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Münchner Reihe Palliative Care

 

Palliativmedizin – Palliativpflege – Hospizarbeit

Band 3

 

 

 

 

Schriftleitung

 

Prof. Dr. med. Gian Domenico Borasio (federführend)

Prof. Dr. med. Monika Führer (federführend)

Prof. Dr. med. Dr. phil. Ralf Jox (federführend)

Prof. Dr. rer. biol. hum. Maria Wasner (federführend)

 

PD Dr. med. Johanna Anneser

Prof. Dr. rer. biol. hum. Dipl.-Psych. Martin Fegg

Prof. Dr. med. Stefan Lorenzl

Dipl. Soz.-Päd. Dipl. Theol. Josef Raischl

Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Bernd Reuschenbach

Prof. Dr. theol. Traugott Roser

 

 

 

 

 

Die Publikationen in der Münchner Reihe Palliative Care verfolgen das Ziel einer verbesserten Versorgung und Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen und ihrer Angehörigen. Dem Palliative Care-Prinzip der Multiprofessionalität entsprechend widmen sich die Einzelbände unterschiedlichen Themenkomplexen und Handlungsfeldern aus den Bereichen Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit. Dazu dienen Beiträge aus medizinischer, pflegerischer, psychosozialer und seelsorglicher sowie aus rechts- und gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive. Die Reihe richtet sich an alle an diesen Fragestellungen Interessierten, insbesondere im Gesundheitswesen oder in der ehrenamtlichen Arbeit Tätigen.

Traugott Roser

Spiritual Care

Der Beitrag von Seelsorge zum Gesundheitswesen

2., aktualisierte und erweiterte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Diese Publikation wurde unterstützt durch einen Zuschuss der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB).

2. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-021439-2

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033203-4

epub:   ISBN 978-3-17-033204-1

mobi:   ISBN 978-3-17-033205-8

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Inhalt

 

 

  1. Geleitwort zur ersten Auflage
  2. Geleitwort
  3. Widmung und Vorwort zur zweiten Auflage
  4. A Einleitung – Wahrnehmung, Reflexion und Gestaltung von Praxis
  5. 1 Zwischen Deskription und Strategie – die Fundamental-Praktische Theologie Don Brownings
  6. 2 Phänomenologie, Hermeneutik und Pragmatik – Der Ansatz Wolf-Eckart Failings und Hans-Günter Heimbrocks
  7. 3 Praktische Theologie als Deutekunst
  8. 3.1 Wahrnehmungskunst: Multiperspektivische Empiriearbeit
  9. 3.1.1 Phänomenologie medialer Kommunikation am Beispiel Film
  10. 3.1.2 Fallbericht oder Verbatim als Lern- und Forschungsmethoden
  11. 3.1.3 Quantitative und qualitative Untersuchungen zu Spiritualität
  12. 3.2 Reflexionskunst: Enzyklopädisches Interesse
  13. 3.2.1 Exegetische Fächer
  14. 3.2.2 Kirchengeschichte
  15. 3.2.3 Systematische Theologie
  16. 3.2.4 Theologische Ethik und Medizinethik
  17. 3.3 Gestaltungskunst
  18. 3.3.1 Praktische Theologie zielt auf Gestaltung kirchlicher Praxis
  19. 3.3.2 Disponierendes Handeln als Bedingung kommunikativen Handelns
  20. 3.3.3 Kommunikatives Handeln in der Seelsorge zwischen Darstellung und Wirksamkeit
  21. 3.3.4 Praxisdiskurse als Zugang zum Feld – Biographische Erfahrung und Theoriebildung
  22. B Seelsorge in Krisensituationen am Anfang des Lebens
  23. 1 Wahrnehmungskunst
  24. 1.1 »Nur eine Handvoll Leben« – Phänomenologie anhand der Darstellung perinatalen Todes im Film
  25. 1.2 Erfahrungs- und Fallberichte
  26. 1.2.1 Aus der Sicht von Betroffenen
  27. 1.2.2 Aus der Perspektive von Seelsorgerinnen und Seelsorgern
  28. 1.2.3 Aus der Sicht von Geburtshilfe und Gynäkologie
  29. 1.3 Medizinische und juristische Bestimmungen, Statistiken
  30. 1.4 Quantitative und qualitative Studien
  31. 2 Reflexionskunst
  32. 2.1 Biologie, Sozialität und Theologie: Das Verständnis von Schwangerschaft und Geburt in biblischen Texten
  33. 2.2 Historisches: Perinatale Taufhandlungen und das Verständnis geburtlichen Lebens
  34. 2.3 Fragen an die Dogmatik: Personverständnis und Taufe
  35. 2.3.1 Die Würde der Person
  36. 2.3.2 Rechtfertigungslehre
  37. 2.3.3 Taufe
  38. 2.3.4 Sünde und Vergebung
  39. 2.4 Theologische Ethik – Beratung in Konfliktsituationen
  40. 3 Gestaltungskunst
  41. 3.1 Spirituelle Begleitung in der Trauer
  42. 3.2 Rituelle und liturgische Handlungsformen
  43. 3.2.1 Gebet
  44. 3.2.2 Segnung und Salbung
  45. 3.2.3 Namensgebung
  46. 3.2.4 Nottaufe und Taufe eines stillgeborenen Kindes
  47. 3.3 Aufgaben der Seelsorge
  48. 3.3.1 Seelsorge im klinischen Umfeld
  49. 3.3.2 Aufgaben gemeindlicher Seelsorge bei perinatalem Tod
  50. C Spiritual Care in der Hochleistungsmedizin am Beispiel der Transplantationsmedizin
  51. 1 Seelsorge im Zusammenhang von Organentnahme
  52. 1.1 Hirntoddefinition oder Sterbeprozess? Die Deutungsbedürftigkeit des Lebensendes
  53. 1.2 Deutungsperspektive Seelsorge: Sterben als spiritueller Prozess und doppelte ›Schleusenzeit‹
  54. 2 Herausforderungen der Xenotransplantation für die Klinikseelsorge (mit Bernhard Barnikol-Oettler)
  55. 3 Seelsorge als Voraussetzung von Spiritual Care in Praxis und Forschung
  56. D Seelsorge bei chronisch degenerativen Krankheiten am Beispiel der Demenzerkrankungen
  57. 1 Wahrnehmungskunst
  58. 1.1 »Italienisch für Anfänger« – Phänomenologie anhand der Darstellung von Demenz in Film, Buch und Internet
  59. 1.2 Altersdemenz in Fallschilderungen aus Diakonie und Altenhilfe
  60. 1.3 Statistische und medizinische Informationen zu Demenzerkrankungen
  61. 2 Reflexionskunst
  62. 2.1 Alter und Verwirrtheit aus historischer Sicht
  63. 2.2 Zum Personenstatus aus theologischer Perspektive: Der Mensch als offenes Wesen und als Fragment
  64. 2.3 Theologische Ethik – Zur Frage der Autonomie demenziell erkrankter Menschen
  65. 2.3.1 Vorausverfügungen als Inszenierung von Kommunikation
  66. 2.3.2 Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht bei Demenzpatienten
  67. 2.3.3 Therapiezielfindung in ganzheitlicher Perspektive
  68. 3 Gestaltungskunst
  69. 3.1 Demenz als Gestaltungsaufgabe der Gemeindeseelsorge: Besuchsdienst und liturgische Angebote
  70. 3.2 Spiritual Care bei Demenzpatienten als eine Frage der Organisation von Sorge
  71. 3.3 Ethische Beratung bei der Planung von Vorsorge
  72. E Spiritual Care – christliche Seelsorge zwischen systemischer Integration und Distanznahme
  73. 1 Wahrnehmungskunst
  74. 1.1 Spiritual Care in populärer Kultur
  75. 1.1.1 »The Straight Story«: Seelsorge unter dem Firmament
  76. 1.1.2 Begegnung im Krankenhaus: Raumsoziologische Beobachtungen am Roman »Oskar und die Dame in Rosa«
  77. 1.2 Erfahrungen und Ergebnisse einer explorativen Untersuchung zur Rolle von Seelsorgerinnen und Seelsorgern in Beratungsgremien klinischer Ethik
  78. 1.3 Spiritual Care als integrierter Bestandteil von Palliative Care
  79. 1.3.1 Spiritualität und Gesundheit: Was ist Well-being?
  80. 1.3.2 Vorreiter Hospizbewegung und Palliative Care
  81. 1.4 Multiprofessionelle Erhebung spiritueller Bedürfnisse und Ressourcen: Spirituelle Anamnese
  82. 1.5 Unschärfe des Begriffs Spiritualität im Gesundheitswesen als Chance
  83. 1.5.1 Pragmatischer Umgang mit Unschärfe
  84. 1.5.2 Begriffliche Unschärfe als religionstheoretisches Problem
  85. 1.5.3 Offen für Individualität: Bestimmtheit durch Begegnung
  86. 1.5.4 Bemühungen um Bestimmung des Unbestimmten als Aufgabe von Seelsorge in Spiritual Care
  87. 1.6 Systemische und organisationale Aspekte der Seelsorge in Einrichtungen des Gesundheitswesens
  88. 2 Reflexionskunst: Spiritualität im Gesundheitswesen
  89. 2.1 Gesundheitsbezogene Spiritualität als Thema einer Theologie der Seelsorge
  90. 2.1.1 Zurückhaltende Rezeption des Spiritualitätsdiskurses in poimenischer Literatur
  91. 2.1.2 Chancen einer konstruktiven interdisziplinären Auseinandersetzung
  92. 2.1.3 Die Herkunft des modernen Spiritualitätsbegriffs
  93. 2.1.4 Interreligiöse Vermittelbarkeit des Spiritualitätsbegriffs im Gesundheitswesen
  94. 2.1.5 Konsensusdefinitionen von Spiritualität
  95. 2.1.6 Offenheit und Bestimmtheit als forschungspragmatische Herausforderung
  96. 2.2 Seelsorge in der Kraft des Geistes: Die Parakleten-Perikopen des Johannesevangeliums neu gelesen
  97. 2.3 Lebenssättigung: Spiritualität als theologische Bestimmung von Leben
  98. 2.4 Seelsorgetheorie und theologische Ethik im Rückgriff auf ihre Geschichte
  99. 3 Deutekunst: Seelsorge als Heterotopie und Heterochronie – Spiritual Care als ortsbezogener Transformationsprozess
  100. 3.1 Drohende Verdrängung von Seelsorge?
  101. 3.2 Seelsorge als Raum- und Zeiterfahrung am Ort klinischen Geschehens
  102. 3.3 Seelsorge als Heterotopie und Heterochronie? Michel Foucault
  103. 3.4 Von Orten, Raum und Praktiken: Michel de Certeau
  104. 3.5 Spuren im Raum: Klaus Raschzok
  105. 3.6 Transformierter Raum: Martina Löws Raumsoziologie
  106. 4 Ein offenes Fazit zum Beitrag von Seelsorge zu Spiritual Care
  107. Literatur
  108. Verzeichnisse
  109. Sachwortregister
  110. Personenregister

