Einleitung

Wie kamen wir dazu, dieses Buch zu schreiben?

Viele Jahre haben wir uns in unserer täglichen Praxis zunächst mit den Verhaltensproblemen, dann aber auch mit den Lern- und Leistungsproblemen von AD(H)S-Kindern auseinandergesetzt. Daraus entstand 2002 die erste Auflage des Werkes „Lernen mit ADS-Kindern“, das seitdem auf viel positive Resonanz gestoßen ist.1 Mit dem Buch wollten wir dazu beitragen, Eltern und Lehrern, die täglich mit ADS-Kindern zu tun haben, mit „passenden“ Lernmethoden Hilfen für einen frühzeitigen Ausstieg aus dem Teufelskreis „Lernstörungen“ anzubieten. Von diesen Kindern und ihren Familien haben wir sehr viel gelernt.

Im Laufe der Jahre haben wir, insbesondere von Lehrerinnen und Lehrern auf Vorträgen und Fortbildungen, häufig die Rückmeldung bekommen, dass die Lernmethoden, die bei ADS-Kindern hilfreich sind, auch für die anderen Kinder in der Grundschule passen.

In einem nächsten Schritt haben wir uns sodann mit dem Lerngegenstand „Mathematik“ intensiver beschäftigt. Aus dieser Arbeit entstand 2005 unser Buch „Kinder mit Rechenschwäche erfolgreich fördern“.2 Vor allem in diesem Bereich waren wir überrascht, wie viele überholte Vorstellungen, die wir „Mythen“ genannt haben, und entsprechend unpassende Fördermethoden auch heute noch in der gängigen Mathe-Förderpraxis bestehen. Recht unreflektiert bilden sie, auch im schulischen Bereich, immer noch Standardvorgehensweisen.

Was möchten wir Ihnen und Ihren Kindern mit diesem Buch mitgeben?

In unserer Praxis sehen wir täglich mindestens fünf Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern, die neben anderen Problemen auch Lern- und Leistungsprobleme aufweisen. Ziel unserer Arbeit ist es dabei auch, dass keines dieser Kinder und Jugendlichen in unserem Schulsystem „zurückgelassen“ wird. Lern- und Leistungsschwächen müssen aus diesem Grunde rechtzeitig erkannt werden, damit alle Beteiligten diesen wirksam entgegensteuern können. Wir alle sollten uns nicht mit Aussagen begnügen, die vielerorts zu hören sind: „Das Kind hat halt eine Legasthenie (bzw. eine Dyskalkulie)“, „unser Sohn ist halt rechenschwach (leseschwach)“, „die Schülerin ist einfach nicht so begabt“ etc.

Kinder bringen zweifelsohne unterschiedliche individuelle Voraussetzungen für den Lernprozess mit. Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Thema Lernen ist uns jedoch bewusst geworden, dass es oftmals die schulischen Lernwege sind, die für die betroffenen Kinder zu Fehlstrategien in Mathematik, im Lesen und in der Rechtschreibung führen. Diese Fehlstrategien haben oft fatale Folgen für die Zukunft der Kinder. Unreflektiert eingesetzte und sogar propagierte Lernwege führen dazu, dass Grundfertigkeiten nicht angemessen vermittelt und damit nicht richtig erlernt werden. Der Erwerb der Grundfertigkeiten hat aber einen maßgeblichen Einfluss sowohl auf die weitere Schullaufbahn als auch auf die Persönlichkeitsentwicklung unserer Kinder. Unserer Erfahrung nach empfiehlt Schule das Training übergeordneter Kompetenzen, oftmals jedoch leider im „luftleeren“ Raum. Die Automatisierung der Basisfertigkeiten in den einzelnen Kompetenzbereichen wird dabei vernachlässigt und ausgeblendet – mit fatalen Folgen für viele Kinder, die ihr Handwerkszeug deshalb nicht beherrschen und damit auch nicht in der Lage sind, „kreativ“ Probleme lösen zu können.

