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FRANK ADLOFF ist Professor für Soziologie – insbesondere Dynamiken und Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft – im Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Sozialtheorie, Gabe und Konvivialität, Zivilgesellschaft, Postwachstum und Nachhaltigkeit. Zuletzt erschien im Jahr 2016 sein Buch Gifts of Cooperation, Mauss and Pragmatism im Routledge Verlag. Er ist zudem Mitherausgeber der deutschen Ausgabe des Konvivialistischen Manifests (2014) und des Bandes Konvivialismus. Eine Debatte (2015).

FRANK ADLOFF

POLITIK DER

GABE

FÜR EIN ANDERES
ZUSAMMENLEBEN

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Inhalt

Vorbemerkung

1.Von der Doppelkrise des Kapitalismus zur Konvivialität?

2.Eigennützige Gaben? Altruistische Gaben?

3.Marcel Mauss’ Gabe

4.Eine andere Anthropologie: der homo donator

5.Die Register der Gabe

6.Die Gabe zwischen Sozialismus und Kapitalismus

7.Waren, Werte, Geld und Gaben

8.Wissenschaft und Technik, Natur und Konvivialität

9.Die Gaben der Natur

10.Zivilgesellschaft, Konvivialität, Utopie

11.Ästhetische Freiheit oder die Gabe der Kunst

12.Pluriversalismus: Für eine europäische und globale Politik der Konvivialität

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Vorbemerkung

Auch wenn man sich jahrelang allein mit einem Thema befasst, ist ein wissenschaftliches und politisches Buch immer ein Gemeinschaftswerk. In diesem Text finden sich die Ideen vieler Menschen wieder, es sind unzählige Gaben in diesen Text eingeflossen, die ich gar nicht alle überblicken kann. Freunde, Kolleginnen und Kollegen, Studierende, Diskussionen, Vorträge und Seminare in unterschiedlichen Kontexten haben meine Gedanken geformt. Abgelten kann ich diese Einflüsse ohnehin nicht, mich für sie aber bedanken!

Ohne meinen Freund Alain Caillé gäbe es dieses Buch nicht, zu sehr bin ich seinen intellektuellen Einflüssen verbunden. Der Edition Nautilus und insbesondere Katharina Picandet sei herzlich dafür gedankt, dass sie meine Buchidee von Anfang an mit Wohlwollen und großem Engagement begleitet haben. Dass ich mich getraut habe, den akademischen Jargon ein gutes Stück (wenn auch vielleicht noch nicht weit genug) abzulegen, verdanke ich ihr.

An dieser Stelle ein Hinweis an die eiligen Leser/innen und diejenigen, die nicht die Geduld aufbringen, den detaillierteren soziologischen und theoretischen Überlegungen mancher Kapitel zu folgen: Man versteht das Buch in seiner Stoßrichtung auch dann noch, wenn man die Kapitel 2, 4 und 5 überfliegt oder weglässt.

Last but not least gilt mein Dank meiner Frau Katja, die vor allem mit der schlechten Laune Desjenigen zu tun hatte, der einen misslungenen oder stressigen Schreibtag hinter sich hatte. Wir geben anderen ja nicht nur Gutes – umso schöner, wenn das dann nicht mit gleicher Münze entgolten wird.

1.

Von der Doppelkrise des Kapitalismus zur Konvivialität?

Nicht nur im globalen Norden, auch in vielen anderen Regionen der Welt lebt man heute länger, gesünder, sicherer, friedlicher und wohlhabender denn je. Und dennoch haben nicht Wenige den Eindruck, dass wir uns weltweit in einer enorm krisenhaften Situation befinden. Nur ein paar Beispiele reichen zur Verdeutlichung: Der Krieg in Syrien und die damit verbundene Flucht vieler Menschen hat uns gezeigt, dass Not und Krieg nicht überwunden sind, sondern uns unmittelbar tangieren. Und hierzulande erstarken rechte Bewegungen, die sich abschotten und das »deutsche Volk« vor »Überfremdung« oder »Umvolkung« schützen wollen. Die für den Kampf gegen die Erderwärmung dringend gebotene globale Kooperation stagniert seit Jahren, und der Klimawandel wird allenthalben in Form von ökologischen Katastrophen sicht- und spürbar. Große Teile Afrikas werden von Kriegen, korrupten Regierungen, Hunger und Vertreibung zerrüttet. Die sozialen Ungleichheiten wachsen in vielen Ländern dramatisch und die Wirtschafts-, Staatsverschuldungs- und Finanzkrise ist längst nicht überwunden. Laut Oxfam haben Anfang des Jahres 2018 die 42 reichsten Menschen der Welt so viel Vermögen wie die 3,7 Milliarden Menschen der ärmeren Hälfte zusammen. Und die Vermögensunterschiede werden immer größer: 2018 gingen 82 Prozent des weltweiten wirtschaftlichen Wachstums an das reichste Prozent der Weltbevölkerung. Nie hat es mehr Dollar-Milliardäre gegeben als heute. Und während wir Zeugen von Terrorismus, Bürger- und ethnischen Kriegen sind, ist das Projekt Demokratie vielerorts auf entkernte formale Prozeduren geschrumpft, die vom Lobbyismus mächtiger Konzerne geschickt für eigene Zwecke genutzt werden. Schließlich regiert in den USA ein Präsident, der liberale Errungenschaften mit Füßen tritt und einen neoliberalen Kurs verfolgt, der stark autoritäre und nationale Züge annimmt.

Mehr als 25 Jahre nach Ende des Kalten Krieges und der Systemkonkurrenz von Kapitalismus und real existierendem Sozialismus ist dies die fatale globale Lage. Von dem angeblichen »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) in Demokratie und Menschenrechten kann keine Rede sein. Viele fordern deshalb eine Umkehr, eine radikale Transformation der gegenwärtigen Welt – weg vom neoliberalen, ungerechten und nichtnachhaltigen Finanzkapitalismus, weg von abwertenden Stereo-typisierungen und Abschottungen, hin zu anderen Formen des Zusammenlebens.

Anders zusammenleben: Konvivialität

Auch ich möchte in diesem Buch für andere Formen des Zusammenlebens plädieren. Dazu werden verschiedene Anläufe unternommen, um die Grundlagen für ein Verständnis anderer Formen des Miteinanders und für neue Institutionenordnungen zu legen. Dabei wird der Begriff der Konvivialität (von lat. convivere: zusammenleben) eine große Rolle spielen, der wiederum auf ein soziologisches Konzept verweist, das den Dreh- und Angelpunkt meiner Thesen bildet: das Konzept der Gabe. Ausgehend von alltäglichen Handlungsweisen des Gebens und der damit verbundenen Wechselseitigkeit sollen Möglichkeiten einer Politik der Gabe erprobt werden, die einen anderen Umgang untereinander und mit der Natur anvisieren.