 

Geleitwort zur ersten Auflage

Eberhard Schockenhoff

 

Die meisten Menschen wissen aus eigener Erfahrung, was Kranksein bedeutet. Wer einmal ernsthaft erkrankt war und die Gesundheit erst nach einem langwierigen Heilungsprozess wiedererlangte, den begleitet die Erinnerung daran für den Rest seines Lebens wie eine Mahnung an die Endlichkeit des Daseins. Erst recht zwingt das Wissen, unheilbar erkrankt zu sein, zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterbenmüssen und dem näher rückenden Tod. In unterschiedlicher Intensität bedeutet jede Form der Krankheit einen Einbruch in unsere tägliche Existenz. In leichteren Fällen reißt sie uns nur für kurze Zeit aus unserem gewohnten Lebensrhythmus heraus; handelt es sich dagegen um eine schwere Erkrankung, so geht mit ihr immereine tiefgreifende und andauernde Veränderung unseres privaten und sozialen Lebenszusammenhangs einher. Dies gilt besonders für demenzkranke Menschen, die im Verlauf ihrer Erkrankung nicht nur ihre körperliche Autonomie und Selbstständigkeit verlieren, sondern durch einen fortschreitenden Gedächtnisschwund zumindest aus der Perspektive der anderen ihr Ichgefühl und das Vertrautsein mit sich selbst einbüßen.

Das naturwissenschaftliche Paradigma des medizinischen Denkens, das in einer Erkrankung nichts anderes als eine Fehlleistung der Maschine Mensch sieht und infolgedessen die angestrebte Heilung als die Reparatur eines vorübergehenden Defektes versteht, sieht vom biographischen Selbsterleben des kranken Menschen und von seiner sozialen Wahrnehmung durch andere ab. Ein derartiger therapeutischer Ansatz, dem die moderne Medizin unleugbar viele ihrer großen Durchbrüche und Erfolge verdankt, bedarf daher der Ergänzung durch ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Vor allem schwere und langwierige Erkrankungen können nicht nur als kurzfristige Störung begriffen werden, die schnellstmöglich medizinisch behoben werden soll, damit der Betroffene in seinen alten Lebenszusammenhang zurückkehren kann. Vielmehr ist eine schwere Erkrankung eine Wandlungskrise, die zu einem Weiterleben unter veränderten Bedingungen nötigt. Gerade unheilbare Erkrankungen, die Dank der medizinischen Behandlungsfortschritte noch ein langes Leben mit der Krankheit erzwingen, führen den Kranken und seine Angehörigen in eine Grenzsituation, die beide zusammen zu bestehen haben, um ihr Leben unter einem neuen Vorzeichen führen zu können.

