtiger Schritt.

Dies könnte vor allem deutlich machen, dass man sich in Europa vor der populistischen Gefahr gar nicht so sehr sorgen muss, wie es im Moment scheint. Derzeit erweckt es ja den 14Eindruck, einzelne Länder würden wie Dominosteine in den Populismus kippen: erst Ungarn, dann Polen, Österreich, Italien usw. Dabei sind diese Länder nicht durch die Bank populistisch, sondern in sich zutiefst gespalten. Würde man die Stimmen zusammenrechnen, die europaskeptische Populisten in den einzelnen Ländern bei nationalen Wahlen erhalten, und sie dann ins Verhältnis zu den insgesamt 510 Millionen europäischen Bürgerinnen und Bürgern setzen, kämen die Orbáns, Le Pens, Salvinis, Straches usw. vielleicht auf einen Wert von 25 oder knapp 30 Prozent. Das heißt im Umkehrschluss, dass es noch eine satte proeuropäische Zweidrittelmehrheit gibt, die das derzeitige politische System allerdings nicht angemessen abbilden kann. Das Trio Rat/Kommission/Parlament ist mithin geradezu ein Geschenk für den europäischen Populismus, und darum ist es an der Zeit, dieses Modell zu überwinden.

Die europäischen Bürgerinnen und Bürger sind bislang die vergessenen politischen Subjekte des europäischen Einigungsprojektes, das bekanntlich vier Freiheiten garantiert: Freizügigkeit von Personen, Gütern, Kapital und Dienstleistungen. Im Grunde aber sind heute lediglich die Güter, das Kapital, die Dienstleistungen und die Personen in ihrer Rolle als Arbeitnehmerinnen vor dem EU-Recht gleich, nicht aber in ihrer Rolle als politische Subjekte, also als Citoyens. Die europäische Bürgerschaft bleibt in »nationale Container« (Ulrich Beck) fragmentiert, vor allem in den Bereichen, die Staatsbürgerschaft eigentlich ausmachen: bei Wahlen, bei Steuern und beim Zugang zu sozialen Rechten. Auf diese Weise werden in einer EU-Rechtsgemeinschaft, in der vom Euro über den Traktorsitz bis zur Glühbirne alles normiert ist, ausgerechnet die Bürger gegeneinander ausgespielt. Eine europäische Demokratie kann so nie und nimmer funktionieren. 15Die europäischen Bürgerinnen und Bürger, um es einmal ganz konkret zu machen, genießen noch nicht einmal ein europäisches Vereinsrecht, um sich transnational und gemeinnützig zu organisieren, während es zum Beispiel für Unternehmen die Rechtsform Societas Europaea (SE) gibt. Hinter diesem Beispiel des europäischen Vereinsrechts, das sich trivial anhört (und das zwischen 1995 und 2005 mehrfach auf die politische Schiene gebracht wurde, bevor die Kommission es dann still und heimlich kassierte), steckt natürlich die gar nicht triviale steuerrechtliche Frage: Welcher Mitgliedsstaat soll beispielsweise europäischen Vereinen steuerliche Vorteile gewähren? Demokratie, Bürger, Steuern und Staatlichkeit hängen jedoch im Innersten zusammen.

Es ist darum kein Wunder, dass Marsili und Milanese sich auch auf die Schriften des französischen Soziologen Marcel Mauss berufen, der in seiner posthum veröffentlichten Studie Die Nation oder der Sinn für das Soziale aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts schreibt, immer »weitreichendere Handelsbeziehungen, ein immer umfangreicherer und vollständigerer Austausch, immer schnellere Anleihen von Ideen und Methoden« hätten die Nationen »in einen Zustand wachsender wechselseitiger Durchlässigkeit und Abhängigkeit versetzt«, was von den »Völkern selbst erkannt, empfunden und gewollt« werde, weshalb sie »ganz klar den Wunsch« hegten, dieser Abhängigkeit auch institutionell Ausdruck zu verleihen. »In diesem Punkt«, so Mauss, seien »die Völker ihren Führungen voraus«.