Inspiriert hat mich ein 2013 erschienenes Büchlein, ein Manifest, das von hauptsächlich französischen Wissenschaftler/innen und Intellektuellen verfasst wurde und von einer positiven Vision des Zusammenlebens spricht: das konvivialistische Manifest. Der Text will deutlich machen, dass eine andere Welt möglich – denn es gibt schon viele Formen der Konvivialität –, aber auch absolut notwendig ist. Eine Besonderheit des Manifests besteht darin, dass eine große Gruppe von 64 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ganz unterschiedlicher politischer Überzeugungen die Fehlentwicklungen zeitgenössischer Gesellschaften benennt und ihre Differenzen zurückgestellt hat. Das Manifest identifiziert zwei Hauptursachen für die gegenwärtige Malaise: den Primat des utilitaristischen, also eigennutzorientierten Denkens und Handelns, und den unbeirrbaren Glauben an die selig machende Wirkung wirtschaftlichen Wachstums. Zum anderen wird diesen Entwicklungen eine positive Vision des guten Lebens entgegengestellt: Es geht zuallererst darum, auf die Qualität sozialer Beziehungen und der Beziehung zur Natur zu achten. Gelingendes Zusammenleben beruht auf dem Zyklus von Geben, Annehmen und Erwidern.

Die Initiative zu dem Manifest geht auf ein Kolloquium in Japan aus dem Jahr 2010 zurück. Unter dem Titel De la convivialité. Dialogues sur la societé conviviale à venir erschienen dazu 2011 die Kolloquiumsbeiträge von Alain Caillé, Marc Humbert, Serge Latouche und Patrick Viveret. Zusammen mit Alain Caillés kleinem Band Pour un manifeste du convivialisme (ebenfalls 2011 erschienen) gaben die Beiträge den Anstoß zur Debatte um den Konvivialismus. Auf dem Kolloquium in Tokio wurden die Begriffe Konvivialität und Konvivialismus diskutiert, unter starker Bezugnahme auf die Schriften von Ivan Illich (1926–2002). Der österreichisch-amerikanische Theologe, Philosoph und Autor war ein radikaler Technik- und Wachstumskritiker. 1975 führte er in seinem Buch Selbstbegrenzung den Begriff der Konvivialität ein. Das Buch fand eine große internationale Resonanz und wurde in Frankreich von André Gorz bekannt gemacht. Ähnlich wie dem mit Illich befreundeten Erich Fromm ging es Illich um die technik- und kapitalismuskritische Wiederherstellung des Primats des »Seins« vor dem »Haben«. Konvivial ist für Illich eine Gesellschaft dann, wenn sie ihren Techniken und Institutionen eine vernünftige Selbstbegrenzung auferlegt. Werden Techniken nicht in ihrem Wachstum beschränkt, verkehren sich rasch ihre Leistungen ins Gegenteil, verselbstständigen sich und schaffen mehr Probleme, als sie lösen.

Eine zweite, viel ältere Wurzel des Begriffs der Konvivialität findet sich an einer ganz anderen Stelle: Der Begriff wurde zuerst im frühen 19. Jahrhundert von dem Gastronomen und Philosophen Jean Anthelme Brillat-Savarin geprägt. Brillat-Savarin benennt damit in seinem Buch La physiologie du goût, ou Méditations de gastronomie transcendante (1825) die Freude des Beisammenseins, der guten und freundschaftlichen Kommunikation im Rahmen einer Tischgesellschaft. »Convivialité« und »convivial« sind im Französischen denn auch gebräuchliche, positiv konnotierte Worte. Konvivialität beschreibt also den freundlichen Umgang, den Menschen untereinander pflegen können, sowie ein freiheitliches Verhältnis, das sie zu den »Dingen« (seien es Gegenstände, Infrastrukturen, Institutionen oder Techniken) haben können.

Dem Band De la convivialité lassen sich noch zwei weitere Diskursstränge entnehmen, die in die Formulierung der konvivialistischen Vision einflossen. Zum einen das anti-utilitaristische Denken von Alain Caillé (und Marcel Mauss), zum anderen die Wachstums- und Ökonomiekritik von Patrick Viveret und Serge Latouche. Für den Philosophen Viveret (geb. 1948) besteht die Wurzel der gegenwärtigen Krise in der strukturellen Maßlosigkeit des Produktivismus der Moderne, sowohl in seiner kapitalistischen als auch in seiner sozialistischen Variante (Viveret 2011). Andere Kriterien des guten Lebens und des Wohlstands seien nun dringend gefordert, um die Fixierung auf ökonomisches Wachstum zu durchbrechen. Insbesondere die Maßzahl des Bruttoinlandsprodukts (BIP) muss nach Viveret neu überdacht werden. Prominentester Vertreter der Forderung nach einer Wachstumsrücknahme (décroissance, degrowth) ist der Ökonom Serge Latouche (geb. 1940). Er tritt ein für eine Gesellschaft des einfachen Wohlstands (societé d’abondance frugale) und wie Viveret für eine Neudefinition von Reichtum, der bislang allein materiell und monetär definiert wird (Latouche 2015). Eine konviviale Gesellschaft muss aus seiner Sicht die Idee des ökonomischen Wachstums radikal in Frage stellen und sich selbst begrenzen. Neue Formen des Wirtschaftens sind gefordert, die den Kreislauf der permanenten Kreation von immer mehr und prinzipiell unbegrenzten Bedürfnissen durchbrechen. Wachstum bloß um des Wachstums willen kann hingegen als Religion der Ökonomie bezeichnet werden. Deshalb geht es ihm auch um die mentale Überwindung der Religion des Ökonomischen und des Konzepts des homo oeconomicus.

Die Idee des Wachstums und materiellen Wohlstands ist eine Projektionsfläche für alle möglichen Hoffnungen und Ängste. Hoffnungen auf Prosperität halten Gesellschaften zusammen, auch wenn sich diese Hoffnungen zunehmend als irreführend erweisen. Was passiert, wenn hohe Wachstumsraten (zumindest in den westlichen Gesellschaften) ein für alle Mal der Vergangenheit angehören, wenn Arbeitslosigkeit nicht durch Wachstum minimiert werden kann, wenn die sozialen Ungleichheiten weiter steigen, wenn Arbeitseinkommen kaum zum Leben reichen (vgl. Nachtwey 2016)? Die Antwort kann für die Konvivialistinnen und Konvivialisten nur lauten, dass die Vorstellung vom guten Leben vom materiellen Wohlstand zu entkoppeln ist. Dem materiellen Kalkül wären die Werte der Demokratie und Konvivialität als Selbstzwecke gegenüberzustellen. Dies käme durchaus einer politischen und ethischen Revolte gleich, da es um die Entwicklung völlig neuer Sinnbezüge für die Lebensführung der Einzelnen und das Funktionieren ganzer Gesellschaften geht.