Wir möchten uns in diesem Buch auf wenige, effektive Lernwege beschränken. Grundfertigkeiten sollten zunächst auf einem möglichst einfachen Weg eingeübt werden, damit sie dann leichter automatisiert und später in vielfältigen Kontexten angewandt werden können. Kreativität ist bei der Anwendung, nicht bei der Automatisierung gefordert. Kreativität, wie sie heute oftmals von der Schule verstanden wird, nämlich in vielfältigen Vermittlungsformen für Grundfertigkeiten, überlastet den ohnehin schon begrenzten Arbeitsspeicher und erschwert nicht nur, sondern verhindert sogar die Automatisierung der Grundfertigkeiten. Sind Grundfertigkeiten hingegen automatisiert, bedeutet dies, Zeit zu gewinnen und Energie zu sparen, um Raum für notwendige weitere schulische Lernprozesse zu schaffen, die bei der Anwendung der Grundfertigkeiten sodann durchaus „kreativ“ sein sollen.

Wie in unserer alltäglichen Arbeit mit Kindern und ihren Eltern bemühen wir uns auch in diesem Buch, drei Bereiche zum Themenkomplex „Lernen“ stringent und konsequent miteinander zu verbinden:

Ihr Wegweiser für unser Buch

Möglicherweise haben Sie als Eltern, Lehrer, Psychologen und Pädagogen oder auch als Ärzte unterschiedliche Interessen, wenn Sie dieses Buch aufschlagen. Insbesondere für die Eltern, für die die praxisorientierten Teile im Umgang mit ihren Kindern wichtig sind, haben wir die konkreten Lernhilfen am Seitenrand blau unterlegt. Auf diese Weise können Sie die praxisrelevanten Informationen und Tipps schnell finden.

Die Kapitel und Abschnitte, die wir weiß belassen haben, sind mehr theoretischer Natur und geben einen Überblick über den aktuellen Wissensstand zur Thematik. Dies dürfte neben den Eltern insbesondere Lehrer, Psychologen, Pädagogen und Lerntherapeuten sowie Ärzte und Heilpädagogen ansprechen.

Wie ist dieses Buch aufgebaut?

Zunächst beschäftigen wir uns mit der aktuellen Schulwirklichkeit in Deutschland. Die Pisa-Misere sowie mögliche Wege aus diesem Dilemma, die uns aus der Gehirnforschung oder der gegenwärtigen Schulpädagogik angeboten werden, werden exemplarisch diskutiert.

Im ersten Teil des Buches soll Ihnen ein solides Grundwissen über Lernprozesse vermittelt werden. Erkenntnisse der Lernpsychologie sowie Sichtweisen der aktuellen Gehirnforschung werden dargestellt, damit Sie wissen, wie Lernprozesse gestaltet werden müssen, um erfolgreich sein zu können. Gleichzeitig möchten wir Sie in die Lage versetzen, zukünftig selber einzuschätzen, inwieweit eine Lernmethode effektiv oder unsinnig ist.

Im zweiten Teil des Buches erläutern wir Grundprinzipien erfolgreichen Lernens und geben Ihnen entsprechende Tipps, die auf diesem Grundlagenwissen aufbauen und die sich in unserer jahrelangen Arbeit bewährt haben.

Im dritten Teil des Buches finden Sie konkrete Hilfestellungen für den Bereich Rechnen, Lesen und Rechtschreibung. Die jeweiligen Kapitel sind so aufgebaut, dass zunächst die Ursachen für die entsprechenden Schwächen oder Störungen in den jeweiligen Bereichen nach dem aktuellen Kenntnisstand erörtert werden. Eltern und Lehrer erhalten gezielte Hinweise, um eine Rechen-, Lese- oder Rechtschreibschwäche frühzeitig erkennen zu können. Ziele in den jeweiligen Fertigkeitsbereichen werden erläutert. Besonders wichtig ist uns sodann die kritische und z. T. auch provokative Auseinandersetzung mit „Mythen“ in der gängigen Förderpraxis. Schließlich versuchen wir sehr praxisorientiert grundlegende Lerntechniken für die jeweiligen Fertigkeitsbereiche darzustellen. Diese sind einfach und praktikabel und für den täglichen Einsatz zu Hause im „Team Mutter-Kind“ gedacht. Lehrer werden bemerken, dass sich diese Methoden auch für den Unterricht eignen und sich z. B. in angeleiteter Partnerarbeit einsetzen lassen.