Die vorliegende Arbeit von Traugott Roser zeigt, dass die Begleitung von Menschen in krankheitsbedingten Krisensituationen des Lebens neben der medizinischen und psychologischen Seite eine geistliche Tiefendimension aufweist. Weil jede Krankheit in Form von Schmerz, Leid und Ungewissheit über die Zukunft mit den Vorboten des Todes konfrontiert, ängstigt sie die Menschen – religiöse ebenso wie scheinbar areligiöse, gläubige nicht anders als ungläubige Menschen. In dem Dreischritt von Wahrnehmung, Reflexion und Gestaltung dieser Herausforderung wird das Konzept einer spirituellen Begleitung des kranken Menschen vorgestellt, die seinen Ängste nicht ausweicht, sondern seiner Krisenerfahrung standhält. Spiritual care wird als ein notwendiger Bestandteil der palliative care, des leidmindernden Auftrags der Medizin und als innere Dimension einer integralen Zuwendung zum kranken Menschen gesehen. Zugleich umfasst der Auftrag der spiritual care aber auch Beratung und Begleitung der Angehörigen, die angesichts der wachsenden medizinisch-technischen Möglichkeiten am Lebensanfang und Lebensende zu bislang ungewohnten ethischen Entscheidungen aufgefordert sind.

Die Ausführungen von Roser überzeugen vor allem deshalb, weil sie Krankenhausseelsorge nicht nur als kirchliches Dienstleistungsangebot neben anderen im Interaktionsfeld des Krankenhausgeschehens, sondern als ein mit personaler Glaubwürdigkeit vorgetragenes Lebenszeugnis sehen, das für den kranken Menschen und die von seiner Krankheit betroffenen Angehörigen Hilfestellung zur Bewältigung bedrohlicher Krisensituationen geben kann. Zwischen notwendiger Distanz und verlässlicher Zuwendung mag eine kompetente Krankenhausseelsorge gemäß dem Programm des spiritual care im Krankenhausalltag eine mitunter unbequeme Mahnerin sein, die an die Aufgaben erinnert, die durch die bestmögliche medizinische Versorgung des Kranken noch nicht abgegolten sind. Solche unbequemen Unterbrechungen und Einreden schärfen jedoch auf notwendigeWeise den Blick dafür, dass jedes ärztliche, pflegerische und organisatorische Handeln im Krankenhaus ein gemeinsames Ziel haben sollte: dem kranken Menschen beizustehen und ihn in der vor ihm liegenden Wegstrecke seines Lebens zu stärken.

 

Freiburg i. Br., Ostern 2007

Eberhard Schockenhoff

 

Geleitwort

Andreas Kruse

 

Die vorliegende Schrift versteht sich als ein Beitrag zu Spiritual Care, wobei diese im Sinne der »Organisation gemeinsamer Sorge um die individuelle Teilnahme und Teilhabe an einem als sinnvoll erfahrenen Leben« verstanden wird. Mit diesem Verständnis weist das sehr wertvolle, theoretisch-konzeptionell und empirisch gleichermaßen fundierte, anschaulich geschriebene und praktisch hochrelevante Buch Verwandtschaft mit dem aktuell vielerorts diskutierten Konzept der »sorgenden Gemeinschaft« (caring community) auf. Auch diese versteht sich ja als Zusammenschluss mehrerer (bürgerschaftlich engagierter und/oder hauptamtlich tätiger) Personen, die im Sinne der geteilten Verantwortung unterschiedliche Aufgaben übernehmen und in dieser Kooperation ein hohes Maß an Kreativität entfalten können. Wichtig ist dabei die Organisation dieser sorgenden Gemeinschaft, übertragen auf das vorliegende Buch: die Organisation von Spiritual Care (als bedeutender Komponente von Palliative Care). Dabei ordnet der Autor, der Praktische Theologie und Palliative Care an der Universität Münster lehrt und auf beiden Gebieten umfassend publiziert, der Seelsorge eine tragende Rolle bei der Organisation spiritueller Begleitung zu. Und diese große Bedeutung zeigt er in sehr überzeugender Weise auf – wie er auch die Perspektivenvielfalt, die die Kooperation zwischen mehreren Personen und Berufsgruppen eignet, sehr lebendig und berührend in das Zentrum seiner Schrift treten lässt.

Es ist eine weitere Stärke des Buches, dass sich dieses mit Spiritual Care in sehr unterschiedlichen Kontexten befasst, am Anfang des Lebens, am Ende des Lebens, vor und nach einer Transplantation, im Verlaufe einer neurodegenerativen Erkrankung. Auch wenn in sehr überzeugender Weise die unterschiedlichsten Akteure zu Wort kommen – dies leistet das Buch in ausgezeichneter Weise –, so gilt doch der Praktischen Theologie die größte Aufmerksamkeit.

Praktische Theologie begreift der Autor – und dieses Verständnis verdankt sich sicherlich auch seiner umfangreichen praktischen Erfahrung (und nicht nur der wissenschaftlichen Reflexion) – als »eine Theorie, die auf Praxis zielt«, wobei sich Praxis ausdrücklich nicht auf kirchliche Handlungsfelder beschränken lässt. Den Ausgangspunkt (im Sinne von »Wahrnehmungskunst«) dieser Schrift bilden Filme, Fallberichte aus verschiedenen Perspektiven, autobiografische Erlebnisse etc., die im Kontext praktischer Theologie gedeutet (»Reflexionskunst«) und mit Blick auf bestehende Handlungsoptionen (»Gestaltungskunst«) hinterfragt werden. Dem Leser erschließen sich so neue (theologische) Perspektiven, zum Beispiel werden Fragen nach Autonomie, Würde, Teilhabe gestellt und tiefgreifend reflektiert.

Das Buch bildet einen bedeutenden Beitrag zur »Spiritual Care«, aber auch zur Palliative Care, Dementia Care und End-of-Life Care. Es ist auch aufgrund der vielen Fallbeispiele und der sehr gekonnt ausgewählten und gedeuteten wörtlichen Zitate aus den verschiedensten Personen- und Berufsgruppen sehr gut lesbar. Es nimmt Bezug auf zahlreiche Theorien und Befunde, die für Spiritual Care von unmittelbarer Relevanz sind. Es lässt in jedem Kapitel einen Autor durchscheinen, der von dem Wunsch nach theoretischer und empirischer Durchdringung, zugleich nach ethischer Fundierung aller Aussagen bestimmt ist – und der diesen Wunsch eindrucksvoll zu verwirklichen, umzusetzen vermag.

Das Buch möge weite Verbreitung finden, auf großes Interesse stoßen und lebendige Diskussionen auslösen.

Heidelberg, im Februar 2017

Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse

 

Widmung und Vorwort zur zweiten Auflage

 

 

Spiritual Care ist ein Organisationsbegriff.

Das ist vielleicht die wichtigste Erweiterung des Ansatzes, den ich mit diesem Buch seit seiner Erstveröffentlichung 2007 vertrete. Genauer:

Spiritual Care ist die Organisation gemeinsamer Sorge um die individuelle Teilnahme und Teilhabe an einem als sinnvoll erfahrenen Leben im umfassenden Verständnis.

