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Frank Joseph

LEMURIEN

Aufstieg und Fall
der ältesten Weltkultur

Aus dem Amerikanischen
von Thomas Görden

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Titel der amerikanischen Originalausgabe:
THE LOST CIVILIZATION OF LEMURIA
The Rise and Fall of the World’s Oldest Culture

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1. Auflage 2013

Published by Arrangement with Inner Traditions International Limited, Rochester, VT 05767, USA. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, D-30827 Garbsen.

Herausgeber & Lektor

Michael Nagula

Layout & Satz

Birgit Letsch

Einbandgestaltung

FranklDesign

Druck

FINIDR, s.r.o.

ISBN Printausgabe 978-3-939373-18-6
ISBN eBook 978-3-95447-062-4

Inhalt

Einleitung: Terra incognita

1 Eine vergessene Superwissenschaft

2 Der Nabel der Welt

3 Die Riesen sprechen

4 Uralte ozeanische Technologie

5 Der Colonel von Mu

6 Der Garten Eden?

7 Hawaiianisches Mutterland

8 Lemurier in Amerika

9 Was Asien Lemurien verdankt

10 Was uns Namen verraten

11 Lemuriens Schlafender Prophet

12 Die Zerstörung Lemuriens

13 Die Entdeckung Lemuriens

Zusammenfassung: 200.000 Jahre in 1.000 Worten

Nachwort: Die wahre Bedeutung Lemuriens

Bibliografie

Für Professor Nobuhiro Yoshida,
Vorsitzender der Japanischen Gesellschaft
für Petrografie

EINLEITUNG

Terra incognita

Es reizt uns herauszufinden, ob der Umstand, dass einige dieser Glaubensvorstellungen und Legenden so viele verbindende Elemente aufweisen, auf bloßen Zufall zurückzuführen ist, oder ob die Ähnlichkeit zwischen ihnen nicht auf eine uralte, völlig unbekannte und unvermutete Zivilisation hindeutet, von der alle anderen Zeugnisse verschwunden sind.

PROFESSOR FREDERICK SODDY,
NOBELPREISTRÄGER, 1910

Die bedrohliche Silhouette eines Fremden tauchte plötzlich aus der Dunkelheit auf. Als ich die Fäuste hob, um mich zu verteidigen, packten zwei Komplizen mich von hinten, jeder auf einer Seite. Jemand drückte mir den Hals zu, und einen Augenblick später sackte ich, nach Luft ringend, aufs Straßenpflaster.

Es dauerte eine Weile, bis das Bewusstsein langsam wieder in mein nach Sauerstoff hungerndes Gehirn zurückströmte. Ich war in der Nacht allein. Der Überfall kam mir fern, vage, unwirklich und traumartig vor. Ich blickte zum Nachthimmel empor, wo jenes kosmische Halsband funkelte, das wir die Milchstraße nennen. Für kurze Zeit lag ich ruhig auf dem Rücken, fast wie auf der friedlichen Prärie meiner Jugendzeit in Illinois. In Wirklichkeit befand ich mich auf den Pflastersteinen einer Gasse in Cusco, der alten Hauptstadt Perus. Diese Gasse verband die nach der Eroberung durch die Spanier erbaute Kathedrale mit der Coricancha, dem eindrucksvollen Tempel der Inka, bekannt als Goldener Hof. Man hatte mich sozusagen zwischen den Welten überfallen. Cusco war der Nabel der Welt, das heilige Zentrum der ewigen Wiedergeburt.

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Szene aus dem Ramayana, dem Hindu-Epos, in dem die Flucht von Überlebenden aus ihrer Heimat im Pazifik geschildert wird. Diese Wandmalerei befindet sich im Tempelkomplex Wat Phra Keo in Bangkok, Thailand.

Schwankend rappelte ich mich auf. Ich war dankbar, am Leben zu sein und keine Verletzungen durch Dolche davongetragen zu haben, wie Räuber sie in dieser Erdregion traditionell bei sich tragen, wo Diebstahl in all seinen Spielarten eine nationale Industrie ist. Aber meine Kehle war rau und das Schlucken schmerzhaft. Schlimmer noch, man hatte mir mein Geld und sämtliche Ausweise gestohlen – Reise-checks, Kreditkarte, Pass. Nun befand ich mich ohne sichtbare Unterstützung oder Identität in einem sehr fremden Land – keine empfehlenswerte Situation.

Trotz meiner Benommenheit und dem Schock angesichts dieser gewalttätigen Begegnung musste ich an den letzten Inka-Herrscher denken, Atahualpa, der von den Spaniern vor fünf Jahrhunderten erdrosselt worden war. Ich wusste jetzt, wie es sich anfühlen musste, ermordet zu werden. Es war gar nicht so schlimm. Das Leben war es, das schmerzhaft war. Man weiß, dass man lebt, wenn man Schmerzen hat. Dennoch fühlte ich eine innere Verbundenheit mit dem alten Atahualpa.

Trotz dieses misslichen Abenteuers setzte ich in klapprigen Eisenbahnzügen meine Reise durch die Anden fort, deren Ziel die Himmelsstadt der Inka war. Um Mitternacht war ich mit den umgebenden Berggipfeln allein. Ich sah eine Nebelbank sich langsam teilen. Wie ein gespenstischer Vorhang öffnete sie sich und gab den Blick auf das in unheimlichem Mondlicht schimmernde Machu Picchu frei. Von dort aus erkundete ich den Titicaca-See, den am höchsten gelegenen See unseres Planeten, und die in der Nähe befindlichen Ruinen von Tiahuanaco, der unerklärlichen Hauptstadt eines Reiches, das es eigentlich gar nicht gegeben haben dürfte. Im Herrera-Museum in Lima war ich auf die blonden und rothaarigen Mumien eines offensichtlich nicht-indianischen Volkes der Vor-Inka-Zeit gestoßen, das vor langer Zeit die Pazifikküste beherrscht hatte. Tage später überflog ich in einem gecharterten Kleinflugzeug die häufig von Erdbeben geschüttelte Ebene von Nazca. Aus tausend Metern Höhe über Grund fotografierte ich die sich über Dutzende von Kilometern erstreckende größte Kunstsammlung überhaupt, wo die trockenste Wüste der Erde mit gigantischen Bildern von Pflanzen und Tieren, geometrischen Figuren und schnurgeraden Linien verziert ist.

Später, auf den solideren Boden des nördlichen Illinois zurückgekehrt, war ich immer noch ganz erfüllt von den Bildern und Emotionen dieser fast zweimonatigen intensiven Reise in die vorspanische Vergangenheit Südamerikas. Um meine Heimkehr (wenn nicht mein Überleben) zu feiern, luden mich Freunde in ein besonders beliebtes Restaurant in Chicagos Chinatown ein, auf der South Side der Stadt. Zum Samstagabend-Dinner gehörte nicht nur eine gute Mahlzeit, sondern auch der von der Universität gesponserte Auftritt einer Folklore-Tanzgruppe aus Hong-kong. Es handelte sich um eine Art Historienspiel, bei dem die in regionale Kostüme gekleideten Tänzer Höhepunkte der chinesischen Geschichte pantomimisch darstellten.