Schaut man auf die laufenden Debatten, auf die Reden Emmanuel Macrons, die aktuellen Vorschläge zu einem Eurozonenhaushalt: Ist das nicht genau der Zustand, in dem Europa sich befindet? Nämlich der der Bewusstwerdung wechselseitiger ökonomischer und sozialer Abhängigkeit, die in eine 16gemeinsame europäische Staatlichkeit überführt werden müsste? Die europäischen Bürgerinnen und Bürger jedenfalls, so zeigen Marsili und Milanese, die nicht länger heimatlose Weltbürger sein wollen, warten genau auf diese europäische Staatlichkeit: Sie sind schon da, auf sie kann das Europa von morgen zählen.

***

Zum Schluss: Wir haben dieses Vorwort umso lieber geschrieben, als wir uns der Arbeit des gesamten Teams von European Alternatives, von Lorenzo Marsili und Niccolò Milanese, aber zum Beispiel auch der deutschen Büroleiterin Daphne Büllesbach tief verbunden fühlen. Nachdem European Alternatives die europäische Diskurslandschaft in den letzten Jahren beharrlich umgepflügt hat, kann nun die Saat des demokratischen Europa aufgehen. Ohne ihre Arbeit wären wir nicht so weit in der Imagination einer europäischen Demokratie, könnten wir mit den anstehenden Europawahlen nicht die Hoffnung verbinden, dass endlich ein Umdenken einsetzt, dass die Perspektive eines politisch geeinten Europas greifbar am Horizont steht und dass wir als europäische Bürgerinnen und Bürger letztlich nur konsequent den Weg dorthin beschreiten müssen – auch wenn die »laute Minderheit« der Populisten derzeit scheinbar erfolgreicher ist.

Die »Bürgerinnen und Bürger auf der Überholspur«, für die Marsili und Milanese in diesem Buch eine politische Heimat suchen, und die Europäische Republik, für die wir werben, sind innigst miteinander verwoben und bedingen einander. Denn in seiner ursprünglichen Bedeutung meint der Begriff der Citoyens vor allem diejenigen, die gleiche Rechte genießen. Und diejenigen, die sich unabhängig von ihrer Her17kunft in den Zustand der Rechtsgleichheit begeben, begründen eine Republik.

Lorenzo Marsili und Niccolò Milanese rufen im vorliegenden Buch zur Einberufung einer europäischen Konstituante auf, die sich aus europäischen Bürgerinnen und Bürgern zusammensetzt und die parallel zu den kommenden Europawahlen gewählt werden und danach ihre Arbeit an einer Verfassung für ein neues, demokratisches Europa in Angriff nehmen soll. Wir wünschen den beiden und allen europäischen Weggefährtinnen und Weggefährten bei dieser Mammutaufgabe viel Glück. Es scheint unmöglich, aber es ist notwendig.

An der Gestaltung und Weiterentwicklung Europas unbeirrt weiterzuarbeiten, Ideen, wie die in diesem Buch vorgeschlagenen, aufzugreifen und zu diskutieren ist das Gebot der Stunde, wenn wir Europa und das bisher Erreichte nicht verlieren wollen. Demokratie ist ein abstrakter Begriff, konkret aber bezeichnet er ein politisches Organisationsmodell, das die politische Partizipation der Menschen gewährleistet. Im Lauf der Epochen verändern sich die Bedingungen dafür, und daher auch die Systeme. Unsere Aufgabe ist es nun, die europäische Demokratie zu entwickeln, im Hinblick auf die Herausforderungen der Zukunft und die Globalisierung, die alle nationalen Grenzen niederreißt. Entwickeln wir also die europäische Demokratie im Sinne unseres größten Erbes der Aufklärung: Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Nur so können wir die Zukunft gestalten, anstatt sie zu erleiden.

Berlin und Wien, im Januar 2019