Im Zentrum steht das Gegenüber, das im Kontext des Gesundheitswesens mit lebensbedrohlichen Situationen konfrontiert ist, sei es als Patientin oder Patient, als An- und Zugehöriger oder als begleitende und betreuende Person. Der Seelsorge, so wie sie hier verstanden wird, kommt bei der Organisation spiritueller Begleitung im vielschichtigen und dynamischen Miteinander unterschiedlicher beteiligter Personen und Berufsgruppen eine tragende Rolle zu. Weshalb dies so ist, ist Gegenstand der Überlegungen, die eine grundlegende Überarbeitung der ersten Auflage von »Spiritual Care. Ethische, organisationale und spirituelle Aspekte der Krankenhausseelsorge« (2007) notwendig machten. Dies kommt im geänderten Untertitel zum Ausdruck: Es geht um den Beitrag, den Seelsorgerinnen und Seelsorger in unterschiedlichen Bereichen des Gesundheitswesens leisten.

Nicht alle Teile wurden grundlegend überarbeitet. An den Stellen, bei denen für die Theorie von Seelsorge und Spiritual Care nichts grundlegend neu zu formulieren war, wurde die ursprüngliche Fassung von 2007 lediglich sprachlich überarbeitet und nur hier und da mit Verweisen auf aktuelle Literatur ergänzt.

Die Diskussion sowohl zum Ansatz von Spiritual Care insgesamt als auch in einzelnen Kontexten hat sich in den letzten zehn Jahren erfreulich entwickelt. Dem musste entsprochen werden durch eine gründliche Neubearbeitung folgender Kapitel:

•  In der theoretischen Grundlegung (Images Teil A) wurden die Ausführungen zu Wahrnehmungskunst als multiperspektivischer Empirie-Arbeit neu konzipiert. Die methodologischen Überlegungen zu Forschung, Theorieentwicklung und Lehre zu Seelsorge und Spiritual Care (Images Kap. A 3.1) reflektieren den erheblichen Zuwachs an Literatur zu Methodik in der internationalen Diskussion. Insbesondere in der Frage des Arbeitens mit Fallbericht und Verbatim, über die in Europa ein spannender Diskurs stattfindet, sind Neuerungen zu finden. Das Kapitel ist auch als Beitrag zur Forschungsmethodik in Spiritual Care gedacht. Ergänzt und aktualisiert wurde Teil A 4, um die eigene Position und ihre Motivation offenzulegen.

•  Spiritual Care wird im Umfeld von Schwangerschaft, Geburt und Neonatologie (Images Teil B) angesichts der rasanten medizinisch-technischen Entwicklungen bei gleichbleibenden Zahlen perinatalen Sterbens immer wichtiger. Mittlerweile gibt es ausgezeichnete nationale und internationale Untersuchungen zum Erleben von Müttern, Vätern, Kindern und Geschwisterkindern bei Gefährdung perinatalen Lebens. Auch wenn Seelsorgerinnen und Seelsorger hier Schweres aushalten helfen und eine wichtige Stütze für therapeutische Teams sind, geht Spiritual Care nicht im seelsorglichen Handeln auf, sondern verlangt nach Klärungen für theologisch verantwortete Angebote, etwa einer Taufe stillgeborener Kinder. Ein großer Teil der Überarbeitung dieses Kapitels besteht in einer breit angelegten Begründung für ein solches Angebot, das sowohl empirische Forschung umfasst als auch eine Darstellung der Bedeutung von Seelsorge in der Kommunikation des Evangeliums. Das Kapitel enthält deshalb ein Formular für die Taufe eines stillgeborenen Kindes.

•  Komplett neu ist ein weiterer Materialteil (Images Teil C) zum Beitrag von Seelsorge im Kontext der Transplantationsmedizin. Spiritual Care will auch im Kontext forschungsintensiver Hochleistungsmedizin organisiert sein. Gerade in den technisch-funktional und nach klaren Regeln geordneten Abläufen der Transplantationsmedizin wirkt eine Seelsorgeperson fremd und unverzichtbar zugleich. In diesem Kapitel wird vielleicht am verständlichsten, welche Dynamik die Rolle des Andersseins von Seelsorge mit sich bringt und wie dies zur Stabilisierung der medizinischen Abläufe beiträgt.

•  Teil D zur Seelsorge im Kontext von Demenzerkrankungen ist nur geringfügig überarbeitet worden, da die zentrale Argumentation zum theologischen Verständnis von Person gleichgeblieben ist und sich auch in neuester Literatur wiederfindet. Sie ist Fundament seelsorglicher Zuwendung und Gestaltung subjektzentrierter Angebote in Gemeinde- und Einrichtungsseelsorge. Kleinere Überarbeitungen berücksichtigen die geänderte Gesetzeslage und die Entwicklung prozessorientierter Vorsorgeplanung.

•  Umfangreich sind die Neuerungen im programmatischen Schlussteil E zu christlicher Seelsorge zwischen systemischer Integration und Distanznahme. Da sich seit 2007 die gesundheitswissenschaftlichen, praktisch-theologischen und poimenischen Diskurse zu Spiritual Care in erstaunlichem Tempo beschleunigt haben, galt es nicht nur, auf die Diskussion innerhalb der Seelsorgetheorie einzugehen, sondern auf Aspekte aufmerksam zu machen, die meines Erachtens zu wenig Berücksichtigung finden. Die zentralen Begriffe Gesundheit, Well-being, Lebensqualität und insbesondere Spiritualität verdienen mehr Beachtung in interdisziplinärer Perspektive. Das parakletische Verständnis von Seelsorge (Images Kap. E 2) wurde ergänzt um eine eschatologisch orientierte Beschreibung von Seelsorge als Lebenssättigung, die insbesondere zu einer Wiederentdeckung der sakramentalen Praxis des Krankenabendmahls als Beitrag christlich bestimmter Spiritualität am Ort von Krankheit und Sterben einlädt. Damit ist gegenüber der ersten Auflage die Bedeutung präsentischen Verharrens und rituellen Handelns aufgewertet, ohne die ethische Funktion von Seelsorge im Gesundheitswesen zu schmälern.

•  Den Abschluss bildet eine grundlegende Beschreibung des Beitrags von Seelsorge zu Spiritual Care als Organisationskultur (Images Kap. E 3). Bemerkungen zur Heterotopie nach Michel Foucault werden durch raumsoziologische Erwägungen vertieft. Der Beitrag von Seelsorge besteht in einer raumtransformierenden Wirkung an den Orten klinischer und pflegender Einrichtungen. Eine prozessorientierte Integration von Seelsorge in die Organisation von Spiritual Care führt zu Transformationen mit nachhaltiger Wirkung. Diese Beschreibung bietet die Chance, schlichte Entgegenstellungen von Seelsorge oder Spiritual Care oder eine vereinfachende Auflösung von Seelsorge in Spiritual Care zu überwinden und damit Diskurse möglich zu machen. Die Chancen, die sich aus Geschichte und Entwicklung kirchlicher Seelsorgeangebote im deutschen Sprachraum für eine gemeinsame Sorgekultur ergeben, sind erheblich, bedürfen aber des vergleichenden Gesprächs mit Ansätzen in anderen europäischen Ländern, nicht nur den Niederlanden.