Die Wurzeln der Idee von der Wachstumsrücknahme liegen einerseits in Auseinandersetzungen mit der ökologischen Krise und stammen andererseits aus dem Umfeld der Entwicklungspolitik, wo unter dem Begriff des post-development (wiederum an Illich anschließend) die Modernisierung des Südens entlang der westlich-ökonomischen Wachstums- und Entwicklungslogik kritisiert wird. Für Latouche ist eine Selbstbegrenzung moderner Gesellschaften nicht nur eine politische Möglichkeit, sondern auch eine Notwendigkeit angesichts drängender sozialer und ökologischer Krisen. Tatsächlich lässt sich die gegenwärtige Krisenkonstellation gut auf den Begriff der sozialen und ökologischen Doppelkrise bringen, die auf die negativen Effekte des vorherrschenden Kapitalismus zurückzuführen ist. Im Kapitalismus muss die Wirtschaft wachsen, um den profitgetriebenen Wettbewerb in Gang zu halten, der wiederum die Unternehmen zu stetiger Expansion treibt (Barth/Reitz 2016). Diese Art des Wirtschaftens ist nicht nachhaltig, da sie auf energetischen und ökologischen Voraussetzungen beruht, die nicht dauerhaft zur Verfügung stehen (Sommer 2016). Wir verbrauchen und zerstören mehr natürliche Lebensgrundlagen, als sich regenerieren können.

Der Gegenwartskapitalismus produziert auf der einen Seite soziale Ungleichheiten, Ausbeutung und Erschöpfung ungeahnten Ausmaßes, auf der anderen Seite zehrt er unsere natürlichen Lebensgrundlagen auf. Die moderne kapitalistische Gesellschaft ist zu expansiv, es gilt, ihr Fesseln der Selbstbegrenzung anzulegen. Man kann nicht leugnen, dass in den letzten 200 Jahren der Massenkonsum für viele Menschen eine Emanzipation aus materiellen Nöten mit sich brachte, doch dabei haben wir auf Kosten anderer gelebt: auf Kosten der Natur und auf Kosten des globalen Südens. Stephan Lessenich (2016) spricht von der Externalisierungsgesellschaft und zielt darauf ab, dass man sich in den europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften Freiheit und Wohlstand geschaffen hat, indem man andere Lebenswelten kolonialisiert und zerstört hat. Der Norden hat zu Lasten Dritter, also über die Verhältnisse anderer gelebt. Den Menschen des Nordens geht es – obwohl es natürlich auch hier extreme Ungleichheitsverhältnisse gibt – vergleichsweise gut, weil anderswo Verzicht geübt wird. Die unwürdigen Arbeitsbedingungen in vielen Ländern des Südens – man denke nur an die beinahe schon sprichwörtlichen Näherinnen in Bangladesch – und die massiven Umweltzerstörungen (etwa in pestizidverseuchten Plantagen) gehen obendrein auch noch mit symbolischen Ausgrenzungserfahrungen und Abwertungen einher: Die eigene Überlegenheit wird zelebriert und die anderen werden für ihre angeblich fehlenden Anstrengungen und »Unterentwicklung« angeprangert. Psychologisch beruht das Ganze für Lessenich auf Verdrängungen und Abwehr der eigenen Schuld. Sozial schlägt sich das in einem kollektiv geteilten Habitus der Externalisierung nieder oder anders formuliert: in einer »imperialen Lebensweise« (Brand/ Wissen 2017). Lessenich spricht von einer »habituell vollzogenen Praxis der Auslagerung der Kosten ihrer Lebensweise auf Dritte und der gleichzeitigen Ausblendung ebendieses Strukturzusammenhangs aus ihrer alltäglichen Lebensführung« (Lessenich 2016: 101).

So werden immer mehr Bereiche vormals nichtkapitalistischer Lebenswelten einer »Landnahme« unterworfen. Das bedeutet, dass das kapitalistische Profitinteresse immer wieder aufs Neue nichtkapitalistische Räume erschließen muss. Diese werden privatisiert, der Geldlogik unterworfen und daraus Profite geschöpft. Man denke an die Privatisierung von Wasser (Nestlé), an die Zerstörung von kleinbäuerlichen Strukturen durch den Erwerb ganzer Landstriche in Teilen Lateinamerikas, Afrikas und Asiens, um dort Biotreibstoff für die EU anzubauen, oder an den profitorientierten Verkauf von Saatgut (Monsanto). Die Neigung des Kapitalismus zur Landnahme haben schon Rosa Luxemburg und Hannah Arendt erkannt, und ihre Analysen sind heute dringlicher denn je.

Getrenntheit oder Interdependenzen?

All dies zeigt, dass es auf der Welt keine abgeschotteten Gesellschaften und keine Scheidelinie zwischen Natur und Gesellschaft gibt. So gehen heute Klimawandel, Überschwemmungen und Dürren mit Armut, Vertreibung und bewaffneten Konflikten Hand in Hand. Alle menschlichen und nichtmenschlichen Lebensformen sind miteinander verflochten und voneinander abhängig. Doch ist die globale Interdependenz extrem asymmetrisch. Einige schaffen es, die Profite einzufahren und die ökonomischen, kulturellen, sozialen und ökologischen Kosten auszulagern. Millionen Kleinbauern wurden in Brasilien von ihren Feldern vertrieben, die in riesige Sojaplantagen für den Export umgewandelt wurden. Export für die gesundheitsbewusste Lebensführung im globalen Norden. Einige geben nur, andere nehmen nur. Konvivialität zielt hingegen auf einen solidarischen Ausgleich ab. Der Untertitel des konvivialistischen Manifests lautet im Original: Déclaration d’interdépendence – also in Umkehrung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: Erklärung der wechselseitigen Abhängigkeiten.

Doch auf welcher sozialen Logik kann die geforderte Selbstbegrenzung beruhen, was ist die Alternative zum Streben nach Gewinn, Wachstum und Konsum? Auf welche Handlungslogik könnte sich eine konviviale Gesellschaft stützen, die nicht länger ihre Kosten externalisiert, die auf Kooperation setzt und die wechselseitige Abhängigkeit aller anerkennt? Diesen Fragen geht vor allem der Soziologe und Ökonom Alain Caillé nach, der als der eigentliche spiritus rector des konvivialistischen Manifests gelten kann und der durch die begriffliche Transformation von konvivialen Ideen hin zum Konvivial ismus politisches Konzept, Theorie und Bewegung geprägt hat. Für ihn lautet die alles entscheidende Frage, wie Menschen ohne Gemeinschafts- und Konformitätszwang zusammenleben können, und ohne sich gegenseitig niederzumetzeln.

