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Demenz Support Stuttgart

Beteiligtsein von Menschen mit Demenz Praxisbeispiele und Impulse

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Satz und Gestaltung: Walburga Fichtner

Umschlaglayout: Maggie Truong

ISBN 978-3-86321-332-9
eISBN 978-3-86321-371-8

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Hinführung

Georg Jungkamp-Streese

Sich nicht entmündigen lassen

Als Demenzbetroffener seine Selbstständigkeit bewahren

Peter Wißmann

Beteiligt werden, beteiligt sein, beteiligt bleiben

Ein Problemaufriss

Praxisbeispiele und Projekte

SHG Dementi

Den Schritt hinauswagen und mitmischen

Die Dementi Selbsthilfegruppe

Mechthild Niermann-Mirmehdi

Trialogisch im Gespräch

Mit einer demenziellen Veränderung leben

Christina Kuhn

Loslassen und Weitermachen

Künstler und Menschen mit Gedächtnis- und Orientierungsschwierigkeiten arbeiten im Projekt KuKuK zusammen

Peter Wißmann

Vom Schreiben, Rappen, Rocken und Reden

Unterstützte Kommunikation und Partizipation

Lena Weilguni

Zwischendrin haben wir uns verlaufen

Lernerfahrungen als Teilhabeassistentin

Michael Ganß, Sybille Kastner

Von Kunst verstehen wir auch was!

Museumsprojekt Duisburg – Betroffene mischen mit

Mattan Köster

Da geht noch mehr!

Wie ich als Altenpfleger die Dinge neu sehen lernte

Handlungsanregungen

Peter Wißmann

Den richtigen Ton treffen!

Gesprächsführung im Rahmen von Assistenz

Peter Wißmann

Dabei sein, wenn etwas geschieht

Veranstaltungen planen und organisieren

Peter Wißmann

Im Verein dabei sein

Wie Vereine gewonnen werden können

Peter Wißmann

Vor der Haustüre spielt die Musik

Sich in Planungsprozesse vor Ort einbringen

Peter Wißmann

Das Gespräch suchen

Beteiligtsein in der Familie

Abschluss

Peter Wißmann

Wenn’s immer schwerer wird

Beteiligt bleiben auch bei schwerer Beeinträchtigung

Anhang

Leben und sterben, wo ich hingehöre

Aus: demenz.DAS MAGAZIN

„Ich bereue nichts“

Auf CD REMINITENZ

tanz’ aus der Reihe

Auf CD REMINITENZ

Jan Joram Köster

Demenzia

Gedicht

Hilfreiche Links, Informationen und Medien

Publikationen, Musik-CD, Musik-Videos, TV-Kanal Beratung, Fortbildung, Und dann noch…

AutorInnen

HINFÜHRUNG

Sich nicht entmündigen lassen!

Als Demenzbetroffener seine Selbstständigkeit bewahren

Georg Jungkamp-Streese

Ich lebe mit einer Demenz. Ich bin noch relativ jung (Jahrgang 1955) und habe das Glück, mit einer, wie ich es gerne formuliere, eher eleganten Form der Demenz zu leben. Kaum jemand kennt sie: PCA. Das bedeutet Posteriore Kortikale Atrophie. Auch die wenigsten Mediziner kennen sie, wie ich selbst erfahren musste. PCA bedeutet, dass im hinteren Bereich des Gehirns offensichtlich Zellen verschwinden oder ausgeschaltet sind. Obwohl PCA als eine spezielle Form der so genannten Alzheimerdemenz gilt, unterscheidet sie sich eben wesentlich vom vorherrschenden Demenzbild. Was soll aber an dieser PCA ‚elegant‘ sein?

Was ich alles kann

Wer mich sieht und erlebt, wird vielleicht ein gewisses Verständnis für diese natürlich ironisch gemeinte Bezeichnung entwickeln. Man sieht mir meine Demenz nicht an. Wenn die Situation stimmt, wird man in der Regel ziemlich lange brauchen, um überhaupt den Verdacht zu spüren, bei mir könnte irgendetwas nicht ganz so funktionieren, wie bei den meisten anderen Menschen. Ich bin mobil und kann mich frei bewegen. Ich kann tadellos sprechen und durchaus elegant formulieren. Mein Gegenüber kann mich nach meiner Meinung zur Verkehrssituation an meinem Wohnort befragen oder mit mir über die aktuelle politische Situation diskutieren.