•  Ein knappes Fazit (Images Kap. E 4) fasst den Ansatz thesenartig zusammen.

Die Arbeit an der Neuauflage von Spiritual Care hat einen längeren Zeitraum in Anspruch genommen, als sich die Partner beim Kohlhammer Verlag erhofft hatten. Herrn Dr. Ruprecht Poensgen und Frau Dr. Annegret Boll sei für ihre Geduld herzlich gedankt, vor allem für die Ermutigung zu einer grundlegenden Überarbeitung. Frau Daniela Bach und Herrn Dominik Rose danke ich für die umsichtige und hilfreiche Lektorierung. Die Themen des Buches sind Ergebnis zahlreicher Diskussionen und Begegnungen mit den Kolleginnen und Kollegen, die in der Krankenhaus- und Altenheimseelsorge tätig sind und sich für seelsorgliche Angebote in ihren Kirchengemeinden einsetzen. In Fortbildungen und Konferenzen, Seminaren und Ausschüssen bin ich zahlreichen katholischen, evangelischen und muslimischen Seelsorgerinnen und Seelsorgern begegnet, denen ich viel zu verdanken habe und für die dieses Buch letztendlich geschrieben ist. Besonderer Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss »Seelsorge und Beratung« der Evangelischen Kirche von Westfalen, der Ständigen Konferenz für Seelsorge beim Rat der EKD, der Sektion Seelsorge der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität (IGGS) und dem Netzwerk Existenzielle Kommunikation und Spiritualität (NEKS).

Den Fachkolleginnen und -kollegen der Praktischen Theologie, Pastoraltheologie und Spiritual Care sowie anderer diakonischer und theologischer Bereiche bin ich dankbar für Positionen, Klärungen, Herausforderungen und freundschaftliche Unterstützung. Besonders danken möchte ich Thomas Hagen, Eckhard Frick, Bernhard Barnikol-Oettler, Sebastian Borck, Friederike Rüter, Margret Ehni, Antje Röse, Kerstin Lammer, Ingo Habenicht, Ralph Charbonnier, Johanna Haberer, Stefan Stiegler, Markus Rückert, Eberhard Hauschildt, Isolde Karle, Doris Nauer, Michael Klessmann, Birgit und Andreas Heller, Constantin Klein, Christian Zwingmann, Simon Peng-Keller, Arndt Büssing, Ralph Kunz, Christoph Müller, Richard Riess, Ulrike Wagner-Rau und – in Münster – Annina Ligniez, Reinhard Feiter und Christian Grethlein. Mit manchen durfte ich unmittelbar zusammenarbeiten, mit anderen habe ich über Texte oder bei Gesprächen streiten dürfen. In jedem Fall habe ich gelernt, neue Impulse erhalten und Ermutigung erfahren. Mannigfaltige Impulse kommen von Kolleginnen und Kollegen in der europäischen Nachbarschaft (vor allem im European Network of Health Care Chaplaincy). Der Theoriediskurs zu evangelischer Seelsorge kann durch das Gespräch über nationale und konfessionelle Grenzen hinweg nur gewinnen.

Durch die Arbeit an der Stiftungsprofessur für Spiritual Care in München, die an der medizinischen Fakultät der Ludwig Maximilians Universität angesiedelt ist, hatte ich das Privileg unmittelbarer Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten aus Medizin, Pflege und therapeutischen Fächern. Claudia Bausewein, Gian Domenico Borasio, Martin Fegg, Monika Führer, Ralf J. Jox, Stefan Lorenzl, Georg Marckmann, Andreas Schulze, Andrea Winkler und Maria Wasner stehen stellvertretend für viele Gesprächspartner. Mit ihnen konnte ich konkrete Projekte auf den Weg bringen, deren Ergebnisse in dieses Buch eingeflossen sind. Die unmittelbaren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Spiritual Care Professur, meine Doktorandinnen und Doktoranden Stephanie Clemm, Michael Petery und Margit Gratz, sowie Piret Paal, Benjamin Bettenbrock und Stefanie Hloucal haben spannende Projekte entwickelt und abgeschlossen. Ertragreiche Kontakte in Kanada, Frankreich und der Schweiz haben neue Horizonte methodischer und thematischer Art ermöglicht: Dank an S. Robin Cohen und Christopher McKinnon in Montreal, Gustave Hentz in Straßburg und stellvertretend für die vielen Partner in der Schweiz: Udo Rauchfleisch, René Hefti, Martina Holder-Franz, Karin Kaspers-Elekes und Karin Tschanz. Die Gespräche mit Frauen und Männern aus Medizin und Pflege haben auch nach dem Wechsel an die Westfälische Wilhelms Universität Münster nicht aufgehört; durch Hartmut Schmidt, das Ehepaar Anna und Otmar Schober, Meike Schwermann, Philipp Lenz, Ulrike Hofmeister, Florian Schneider und Michael Fischer habe ich Einblicke in die spezifischen Strukturen Westfalens erhalten, die zu neuen Projekten für Spiritual Care führen. In der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin findet ein intensiver Gedankenaustausch statt, der immer wieder politische Resonanz erzeugt. Danke deshalb vor allem an Friedemann Nauck, Christoph Ostgathe, Manfred Gaspar, Martina Kern, Monika Müller und den Mitgliedern der Sektion Seelsorge, stellvertretend an Johannes Albrecht und Norbert Kuhn-Flammensfeld. Über zehn Jahre lang durfte ich mit Frank Erbguth, Christoph Meier und Frank Kittelberger das Medizin-Theologie Symposium der Evangelischen Akademie Tutzing leiten und dabei beeindruckende Einblicke in ganz unterschiedliche Fragestellungen finden. Nicht zuletzt verdanke ich viel den Begegnungen mit Ehrenamtlichen und Leitenden in Hospizvereinen in Deutschland und Österreich. Sie sind häufig die ersten, die spirituelle Bedürfnisse bei kranken Menschen wahrnehmen und sich um die Organisation von Spiritual Care bemühen. Sie handeln aus einer tief spirituellen Haltung heraus, von der sie in beeindruckender Weise erzählen.

Um die vielfältigen Begegnungen und Erfahrungen mit Literatur und Forschung zu verbinden, bedurfte es ausreichend Zeit am Schreibtisch. Die WWU Münster und die Fakultät für Evangelische Theologie haben mir durch ein Forschungsfreisemester ermöglicht, tatsächlich zum Schreiben zu kommen.