Eine Antwort erblickt Caillé im Paradigma der Gabe, das er in den letzten 25 Jahren maßgeblich mitentwickelt hat und das er auf den Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss (1872–1950) zurückführt. Mauss beschrieb, wie der Austausch von Gaben zwischen Gruppen von Menschen diese zu Verbündeten macht, ohne ihre prinzipielle Agonalität, also ihre kämpferische Auseinandersetzung aufzuheben. Im Modus der Gabe erkennen sich Menschen gegenseitig an und bestätigen sich wechselseitig ihrer Wertschätzung. Der Konvivialismus greift diesen Gedanken auf und betont, dass allein die Anerkennung einer gemeinsamen Menschheit und einer allen gemeinsamen Sozialität die Basis für ein konviviales globales Zusammenleben sein kann (Les Convivialistes 2014: 61). Radikale und universelle Gleichheit und die Logik der Gabe sind mithin Bedingungen konvivialen Zusammenlebens. Das vorliegende Buch schließt sich Caillés Gabenperspektive an und legt dar, wie sich unser Selbstverständnis und Zusammenleben ändern könnten, wenn wir anerkennen, dass Menschen nicht einfach nur egoistische Nehmer sind, sondern immer auch geneigt sind zu geben. Für Mauss lag die Gefahr darin, dass die modernen Sozialbeziehungen zunehmend dem Modell des Tausches, des Marktes und des Vertrags folgen. Mehr und mehr werden wir der homo oeconomicus, den die ökonomische Theorie modellhaft unterstellt.

Der Mainstream der ökonomischen Theorie unterstellt, dass Menschen rational agieren, wobei Rationalität hier in einem sehr eingeschränkten Sinne aufgefasst wird: Demnach ist man rational, wenn man danach trachtet, seinen individuellen Nutzen zu mehren. Aus der Konkurrenz über Märkte soll daraus dennoch etwas Gutes für alle folgen. Wenn alle in Konkurrenz zueinander ihren Nutzen mehren wollen, ergäbe sich in der Summe ein optimales Angebot an Waren und Dienstleistungen. Der Markt reguliere dies über Angebot und Nachfrage. Auf dieser Grundlage hat sich die Wirtschaftswissenschaft über die letzten Jahrzehnte zu einer extrem erfolgreichen Disziplin entwickelt, die großen Einfluss auf alle ökonomischen Fragen, aber auch weit darüber hinaus auf viele Fragen der Organisation des Zusammenlebens gewonnen hat. Dabei verdankt sich ihr Erfolg vor allem ihrer rigorosen Selbstdisziplinierung. Überall auf der Welt werden die gleichen Texte gelesen und ökonometrische Verfahren eingeübt, das Curriculum an den Universitäten ist extrem standardisiert. Überall arbeitet man mit den gleichen simplen Grundannahmen und baut daraus komplizierte mathematische Modelle, die jeweils nur einen winzigen Ausschnitt der sozialen Realität betrachten. Davon abweichende Modelle, die gegenwärtig unter dem Begriff der pluralen Ökonomik versuchen, stärker Fuß zu fassen, gelten als heterodoxe Abweichungen von der reinen Lehre, der orthodoxen neoklassischen Theorie. Diese starke disziplinäre Identität des Fachs erklärt einen guten Teil ihres hegemonialen Einflusses auf die Theorie und Praxis des Wirtschaftens. Auch nach der Finanzkrise von 2007/08 hat die Ökonomik kaum an Einfluss und Reputation verloren, obwohl sie in der Krise eine erschreckende Naivität an den Tag legte. Man ging einfach davon aus, dass Finanzmärkte immer effizient seien und verließ sich auf die Annahme, dass die Gesamtwirtschaft stets zum Gleichgewicht neige (Herrmann 2017).

Vieles ist zu der Frage gesagt worden, wieso eine Theorie, die mit offenkundig unrealistischen Annahmen arbeitet und so zu komplett falschen Einschätzungen der ökonomischen Realität kommen kann, dennoch nicht auf diese Annahmen verzichtet und weiter mit ihnen arbeitet. Dies kann hier nicht weiter vertieft werden, hier interessiert uns vielmehr die Frage, ob eine solche Theorie nicht den Effekt haben könnte, dass sie das, was sie vorgeblich nur beschreibt, in Wirklichkeit erst hervorbringt: den individuellen Nutzenmehrer. Seit Jahrzehnten nämlich ist das Bild des Menschen, dass er egoistisch nur an sich selbst denke, innerhalb und außerhalb der Ökonomie vertreten worden. Diese Sichtweise ist geradezu zu einer kulturellen Selbstbeschreibung geworden, die um sich greift und dabei verkennt, dass Menschsein in der Regel nicht Getrenntheit und Egoismus impliziert, sondern im Gegenteil Verbundenheit und Beziehungen des Gebens und Nehmens umfasst.

Schon in den 1980ern brachte der Soziologe Robert Bellah mit Gewohnheiten des Herzens (1987) hierzu eine wegweisende Studie über die US-amerikanischen Mittelschichten heraus. Diese beschreiben sich in dieser Untersuchung selbst so, als würden sie nur ihr rationales Eigeninteresse verfolgen. Man glaubt, man habe die Fähigkeit, seine Bindungen frei nach dem Kriterium der Lebenseffektivität zu wählen. Ziel ist die Steigerung des individuellen Wohlgefühls; normative Bindungen werden dem untergeordnet, erscheinen als beliebig verfügbar und dienen letztlich nur der Selbstverwirklichung. Man erkennt hier gleich die neoliberale Unabhängigkeits- und Individualitätsrhetorik der Jahre unter Ronald Reagans Präsidentschaft. Dennoch entspricht das Leben dieser Mittelschichten nicht komplett ihrer Selbstbeschreibung. Sie haben starke Bindungen, fühlen sich verantwortlich, sind noch in Gemeinschaften integriert – und finden zugleich keine Sprache, ihre Bindungen, Zuneigungen und Verpflichtungen zu artikulieren. Eine Sprache der Konkurrenz und Vereinzelung greift immer mehr um sich und verdeckt etablierte Praktiken der Fürsorge. Der utilitaristische und expressive Individualismus hat sich zur »Erstsprache« Amerikas entwickelt, während den gemeinschaftlichen Traditionen Amerikas nur noch der Status einer »Zweitsprache« zukommt, so lautet eine wichtige Erkenntnis der Studie. Es ist also nicht egal, wie man sich selbst und die Handlungsweisen anderer Menschen beschreibt. In der Soziologie gilt das sogenannte Thomas-Theorem, das nach dem Chicagoer Soziologen William Isaac Thomas benannt ist: Situationen sind in ihren Konsequenzen real, insofern Menschen eine Situation als real definieren. Es gilt also, eine Sprache der Gabe, der Fürsorge und Verbundenheit zurückzugewinnen, die den realen Praktiken und Bedürfnissen von Menschen erstens entspricht und die zweitens nicht destruktive, sondern produktive Konsequenzen mit sich bringt, wenn immer mehr Menschen sie aufgreifen. Eine Sprache, die den Menschen nicht länger als des Menschen Wolf (Hobbes) beschreibt, sondern sich auf eine positive Anthropologie bezieht.