Das alles lässt natürlich die Frage aufkommen, was denn an mir ‚dement‘ sein soll. Deutlich wird, dass PCA sich offensichtlich sehr von dem, was man Alzheimer nennt, unterscheidet. Aber dennoch habe ich es mit kognitiven Beeinträchtigungen zu tun, die tief in mein Leben eingreifen.

Was ich nicht oder nur eingeschränkt kann

An dieser Stelle wird es Zeit, die Dinge zu benennen, die ich aufgrund meiner PCA nicht mehr so gut oder gar nicht mehr kann beziehungsweise die sich verändert haben.

Das betrifft vor allem das Räumliche, so zum Beispiel das räumliche Sehen und die räumliche Vorstellungskraft. Rechnen, auch kleinere Rechenaufgaben lösen, funktioniert nicht mehr. Der Umgang mit zeitlichen Vorstellungen und Terminen ist schwierig. Dazu benötigt man nämlich zeit-räumliches Denken. Wir denken normalerweise ja auf einer Art Zeitstrahl, auf dem wir dann Begriffe wie März oder August einordnen. Mit dem PC kann ich nicht mehr arbeiten, eine räumliche Aufgabe, wie das Finden einer Datei auf dem Rechner, will nicht gelingen. Die Spülmaschine ausräumen und die Dinge an ihren gewohnten Ort stellen, kann ich nur ‚fehlerhaft‘ ausführen. Denn wo ist der gewohnte Ort? Die gleiche Frage stellt sich, wenn ich etwas suche. Der Kaffee steht bei uns zuhause vermutlich dort, wo er immer schon gestanden hat. Aber wo ist das? Dass ich nicht mehr Auto fahren kann, versteht sich von selbst. Da ich aber noch sehr gut zu Fuß und auch zu Rad bin, lässt sich das verschmerzen. Doch sich per Pedes oder auf dem Rad bewegen zu können, stellt ja nicht nur körperliche Anforderungen an die Person, sondern auch kognitive, zum Beispiel raumbezogene. Alleine in unbekannter Umgebung losziehen geht also nicht ohne Weiteres. Einen Buchbeitrag, wie diesen hier, zu schreiben, wäre mir normalerweise auch nicht möglich. Möglich wird er durch Schreibassistenz – wir berichten über diese Form der Unterstützung in den Kapiteln – Vom Schreiben, Rappen, Rocken und Reden und Den richtigen Ton treffen.

Wenn sich also auch meine Form kognitiver Beeinträchtigung von denen anderer so genannter Demenzformen unterscheidet, wird dennoch deutlich, dass sie ebenso wie diese zu erheblichen Veränderungen im Alltag und zu gravierenden Einschränkungen der Selbstständigkeit führen.

Was ich möchte

Niemand sucht sich eine Krankheit oder Behinderung freiwillig aus. Und wenn man dennoch damit leben muss, und wenn es sich um keine Krankheit handelt, die ‚wegbehandelt‘ werden kann, dann wünscht man sich vor allem Eines: weiterhin ein möglichst normales Leben führen zu können. Weiterhin Dinge tun und genießen zu können, die einem Freude bereiten und das ausmachen, was man wohl Lebensqualität nennt. Weiterhin mit Freunden und anderen Menschen, die einem wichtig sind, in Kontakt zu sein. Aktiv zu bleiben und nicht nur herumzusitzen und öde TV-Programme anzuschauen. Und solche Dinge zu tun, denen man persönlich einen Wert zuspricht. Wer will schon Dinge tun, die nur der Beschäftigung dienen, die man selbst aber als nutzlos oder gar als albern empfindet! Kurzum: man möchte möglichst selbstständig und vor allem einbezogen und beteiligt bleiben: in Aktivitäten und Unternehmungen, in Gespräche und Diskussionen, in Entscheidungen – vor allem natürlich, wenn diese einen selbst betreffen.