Den unmittelbaren Prozess des Schreibens begleitet haben meine Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl für Praktische Theologie: Annina Ligniez, Margit Gratz, Anika Prüßing und Nele Kaiser haben nicht nur Zitate und verwendete Literatur auf Richtigkeit geprüft, auf die Verwendung gendergerechter Sprache geachtet und ein Register angelegt, sondern unermüdlich inhaltlich kritische Rückmeldung gegeben. Vor allem in der Schlussphase haben Frau Dr. Ligniez, Anika Prüßing und Nele Kaiser dafür gesorgt, dass das Manuskript rechtzeitig fertig wurde. Für alle Mühe schulde ich ihnen großen Dank. Claudia Rüdiger hat das Manuskript Korrektur gelesen und ein Literaturverzeichnis erstellt. Sie und die Studierenden in Vorlesung und Hauptseminar Seelsorge und im Seelsorgepraktikum (Dank an Pfarrerin Antje Röse für das gemeinsame Konzept!) stellen Fragen, geben Anregungen und zeigen ihre Begeisterung für Seelsorge in Schule, Krankenhaus, Altenheim und Gemeinde. Begeisterung und Mut für Seelsorge zu entwickeln, trotz aller Herausforderungen durch Sparzwänge, ist die Intention dieses Buches.

Mein Mann Daniel Roser-Lüthi ertrug während der Abfassung dieses Buches nicht nur nervöse Phasen ohne Aussicht auf Urlaub und endlose Gesprächsrunden zu Spiritual Care, sondern regte immer wieder selbst durch eigene Erfahrungen als Pfleger und Trauerbegleiter an. Meine eigene Spiritualität lebt auch aus dem Segen unserer Beziehung.

Spiritual Care ist ein Organisationsbegriff. Dabei versteht Seelsorge sich in Organisationen nicht von selbst. Sie findet sich nicht einfach vor, sondern verdankt sich dem Engagement Leitender, dem Verständnis von Mitarbeitenden, der Gesprächsbereitschaft von Betreuten und dem Charisma der Seelsorgenden selbst. Durch meine Tätigkeit in der Augustinum Gruppe konnte ich konkret beobachten, auf welche Weise Seelsorge Menschen dient und sie stärkt, das Gespräch mit ihnen sucht, neu eingestellte Mitarbeitende fortbildet, Kollegialität in unterschiedlichen Teams pflegt, sich auf ethisch fordernde Situationen einlässt, Krisen bewältigen hilft, Gottesdienste hält, die ganz nach den Bedürfnissen der Gemeinde (hochaltrigen Menschen mit intellektuellem Anspruch und Menschen mit fortgeschrittener Demenz) und ihrer Gestimmtheit ausgerichtet sind, und zugleich Seelsorge zu einer Leitungsaufgabe eines bundesweit tätigen Unternehmens macht. Über den Beitrag theologisch qualifizierter Seelsorge zu multiprofessionell organisierter Spiritual Care im Gesundheitswesen konnte ich im Augustinum vieles lernen. Deshalb widme ich dieses Buch der Pfarrerin am Augustinum, meiner Kollegin und Freundin Irene Silbermann. Sie lebt Seelsorge, wie ich sie verstehe. In ihren eigenen Worten:

»Seelsorge heißt für uns: Mitleben, mitarbeiten – zusammen mit denen, die hier leben und arbeiten. Dies versuchen wir nach Kräften.«

Münster im Januar 2017

Traugott Roser

 

 

A          Einleitung – Wahrnehmung, Reflexion und Gestaltung von Praxis

 

Im Frühjahr 2005 erhielt der amerikanische Filmregisseur und Schauspieler Clint Eastwood die begehrteste Auszeichnung der Filmbranche, den Oscar, für sein Box-Drama »Million Dollar Baby«1. Eastwood erntete mit seinem Film nicht nur begeisterte Kritiken und ein millionenfaches weltweites Publikum, sondern heftige Kritik durch Behindertenverbände und (überwiegend katholische) Kirchenvertreter. Gegenstand der Kritik war, dass das Drama mit der aktiven Tötung auf Verlangen der Hauptfigur des Films, der Boxerin Maggie (H. Swank), durch ihren Trainer und Vaterersatz Frankie (C. Eastwood) endete. In einer Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20. März 2005 schrieb Filmkritiker Peter Körte ausführlich über den sich am Film entzündenden Streit über Recht und Unrecht aktiver Sterbehilfe:

»Der Film wird in Geiselhaft genommen, um den je eigenen Interessen ein größeres Forum zu verschaffen, und die Trittbrettfahrer, die ihn instrumentalisieren, sind dieselben, die auch noch nie begreifen wollten, daß Autor und Erzähler eines Romans nicht ein und dieselbe Person sind. Weil sie das Kino insgeheim verachten, überschätzen und unterschätzen sie es zugleich. Sie glauben, ein Film könne wie ein Gesetzbuch normative Handlungsanweisungen geben, und sie können sich einfach nicht vorstellen, daß ein Publikum die moralischen Ambivalenzen aushält, welche ein Film zeigt.«2

Konservative Interessenverbände hätten den Film als ›linkes Schmähstück‹ und ›Vendetta gegen Behinderte‹ bezeichnet, weil er davon erzähle, wie die junge Boxerin durch eine Verletzung in einem unfairen Kampf querschnittsgelähmt, bettlägrig und pflegebedürftig wird und ihr Leben nicht mehr als lebenswert empfindet. Verlassen von ihrer Familie lebt Maggie in einem Pflegeheim, in dem sie lediglich vom Trainer und dem Erzähler (M. Freeman) besucht wird. Während Maggie in der ersten Hälfte des Films als psychisch wie physisch unnachgiebig harte Kämpferin inszeniert ist, bleibt ihr in der zweiten Hälfte nur noch die Willenskraft, um ihren Sterbewunsch gegen den väterlichen Freund durchzusetzen.

Der Film lädt auch deshalb zu kontroversen Diskussionen ein, weil er den Entscheidungsprozess des Trainers – als letztem verbliebenen Angehörigen – explizit in einen religiösen, römisch-katholischen Kontext einfügt. Frankie besucht täglich die Messe, »führt mit dem handfesten Pater seine eigenwilligen theologischen Dialoge – und schlägt sich dabei auf eine Weise mit Fragen von Schuld und Sühne herum, von denen der Katechismus nichts weiß«3. Er erörtert sein Vorhaben ausführlich mit dem Priester, findet jedoch bei ihm weder Verständnis noch einen brauchbaren Rat. Schließlich begeht er, wissend um die Problematik seiner Handlung, den strafbaren Akt, der auf diese Weise jeglicher romantisierenden Darstellung entbehrt. Religion kommt damit sowohl in ihrer individuellen Ausprägung als religiöse (und intellektuell reflektierte) Praxis des Subjekts Frankie als auch in ihrer institutionellen Ausprägung, repräsentiert in der Feier der Messe und den pastoralen Gesprächen zwischen Seelsorger und Gesprächspartner, vor. Der katholische Filmkritiker Matthias Ganter kann dem Ende kein positives Fazit abgewinnen:

»Dennoch: Bei aller Nuancierung wird ›Million Dollar Baby‹ bei den meisten Zuschauern den Eindruck erwecken, der Film werte diese Tat – allen moralischen Vorbehalten zum Trotz – positiv.«4