Es soll hier in keiner Weise geleugnet werden, was Menschen anderen Menschen und der Natur in ihrer Geschichte schon an Tod, Unterdrückung, Leid und Horror angetan haben. Doch sollte man das Böse nicht naturalisieren, also zur »Natur des Menschen« erklären. Es geht auch anders, und Menschen sind durchaus fähig, zum Wohle aller zu kooperieren, wenn denn die Logik der Nutzenmaximierung in Kapitalismus und Alltag gebrochen wird und tragfähige Alternativen denkbar werden. Dazu will dieses Buch einen Beitrag leisten. Es formuliert die Idee des homo donator als Ersatz für den homo oeconomicus, der ausgedient hat. Der gebende Mensch existiert als Beziehungswesen; ontologisch ist die Interaktion, die wechselseitige Abhängigkeit und Verbindung, der Existenz von klar abgetrennten und unabhängigen Elementen vorgeordnet. Dem Grunde nach baut die überkommene westliche Ontologie (Lehre vom Sein) auf der liberalen Illusion des männlichen und autonomen Subjekts auf, das unabhängig von anderen existiert und nicht verletzbar ist. Diese Sicht verleugnet, dass auch diese männliche Fiktion von der Fürsorge vieler anderer abhängig ist – klassisch: von Frauen. Frauen als Mütter, die ihre Söhne zur scheinbaren Autonomie führen, und als Ehefrauen, die sich um Haushalt und Kinder kümmern. Dazu kommt noch unser aller Abhängigkeit von der Natur als Spenderin von Leben schlechthin. Die in diesen Beziehungen gegebenen Gaben werden regelmäßig übersehen, heruntergespielt oder unsichtbar gemacht. Dies gilt heute nicht mehr so stark für weiße Mittelschichtsfrauen wie noch vor einigen Jahren. Die Unsichtbarkeit der Gabe hat sich auf die Arbeiter/innen des globalen Südens oder auf die migrantischen Haushaltshilfen und Kindermädchen im Norden verschoben. Das Problem ist also nicht, dass es keine Gaben in unseren Gesellschaften geben würde, das Problem besteht darin, dass Gaben invisibilisiert und nicht anerkannt werden. Dies gilt für die Missachtung der Gaben prekär Beschäftigter genauso wie für die Ökonomien ehemaliger Kolonien und für die Gaben vielfältiger Ökosysteme. Es geht also zunächst darum anzuerkennen, was subalterne Gruppen geben, und dann die Asymmetrie in diesen sozialen Beziehungen aufzubrechen. Das wäre konvivial.

Eine Welt der Gleichheit ist also gefordert – eine Gleichheit in der wechselseitigen Anerkennung von allen als Geber/innen. Das hier vertretene Konzept einer Anthropologie und Politik der Gabe will sich als Aufforderung verstanden wissen, sich an der Suche nach »realen Utopien« (Wright 2017) zu beteiligen, die reformistisch und zugleich radikal dazu beitragen können, Utilitarismus und maßloses Wachstum zu überwinden. Dabei muss es auch darum gehen, eine attraktive Vision des Zusammenlebens zu entwickeln, eine, die nicht abschreckt, eine, die klarmacht, dass alle von ihr profitieren könnten. Alle sind aufgerufen, sich kreativ daran zu beteiligen, mit neuen Formen der Konvivialität zu experimentieren, die Gabe zu etablieren, sichtbar zu machen und eine andere Gesellschaft aufzubauen. Das klingt sehr naiv, doch darin liegt – so hat es die italienische Philosophin und Konvivialistin Elena Pulcini vor einigen Jahren auf einer Konferenz pointiert – die besondere Radikalität und Stärke des konvivialistischen Projekts.

2.

Eigennützige Gaben? Altruistische Gaben?

Warum geben wir anderen Menschen Dinge, schenken ihnen Aufmerksamkeit, helfen ihnen oder verzeihen ihnen gar? Sind Gaben etwas Normales und Alltägliches, oder sind sie die Ausnahme, und der Eigennutz bildet die Regel menschlichen Handelns? Häufig wird das Geben mit dem Phänomen des Tauschens in Verbindung gebracht. Jemand gibt einer anderen Person einen wertvollen Gegenstand und erhält einen anderen dafür. Beiden nützt der Tausch etwas, da sie beide das Gut des anderen stärker wünschen als ihr eigenes. Für Adam Smith, den Begründer der modernen Ökonomie, ist die Fähigkeit zum Tausch eine menschliche Eigenschaft, die es sonst nirgendwo im Tierreich gibt: »Niemand hat je erlebt, dass ein Hund mit einem anderen einen Knochen redlich und mit Bedacht gegen einen anderen Knochen ausgetauscht hätte« (Smith [1776] 2014: 57). Für Smith gibt es sogar eine natürliche »Neigung des Menschen, zu handeln und Dinge gegeneinander auszutauschen« (ebd.: 56).

Doch in vielen Situationen findet kein Tausch statt und trotzdem werden materielle und immaterielle Dinge überreicht. Ein Akteur A gibt einem anderen Akteur B etwas, ohne im Gegenzug und direkt etwas dafür zu bekommen. Vielleicht erwidert B die Gabe später mal, vielleicht auch nicht. Und im Falle der Erwiderung ist es an Person B zu entscheiden, was sie erwidert und wann sie es tut. Nur im Fall des Tausches ist klar, welche Güter zu welchem Zeitpunkt den Besitzer wechseln, da sich A und B darauf geeinigt haben.

Der Tausch scheint nun nicht weiter erklärungsbedürftig zu sein: Tauschen tun wir aus eigennützigen Interessen. Aber wie erklärt man nun Formen des Gebens wie das Schenken und Spenden? In der Literatur findet man in der Regel drei theoretische Modelle: Man kann erstens versuchen zu zeigen, dass hinter dem scheinbar uneigennützigen Schenken und Spenden letztlich doch eigennützige Motive stehen. Oder es heißt zweitens, dass Menschen in einer Welt von Werten und Normen sozialisiert werden, und diese Werte und Normen schreiben uns vor, was wir anderen zu geben haben. Oder drittens weist man darauf hin, dass Menschen sich auch altruistisch für andere einsetzen können, dass sie bereit sind, kleinere oder größere Opfer zu erbringen. Das Altruismusargument ist dabei nicht immer klar von dem der Verinnerlichung von Werten und Normen zu trennen. Daraus ergibt sich eine Zweiteilung der Erklärungsversuche: Theorien des Eigennutzes stehen Ansätzen gegenüber, die Werte, Normen und altruistisches Handeln betonen.