Das alles wünschen sich die meisten Menschen und das wünsche auch ich mir. Nur: das alles ist gar nicht mehr so einfach hinzubekommen. Denn mit Eintreten des kognitiven Abbaus verändert sich ganz Vieles bei einem selbst und insbesondere auch im Umfeld. Und dann bleibt oft nicht mehr viel von den Aktivitäten, die ich soeben als Wünsche formuliert habe, übrig.

Der Abgang

Das musste auch ich schmerzlich erfahren. Als meine kognitiven Veränderungen immer stärker zur Belastung im Alltag wurden, bin ich ihnen gemeinsam mit meiner Familie natürlich nachgegangen. Medizinisch hat es einige Zeit gedauert und es gab auch einige Fehleinschätzungen und bedurfte damit einiger Stationen, bis mir dann schließlich die PCA-Diagnose zuteil wurde. Bei einem großen Unternehmen im Gesundheitswesen, zu dem ich gerade gewechselt war, bestand ich die Probezeit leider nicht. Sehr wahrscheinlich hatte die nicht-bestandene Probezeit bereits mit einigen Einschränkungen der Krankheit zu tun, die zu diesem Zeitpunkt noch als Depression/Arbeitsüberlastung diagnostiziert worden war. So fiel es mir zum Beispiel schwer, zwei Dienstleistungsangebote zu vergleichen, was ich früher natürlich mit der „linken Hand“ gemacht hätte.

Im Idealfall stelle ich mir den Abgang oder Ausstieg nach einer Demenzdiagnose in einem Unternehmen folgendermaßen vor: Nach der Offenlegung der Diagnose und der damit verbundenen Einschränkung folgt eine gemeinsame Suche nach passenden Einsatzmöglichkeiten, angepasst an die verbliebenen Fähigkeiten. In meinem Fall als Personalleiter hätte das wie folgt aussehen können:

Weiterhin Suchen und Einstellen von geeigneten Mitarbeitern, Bearbeiten und Moderieren von Konflikten zwischen Mitarbeitern sowie zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten bzw. Mitarbeitern und Unternehmen, Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat, Entwicklung von Nachwuchskräften inkl. Ausbildung. Das alles bei verringerter Arbeitszeit und verstärkter Assistenz bei der Organisation dieser Arbeiten. Aus meiner beruflichen Erfahrung in verschiedenen Unternehmen weiß ich, dass diese Anpassung der Arbeit für erkrankte Mitarbeiter immer schwierig ist und insbesondere von Vorgesetzten nicht gern praktiziert wird. Das Idealbild eines Mitarbeiters ist für den Vorgesetzten der jederzeit einsatzbereite und voll belastbare Mitarbeiter. Da bleibt besonders für Demenzerkrankte wenig Raum.