Über Lautsprecher kündigte eine körperlose Stimme in akzentreichem, aber doch verständlichen Englisch an, dass es sich bei der ersten Nummer um den ältesten bekannten Tanz Chinas handeln würde, dargeboten von einer jungen Dame in einem Kostüm wie zu Zeiten der legendären Dynastie des Kaisers Huangdi, dem China seinen Namen verdankt und der vor über viertausend Jahren regierte. Im Anschluss daran stimmte das schrille Live-Orchester die erwartete süßsaure Musik an. Und der Auftritt dieser Tänzerin versetzte mich in allergrößtes Erstaunen. Diese kleine Chinesin führte den ältesten Tanz ihres Landes auf – und trug ein Kostüm, das nahezu identisch war mit jenen Kostümen, die ich erst vor wenigen Tagen gesehen hatte, als junge Aymara-Indianerinnen in den peruanischen Anden den ältesten Volkstanz ihres Landes aufführten.

Die Ähnlichkeit der Kostüme war absolut verblüffend. Für mich bestand kein Zweifel, dass vor sehr langer Zeit Menschen aus China einen beängstigend großen Ozean überquert und bei den Bewohnern Südamerikas unauslöschliche kulturelle Eindrücke hinterlassen haben mussten. Die Chinesen galten über Jahrhunderte hinweg als kundige Seefahrer, während die peruanischen Fischer nicht gerade dafür bekannt waren, sich außer Sichtweite des Landes aufs offene Meer zu wagen. Daher nahm ich an, dass die Einflüsse von Westen nach Osten über den Pazifik gekommen sein mussten. Dennoch war die Anden-Zivilisation nicht chinesisch. Sie schienen nichts miteinander gemeinsam zu haben, mit Ausnahme der nahezu identischen Kostüme, die von Tänzerinnen in beiden Teilen der Welt getragen wurden.

Einige Monate später arbeitete ich als Journalist der Asian Pages, eine in St. Paul erscheinende Tageszeitung für die asiatischen Einwohner von Minnesota. Einer Reportage wegen besuchte ich ein lokales Kulturzentrum, wo man mit traditionellen Folklore-Darbietungen das kambodschanische Neujahrsfest feierte. Da ich Südostasien bereits besucht hatte, kannte ich die attraktive Synthese musikalischer und tänzerischer Themen, die sich zwischen Indien, Vietnam und Laos, Burma und Kambodscha entwickelt hatte. Aber eine Nummer, sie stammte offenbar aus einer Provinz, die dafür berühmt war, besonders alte kulturelle Traditionen zu pflegen, war anders als alles, was mir auf meinen Reisen begegnet war – jedenfalls in Asien.

Sie war völlig un-kambodschanisch. Getrennte Reihen von Tänzern und Tänzerinnen traten gemeinsam auf. Sie trugen nicht die typischen geschmückten und glitzernden Kostüme, sondern einfache Lendenschurze und Sarongs, mit großen grünen Blättern im Haar, die Männer mit nackter Brust. Zum rhythmischen klop-klop halbierter Kokosnussschalen chanteten sie mehr als zu singen und machten dazu graziöse, fließende Gesten mit Händen und Armen. Es war die polynesischste Darbietung, die ich je außerhalb Honolulus gesehen hatte.

War es möglich, dass in alter Zeit Kambodschaner Tausende von Kilometern in den Pazifischen Ozean gereist waren, um den dortigen Insulanern ihren Tanz beizubringen? Oder brachten die Polynesier einige ihrer zeremoniellen Aktivitäten nach Kambodscha? Beide Möglichkeiten schienen unbegründet und absurd zu sein. Und doch war der »kambodschanische« Neujahrs-Tanz ein Spiegelbild von etwas, das man gemeinhin aus Hawaii kennt. Waren diese bemerkenswerten Ähnlichkeiten reiner Zufall? Und wenn nicht, was bedeuteten sie dann? Ich musste an den chinesischen Tanz mit peruanischem Kostüm denken, den ich in Chicago gesehen hatte. War es nicht, statt südamerikanische Besuche im alten China oder kambodschanische in Polynesien zu vermuten, ebenso denkbar, dass Pazifik-Insulaner, Aymara-Indianer, Südostasiaten und die Chinesen des dritten vorchristlichen Jahrtausends alle von der gleichen äußeren Quelle beeinflusst wurden?

Solche Spekulationen waren alles andere als neu. Praktisch von Anfang an stieß ich bei meiner ein Vierteljahrhundert währenden Erforschung der kontroversen Zivilisation von Atlantis gelegentlich auf Hinweise, dass Atlantis im Pazifik ein Gegenstück besessen haben musste, bekannt als Lemurien oder Mu. Es drängte mich, James Churchwards fünfbändige Untersuchung zu konsultieren, die als beste Quelle zu diesem Thema galt, aber sein unangenehm rechthaberischer Ton stieß mich ab, und schlimmer noch, der Text erwies sich als schwülstig, unzureichend belegt und generell wenig überzeugend. Die restliche Literatur zum Thema Lemurien beschäftigte sich überwiegend mit theosophischen und anthroposophischen Mutmaßungen über »Wurzelrassen«, Riesen mit Augen im Hinterkopf und anderen Ausgeburten der Fantasie, die eher in billige Fantasy-Romane gepasst hätten und nichts mit einer seriösen Erforschung der fernen Vergangenheit zu tun hatten.

Ich verlor jedes Interesse an einem pazifischen (manchmal indischen) »versunkenen Kontinent« und war deshalb schlecht vorbereitet, als dieser unerwartet in meinem Leben wieder auftauchte. Gerade hatte ich für Asian Pages ein Interview mit einer wortgewandten Vertreterin der malaysischen Regierung geführt, die sich in St. Paul, der Hauptstadt von Minnesota, aufhielt. Nach dem halbstündigen Interview plauderten wir noch etwas über ihr Land, über das ich, wie ich zugeben musste, kaum etwas wusste. Daraufhin erwähnte sie, dass für ihre Landsleute ihre Herkunft vor der Großen Flut genauso im Dunklen läge.

»Der was? Ich dachte, Ihr Volk ist nicht christlich geprägt«, sagte ich.

»Das sind wir auch nicht.« Sie lächelte. »Wir haben unsere eigene Version von der Flut. Es ist eine alte Legende, die man sich überall auf dem Archipel erzählt. Jedes Kind kennt sie von seinen Eltern oder lernt sie in der Grundschule.«

Ich bat sie, mir die Geschichte zu erzählen.