Die von uns dargestellten Methoden verstehen wir stets als Beispiele dafür, wie Lernen „gehirngerecht“ und damit erfolgreich gestaltet werden kann.

Wir sind uns durchaus darüber bewusst, dass wir möglicherweise, insbesondere für Lehrerinnen und Lehrer, Gewohntes und bisher als sicher Angenommenes, in Frage stellen. Ja, dass wir mit unseren Thesen zum Teil auch recht provokativ sind. So äußerte der Rektor einer Grundschule nach einer Fortbildung: „Ich bin in meinen Grundfesten erschüttert“. Vielleicht empfinden Sie als Lehrerin oder Lehrer nach dem Lesen des Buches ähnlich. Vielleicht aber fühlen Sie sich in Ihren eigenen Erfahrungen – zumindest zum Teil – auch bestätigt.

Wir verstehen unsere Arbeit, die ihren Niederschlag auch in den bereits publizierten Büchern fand, als beständige (Weiter-)Suche nach „guten“ Lösungen und somit als einen Prozess, der sich in steter Weiterentwicklung befindet. Wir möchten Sie als Eltern und auch als Lehrer sowie als Therapeuten auffordern, uns auf diesem Weg im Interesse Ihrer Kinder zu begleiten. Unser erstes und wichtigstes Ziel ist es, die Kinder beim Lernen zu entlasten, um ihnen in ihrem Alltag in der Schule und zu Hause besser gerecht werden zu können. Helfen wir den Kindern gemeinsam, ihren Weg Stufe für Stufe auf der Erfolgstreppe nach oben zu gehen!

Wir freuen uns über den Austausch mit Ihnen auf der Grundlage des vorliegenden Buches und den daraus folgenden Diskussionen. Dankbar sind wir über alle Ihre möglichen Hinweise, die uns weitere erfolgreiche Methoden, Wege und Erfahrungen nahe bringen – gerne werden wir diese zukünftig in unsere Arbeit integrieren.

Weder Eltern noch Lehrerinnen und Lehrer sollten bei der Vermittlung von schulischem Wissen und Fertigkeiten und der Förderung ihrer Kinder alleine gelassen werden. Wir alle sind auf eine wechselseitige, enge Kooperation angewiesen. Ziehen wir doch gemeinsam an einem Strang, mit dem Ziel, das Bestmögliche für unsere Kinder zu erreichen.

Im Frühjahr 2017

Claudia Oehler und Armin Born

Kontaktadresse:

Dr. Armin Born, Burgauerstraße 87, 81929 München

Internet: http://www.armin-born.de

1 „Lernen mit ADS-Kindern“ ist inzwischen in mehrfach aktualisierter und erweiterter Form in 10. Auflage (2015) lieferbar.

2 Dieses Buch ist seit 2013 in 5., überarbeiteter und erweiterter Auflage erhältlich.

An dieser Stelle möchten wir den vielen Kindern und deren Eltern danken, die wir zum Teil über Jahre mit ihren Rechen-, Lese- oder Rechtschreibproblemen begleiten durften. Wir haben viel von ihnen gelernt! Ihre Erfolge sind für uns immer wieder Ansporn auf dem Weg, weiterhin gute Ideen für den Lernprozess zu entwickeln.

Dank gilt auch den zahlreichen Lehrerinnen und Lehrern für viele intensive und konstruktive Diskussionen auf unseren Fortbildungsveranstaltungen. Besonders möchten wir den engagierten Lehrkräften danken, mit denen wir in unserer Praxis zusammengearbeitet haben und in persönlichen Gesprächen und Telefonaten hilfreiche Wege für die Kinder entwickeln konnten.