Alles verändert sich

Das Beispiel des Arbeitsplatzverlustes zeigt, wie sich von einer Minute zur anderen die Rahmenbedingungen zu verschieben und zu verändern beginnen. Wer bis dahin – gemeint ist die Zuweisung einer Diagnose, die von den meisten Menschen als Synonym für Nichtmehrzurechnungsfähigkeit gesehen wird – noch eine bestimmte Person gewesen war, ist nun ein scheinbar hilfloses und nicht mehr ernst zu nehmendes Etwas. Andere übernehmen nun fast immer schleichend oder auch zielstrebig die Regie. Andere, das sind ganz viele Menschen. Familienmitglieder ebenso wie Freunde und dann natürlich auch professionelle Helfer. Helfer sollen helfen, aber Profis wollen in der Regel tun. Und das bedeutet meistens, dass sie auch zu wissen glauben, was zu tun ist. Aber es sind ja nicht nur die beruflichen Helfer. Angehörige, zum Beispiel Ehepartner oder Kinder, führen nichts Böses im Schilde. Auch sie müssen mit der neuen Situation klar kommen. Auch sie und gerade sie möchten natürlich dem betroffenen Familienmitglied helfen. Aber oft tun sie es eben in der Form, dass sie immer mehr die Rolle des Entscheiders übernehmen und den anderen immer weniger beteiligen. Weil das, wie erwähnt, nicht aus bösem Willen, sondern zumeist ganz unbewusst geschieht, bringt es den Betroffenen natürlich in eine schwierige Lage. Man möchte sich nicht sukzessiv ‚entmündigen‘ lassen, aber man möchte dem anderen auch nicht wehtun. Mir selbst ist dieser Gedanke auch nicht fremd: ich sehe ja durchaus, was meine Familie alles an Unterstützung leistet, und deshalb möchte ich natürlich keinen Ärger machen oder das Gefühl von Undankbarkeit hervorrufen. Aber ich möchte auch nicht schleichend entmündigt und in meinen Möglichkeiten unnötig stark behindert werden. Aus Entmündigung kann leicht Entwürdigung und eine immer stärkere Übergriffigkeit entstehen. Natürlich entsteht in einer Beziehung aufgrund der kognitiven Veränderungen des einen Partners ein gewisses Gefälle. Ich kann heute eben manche Dinge nicht mehr, die meine Frau oder meine Töchter aber noch sehr gut können. Sie sind mir darin also überlegen. Aber solch ein Gefälle ist stets nur partiell. Das bedeutet, es betrifft bestimmte Dinge – vielleicht Lesen, sich draußen orientieren oder über längere Zeit Aufmerksamkeit aufrechterhalten können – aber eben nur diese. Und nicht alle! Das meine ich mit partiellem Gefälle. Und ebenso kann es auch Dinge geben, in denen der so genannte Demenzbetroffene mehr oder anderes kann als der andere.

Ich empfinde es so, dass mit Blick auf demenzielle Veränderungen zu sehr geschaut wird, was nicht mehr, und zu wenig, was immer noch geht. Und dass auch zu gefahrenorientiert geschaut wird. Was könnte in dieser und jener Situation passieren… Nun, es kann immer einiges passieren! Oder auch nicht. Jeden Morgen lassen unzählig viele Menschen ihre Kinder getrost mit dem Fahrrad den gefährlichen Weg zur Schule fahren. Was könnte da alles passieren! Aber bis auf wenige Überängstliche verbieten die meisten Eltern ihren Kindern doch deshalb nicht das Radfahren! Doch wenn man kognitive Einschränkungen hat…

Was hilft?

Was immer, vor allem aber in familiären Beziehungen hilft, ist: Reden, die Probleme ansprechen, auch die ambivalenten Gefühle, von denen schon die Rede war. Beide Seiten stehen doch vor einer neuen herausfordernden Situation, beide haben doch nicht gelernt, mit ihr umzugehen, sondern müssen das erst lernen. Ein Türöffner und Ermöglicher ist nach meinem Dafürhalten dabei die Frage ‚Wie geht es dir damit‘? Sie macht ein Angebot, eröffnet eine Gesprächsmöglichkeit. Aber mir geht es nicht etwa darum, in diesem Sinne nur die Angehörigen in die Pflicht zu nehmen. Wir, die so genannten Betroffenen, sind ebenso gefordert und haben ebenfalls die Pflicht, etwas für den Verständigungsprozess zu tun.

Was brauchen wir?

Natürlich brauchen wir den oft zitierten Bewusstseinswandel. Weg vom ‚Geht nicht mehr‘ zum ‚Es geht so viel und alles was geht, soll auch gehen können‘. Menschen mit kognitiven Veränderungen wollen beteiligt sein und sie können es auch. Genau das ist das Thema dieses Buches. In ihm werden praktische Beispiele eines solchen Beteiligtseins vorgestellt. An mehreren davon war bzw. bin ich selbst aktiv Mitwirkender (KuKuK-Workshops, KuKuK-TV, CD-Projekt, Mitwirkung an Veranstaltungen und mehr). Daher weiß ich, dass es geht. Beteiligt waren aber auch andere Personen, die im Vergleich zu mir deutlich eingeschränktere Möglichkeiten in sprachlicher und anderer Hinsicht hatten. Beteiligtsein ist also nichts nur für ‚elegantere‘ Formen von Demenz, sondern für alle!