»Dieser Legende zufolge existierte vor sehr langer Zeit ein mächtiges Königreich auf einer großen Insel weit im Osten, im Pazifischen Ozean. Es war ein wundervolles Reich, eine Art Paradies. Dort schuf Gott die ersten Menschen. Sie bauten prächtige Städte, mit großen Tempeln und Palästen, die frühesten, die je von Menschen erbaut wurden. Sie waren sehr wohlhabend, denn die Meere waren noch reich an Fischen, und in dem sonnigen Klima gediehen alle Arten von Früchten und Getreide. Dass sie reich waren, ermöglichte es ihnen, sich anderen Interessen zu widmen. Also erfanden sie die Schrift, Religion, Seefahrt, Astrologie, Medizin, Musik – so ziemlich alles, was es gibt. Und während Tausenden von Generationen blühte ihr Reich. Diese Menschen waren große Zauberer mit magischen Fähigkeiten. So konnten sie zum Beispiel schwere Steine durch die Luft schweben lassen.

Doch eines Tages stieg das Meer immer höher und bedrohte das Landesinnere. Die weisen Männer wussten, dass ihr Königreich schließlich vom Wasser verschlungen werden würde. Es gelang ihnen, die meisten Angehörigen ihres Volkes rechtzeitig zu evakuieren. Voller Kummer mussten sie zusehen, wie ihre Insel allmählich in den Fluten versank. Doch während sie unterging, erhob sich im Westen ein anderes Gebiet aus den Tiefen des Meeres. Glücklich flohen die Überlebenden auf dieses neue Land und bevölkerten es mit ihren Nachkommen. So ist Malaysia entstanden«, schloss sie mit fast kindlichem Stolz darüber, die uralte Tradition ihres Landes so kurz und prägnant zusammengefasst zu haben.

»Und diese Geschichte erzählt man bei Ihnen den Kindern?«, fragte ich überrascht.

»Das ergibt durchaus Sinn«, antwortete sie. »Die tektonischen Kräfte einer Landmasse könnten eine andere verdrängt haben. Etwas Derartiges könnte geschehen sein. Wer vermag das zu sagen? Was herabsinkt, muss wieder aufsteigen, auch in geologischer Sicht!«

Ich musste erst einmal tief Luft holen. Dann schaute ich sie ernst an und fragte: »Haben Sie schon einmal etwas von Lemurien oder Mu gehört?«

»Wovon?«

Jahre später erfuhr ich, dass der umstrittene Katastrophist Immanuel Velikovsky eine gleichlautende Volksüberlieferung zitierte, die sich die Bewohner Samoas erzählten, um den Ursprung ihrer Insel zu erklären. Aber vor meiner Begegnung mit der malaysischen Regierungsvertreterin war mir nicht bewusst, dass es im Pazifikraum Legenden über eine große Flut gibt, die nicht auf den Einfluss christlicher Missionare zurückzuführen sind. Ich fragte mich: Wenn die malaysische Version ein regelrechtes Nationalepos ist, wie viele ähnliche Volkslegenden über ein versunkenes Heimatland mögen dann noch existieren? Was mich ebenfalls erstaunte, war die bemerkenswerte Abweichung von Berichten über die Zerstörung von Atlantis, die stets als gewaltsame Katastrophe mit verzehrenden Feuersbrünsten und gewaltigen Todesfluten geschildert wird, die innerhalb eines Tages und einer Nacht über ein dem Untergang geweihtes Volk hereinbrachen. Hier, eine Welt entfernt vom Atlantischen Ozean, wiederholte sich der Prozess der Überflutung. Die malaysische Legende war jedoch eindeutig weder von der Genesis noch von Platon beeinflusst. Wie ließ sich ihr Ursprung dann erklären?

Zum ersten Mal stürzte ich mich in das reiche Erbe der polynesischen Mythologie und fand mehrere überzeugende Antworten. Diese führten mich zu weiteren Entdeckungen jenseits des Pazifiks, in Asien, im Nahen Osten und, unerwarteterweise, in Italien. Dort lernte ich, dass der Name Lemurien in historischer Zeit erstmalig von den Römern verwendet wurde. Es war der Name für ihre älteste Zeremonie, die sie alljährlich am neunten, elften und dreizehnten Mai begingen. Ähnlich dem heutigen Halloween diente Lemurien dazu, die ruhelosen Geister von Menschen friedlich zu stimmen, die eines gewaltsamen oder viel zu frühen Todes gestorben waren. Die Römer glaubten, dass diese gepeinigten Seelen von einem uralten Volk begleitet wurden, das tragisch zugrunde gegangen war, als seine ferne Heimat, die ebenfalls den Namen Lemurien trug, der Zerstörung durch eine Naturkatastrophe in einem weit entfernten Ozean anheimfiel. Es gibt einen philologischen Hinweis darauf, dass es sich bei dem Begründer dieser Zeremonie, Romulus, und seinen Zwillingsbruder Remus um Lemurier handelte.

Wie dem auch sei, die Zeremonie endete damit, dass man kleine Bildnisse der unzeitgemäß Verstorbenen in den Fluss Tiber warf, womit man sie symbolisch der Großen Flut übergab. Man bezeichnete sie als Lemuren, wovon sich der Name der Zeremonie ableitete. Der Legende nach besaßen diese Geister große, glühende Augen, was Zoologen des späten 19. Jahrhunderts dazu veranlasste, einer besonderen Primatengattung den Namen dieser römischen Spukgestalten zu geben. Und durchaus folgerichtig erweckten Wissenschaftler die Idee eines »verlorenen Kontinents« zu neuem Leben, um die ansonsten nicht nachvollziehbare Beschränkung des Verbreitungsgebiets der affenähnlichen Lemuren auf Madagaskar und Borneo zu erklären.

Lange vor diesen viktorianischen Gelehrten hatten römische Geografen eine deutliche Unterscheidung zwischen Lemurien und Atlantis getroffen. Von Letzterem glaubte man, es habe vor seiner Vernichtung den Atlantik beherrscht. Zum Gegenstand religiöser Aktivitäten wurde Atlantis bei den Römern nie. Atlantis hatte nach ihrer Vorstellung den Westen beherrscht, während Lemurien sich irgendwo im Osten befunden hatte, erheblich weiter weg. Der berühmte Geograf Strabo nennt Lemurien Taprobane, den »Anfang einer anderen Welt«, der sich zwanzig Seetage von der Südspitze Indiens entfernt befinden soll. Auf der Reise zu dieser großen Insel mit ihren fünfhundert Städten komme man an einer Reihe namentlich nicht genannter Inseln vorbei, mit denen vermutlich die Kokosinseln gemeint sind.