Kapitel 1: Die Ausgangssituation – Schulwirklichkeit in Deutschland

Der schulische Werdegang eines Menschen bestimmt in maßgeblicher Weise seinen späteren beruflichen und weiteren sozialen Lebensweg. Im deutschen Bildungssystem ist es bereits häufig die Grundschule, die über die weitere Schullaufbahn entscheidet. Hinter den Schulkarrieren von Schülerinnen und Schülern stehen jeweils einzelne Kinder und deren Lebensschicksale. Somit übt unser Schulsystem großen Einfluss auf die individuelle Entwicklung unserer Kinder aus. Aus diesem Grund sollte die Schule möglichst gut für jedes einzelne Kind sein.

Deutschlands Schulsystem steht nicht zuletzt seit der Veröffentlichung der Pisa-Studien auf dem Prüfstand. Kritisch sollten wir uns fragen, ob es seiner Aufgabe gerecht wird, den Schüler auf einen erfolgreichen Weg zu bringen. Dürfen wir uns entspannt zurücklehnen und vertrauensvoll nach dem Motto abwarten: „Die Schule wird es schon richten“?

Das „System“ Schule hat sowohl für den beruflichen Werdegang als auch für die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler eine erhebliche Bedeutung. Wenn wir uns das Stimmungsbild in Deutschland näher betrachten, so ist sicher zu Recht zu beklagen, dass nicht wenige Schüler die Schule mit einem Leistungsstand verlassen, der sie häufig nicht in die Lage versetzt, den weiteren Anforderungen der beruflichen Ausbildung vollständig gerecht werden zu können. Unser Schulsystem ist verbesserungsfähig!

1. Kritische Äußerungen zum deutschen Bildungssystem

Im Folgenden möchten wir die Einschätzungen und Bewertungen des Schulsystems aus unterschiedlichen Blickwinkeln darlegen. Betrachten wir zunächst – quasi als Spitze des Eisberges – die Erfahrungen der Eltern.

a) Die Eltern-Perspektive

Immer mehr Eltern sind sich der zunehmenden Bedeutung einer fundierten Schulausbildung für ihre Kinder als Einstieg in den Beruf sehr bewusst. Bereits ab der ersten Grundschulklasse möchten viele von ihnen ihre Kinder im Lernprozess unterstützen, jedoch wissen sie oft nicht wie. In den Grundlagenfächern Deutsch und Mathematik fehlt Eltern angesichts der vielgestaltigen Vermittlungswege durch die Lehrkräfte und den häufig sehr bunten, unübersichtlichen Lehrbüchern oft die nötige Transparenz. Eltern sind infolgedessen häufig verunsichert: Wie können sie mit ihren Kindern üben? Was wird eigentlich gerade genau in der Rechtschreibung erarbeitet? Gibt es eine Systematik, die Schriftsprache zu vermitteln? Ist jetzt gerade das Einmaleins dran, das Rechnen im Tausenderraum oder das Umrechnen verschiedener Maßeinheiten? Warum soll denn nun das Einmaleins nicht mehr auswendig gelernt werden, sondern über verschiedene „Ankeraufgaben“ errechnet werden?

Wirklich klare Antworten erhalten die engagierten Eltern von den Lehrkräften zumeist nicht. Gleichzeitig erleben nicht wenige von ihnen, dass ihre Kinder bereits in der ersten Klasse Schwierigkeiten mit dem Lesenlernen, der richtigen Rechtschreibung oder dem Rechnen haben. Auch zeigen manche Kinder ein zu langsames Arbeitstempo.