Die Soziologie fußt auf dieser theoretischen Dichotomie von Eigennutz versus Werte und Altruismus. Individualistische Theorien rationaler Wahl erklären Gesellschaft aus dem Zusammenhandeln eigennutzorientierter Akteure, während der normativistische Strang der Sozialtheorie das Zusammenleben aus wirkmächtigen überindividuellen Werten und Normen erklärt, denen die Individuen folgen. Auf der einen Seite steht also das rationalistische und utilitaristische (eigennutzorientierte) Modell des individuellen Akteurs, das auf der Annahme nur punktueller Kontakte beruht: Man kommt in Kontakt, tauscht etwas aus, was beiden Vertragspartnern nützt, und geht wieder seiner Wege. Hierfür steht der Markt als Prinzip, der auf der Idee beruht, dass man tauscht, Kredite aufnimmt, seine Schulden abbezahlt und dann quitt ist. Auf der anderen Seite steht das holistische, also überindividuelle Paradigma, das sich auf moralisches Handeln aus Verpflichtungen konzentriert und sich für verinnerlichte Normen und Werte interessiert. Die These dieses Buchs ist es, dass eine solche Gegenüberstellung es verunmöglicht, eine Vielzahl von Formen des Gebens adäquat zu verstehen. Denn die Gabe beruht zumeist weder auf bloßem Eigennutz, noch kann man sie darauf reduzieren, dass Menschen das tun, was Normen von ihnen verlangen. In Gaben steckt ein Überschuss an Spontanität, Freiheit und Zugewandtheit, der nicht auf die eine oder andere Seite zurückgeführt werden kann. Bevor wir dazu kommen, Ansätze kennenzulernen, die sich nicht in die Unterscheidung Werte, Altruismus und Normen versus Eigeninteresse pressen lassen, soll zum besseren Verständnis der Problematik die Zweiteilung der Erklärungsansätze genauer erläutert werden. Die nachfolgende Diskussion verschiedener soziologischer Theorien erfordert bei der Lektüre sicher ein gewisses Interesse an diesen fachinternen Debatten. Wer dies nicht aufbringt, kann auch problemlos mit Kapitel 3 fortfahren.

Tausch und Norm

Beide Stränge – Normen versus Eigennutz – finden sich widersprüchlich vereint in den Schriften des soziologischen Klassikers Georg Simmel (1858–1918). In seinem »Exkurs über Treue und Dankbarkeit« aus dem Jahr 1908 zeigt er, wie Empfindungen der sozialen Verpflichtung entstehen und dazu beitragen, dass sich soziale Beziehungen weit über die Dauer der ursprünglichen Motive fortsetzen. Soziale Beziehungen werden nämlich durch das Gefühl der Dankbarkeit zeitlich stabilisiert. Dankbarkeit bringt ein Band der Wechselwirkung und des Hin- und Hergehens von Leistung und Gegenleistung hervor. Ohne ein permanentes Geben und Nehmen »würde überhaupt keine Gesellschaft zustande kommen« (ebd.: 663). Im Gegensatz zum Markt, wo durch den Tausch gleichwertiger Güter und Leistungen weiterreichende Verpflichtungen ausgeschlossen werden, sind nach Simmel viele soziale Beziehungen durch Verschuldungen gekennzeichnet, die dauerhaft sind und zu einem Fortleben von gegenseitigen Verpflichtungsverhältnissen führen. Dankbarkeit ist das subjektive Echo, das über den Akt des Gebens und Empfangens hinauswirkt und so eine soziale Beziehung begründet und Reziprozität erzeugt. Simmel stellt heraus, dass die für eine Gabe – etwa eine spontane Hilfeleistung – entbotene Gegengabe niemals die Schuld tilgen kann. Denn die zuerst gegebene Gabe hat den Charme der völligen Freiwilligkeit, während die Erwiderung für Simmel niemals den Makel der Verpflichtung zur Erwiderung abstreifen kann. So bleibt das Gefühl, dass »wir eine Gabe gar nicht erwidern können; denn in ihr lebt eine Freiheit, die die Gegengabe, eben weil sie Gegengabe ist, nicht besitzen kann« (ebd.: 668). Die Asymmetrie zwischen dem Geber der ersten Gabe und der Empfängerin kann durch die Erwiderung nicht aufgehoben werden, da letztere niemals die »Größe« der ersten Gabe annehmen kann – die Erwiderung erscheint für Simmel immer als defizitbehaftet.

So sehr Simmel ein Gespür für die enorme Bedeutung der Dankbarkeit für das soziale Zusammenleben hat, so sehr sieht er die moderne Gesellschaft dennoch als einen großen anonymen Zusammenhang an, der zuvorderst durch zwei gänzlich andere Mechanismen, nämlich durch das Geld und das Recht, hervorgebracht wird (Simmel 1989 [1900]). Recht und Geld sind für ihn die Medien, die im scharfen Kontrast zur Handlungskoordination durch Geben und Erwidern aufgrund von Dankbarkeit stehen. Persönliche Beziehungen zwischen den Tauschpartnern werden hier Simmel zufolge komplett ausgeblendet: »Der Abstand, der das Subjektive und das Objektive aus ihrer ursprünglichen Einheit voneinandergetrieben hat, ist im Geld sozusagen körperhaft geworden« (ebd.: 136). Geld schafft dem modernen Individuum Freiheitsgewinne und löst es aus sozialen Verpflichtungen, kann so aber auch zu einer Bedrohung der moralischen Ordnung beitragen. Geld ist damit zum einen Ausdruck von individuellen Freiheiten und zum anderen Ausdruck von Entzweiung. Die klassische Zweiteilung taucht bei Simmel also wieder auf: Gaben und Dankbarkeit auf der Seite der privaten Beziehungen und ein über Geld vermittelter, entpersönlichter Tausch im öffentlichen Leben.

Einige Jahrzehnte später, Mitte des 20. Jahrhunderts setzte der amerikanische Soziologe Alvin Gouldner (1984) Phänomene der Reziprozität auf die Tagesordnung und erklärte diese auf der Basis von Werten und Normen. Ihn interessiert ebenfalls, wie persönliche Beziehungen über Reziprozität abgesichert werden. Dabei bezieht Gouldner (1920–1980) eine klare Position: Reziprozität ist für ihn eine universelle Norm, die normalerweise von den Interaktionspartnern verinnerlicht wurde. Zwar können spezifische Austauschmuster durch Arbeitsteilung und wechselseitige Abhängigkeiten (also: Interessen) stabilisiert werden, doch betont Gouldner, dass Verpflichtungen nicht nur auf Grund der Abhängigkeiten eingehalten werden, sondern auch, weil sich die Beteiligten einer moralischen Norm verpflichtet sehen. Die Norm der Reziprozität besteht aus zwei Minimalforderungen: Man sollte denjenigen helfen, die einem geholfen haben, und man sollte jene nicht kränken, die einem geholfen haben. Schließlich kann die Norm der Reziprozität als »Starter« fungieren, indem sie Interaktionen in Gang setzt. Wenn die Norm der Reziprozität von Person A und Person B verinnerlicht ist, schafft sie das wechselseitige Vertrauen, das notwendig ist, das Risiko einer ersten Gabe einzugehen. Das Risiko des Gebens wird bei Gouldner also dadurch abgefedert, dass man voneinander weiß, dass beide Parteien sich der Norm der Reziprozität verpflichtet sehen.