Clint Eastwoods Film ist eines der seltenen Beispiele einer differenzierten Darstellung eines medizinethischen Konflikts im Massenmedium Film. Die Differenziertheit der Argumentation, der narrativen Strukturen und Strategien, der düsteren filmischen Darstellung und nicht zuletzt der Einbeziehung der individuellen und institutionellen Formen der Christentumspraxis eröffnet einen weiten Horizont für die Diskussion über den Sinn der aktiven Beendigung des Lebens. Wie konzentrische Kreise legen sich im Film – wie in seiner Rezeption – Deutungsmuster um die beabsichtigte und schließlich durchgeführte Handlung. Vom rechtlichen Rahmen des Verbots der Handlung, über den therapeutischen Kontext von vergeblichen medizinischen Heilungsversuchen und (in diesem Fall mangelhafter) Pflege, der finanziellen und sozialen Situation der Patientin, ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung bis hin zur religiösen Deutung von Begleitung und aktiver Sterbehilfe. Nicht zuletzt setzt sich der Film kritisch mit der kirchlichen Seelsorgepraxis in einer Konfliktsituation auseinander. Der Film eignet sich dadurch als Ausgangspunkt einer praktisch-theologischen Betrachtung von Seelsorge und ihrer gesellschaftlichen Funktion im Kontext medizinethischer Konfliktsituationen, in durch Krankheit und Verlust ausgelösten Krisensituationen.

Diesen Fragen gilt die vorliegende Arbeit. Sie wendet sich dabei als praktisch-theologische Arbeit vor allem an in seelsorglicher Praxis stehende Theologinnen und Theologen, die – wie der Pater im Film – von durch eine Krankheit oder einen Konflikt Betroffenen als Gesprächspartner zu Rate gezogen werden oder sich in einem beruflichen Umfeld bewegen, in dem diese Situationen zur alltäglichen Lebenswelt gehören. Die Arbeit versucht ein Verständnis von Praktischer Theologie für theologische Praktikerinnen und Praktiker zu beschreiben, das sich als Berufswissen und theologische Kompetenz versteht – in Ergänzung zu den pastoralpsychologischen und humanwissenschaftlichen Kompetenzen.5

Zu diesem Zweck lehnt sich die vorliegende Arbeit bei der Entwicklung ihrer Methodik an den grundlegenden Entwurf einer Fundamental-Praktischen Theologie des nordamerikanischen Theologen Don S. Browning an und entwickelt von da aus ein Verständnis von Praktischer Theologie als Deutekunst, die als zirkuläre Denkbewegung durch drei Schritte – Wahrnehmungskunst, Reflexionskunst, Gestaltungskunst – enzyklopädisch eingeordnet und an Praxis in doppelter Weise wahrnehmend und gestaltend interessiert ist. Im Materialteil der Arbeit wird diese Schrittfolge im Zusammenhang mit medizinethisch und therapeutisch problematischen Kontexten – am Anfang sowie am Ende des Lebens und in der Hochleistungsmedizin – konkretisiert. Dabei werden insbesondere die Bedeutung medizinethischer Fragestellungen für Seelsorge wie auch die organisationale Verortung von Seelsorge in Einrichtungen des Gesundheitswesens hervorgehoben. Diese Fragestellungen werden im dritten und abschließenden Teil der Arbeit diskutiert im Zusammenhang mit der Frage, ob christliche Seelsorge unter dem Begriff ›Spiritual Care‹ zu einem integralen Bestandteil moderner Medizin wird. Dieser Begriff, dem vor allem in der Palliativmedizin (und v. a. im angloamerikanischen Sprachraum) konstitutive Bedeutung für einen ganzheitlichen Ansatz zukommt, stellt an das Verständnis kirchlicher Seelsorge eine grundsätzliche Anfrage: Entspricht diese Zuordnung von Seelsorge zu Spiritual Care den Aufgaben seelsorglicher Begleitung und Beratung, wie sie in maßgeblichen Seelsorgetheorien der Gegenwart beschrieben werden?

Die Lehre von der Seelsorge gehört klassischerweise zur Praktischen Theologie. Sie lehrt nicht im Sinn der Anwendbarkeit erlernbare Techniken; als Teilbereich der Praktischen Theologie bezeichnet sie zunächst ganz allgemein und formal bestimmt die theologische »Beschäftigung mit den Lebensäußerungen der Kirche und den Tätigkeiten ihrer Funktionsträger«6 insbesondere in dem als Seelsorge bestimmten Handlungsfeld. Sie lehrt ein kritisches Verständnis von christlicher Praxis im Zusammenhang pastoralen und kirchlichen Handelns und kirchlicher Lehre in Bezug auf das Ganze der Theologie und auf humanwissenschaftliche Fächer sowie im Zusammenhang mit anderen Weisen zwischenmenschlichen Hilfehandelns und deren wissenschaftlicher Reflexion.7 Innerhalb der Seelsorgelehre spiegelt sich das komplexe Verständnis von Praktischer Theologie wider, das seinen Ausdruck in zahlreichen Bestimmungsversuchen gefunden hat, die sowohl den Praxisbegriff der Praktischen Theologie und ihren Bezug zur Praxis problematisieren als auch die Fragen nach dem Subjekt des Handelns und nach der Methode von Beschreibung und Reflexion diskutieren. Seelsorgelehre ist in dieser Komplexität als Teil Praktischer Theologie zu verstehen und von daher zu bestimmen.

In beeindruckender Weise greift der Entwurf einer Fundamental-Praktischen Theologie diese Komplexität auf und macht sie zur Grundlage Praktischer Theologie im Horizont des Ganzen der wissenschaftlichen Theologie.

1     Million Dollar Baby, USA 2004, 137 Min., Lakeshore Entertainment/Malpaso Productions, Regie und Musik: Clint Eastwood, Buch: F.X. Toole, Paul Haggis, Darsteller: Hilary Swank, Clint Eastwood, Morgan Freeman.

2    PETER KÖRTE, Mit der Faust mitten ins Herz, in: FAZ, 20. März 2005, 27. Vgl. differenziert zur katholischen Rezeption des Films in Deutschland: MATTHIAS GANTER, Zwischen Leben und Tod. Sterben und Tod in aktuellen Spielfilmen – Einleitung (http://www3.erzbistum-koeln.de/export/sites/erzbistum/medien/zentrale/_galerien/do wnload/Ster-ben_und_Tod_im_Film_-_Einleitung.pdf, Zugriff am 28.09.2005).