Immer mehr Eltern investieren bereits ab der ersten Grundschulklasse ihr Geld in den Nachhilfeunterricht. Der „Fördermarkt“ in Deutschland ist schier unübersehbar geworden. Lerninstitute unterschiedlicher Qualität sprießen wie Pilze aus dem Boden. So haben sich in Deutschland inzwischen ca. 3000 bis 4000 kommerzielle Nachhilfe-Institute etabliert. Daneben bieten eine kaum fassbare Zahl von Lehrern, Studenten oder älteren Schülern ihre Dienste an. Jeder dritte bis vierte Schüler hat bis zum Ende seiner Schullaufbahn eine Zeit lang kommerziellen Nachhilfeunterricht in Anspruch genommen. Der jährliche Umsatz des Nachhilfemarkts wird heute in Deutschland auf 0,9 bis 1,2 Milliarden Euro beziffert – ungeachtet des „Graubereichs zwischen Nachbarschaftshilfe und Schwarzarbeit“ (Süddeutsche Zeitung 05.05.2008). Ludwig Haag (2008), Professor für Schulpädagogik an der Universität Bayreuth, fasst die Situation pointiert wie folgt zusammen: „Ohne kommerzielle Nachhilfe würde das jetzige deutsche Schulsystem vermutlich gar nicht funktionieren.“

Betreten wir Buchhandlungen, so finden wir Regale voller Lernhilfebücher. Für jedes Fach, für jede Klasse, für jede Schulart – das Angebot ist groß. Auch bieten viele Schulen mittlerweile sog. Lernseminare, durchgeführt von Pädagogen und Psychologen, an. Diese Seminare beinhalten sicherlich viele gute Ansätze. Kindern erhalten Strukturierungshilfen für das Lernen, erfahren von „Lerntricks“ und manchmal sogar etwas über die Funktionsweise unseres Gedächtnisses. Nur sind die Inhalte der Lernseminare bereits nach wenigen Tagen schon vergessen. Zettel fliegen in Schubladen herum, da es in der Regel versäumt wird, die Inhalte in Unterrichts- und Lernpraxis systematisch anzuwenden. Selten gestalten Lehrkräfte, besonders in weiterführenden Schulen, ihre Unterrichtspraxis um. Insofern haben die gut gemeinten Bemühungen der Schulen letztlich oft nur den Charakter einer Zeitverschwendung!

b) Die Lehrer-Perspektive

Nicht nur die Eltern, auch die Lehrerinnen und Lehrer klagen über Deutschlands Schulen. So stellen Gymnasiallehrer häufig fest, dass ihren Schülern in der 5. und 6. Klasse ausreichende Basisfertigkeiten in der Rechtschreibung und im Rechnen fehlen. Die Kinder beherrschen das Einmaleins nicht sicher, die Rechtschreibung ist unsicherer und fehlerhafter geworden. Verfolgt man den schulischen Werdegang der Kinder und Jugendlichen in den höheren Klassen und ihren Kenntnisstand beim Schulabgang weiter, so stellt sich die Situation häufig nicht besser dar. Ein Fachhochschulprofessor für Mathematik erzählt, dass er sich fast schäme, seinen Studierenden heute so „leichte“ Mathematik-Klausuren stellen zu müssen, weil sie ansonsten heillos überfordert wären.

Viele Lehrer fühlen sich in ihrer Haut nicht mehr wirklich wohl. So gilt es einerseits, die von den jeweiligen Kultusministerien vorgegebenen Lehrpläne zu erfüllen. Immer wieder kommt es andererseits jedoch vor, dass die inhaltlichen Vorgaben, d. h. wie und was in welchem Zeitraum gelehrt werden soll, in Widerspruch zum eigenen Erfahrungsschatz stehen.

Steht dann der Schulratsbesuch zur Beurteilung des einzelnen Lehrers alle paar Jahre an, sehen sich die Lehrer in erster Linie dazu verpflichtet, eine möglichst gute, d. h. bunte, lebendige, vielfältige Unterrichtsstunde aus dem Hut zu zaubern. Was die Kinder hier jedoch wirklich lernen, steht bei der Beurteilung nicht so sehr im Vordergrund.

Ältere Lehrkräfte fühlen sich häufig unter Zugzwang, wenn sie erleben, wie die jüngeren Kollegen, die gerade von der Universität kommen, noch vielgestaltigere Unterrichtsformen mit in den Schulalltag einfließen lassen. Es entsteht Druck in der Richtung, dass man den Unterricht in der Zukunft noch „bunter“ gestalten müsse. Aber auch hier wird zumeist nicht wirklich kritisch hinterfragt, ob das „Neue“ denn tatsächlich eine bessere Behaltensleistung bzw. ein effektiveres Lernen bewirkt.