Von der Existenz dieser Insel wusste bereits Euhemerus, ein berühmter griechischer Denker, der wegen seiner Entdeckung und Übersetzung »heiliger Schriften« in verschiedenen Teilen des Peloponnes im Jahre 301 v. Chr. durch den makedonischen König Kassander protegiert wurde. In diesen Texten wird die angeblich wahre Herkunft der Götter beschrieben, die demnach nicht vom Olymp stammen, sondern aus einem großen Königreich, das in einem fernen Ozean im Osten gelegen haben soll und nur durch eine mehrmonatige Seereise erreicht werden konnte. Kassander ließ eine Expedition ausrüsten, die nach dieser rätselhaften Zivilisation suchen sollte. Und tatsächlich entdeckten Euhemerus und seine Mannschaft dieses Land namens Panchaia. Er berichtete, dass seine Bewohner »außerordentlich fromm sind und die Götter durch die großartigsten Opfer und bemerkenswerte Votivgaben aus Silber und Gold ehren. Auch gibt es auf der Insel einen sehr hohen Hügel, auf dem ein Heiligtum des Zeus steht, das er errichtete, als er als König über die ganze bewohnte Welt herrschte und noch in Gesellschaft der Menschen lebte. In dem Tempel gibt es eine Goldstele, auf der in der Schrift der Panachaier die Taten von Uranus, Kronos und Zeus festgehalten sind«. Auf dieser Inschrift soll zu lesen gewesen sein, dass Uranus als erster König die Erde regierte und ein herausragender Astronom war, weshalb ihm der Titel »Himmel« verliehen wurde. Auf ihn folgte Kronos, dessen Söhne Poseidon und Zeus die ganze Welt bereisten, ehe auch sie zu Königen wurden, wobei der eine über das Meer und der andere über das Land herrschte.

Euhemerus kehrte nach Makedonien zurück und veröffentlichte seinen Reisebericht Heilige Schrift. Teile davon überdauerten den Zusammenbruch der antiken Welt, weil sie im Werk eines anderen griechischen Schriftstellers, Diodorus Siculus, zitiert wurden. Zwar tun die meisten modernen Forscher diese Heilige Schrift als bloße Fabel ab, doch möglicherweise hat ihr Verfasser tatsächlich ein Überbleibsel Lemuriens entdeckt, vielleicht die Osterinsel, deren Bewohner eigene schriftliche Aufzeichnungen besaßen, wie es bei den Panachaiern der Fall gewesen sein soll. Angeblich war Lemurien die erste globale Zivilisation, und Euhemerus beschrieb Panachaia als eine oikumene, eine ökumenische Macht, die einst in grauer Vorzeit die ganze Welt beherrscht haben soll. Er berichtet, dass Poseidon einer ihrer frühen Könige war und über die Weltmeere herrschte. In seinem Dialog aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. beschreibt Platon Poseidon als den göttlichen Begründer von Atlantis.

Lange haben die Forscher über die Rolle gerätselt, die dieser Meeresgott in Platons Kritias spielt: War er ein mythisches Symbol für die Naturkräfte, von denen die Insel Atlantis geformt wurde, oder repräsentiert er das kulturbringende Volk, das in ferner Vergangenheit dort eintraf, um eine neue Gesellschaft zu gründen? Platon schrieb, eine einheimische Frau, Kleito, habe Poseidon zehn männliche Zwillinge geboren, die ersten Könige von Atlantis. Wollte der griechische Philosoph damit andeuten, dass die Atlanter ursprünglich aus Lemurien stammten?

Schon der Name Panachaia deutet darauf hin. Er ist das griechische Wort für die Heimat aller ursprünglichen Völker und setzt sich zusammen aus pan für »alle« und achaia, was in der vorklassischen Zeit der Name für Griechenland war. Mit »vorklassisch« ist die Bronzezeit von 3.000 bis 1.200 v. Chr. gemeint, eine Ära, in der sich die kulturelle Blüte und die endgültige Zerstörung Lemuriens abgespielt haben müssen. Daher erscheint es angemessen, dass Panachaia auch ein Titel der Athene war, jener Göttin, die der Menschheit die zivilisierten Künste und Wissenschaften brachte. Wie als geradezu unfassbare Bestätigung von Euhemerus behauptete Churchward, das griechische Alphabet sei nicht nur von Kulturbringern aus Mu in den Peloponnes eingeführt worden, sondern seine ursprüngliche Anordnung habe auch einen Bericht über die Zerstörung ihres Heimatlandes enthalten. Seine Lesart, Buchstabe für Buchstabe von Alpha bis Omega, war immerhin faszinierend genug, um nicht von vornherein verworfen zu werden. Schließlich heißt der zwölfte Buchstabe des griechischen Alphabets tatsächlich Mu.

Während ich über all diese Enthüllungen nachgrübelte, lud mich Professor Nobuhiro Yoshida, der Vorsitzende der Japanischen Petrographischen Gesellschaft, ein, auf seinem Nationalkongress in Ena einen Vortrag zu halten. Ich nutzte die Gelegenheit, um lemurischen Spuren nicht nur in Japan nachzugehen, sondern auch in ganz Südostasien und Polynesien. Professor Yoshidas enormer Intellekt hätte mich vor Ehrfurcht erstarren lassen, wenn er nicht ein so mitfühlender und humorvoller Mensch wäre. Gleich bei unserer ersten Begegnung im Jahr 1996 schlossen wir Freundschaft, aber ich verehre ihn bis heute als meinen wahren Sensei, die größte lebende Autorität, was die Wurzeln der japanischen Zivilisation betrifft. Sein Geist von der Schärfe eines Samuraischwerts vermittelte mir ein Verständnis dieser Wurzeln, wie es kein Buch oder Universitätsseminar je vermocht hätte. Er zeigte mir abgelegene, wenig besuchte archäologische Fundstätten, die Menschen aus dem Westen selten oder nie zu Gesicht bekommen, und stellte mich zahlreichen professionellen Historikern und Amateurforschern vor, die sich mit Hingabe der Bewahrung ihrer nationalen Vergangenheit widmen.

Ehe ich von Tokio nach Thailand weiterreiste, traf ich mich mit einer kleinen Gruppe japanischer Verleger und Journalisten. Einer von ihnen zeigte mir eine kürzlich veröffentlichte Fotoserie, die meine Suche nach Lemurien auf dramatische Weise in neue Bahnen lenkte. Auf den Bildern war etwas zu erkennen, bei dem es sich offenbar um die massiven steinernen Ruinen eines Zeremonialgebäudes handelte, die in der Nähe von Yonaguni, Japans südlichster Insel, etagenförmig vom Meeresgrund emporragen.

Die Fotografien und Zeitungsberichte schienen authentisch zu sein. Hatte man Lemurien entdeckt?

Nach Wisconsin zurückgekehrt, verwendete ich diesen Unterwasserfund als Titelaufmacher für das populärwissenschaftliche Magazin Ancient American, dessen Herausgeber ich war. So erfuhren die Leser in den Vereinigten Staaten zum ersten Mal von dieser winzigen fernen Insel mit ihrem kuriosen, im Meer versunkenen Monument.

In den nächsten sechs Jahren kehrte ich jährlich nach Japan zurück. Bei jedem Besuch führte mich Professor Yoshida zu geheimnisvollen Ruinen, die im Ausland, aber auch bei den meisten Japanern gänzlich unbekannt sind. Weitere Erkundungen führten mich zu einer lemurischen Gedenkstätte in Thailand, und in den Dschungelwäldern von Oahu besichtigte ich die Reste eines Tempels – den Ruinen in der Nähe von Iseki Point nicht unähnlich. Dieser Tempel wird von den Einheimischen einem uralten Volk zugeschrieben, dem sie bis heute den Namen Mu geben.