Darüber hinaus geht es Gouldner darum, die Grenzen der Norm der Reziprozität auszuloten. Soziale Wohltätigkeit (gegenüber Alten, Kindern oder behinderten Menschen etwa) geht in der Regel nicht mit der Erwartung einer Gegenleistung einher. Wir geben einem Bettler nicht einen Euro in der Erwartung, dass er uns auch später etwas geben wird. Auch können wir nicht mehr davon ausgehen, dass uns unsere Kinder im Alter unterstützen werden, dennoch gibt man ihnen Unzähliges. Gouldner sieht hier wiederum eine Norm am Werke, eine Wohltätigkeitsnorm, die Gaben auch gegenüber denen verlangt, die sie nicht erwidern können. Wichtig ist es ihm zudem, Motive von Wirkungen zu unterscheiden. So kann eine Handlung auf der Motivebene von Wohltätigkeit geleitet sein, auf der Wirkungsebene aber den nichtintendierten Effekt der reziproken Gegengabe evozieren. Auch wenn man den Nachbarn nicht deswegen mit einem Stück Butter aushilft, um auch etwas zu erhalten, so werden diese sich später bemüßigt sehen, ebenfalls mal etwas zu geben.

Dem häufig undurchsichtigen Verhältnis zwischen Handlungsmotiven und den nichtintendierten Konsequenzen des Handelns geht in diesem Zusammenhang insbesondere der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930–2002) nach. Er hat eine der wenigen zeitgenössischen Großtheorien vorgelegt, die der Reziprozität einen prominenten Platz einräumen. Seine Arbeiten zur Ökonomie der symbolischen Güter (etwa Bourdieu 1987) beschäftigen sich mit der Doppelbödigkeit von Praktiken des Schenkens. Die subjektive Perspektive wird von Bourdieu zunächst durchaus ernst genommen: Menschen geben einander aus dem Motiv der Uneigennützigkeit heraus Dinge von Wert. Doch ist ein Geschenk für ihn zugleich dadurch gekennzeichnet, dass die dahinterliegende Tatsache des Tausches von Gabe und Gegengabe verschleiert wird. Schenken ist also für Bourdieu eigentlich Tauschen – nicht wenige sprechen in der Literatur (irreführend, wie ich finde) deshalb auch vom »Gabentausch«.

Eine kollektive Verkennung und Verschleierung der »realen« Tatsachen konstituiert für ihn den Gabentausch, denn die Teilnehmer/innen an der Schenkökonomie ließen die Bedingungen des »Tausches« implizit und gäben vor, uneigennützig zu sein. Sie täten so, als gäbe es keine Verbindung zwischen den einzelnen Akten des Gebens. Es geht Bourdieu dabei um die Abschirmung von Gabe und Gegengabe: Das zeitliche Intervall zwischen beiden Akten soll sie als jeweils unverbundene und freiwillig-selbstlose Einzelhandlungen erscheinen lassen. Auf diese Weise versucht Bourdieu »subjektive Wahrheit« (Uneigennützigkeit) und »objektive Wirkungen und Effekte« (eigennütziger Tausch) zusammenzudenken (Bourdieu 1998). Im Habitus der schenkenden Personen verankert er gleichsam das Kalkül, nicht zu kalkulieren. Dabei zeigt sich für Bourdieu hinter dem Gabenaustausch »objektiv« die ökonomische Realität von Tausch und Gewinn. Objektive Strukturen werden nach Bourdieu unbewusst im Habitus der Subjekte verinnerlicht, so dass sein Modell einerseits dem klassischen Verinnerlichungs-, Normen- und Kulturmodell der Sozialtheorie folgt, diese Verinnerlichung andererseits das unbewusste Befolgen eigennütziger Motive bewirkt. Entgegen seinen eigenen Ansprüchen argumentiert Bourdieus Gabentheorie somit ökonomisch und orientiert am Eigennutz. Damit stellt sie zwar eine stringente und einheitliche, aber auch eine vereinseitigte Theorie dar, die der Ambivalenz und Vielfalt von Phänomenen des Gebens wenig gerecht wird. Zugleich stellt sich Bourdieu mit seiner kritischen Theorie der Gabe über die untersuchten Menschen: Der Theoretiker erkennt die eigentlichen Motive hinter den artikulierten Gründen und weiß mehr über die Gabepraktiken der Leute als diese selbst. Diese Attitüde der Kritik, die auf dem Spiel »Ich (kritischer Beobachter) sehe was, was du nicht siehst« beruht, erklärt die Menschen tendenziell für unmündig und glaubt, dass diese ihre eigenen Handlungsmotive nicht kennen. Einem solch problematischen Verständnis von kritischer Sozialwissenschaft sollte man aus meiner Sicht nicht folgen, zumal es am Ende auch nur dazu führt, uns darüber »aufzuklären«, wie egoistisch wir »letztlich« doch sind.

Utilitaristische Erklärungen

Wenden wir uns nun direkt der großen Theorietradition des individualistischen Utilitarismus zu. Der Utilitarismus – wie er hier verstanden wird – geht von eigennützigen Akteuren aus, die permanent damit kalkulieren, ihre Kosten zu senken und ihre individuellen Vorteile zu maximieren. Es handelt sich also um eine breite Definition und nicht um die Ethik des Utilitarismus im engeren Sinne, die auf das größtmögliche Glück für alle zielt und auf Jeremy Bentham (1748–1832), Henry Sidgwick (1838–1900) und John Stuart Mill (1806–1873) zurückzuführen ist.

Für eine utilitaristische Soziologie der Reziprozität waren zunächst die Arbeiten Peter Blaus (2005) von entscheidender Bedeutung. In engem Bezug zu Simmel stellt sozialer Austausch für Blau eine elementare Form sozialer Vergesellschaftung dar, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Menschen ein naturwüchsiges Interesse an anderen haben und sich viele individuelle Ziele nur in sozialer Kooperation befriedigen lassen. Tango tanzen kann man eben nur zu zweit. Ein Austausch zwischen Personen kommt immer dann zustande, wenn dieser mit Gratifikationen verbunden ist. Blau definiert sozialen Austausch deshalb als ein freiwilliges Handeln von Individuen, das durch die erwarteten Erwiderungen anderer motiviert ist. Damit wird das Eigeninteresse zum Motiv und Motor sozialer Austauschbeziehungen. Es ist aber nicht ausschließlich an materiellen Gratifikationen orientiert, sondern gleichfalls auf Formen sozialer Anerkennung und positiver Bestätigung ausgerichtet. Man gibt also anderen etwas, um etwas von ihnen zu erhalten. Man nennt dies auf Lateinisch auch: do ut des (ich gebe, damit du gibst). Das Interesse an langfristigen Kooperationen führt dazu, dass Akte des Gebens und Helfens positiv beantwortet werden und Reziprozitätsverpflichtungen entstehen. Undankbares, also nichtreziprokes Verhalten führt dagegen in der Regel zum Abbruch von Kooperation.