3    P. KÖRTE, Mit der Faust 2005.

4    M. GANTER, Zwischen Leben und Tod 2005.

5    Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Seelsorge müssen ihre Kompetenz durch Absolvieren einer standardisierten Aus- und Fortbildung nachweisen, bevor sie zum Dienst beauftragt werden können. In ihren Leitlinien für die Krankenhausseelsorge schreibt die Evangelische Kirche in Deutschland die Regeln für die Zulassung von professionellen Seelsorgerinnen und Seelsorgern fest: »In der evangelischen Kirche werden in der Regel ordinierte Pfarrerinnen und Pfarrer mit entsprechender Zusatzqualifikation in die Krankenhausseelsorge berufen. […] Daneben gibt es auch die Berufung von Diakoninnen und Diakonen sowie gemeindepädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit besonderer Zusatzqualifikation in die Krankenhausseelsorge. […] Auf der Basis eines theologischen, religions- und/oder sozialpädagogischen Hochschulstudiums und einer entsprechenden zweiten, mehr praktisch ausgerichteten Ausbildungsphase erlangen hauptamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger spezifische Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen, die durch eine pastoralpsychologisch-humanwissenschaftliche Zusatzqualifikation vertieft werden.« EVANGELISCHE KIRCHE IN DEUTSCHLAND (Hg.), Die Kraft zum Menschsein stärken. Leitlinien für die evangelische Krankenhausseelsorge. Eine Orientierungshilfe, Hannover 2004, 21f. Zur Berücksichtigung dieser Standards bei Stellenbesetzungen vgl. ebd., 33.

6    DIETRICH RÖSSLER, Grundprobleme der Praktischen Theologie, in: FRIEDRICH WINTZER (Hg.), Praktische Theologie, Neukirchen-Vluyn 19903, 1–10, 1.

7    Vgl. die einleitenden Ausführungen von JÜRGEN ZIEMER, Seelsorgelehre. Eine Einführung für Studium und Praxis, Göttingen 2000, bes. 17.

 

 

1          Zwischen Deskription und Strategie – Die Fundamental-Praktische Theologie Don Brownings

 

 

Der an der Divinity School der University of Chicago lehrende Theologe Don S. Browning hat in seinem zentralen Werk »A Fundamental Practical Theology«8 einen Ansatz entwickelt, der die aktuell dominierenden Bezugsweisen zur Praxis in der Praktischen Theologie – Wahrnehmungs- und Handlungsorientierung – differenziert im Ganzen der Theologie verortet: als gleichermaßen notwendige Weisen praktisch-theologischen Arbeitens. Browning ordnet die Momente einer ›deskriptiven‹ und einer ›strategischen‹ praktischen Theologie in einem ›Praxis-Theorie-Praxis-Modell‹ im Sinne einer korrelativen Hermeneutik an:

»The view I propose goes from practice to theory and back to practice. Or more accurately, it goes from present theory-laden practice to a retrieval of normative theory-laden practice to the creation of more critically held theory-laden practices.«9

Browning entwickelt seinen hermeneutischen Ansatz in Anlehnung an Hans-Georg Gadamer:

»When Gadamer’s hermeneutic circle is applied to theology, it turns all of theology into practical theology (what I have called a ›fundamental practical theology‹). In turn, it makes what we generally call practical theology – religious education, pastoral care, liturgics, etc. – into the culmination or last step of theology.«10

Der in »A Fundamental Practical Theology« vorgestellte Ansatz wurde von Browning im Blick auf die Praxis von Kirchengemeinden als gemeinschaftlicher Subjekte11 entwickelt; sein Anspruch geht jedoch weit über die Gemeindeebene hinaus. Browning versteht seinen Ansatz als öffentliche Theologie. Insbesondere der im US-amerikanischen gesellschaftlichen Diskurs heftig umstrittene Gegenstandsbereich ›Familie‹ bietet für Browning den Angelpunkt seines theoretischen Bemühens, den hermeneutischen Zirkel zwischen Beschreiben, Verstehen, Deuten und Handeln mehrfach abzuschreiten.12

Der Praxisbegriff Brownings orientiert sich am neueren amerikanischen Pragmatismus und an praktischer Philosophie. Browning hofft, durch den Anschluss an praktische Philosophie eine enge und zirkuläre Verbindung zwischen historischem Denken, Hermeneutik und Ethik zu leisten: »[O]ur present concerns shape the way we interpret the past. The reverse is also true. Solving our present ethical problems involves appropriating and reconstructing the past.«13 Die Grundidee des Pragmatismus, »die Bedeutung einer theoretischen Überzeugung durch die Beziehung auf praktische Folgen und Handlungen aufzuklären«14, greift Browning auf, um alle Theologie in einem fundamentalen Sinn als praktische Theologie zu bezeichnen. Es geht Browning dabei um eine Abkehr von einem herkömmlichen Verständnis von Praktischer Theologie als Anwendungsdisziplin, die lediglich die Erkenntnisse der historischen und systematischen Fächer in pastorales und kirchliches Handeln zu applizieren habe. Vielmehr steht die Frage nach der Anwendung schon am Anfang des Verstehensprozesses, da Praxisprobleme Verständnisfragen erst generieren oder aber ein Verständnisinteresse vorbestimmen: »Application to practice is not an act that follows understanding. It guides the interpretive process from the beginning, often in subtle, overlooked ways.«15 Die Praxis ist darum für die Entwicklung theoretischen Denkens nicht nur unverzichtbar, sondern wirkt sich bereits durch die Vorannahme praktischer Konsequenzen auf Theoriebildung aus.

Browning verknüpft seine praktisch-theologische Rezeption des amerikanischen Pragmatismus mit der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, um zu einer grundsätzlich für die Geistes- und die Naturwissenschaften geltenden Vorstellung einer dialektischen Denkbewegung zu gelangen: »from traditions of theory-laden practice to theory and back to new theory-laden practices«16. Gadamer habe darauf hingewiesen, dass Verstehen einem Dialog gleiche, in dem Vorannahmen und Vorverständnisse nicht zum Zweck einer unerreichbaren Objektivität beiseitegelassen werden sollten, sondern für den Verstehensprozess konstruktiv zu nutzen sind.

Im Bemühen, seine Gadamer-Lektüre und die Rezeption praktischer Philosophie für Theologie fruchtbar zu machen, setzt sich Browning eingehend mit David Tracys Arbeit »Blessed Rage for Order: The New Pluralism in Theology«17 (1975) auseinander. Tracy entwickelt darin in fünf Thesen ein »revisionist model for contemporary theology«, das einer fundamentalen empirischen Wende der Theologie gleichkommt. Die zwei Hauptquellen christlicher Theologie sind Tracy zufolge die überlieferten christlichen Texte und »allgemeine menschliche Erfahrung und Sprache«18. Tracy fordert damit für die gesamte Theologie ein, was in der Praktischen Theologie seit den Anfängen der Pastoralpsychologie in den Vereinigten Staaten von Amerika zu den bestimmenden Faktoren wurde: die reflektierte Applikation theologischer Erkenntnisse, wie sie durch Richard Clarke Cabot vertreten wurde, und die Zugangsweise zum Studium der Theologie durch das eingehende empirische Interesse am »living human document«, das Anton Theophilus Boisen in den 1920er Jahren maßgeblich entwickelte.19 Anton Boisens Konzept einer theologischen Ausbildung im klinischen Kontext war begründet in der Erwartung, dass die Erfahrungen im Krankenhaus statt einer Bestätigung theologischen Denkens zu einer Herausforderung von und intensiviertem Erkenntnisinteresse an theologischen Lehren führen würden:

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