Im Anschluss an diese ausgedehnten Reisen wurde ich nach England eingeladen, um meine Erkenntnisse zum ersten Mal der Öffentlichkeit zu präsentieren – auf der Quest for Knowledge Conference in Saint Albans, wo führende Experten der Alternativ-Wissenschaften zusammenkamen, unter ihnen Maurice Cotterell und John Anthony West. Die Idee, das »Monument« von Yonaguni sei von Menschen erbaut, stieß auf geteiltes Echo. Man war sich aber einig, dass es unbedingt weiter erforscht werden sollte. Ich kehrte nach Wisconsin zurück und schrieb über meine Lemurien-Forschungen mehrere Artikel für die Zeitschrift Atlantis Rising, diese dringend benötigte Vorkämpferin für unkonventionelle Positionen in Anthropologie, Geologie, Astronomie und Spiritualität. Einer dieser Artikel erregte die Aufmerksamkeit einer unabhängigen Filmproduzentin, die mich bat, das Drehbuch für einen Dokumentarfilm über Yonaguni und die Auswirkungen dieses Fundes auf die pazifische Archäologie zu schreiben. Sie verfügte bereits über ausgezeichnetes Unterwasser-Filmmaterial. Dieses Material zu ordnen und mit einigen meiner Forschungsergebnisse zu verknüpfen, führte zum Skript für den Film The Temple of Mu.

Die Dokumentation wurde erstmalig im Jahr 2000 im australischen Fernsehen ausgestrahlt, außerdem vom Fuji Television Network in ganz Japan gezeigt und im folgenden Jahr auf dem International Film Festival für einen Preis nominiert. Wichtiger ist aber, dass The Temple of Mu einen Wendepunkt in der modernen Wissenschaft beschreibt, der von den Mainstream-Akademikern noch immer nicht anerkannt ist. Über ein Jahrhundert lang, bis zu den Unterwasserfunden in japanischen und taiwanesischen Gewässern während der letzten Jahre, taten diese Akademiker jeden Hinweis auf Lemurien als bloße theosophische Fantasie ab – »schlimmer als Atlantis« nach den Worten eines Anthropologie-Professors, der auf seiner Anonymität besteht. Aber unsere einstündige Dokumentation lieferte materielle Beweise, gestützt durch die Meinung einiger führender Experten und seriös präsentiert, so dass sie sich nicht so einfach von der Hand weisen ließen. Trotz einigen Widerwillens auf offizieller Seite begann die Zivilisation des Pazifischen Ozeans sich aus den Tiefen der Mythologie unaufhaltsam in die archäologische Realität zu erheben.

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Lemuria. Gemälde von L. T. Richardson.

Ein Teil dieses Mythos wurde im frühen 20. Jahrhundert von Edgar Cayce verkündet, dem sogenannten Schlafenden Propheten. Zweifelsohne liefern die Trance-Botschaften eines spirituellen Mediums Skeptikern um so mehr Grund, sich von dem Thema fernzuhalten. Aber solche Kleingeister werden sich auch durch noch so untadelige Beweise nicht überzeugen lassen. Der Sache eines neuen Geschichtsbildes ist aber sehr damit gedient, Cayces tiefschürfende Beschreibungen einer mit anderen Mitteln unzugänglichen Vergangenheit in die Forschungen einzubeziehen.

Ich kannte Cayces »Readings« zum Thema Atlantis bereits, war aber nicht so vertraut mit seinen weniger zahlreichen Aussagen bezüglich dessen geografischen Gegenstücks. Daher fand ich es außerordentlich spannend festzustellen, wie bemerkenswert gut seine Bemerkungen sich mit allem deckten, was über Atlantis und Lemurien bereits bekannt war. Und zugleich warfen sie ein neues Licht auf die unterschiedlichen und doch zueinander in Beziehung stehenden Ursprünge und Schicksale dieser beiden versunkenen Königreiche. Die Association for Research and Enlightenment in Virginia Beach, die Cayces Erbe betreut, gab ein Buch mit dem Titel Edgar Cayce’s Atlantis and Lemuria heraus. Darin werden seine Durchgaben bezüglich dieser kontroversen Zivilisationen im Licht jüngster wissenschaftlicher Entdeckungen untersucht.

Seit dem Erscheinen des Buches im Jahr 2001 erhielt ich Kenntnis von neuen Beweisen, die deutlicher als je zuvor Existenz, Geschichte und Schicksal des versunkenen Reiches im Pazifischen Ozean bestätigen. In Vorbereitung auf dieses Buch, das Sie in Händen halten, stellte ich ganze Berge von Forschungsmaterial zusammen. Während des langen Sichtungsprozesses dieses Materials konnte ich mich einigen grundsätzlichen Schlussfolgerungen nicht verschließen, die sich zwingend aus den kombinierten Beweisen ergaben:

• Ohne Zweifel hat Lemurien in ferner Vergangenheit existiert.

• Es war die Geburtsstätte der menschlichen Zivilisation.

• Es war der biblische »Garten Eden«.

• Die Lemurier entwickelten und nutzten eine unglaublich hochstehende Technologie, die sich von der unseren unterschied und ihr in mancher Hinsicht überlegen war.

• Vor ihrem endgültigen Verschwinden erlitten sie im Lauf vieler Jahrtausende nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von Naturkatastrophen.

• Ihre mystischen Prinzipien haben überlebt und beeinflussten einige der bedeutenden Religionen.

Diese sich unvermeidlich aufdrängenden Feststellungen bilden die Grundlage für Lemurien – Aufstieg und Fall der ältesten Weltkultur. Sinn und Zweck dieses Buches ist es, die besten und aktuellsten Beweise für die reale historische Existenz Lemuriens zu präsentieren, eines Landes, bewohnt von einem bewundernswerten Volk, dessen spirituelle Errungenschaften das kostbarste Erbe der Menschheit darstellen. Neue Enthüllungen deuten darauf hin, dass der Zeitpunkt nicht mehr fern ist, wenn allgemein anerkannt werden wird, was dieses im Meer versunkene Reich in Wirklichkeit war: die Urquelle der Menschheit. Durch diese Anerkennung in der modernen Welt werden die Lemurier wieder zum Leben erwachen. Die Kräfte, die sie vor so langer Zeit in Bewegung setzten, sind noch immer wirksam und leiten uns zu jenem unvermeidlichen Augenblick, da wir uns der unvergänglichen Essenz dieses verschwundenen Mutterlandes in vollem Umfang bewusst werden. Dann werden wir erkennen, dass wir die Kinder von Mu sind.