Blau begreift Reziprozität allerdings ebenfalls – und dies ist ein ganz zentraler Gedanke – als einen Mechanismus zur Herstellung von Machtungleichheiten. Diese entstehen immer dann, wenn zwischen Interaktionspartnern aufgrund ihres Status oder ihrer verfügbaren Ressourcen dauerhafte Ungleichgewichte des Gebens und Nehmens vorliegen. In den sozialen Situationen, in denen es Empfängern von Leistungen unmöglich ist, reziproke Gegenleistungen zu erbringen, tendiert der Austausch dazu, asymmetrische Formen anzunehmen: Die Leistungsempfänger/innen fügen sich in eine soziale Hierarchie mit deutlichen Machtungleichgewichten ein und erkennen diese – gleichsam als reziproke Erwiderung – auch an. Blau gibt das Beispiel eines neuen Mitarbeiters in einem Unternehmen. Da er sich mit vielen Abläufen noch nicht auskennt, ist er auf den Rat einer Mitarbeiterin angewiesen, die schon länger in dem Unternehmen arbeitet und sich mit allem auskennt. Im Gegenzug vermag der Neue ihr allerdings nichts anderes zu erwidern als die Anerkennung ihrer höheren Statusposition. Ratschlag gegen Statusungleichheit lautet hier die Austauschformel.

Die Austauschtheorie hat sich in den letzten Jahrzehnten vor allem in der US-amerikanischen Soziologie als Forschungsfeld etabliert. Dort geht man den verschiedenen Varianten von Reziprozität und deren Folgen für sozialen Zusammenhalt nach, und zwar, indem man Austausch zumeist in experimentellen Settings untersucht. Dabei hat man einige interessante Entdeckungen gemacht, die den individualistischen Ansatz dieser Forschung indirekt infrage stellen. Eine Grundannahme nahezu aller Austauschtheorien ist ja zunächst, dass Personen eigeninteressiert handeln, d. h. positiv bewertete Handlungsergebnisse werden angestrebt und negative versucht zu vermeiden (Molm 2003). Bei einer Vielzahl von Experimenten – die zumeist mit Studierenden an vernetzten PCs in Forschungslabors durchgeführt werden – hat sich jedoch gezeigt, dass die Vermeidung von Risiko oder Verlust eine stärkere Motivation darstellt als ein in Aussicht gestellter Gewinn, und dass die Beziehung der Spielpartner/innen (und die damit verbundene Reziprozität) in diesen Spielen offenbar selbst wertgeschätzt wird; sie dient nicht lediglich als Mittel zum Zweck. Dieser Effekt stellt sich in Spielen ein, bei denen die einzelnen Beiträge der Spieler/innen nicht miteinander abgestimmt werden können und ungewiss sind. Man muss bei diesen Spielen Beträge für ein gemeinsames Spielziel aufbringen, ohne vorher miteinander kommunizieren zu können. Bei Spielen jedoch, die auf Verhandlung, also auf direktem Tausch und wechselseitiger Absprache beruhen, tritt der Effekt nicht ein. Findet das Geben und Erwidern also unter Ungewissheit statt, wird die entstandene Beziehung viel stärker wertgeschätzt, als wenn man sich wie beim vertragsförmigen Tausch auf die wechselseitig ausgetauschten Erträge einigt. Beim vertragsförmigen Tausch bringen die ausgehandelten Erträge den beteiligten Akteuren zugleich ihren latenten Interessengegensatz zu Gesicht. Gelingt hingegen ein ungewisser, riskanter Austausch, werden zwischen den Akteuren Vertrauen, Gerechtigkeitsempfinden und ihre affektive Bindung aneinander gestärkt: Risiko intensiviert Bindungen und steigert Integration, da es Vertrauen erfordert, stellt Molm (2010) heraus. Kooperation, die unter riskanten Bedingungen gelingt, wird von den Teilnehmern offenkundig als etwas Bereicherndes wertgeschätzt, was das Modell der individuellen Nutzenmaximierung infrage stellt.

Die Beiträge der Rational-Choice- wie auch der Spieltheorie zum Verständnis reziproker Austauschformen laufen auf ähnliche Einsichten hinaus. Auch diejenigen, die nur ihrem Eigennutz folgen, müssen zur Erreichung ihrer Ziele mit anderen Personen kooperieren und sich um den Aufbau einer Zusammenarbeit bemühen, die beiden nützt. Das Geben wird hier als ein beidseitiges Geben, also wiederum als Tausch konzipiert, wobei selbst der Tausch immer auch Risiken mit sich bringt, die durch den Aufbau von Vertrauensbeziehungen minimiert werden. Verstetigt man Tauschbeziehungen, verringert sich die Gefahr der Nichteinhaltung von Verträgen, und die Vertrauensbeziehung verfestigt sich. Die Rational-Choice-Theorie stellt mithin heraus, dass Vertrauen und Reziprozität wesentlich von der Langfristigkeit der Beziehung abhängen.

Spieltheoretische Ansätze sehen soziales Lernen als zentralen Mechanismus der Ausbildung von Reziprozität an. Axelrod (1984) hat in einer mittlerweile klassischen Untersuchung zur Herausbildung von Kooperation in einem Computerexperiment simuliert, welche Verhaltensstrategien sich in Entscheidungssituationen als vorteilhaft durchsetzen. Er programmierte unterschiedliche Verhaltensstrategien (z. B. kooperativ, bedingt kooperativ, unkooperativ), die mit unterschiedlichen Auszahlungsergebnissen einhergehen. Diese Spiele wurden über mehrere Runden wiederholt und die Strategien anhand der erreichten Gesamtpunktzahl verglichen. Am besten schnitt dabei das als Tit For Tat bezeichnete Verhaltensmuster ab, welches beim ersten Zusammentreffen ein kooperatives Verhalten zeigt, dann auf kooperatives mit kooperativem Verhalten antwortet und auf unkooperatives mit unkooperativem. Stabilisierend für Kooperation ist auch hier die Ausbildung von Reziprozitätsnormen, Vertrauensbekundungen und -erwartungen, die durch anhaltende Regelbefolgung einerseits und die Bestrafung von NichtKooperation andererseits zustande kommen.

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