Neben ihrem Unterrichtsauftrag fühlen sich Lehrer angesichts immer mehr verhaltensauffälliger Kinder auch zunehmend in ihren erzieherischen Aufgaben überfordert. In jeder Grundschulklasse sitzen vermehrt „schwierige“ Kinder, z. B. gleich mehrere „Zappelphilippe“, „Träumerchen“ und Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen oder einer Dyskalkulie.

Schließlich sehen sich Lehrer zudem immer häufiger dem direkten Druck von Eltern ausgesetzt. Mütter und Väter, die sich bereits in der 2. Grundschulklasse Gedanken und Sorgen darüber machen, ob ihr Kind den gymnasialen Weg wird einschlagen können. Eltern, die beklagen, dass zu viel oder zu wenig Hausaufgaben aufgegeben werden, dass auf ihr Kind nicht genügend eingegangen wird und seine Besonderheiten nicht berücksichtigt werden. Eltern, die kritisieren und Lehrern den „schwarzen Peter“ zuschieben. Am Ende der 4. Grundschulklasse, spätestens jedoch am Ende der 6. Klasse, werden Lehrer in vielen Bundesländern damit konfrontiert, ihre Schüler im Hinblick auf deren weitere Schullaufbahn bewerten zu müssen. Sie sind es, die maßgeblich darüber entscheiden, welches Kind in unserem überwiegend dreigliedrigen Schulsystem das Gymnasium, die Realschule oder „nur“ die Hauptschule besuchen darf.

Nicht wenige Lehrer fühlen sich heutzutage zwischen unterschiedlichsten Anforderungen zerrieben: Angesichts ihrer vielfältigen Aufgaben und der immer lauter werdenden Kritik am „System“ Schule durch Hochschulen, Politik und Eltern erleben sie sich häufig alleine gelassen. Und in der Tat, nur selten haben sie Kooperationspartner. Wie groß der Druck ist, dem die Lehrer heute ausgesetzt sind, lässt sich an den steigenden Frühberentungszahlen ablesen, die nicht zuletzt auf psychischen Problemen z. B. in Form von Depressionen und Burn-Out-Syndromen beruhen.

c) Die Perspektive der Wirtschaft

Schauen wir uns nun die dritte Gruppe derjenigen an, die sich neben Eltern und Lehrern kritisch zur aktuellen Situation von Schule und Unterricht äußern: den Vertretern aus der Wirtschaft. Lehrherren und Ausbilder melden sich angesichts des Bildungsniveaus der Schüler, insbesondere der Hauptschüler, immer häufiger kritisch zu Wort. So moniert beispielsweise das Kuratorium der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung im Jahr 2005 gravierende Defizite bereits bei den grundlegenden Kulturtechniken der Schulabgänger, die eine Ausbildung beginnen wollen. Die Unternehmen stellen, so heißt es dort, zunehmend schlechte Rechtschreib- und Grammatikkenntnisse fest sowie erhebliche Schwierigkeiten der Lehrlinge, sich schriftlich und mündlich adäquat auszudrücken, Texte zu erstellen oder deren Inhalte zu erfassen. Auch habe sich die Rechenfähigkeit der Jugendlichen deutlich verschlechtert. „Ausbildung erfordert Ausbildungsreife“, so der Slogan des Kuratoriums der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung. So hat man die Leistungsprofile der Ausbildungsbewerber noch genauer unter die Lupe genommen. Bezüglich der Grundrechenarten beklagen drei von fünf Unternehmen, dass viele Hauptschüler nicht einmal das kleine Einmaleins beherrschen. Auch Realschüler müssen sich hier Kritik gefallen lassen. Drei von zehn Betrieben stellen eklatante Mängel im Rechnen sowohl bei Schülern mit einer Mittleren Reife als auch mit der Fachoberschulreife fest, und selbst Abiturienten attestiert jedes fünfte Unternehmen mangelhafte Rechenleistungen.