EINS

Eine vergessene
Superwissenschaft

Und überall, an ihren Kanälen aufgereiht, erheben sich die von Mauern geschützten kleinen Inseln aus dem Mangrovendickicht – tot, seit unzähligen Jahren verlassen, gemieden von den Menschen, die in ihrer Nähe leben.

ABRAHAM MERRITT: DER MONDTEICH

Eines der größten antiken Welträtsel ist zugleich eines der undurchsichtigsten. In einer abgelegenen Region des westlichen Pazifiks, zwischen dem Äquator und dem elften Breitengrad, fast 1.600 Kilometer nördlich von Neuguinea und 3.700 Kilometer südlich von Japan, stehen die mächtigen Ruinen einer vor langer Zeit gestorbenen Stadt: Nan Madol. Gänzlich unpassend auf einem Korallenriff erbaut, nur eineinhalb Meter über dem Meeresspiegel, besteht diese Stadt aus einer Reihe rechteckiger Inseln und kolossaler Türme, von Vegetation überwuchert. Während seiner prähistorischen Blütezeit war Nan Madol ausschließlich vom Meer aus zugänglich. Die von dort kommenden Boote näherten sich durch einen von künstlichen Inseln flankierten Korridor. Am Ende dieses Wasserweges liegt der einzige Eingang in die Stadt, eine eindrucksvolle Steintreppe, die zu einem Platz hinaufführt. Das über vier Quadratkilometer große Stadtzentrum besteht aus zweiundneunzig künstlichen Inseln. Sie alle sind durch ein umfangreiches Netzwerk von Kanälen verbunden, von denen jeder gut acht Meter breit und bei Flut über einen Meter tief ist.

Für den Bau von Nan Madol, das sich über eine Fläche von 68 Hektar erstreckt, wurden 250 Millionen Tonnen Säulenbasalt verwendet. Die Basaltprismen sind wie die Balken eines Blockhauses übereinander geschichtet, sieben bis acht Meter hoch. Ursprünglich müssen die Mauern noch einmal etwa drei bis sechs Meter höher gewesen sein. Genauere Schätzungen sind nicht möglich, weil diese pazifische Metropole langsam, aber unausweichlich dem wild wuchernden Dschungel zum Opfer fällt, der die lose geschichteten Bruchsteinwälle immer mehr zerstört. David Hatcher Childress, der in Nan Madol in den achtziger und frühen neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mehrere Unterwasser-Untersuchungen durchführte, gelangt zu dem Schluss, dass »das ganze Projekt sich, was die aufgewendete Steinmenge und Arbeitskraft angeht, in seinen gewaltigen Ausmaßen ohne Weiteres mit der chinesischen Mauer und den ägyptischen Pyramiden messen kann«. Tatsächlich sind manche der in Nan Madol benutzten Basaltsäulen größer und schwerer als die über zwei Millionen Steinblöcke der Cheops-Pyramide. Für den Bau dieser prähistorischen Metropole der Karolineninseln verwendete man zwischen vier und fünf Millionen Steinsäulen.

Diese vier-, fünf- oder sechseckigen Säulen, die als Bau-material für Nan Madol dienten, wurden aus Basaltfelsen herausgebrochen. Sie wurden grob in Form gehauen und dann ohne Mörtel oder Zement lose übereinander geschichtet, was ein deutlicher Unterschied zu dem sorgfältig aufgeschichteten Mauerwerk entlang der mutmaßlichen Kanäle ist. Die prismatischen Säulen der eigentlichen Stadt sind in der Regel ein bis vier Meter lang, darunter befinden sich aber auch viele, die eine Länge von über acht Metern erreichen. Das durchschnittliche Gewicht der Säulen beträgt fünf Tonnen, doch die größeren Exemplare wiegen jeweils zwanzig bis fünfundzwanzig Tonnen. Laut der Zeitschrift Science »gab es im Riff natürliche Wellenbrecher, die als Zufahrt zu den Häfen dienten. In diesen Bootskanälen lagen zahlreiche Inseln, die von eineinhalb bis zwei Meter hohen Steinwällen umgeben waren«.

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Nan Madol. (Foto: Sue Nelson)

Die gesamte zentrale Anlage war einst von einer fünf Meter hohen und ursprünglich achthundertfünfzig Meter langen Mauer umgeben. Von diesem massiven Wall haben nur wenige Abschnitte den Gewalten der seit Jahrhunderten heranbrandenden Stürme standgehalten. Immerhin sind bis heute zwei Hafendämme erhalten geblieben. Der eine ist fünfhundert Meter lang, der andere, deutlich größere, sogar eineinhalb Kilometer. Manche Mauern von Nan Madol sind mehr als vier Meter dick. Welchem Zweck sie dienten, ist unbekannt, denn sie sind eindeutig nicht Teil einer militärischen Festung. Man findet keinerlei Bögen, über Durchgänge sind einfache Steinplatten gelegt. Die mutmaßlichen »Häuser« haben keine Fenster, und es gibt keine Straßen, nur Kanäle. Dennoch ist die Anlage nicht in planlosen, unzusammenhängenden Bauphasen über mehrere Generationen hinweg entstanden. Die sorgfältige Anordnung sämtlicher Strukturen weist auf einen organisierten Gesamtbauplan hin, der innerhalb einer relativ kurzen Zeit ausgeführt wurde.

Das am besten erhaltene Gebäude der Stadt wird Nan Dowas genannt. Dabei handelt es sich um einen hohen, quadratischen, fensterlosen Turm, errichtet aus fünf Meter langen sechseckigen Basaltsäulen, die horizontal zwischen Schichten aus grob herausgehauenen Blöcken und kleineren Steinen liegen. Die künstliche Insel ist von zwei hintereinander liegenden Mauern umgeben. Auf dem Areal hinter den Mauern befinden sich 13.500 Kubikmeter Korallen und zusätzlich 4.500 Kubikmeter Basalt. Obwohl die Anlage noch zahlreiche andere Gebäude umfasst, ist Nan Dowas das beherrschende Bauwerk. Childress weist darauf hin, dass »dieses massive Gebäude errichtet wurde, indem man Basaltsäulen übereinander legte wie Holzbalken beim Bau eines Blockhauses«. An der Südostseite von Nan Dowas befindet sich der größte Steinblock der Stadt, ein einzelner Eckstein, der nicht weniger als sechzig Tonnen wiegt. Bei Grabungen unter diesem beeindruckenden Megalithen entdeckten Archäologen zu ihrer Überraschung, dass die Erbauer ihn absichtlich auf eine in die Erde eingelassene Steinplattform gesetzt hatten.