Beteiligt werden, beteiligt sein, beteiligt bleiben –

Ein Problemaufriss

Peter Wißmann

Es dürfte kaum einen Menschen geben, dem es nicht wichtig wäre, Einfluss auf seine Lebenssituation und auf seine Umwelt nehmen zu können. Die Rolle eines Statisten, eines ohnmächtig der Entscheidungsmacht anderer Ausgelieferten, behagt in der Regel niemandem. Ob ich mich mit und in meinem Leben zufrieden fühle, hängt wesentlich davon ab, ob ich für mich relevante Dinge bestimmen oder doch zumindest beeinflussen kann. Wo und wie ich wohne zum Beispiel. Wie ich mich kleide und anderen Menschen zeige. Ob ich morgens joggen gehe oder lieber länger im Bett liegen bleibe. Was ich esse und was ich lieber nicht auf meinem Teller sehen möchte. All das hat etwas mit Selbstbestimmung zu tun.

Die Schwester der Selbstbestimmung ist die Partizipation. In diesem Buch verwenden wir dafür überwiegend den Begriff des Beteiligtseins. Angesprochen sind damit zwei Bedeutungsebenen: Zum einen geht es darum, dass es jedem Menschen möglich sein soll, an Entscheidungen, die ihn betreffen, aktiv beteiligt zu sein. Also gehört zu werden, sich mit seiner Meinung und Position einzubringen zu können und an Entscheidungen Anteil zu haben. Das kann sowohl Entscheidungen über die Neugestaltung des Stadtviertels betreffen, als auch über die Form der Unterstützung im Falle von Krankheit oder Pflegebedürftigkeit. In einer sich als demokratisch verstehenden Gesellschaft soll sich jedermann aktiv einbringen können und nicht auf die Rolle eines unmündigen und fremdbestimmten Bürgers oder Dienstleistungsempfängers reduziert werden. Nur Anteil an Entscheidungen haben? Muss es denn nicht darum gehen, autonom als Individuum entscheiden zu können? Abstrakt betrachtet mag das zutreffen, doch da der Mensch ein soziales Wesen ist, das mit anderen Menschen in sozialen und gesellschaftlichen Bezügen lebt, gibt es kaum Fragen, die tatsächlich ganz allein von einem Individuum getroffen werden können. Wie die Außenanlage eines Mietshauses gestaltet werden soll, geht beispielsweise mehrere Beteiligte etwas an. Und wenn ich aufgrund von Krankheit oder Behinderung Unterstützung benötige, kann ich die Form, in der das geschieht, ebenfalls nicht ganz alleine bestimmen, sondern muss sie mit einer Reihe anderer Beteiligter aushandeln. Die Frage ist nur, ob mir solche Aushandlungsoptionen tatsächlich auch zur Verfügung stehen oder ‚die anderen‘ einseitig Festlegungen treffen.

Zum anderen gibt es eine weitere Bedeutungsebene des Begriffs Beteiligtsein. Gemeint ist hier das den meisten Menschen bedeutsame Recht darauf, nicht vom Leben der Gesellschaft abgeschnitten zu sein, sondern die Dinge tun zu können, die einem wichtig sind und die das Leben oft erst lebenswert machen. Für den einen mag es das Erleben von Natur auf Spaziergängen und Wanderungen sein, für den anderen der Genuss kultureller Ereignisse, wie ein Konzert oder eine Lesung. Nicht erwähnt werden muss, dass solch ein Genuss sowohl passiver – ich gehe ins Konzert – als auch aktiver Art sein kann: ich mache beispielsweise öffentlich Musik. Ich bin beteiligt an dem, was die Gesellschaft ihren Bürgerinnen und Bürgern an Möglichkeiten, man könnte auch sagen: an sozialem, wirtschaftlichen und kulturellen Reichtum bietet. Teilhabe oder soziale Teilhabe wird das in bestimmten Zusammenhängen genannt. Einer dieser Zusammenhänge ist zum Beispiel die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK). In ihr, die aus dem Blickwinkel der Menschenrechte heraus konzipiert ist, wird dieses Recht auf gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen reklamiert. Alle Menschen meint dabei tatsächlich alle Menschen, gleich, wie es um ihre körperlichen, aber auch geistigen und seelischen Fähigkeiten bestellt ist. Eben nicht nur die Starken, sondern auch die Schwächeren und die Schwachen sind gemeint.