Und es wartete noch eine Überraschung auf sie: Sie entdeckten einen großen Tunnel, der vom Mittelpunkt von Nan Dowas aus durch das Korallenriff verlief. Später stieß man auf ein ganzes Netzwerk unterirdischer Gänge, die alle künstlich geschaffenen Inseln miteinander verbinden. Auf der künstlichen Insel Darong schließt sich daran ein langer Tunnel an, der bis zu dem äußeren Riff führt, von dem die Stadt umgeben ist. Geradezu unglaublich ist, dass offenbar einige Tunnel unter das Riff führen und in Höhlen unter dem Meeresgrund münden. Auf Darong befindet sich außerdem ein von Steinen gesäumter künstlicher See, von denen es in der Anlage noch weitere gibt. Der offenbar längste Tunnel erstreckt sich von der Stadtmitte über achthundert Meter bis hinaus ins offene Meer. Noch größer als Nan Dowas ist die künstliche Insel von Pahnwi, die 20.000 Kubikmeter Korallentrümmer und Basaltsteine enthält.

Man schätzt, dass für den Bau von Nan Madol 20.000 bis 50.000 Arbeiter benötigt wurden, was in krassem Gegensatz zur geringen Einwohnerzahl von Pohnpei steht, der bis heute bewohnten Nachbarinsel von Nan Madol. Diese Insel hätte niemals eine so große Zahl von Menschen ernähren können.

Doch man hat in Nan Madol keinerlei Felszeichnungen, Reliefs oder Dekorationen gefunden, auch keine Statuen oder Ritualgegenstände – tatsächlich gibt es kaum Artefakte, die etwas über die Erbauer verraten. Keine Statuen oder Skulpturen schmückten je die Wasser-Boulevards dieser Stadt. Und nicht ein einziges der kleinen, tragbaren Steinbildnisse wurde gefunden, wie man sie im übrigen Mikronesien und im ganzen mittleren und westlichen Polynesien ansonsten häufig antrifft. Auch Werkzeuge oder Waffen hat man in Nan Madol bisher keine entdeckt.

Obwohl die Stadt nur noch eine Ruine ist, fällt es nicht schwer, sie sich in ihrer Blütezeit vorzustellen. Denken Sie sich alle verhüllende Vegetation weg, dann würden Besucher roh behauene Massen von Basalt sehen, kontrastie-rend zu sauber geordneten Steinschichten, die sich zu massiven Türmen und unüberwindlich scheinenden Mauern erheben, inmitten eines Komplexes aus kleineren, rechteckigen Gebäuden und künstlichen Seen, verbunden durch Dutzende von Kanälen, wobei all das sich über eine Fläche von 28 Quadratkilometern erstreckt. Kein Wunder, dass Nan Madol als das Venedig des Pazifiks bezeichnet wird. Aber es gab dort keinen Marktplatz, keine Tempel oder Vorratsspeicher, noch nicht einmal einen Friedhof, wo man die Toten hätte begraben können.

Der Name Nan Madol bedeutet »Räume dazwischen«, womit die Flächen gemeint sind, die durch das Netzwerk der Kanäle gebildet werden. Pohnpei (vor seiner Aufnahme in die Föderierten Staaten von Mikronesien 1991 hieß es Ponape) bedeutet »auf einem Altar«. Die Ruinen beschränken sich nicht auf die Korallenriffe gegenüber Madolenihmw Harbor, sondern finden sich auch auf Pohnpei selbst und einigen vor dessen Küste gelegenen Inseln. In einem abgelegenen, sumpfigen Wiesenareal hoch oben in den Bergen bei Salapwuk wurde eine vierzehn Meter lange und zehn Meter breite rechteckige Anlage gefunden, mit einer mittigen, knapp einen Meter hohen Trennwand. Diese gleich großen Einfriedungen umschließen eine Fläche von 141 Quadratmetern. Darin befinden sich innere Plattformen, die rund dreißig Zentimeter hoch sind. Wie in Nan Madol besteht die Ummauerung aus Basaltblöcken und -säulen. Mehrere andere Ruinen stehen an der Südwestküste von Pohnpei, die größte von ihnen auf einem 220 Meter hohen Berg. Der Gipfel ist von 1,50 bis 2,10 Meter hohen Mauern umgeben. Innerhalb dieser Mauern liegen terrassierte, durch gepflasterte Wege verbundene Plattformen.

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Nan Madol. (Foto: Sue Nelson)

In südwestlicher Richtung, einen knappen halben Kilometer entfernt, befinden sich auf Pohnpei mehrere sogenannte Krypten, doch in diesen 3,80 bis 4,50 Meter langen Behältnissen entdeckte man keine Spur menschlicher Überreste. Die Funktion dieser Krypten ist bislang ungeklärt. Näher an der Küste gibt es in Diadi eine kunstvoll errichtete Basalt-Umfriedung mit einer annähernd hundert Quadratmeter großen Plattform. In Alauso, nicht weit vom Ozean entfernt, erhebt sich eine zweistufige, zweiunddreißig Quadratmeter große Pyramide mit einer Feuergrube in der Mitte. In der Nähe, in Kiti Rock, befindet sich eine 2,2 Quadratmeter große Plattform mit vier aufrecht stehenden Basaltsäulen an den inneren Ecken. Die Insel Sokehs, von Pohnpei durch einen Mangrovensumpf getrennt, ist von zahlreichen Steinpfaden durchzogen, die Steinplattformen miteinander verbinden.

Zum Geheimnis, dass diese Bauwerke umrankt, trägt nicht zuletzt bei, dass man sich dafür kaum einen abgelegeneren Ort vorstellen kann als Pohnpei, einen winzigen Flecken inmitten der fast zwölf Millionen Quadratkilometer des westlichen Pazifiks, von denen Mikronesien umgeben ist. Schifffahrtswege und Handelsrouten liegen Tausende von Kilometern entfernt. William R. Corliss, der Enzyklopädist archäologischer Anomalien, bemerkt dazu: »Mit seiner Größe von nur 334 Quadratkilometern verliert sich Pohnpei geradezu in den Weiten des Pazifiks.«

Der »Große Berg«, Totolom, Tolocome oder Nahnalaud, ragt in der Mitte der ziemlich rechteckigen, neunzehn mal dreiundzwanzig Kilometer großen Insel, die von Mangrovensümpfen überwuchert ist, jedoch keine Strände besitzt, 791 Meter hoch empor. Pohnpei ist von einem Korallenriff umgeben, zusammen mit dreiundzwanzig kleineren Inseln. Die hohe Niederschlagsmenge – 495 bis 508 Zentimeter pro Jahr – sorgt für eine üppige Vegetation aus Farnen, Orchideen, Kletterpflanzen, Bougainvillen und Hibiskus in dicht bewaldeten Tälern und an steilen Berghängen. Die Luftfeuchtigkeit ist sehr hoch, so dass Mehltau, Fäulnis und Verfall überall auf der Insel am Werk sind. Hinzu kommt, dass Pohnpeis Lage es kaum als idealen Ort zum Aufbau einer Zivilisation erscheinen lässt. Tatsächlich hat die Insel für ein so gigantisches Unternehmen wie Nan Madol rein gar nichts zu bieten.

Doch Nan Madols Existenz setzt bei seinen Erbauern Stadtplanung, ein Maß- und Gewichtssystem, Arbeitsteilung, Autoritätshierarchien sowie fortgeschrittene Forschungs- und Bautechniken voraus. Alles das war notwendig, um das einzige vormoderne urbane Zentrum im ganzen Pazifikraum zu errichten. Aber um was für eine Art von Ort handelte es sich bei dieser Stadt ohne Straßen, Fenster oder Kunstwerke? Bill S. Ballinger, der Autor von Lost City of Stone, einem frühen populären Buch zu diesem Thema, schreibt dazu: »Nirgendwo sonst auf der Erde existiert etwas mit Nan Madol Vergleichbares. Bauweise, Architektur und Standort dieser uralten Stadt sind einzigartig.«

Kolonia, die am Nordende Pohnpeis gelegene kleine Hauptstadt der Insel, steht in starkem Gegensatz zu der großartigen prähistorischen Architektur auf der anderen Seite der Bucht. Ganz unähnlich zu der geordneten Präzision von Nan Madol wuchs Kolonia auf chaotische Weise, ohne jede Art von Stadtplanung. Heute zählt die Kleinstadt etwa 2.000 Einwohner, die überwiegend in einstöckigen Häusern aus Schlackenbetonsteinen mit rostigen Blechdächern wohnen. Anders als das Netz aus prähistorischen Steinpfaden, das sich über die ganze Insel erstreckt, sind die in der Neuzeit gebauten unbefestigten Straßen wegen der häufigen Regenfälle oft unpassierbar. Viele Insulaner hausen in kleinen Hütten aus getrocknetem Gras, Zuckerrohr und Bambus, nicht in monumentalen Steinbauten. »Kolonia ist alles andere als schön«, schreibt Georgia Hesse im San Francisco Examiner. »Eine Ansammlung heruntergekommener Häuser aus verwitterndem Holz und verrostendem Eisen, unordentlich entlang einer breiten Straße aufgereiht.« Es gibt kaum Arbeitsplätze, so dass die Einheimischen in Subsistenzwirtschaft den fruchtbaren vulkanischen Boden bebauen und ihren Speiseplan durch Fisch und Hühner ergänzen.

Die Karolinen boten niemals die Grundlage für ein Bevölkerungswachstum, das den Arbeitskräftebedarf für den Bau dieses Venedigs des Pazifiks hätte befriedigen können. Ballinger schrieb dazu: »Der Punkt ist, dass in Ponape und seiner Umgebung niemals die gewaltige Menge von Arbeitskräften verfügbar war, die für den Bau nötig gewesen sein muss. Diesen Faktor darf man nie außer Acht lassen, wenn man versuchen will, das Rätsel der Erbauung Nan Madols zu lösen.« Pohnpeis 474 Quadratkilometer sind größtenteils gebirgig und unbewohnbar. Die Insel ist kaum in der Lage, ihre 30.000 Bewohner zu ernähren. Doch für ein Bauprojekt dieses Ausmaßes hätte man viel, viel mehr Menschen benötigt. John Macmillan Brown, ein Wissenschaftler des frühen 20. Jahrhunderts aus Neuseeland, merkte an: »Um diese mächtigen, fünf bis fünfundzwanzig Tonnen schweren Steinblöcke mit Flößen durch das Riff zu transportieren und dann auf eine Höhe von achtzehn Metern zu hieven, benötigte man Zehntausende von Arbeitern. Und diese große Menschenanzahl musste untergebracht, gekleidet und ernährt werden. Heute jedoch leben in einem Umkreis von 2.400 Kilometern um Nan Madol nicht mehr als fünfzigtausend Menschen.« Ungefähr diese Anzahl von Arbeitern hätte man allein dafür benötigt, Nan Madols vier bis fünf Millionen Basaltblöcke in einem Zeitraum von etwa zwanzig Jahren aufzuschichten.

Die Pohnpeianer von heute erheben keinen großen Anspruch auf das archäologische Wunder vor ihrer Haustür, das für Reisende so faszinierend ist. In der Zeitschrift Science heißt es: »Die Einheimischen kennen keine Überlieferungen zu Nan Madol. Darüber, wer die Steine bearbeitete, wann die Stadt errichtet und warum sie verlassen wurde, wissen sie nichts zu berichten.« Sie meiden den Ort nach Möglichkeit, weil sie ihn für böse und gefährlich halten, und erzählen, dass dort immer wieder Besucher nach Einbruch der Dunkelheit von einer mysteriösen Macht getötet würden. Der Besuch Nan Madols galt für die Bewohner Pohnpeis sogar als Tabu, zumindest bis ins ausgehende 19. Jahrhundert. Über hundert Jahre später gibt es einige wenige örtliche Reiseführer, die bereit sind, Gäste in die Ruinen zu begleiten, jedoch niemals nach Einbruch der Dunkelheit. Ballinger schrieb: »Die heutigen Pohnpeianer verfügen, und das schon seit Generationen, über keinerlei Kenntnisse in Steinbautechniken und interessieren sich auch nicht dafür. Der Bau Nan Madols erforderte erhebliches architektonisches Wissen«, das die jetzigen Insulaner nie auch nur ansatzweise gezeigt haben. »Ich musste alle meine Überredungskünste anwenden, um zwei Jungen zu finden, die bereit waren, mich täglich hinüber nach Nan Madol zu bringen«, klagte Erich von Däniken, berühmt für seine Theorien über prähistorische Besucher aus dem All, der Pohnpei Anfang der 1970er Jahre besuchte. Angesichts der Tausende von Arbeitsstunden und der Organisationsstrukturen, die erforderlich waren, um 250 Millionen Tonnen Basalt abzubauen, zu transportieren und komplexe Bauwerke daraus zu errichten, gelangt eine Studie des US-Innenministeriums zu dem Schluss, dass »die nicht schriftlich überlieferte Geschichte Ponapes darauf hindeutet, dass Nan Madol unter Führung eines Volkes erbaut wurde, welches auf Ponape nicht heimisch war«. Von Däniken beschreibt die heutigen Bewohner der Insel als »arm, wenig arbeitsam und ohne jeden geschäftlichen Ehrgeiz«. William Churchill, ein amerikanischer Ethnologe des frühen 20. Jahrhunderts, stellte fest, dass der Bau der prähistorische Stadt »die Fähigkeiten der heutigen Insulaner vollkommen übersteigt«. Damit bestätigte er die Überlegungen des Schiffsarztes der Lambton, eines englischen Seglers, der 1836 vor der Insel ankerte. Dr. Campbell vermutete, dass Nan Madol »das Werk einer Rasse sein muss, die der heutigen Generation weit überlegen war, jedoch seit langer Zeit dem Vergessen anheimgefallen ist, so dass über ihre Geschichte nichts mehr in Erfahrung gebracht werden kann. Ihre Größe und ihre Fähigkeiten zeigen sich nur noch an den von ihnen errichteten Bauwerken, deren vom Dschungel überwucherte Ruinen von einstigem Ruhm künden und uns Heutige zu Spekulationen und Mutmaßungen herausfordern«.