Exkurs: Vom Umgang mit Begriffen

Sprache ist ein ebenso bedeutsames wie schwieriges Instrument, das den Menschen zur Kommunikation untereinander zur Verfügung steht. Schwierig ist es, einen vielschichtigen Sachverhalt treffend mit einem bestimmten Begriff zu benennen. Selten sind Begriffe hundertprozentig überzeugend, meistens stellen sie nur Annäherungen dar, die Fragen offen lassen. Und manche Begriffe sind schlicht unbrauchbar. Demenz ist ein solcher Begriff. Er ist untauglich, das komplexe Phänomen kognitiver Veränderungsprozesse zu beschreiben, die unter seinem Namen zusammengefasst werden. Er ist zudem extrem negativ belastet, diffamierend und er begünstigt Stigmatisierung. Man sollte ihn aus dem Sprachgebrauch streichen. In diesem Beitrag wird die Bezeichnung kognitive Veränderung oder Beeinträchtigung favorisiert und überwiegend verwendet. Da er jedoch nicht besonders geschmeidig klingt und weil Langeweile durch die ständige Wiederholung derselben Begrifflichkeiten vermieden werden soll, ist gelegentlich auch von so genannter Demenz oder demenzieller Beeinträchtigung die Rede.

Nicht weniger einfach ist die Benennung des Gegenstandes, um den es in diesem Beitrag und im gesamten Buch geht. Oft wird er synonym mit den Begriffen der Partizipation, der Teilhabe, der Teilnahme oder der Beteiligung bezeichnet. Im wissenschaftlichen Kontext werden hierzu durchaus Differenzierungen und Abgrenzungen vorgenommen(1), in diesem Buch wird überwiegend von Beteiligtsein gesprochen, gelegentlich werden aber auch die anderen genannten Begriffe verwendet. Bei Bezeichnungen wie Teilnahme oder Beteiligung könnte durchaus der Eindruck entstehen, dass damit eine Mitwirkung an den Arbeitsformen sozialer Arbeit gemeint sei, die nur da zum Zuge kommt, wo es von den professionell Tätigen in diesem Arbeitsfeld gewünscht wird(2). Das wäre in der Tat auch nach unserem Verständnis keine echte Beteiligung beziehungsweise Partizipation. Zum Verständnis der weiteren Ausführungen in diesem Beitrag und im gesamten Buch sei daher das zugrundeliegende Verständnis von Beteiligtsein (Partizipation) kurz skizziert. Es beinhaltet und bedeutet:

imageDie Möglichkeit der Einflussnahme auf die eigenen Lebensumstände

In der Geschichte des beruflichen Helfens herrschte über Jahrhunderte eine barmherzige oder eine korrigierend kontrollierende Haltung vor. Von Menschen, die anders (zum Beispiel behindert) waren, wurde Anpassung erwartet. Einfluss auf Entscheidungen, die sie unmittelbar betrafen, hatten sie keine. Straßburger und Rieger sehen in der heute herrschenden paternalistischen Expertokratie die moderne Nachfolgerin der kontrollierenden Fürsorgepädagogik(3).

Beteiligtsein stellt den radikalen Gegenentwurf zu diesem Ansatz dar. Hier geht es darum, dass die Menschen selbst Einfluss auf ihre Lebensumstände nehmen.

imageEine Kooperation auf Augenhöhe

Kooperation auf Augenhöhe bedeutet, dass das hierarchische Gefälle zwischen den angeblich wissenden und gebenden Experten auf der einen, und den vermeintlich unwissenden und empfangenden Hilfebedürftigen auf der anderen Seite, aufgehoben wird. Die Lebensweltexpertise der so genannten Betroffenen zählt dann genau so viel wie die Fachexpertise der beruflichen Helfer. Beide müssen sich als gleichwertige Partner verstehen. Aber: „Ob es gelingt, auf Augenhöhe zu kooperieren hängt entscheidend davon ab, wie Fachkräfte mit ihrer Macht umgehen. Da ihre Macht in der Regel viel größer ist als die der Adressaten und Adressaten, hat Partizipation nur dann eine Chance, wenn professionelle ihre Position hinterfragen und den Machtvorsprung so weit wie möglich abbauen“(4).

imageDie Möglichkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben

Jedem Menschen muss es möglich sein, die von ihm gewünschte Lebensform führen zu können. Für die Meisten ist das die gesellschaftlich übliche Lebensweise. Es geht darum, Teil der Gesellschaft zu sein, dazuzugehören sowie Anerkennung und Wertschätzung zu erfahren. Das geschieht jedoch nicht, wenn in dem Gegenüber nur der Kranke oder Behinderte gesehen wird. Jeder muss weiterhin die Möglichkeit haben, Zugang zu den Reichtümern zu haben, die die Gesellschaft ihren Bürgerinnen und Bürgern in kultureller, sozialer und ökonomischer Hinsicht bietet. Das bedeutet auch: zu den Möglichkeiten, sich zu engagieren und in die Gesellschaft einzubringen. Menschen mit Beeinträchtigungen sollen nicht nur von den Reichtümern der Gesellschaft profitieren, sondern auch aktiv Beiträge zum Leben der Gesellschaft leisten können. Das Spektrum reicht dabei von kulturellen Beiträgen bis zum politischen Engagement für soziale oder ökologische Fragen.

imageEine Qualität, die über ein Angehörtwerden hinausgeht

‚Hearing the voice of people with dementia‘: unter diesem Slogan wurde vor mehreren Jahrzehnten in Großbritannien der Blick auf die Perspektive von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung gelenkt. Doch reicht es nicht aus, angehört zu werden, denn daraus müssen sich in der Praxis keinerlei Konsequenzen ergeben. Informiert und angehört zu werden stellt nach Wright eine Vorstufe der Partizipation dar, ein echtes Beteiligtsein hat jedoch mit Entscheidungsmacht, Entscheidungskompetenz und mit Mitbestimmung bis hin zu selbstständigen Organisationsformen zu tun(5). Um diese Formen geht es.

imageEine effektive Unterstützungsstruktur

Nach einer langen Geschichte kontrollierender Fürsorge und auf dem Hintergrund der heutigen paternalistischen Expertokratie kann nicht erwartet werden, dass beteiligungsorientiertes Handeln für Menschen mit Beeinträchtigungen selbstverständlich ist. Es muss erlernt beziehungsweise die Menschen müssen dazu befähig werden, es ausüben zu können. In der Sozialen Arbeit wird dies mit dem Begriff des Empowerments bezeichnet. Zur Artikulation ihrer Sichtweisen und Bedürfnisse, zur Nutzung gesellschaftlicher ‚Schätze‘ sowie zur aktiven Beteiligung an Diskussionen und Entscheidungen benötigen viele so genannte Betroffene Unterstützung. Nicht in einem profizentrierten Betreuungsverständnis, sondern im Sinne von Interessensvertretung und (nicht juristischer) Anwaltschaft. Im angelsächsischen Raum wird das als advocacy bezeichnet. Einer Unterstützung in diesem Sinne geht es um die Befähigung der Menschen zu einem beteiligungsorientierten Handeln und zur Vertretung ihrer Interessen dort, wo sie das selbst nicht allein bewerkstelligen können. Das Gegenteil von advocacy ist jedoch Stellvertreterpolitik, wie sie von manchen Verbänden praktiziert wird und bei der wieder für statt mit den Menschen gehandelt wird.

imageEine lebendige Beteiligungskultur

Aktives Beteiligtsein kann nur in einer lebendigen Beteiligungskultur gedeihen. Für diese taugen jedoch die aus dem Methodenrepertoire klassischer Bürgerbeteiligungs- und Unterstützungskonzepte entliehenen Instrumente in der Regel nicht. Sie funktionieren oftmals schon nicht bei den üblichen Bürgerbeteiligungsverfahren, weil sie nicht auf so genannte bildungsferne Personen oder Menschen mit anderem kulturellem Hintergrund ausgerichtet sind. Erst recht können sie nicht funktionieren, wenn es um Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen geht. Benötigt werden daher neue oder modifizierte, in jedem Fall aber phantasievolle und innovative Verfahren zur Ermöglichung von Beteiligung.

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