Noch schlechter sieht es in der Rechtschreibung aus. Drei von vier Betrieben beklagen sich über diesbezügliche Defizite bei den Hauptschülern. Jeder dritte Betrieb hält die Rechtschreibleistung der Realschüler für mangelhaft. Sogar jeder siebte Betrieb kommt zu dem Schluss, dass auch eingestellte Abiturienten deutliche orthographische Defizite aufweisen.

Eine mangelhafte Allgemeinbildung bescheinigen zwei von drei Unternehmen insbesondere Hauptschülern, darüber hinaus aber auch Realschülern. Gute Kenntnisse im Umgang mit dem PC bescheinigen dagegen neun von zehn Unternehmen ihren jugendlichen Mitarbeitern. Stimmen aus der Wirtschaft, so Ausbildungsbeauftragte – z. B. Hans Riepe in Nordrhein-Westfahlen, bestätigen die Ergebnisse der Pisa-Studie. Seit zehn Jahren, so Herr Riepe (2007), würden die gleichen Einstellungstests für Jugendliche durchgeführt. Trotz gleichem Schulnotenniveau seien die Testergebnisse der Schüler in den letzten Jahren deutlich schlechter geworden.

Welche Erwartungen stellt die Wirtschaft an die Schulabgänger?1 Neben elementarem Grundwissen in den wichtigsten Lernbereichen fordert sie persönliche Kompetenzen wie Zuverlässigkeit, Lern- und Leistungsbereitschaft, Durchhaltevermögen, Konzentrationsfähigkeit, Gewissenhaftigkeit, Verantwortungsbereitschaft etc. Die Anforderungen bezüglich der Schulleistungen seien im Folgenden exemplarisch für die Mathematik dargestellt: Hier wünscht sich die Wirtschaft von den Schulabgängern das Beherrschen einfacher Rechentechniken, dazu gehören die vier Grundrechenarten, das Rechnen mit Dezimalzahlen und Brüchen, der Umgang mit Maßeinheiten, Dreisatz, Prozentrechnen, Flächen-, Volumen- und Masseberechnungen und fundamentale Grundlagen der Geometrie. Zusätzlich sollten Auszubildende einfache Textaufgaben begreifen, die wichtigsten Formeln anwenden und mit dem Taschenrechner umgehen können.

d) Die Perspektive der psychologisch-medizinischen Fachwelt

Neben den Stimmen der Eltern, der Lehrer und der Wirtschaft sei nun zuletzt noch die Bewertung von Fachleuten aus dem psychologisch-medizinischen Bereich hinzugefügt: „Trotz der allenthalben beschworenen Bedeutung mathematischen Wissens in unserer Zeit, ist das Bildungssystem gegenwärtig nur sehr unzureichend in der Lage, bei Defiziten die erforderliche Förderung zu realisieren. Gangbare Bildungswege werden kaum angeboten.“ (Neumärker und Bzufka, 2005, S. 90). Diese kritische Einschätzung aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie deckt sich mit den erschreckenden Ergebnissen der Pisa-Studie. Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapeuten und andere im Gesundheitswesen Tätige weisen immer wieder auf die erheblichen psychischen und sozialen Beeinträchtigungen des Einzelnen hin, der beispielsweise eine Rechenschwäche oder -störung (Dyskalkulie) oder auch eine Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie) aufweist. Neben dem erheblichen individuellen Entwicklungsrisiko seien auch die sozialen Folgekosten unzureichender Förderung, die sich auf das gesamte berufliche Leben gravierend auswirken dürften, mit zu berücksichtigen (vgl. Neumärker und Bzufka 2005).

Will man nun den Tenor der kritischen Stellungnahmen aus den unterschiedlichen Bereichen zusammenfassen, so ist festzustellen, dass die Bewertung des deutschen Schulsystems nicht gut ausfällt. Um die Problemlage noch weiter zu erhellen, möchten wir im Weiteren noch einmal die Pisa-Studie und ihre Nachfolgestudien darstellen.

2. Die Pisa-Studie – Ergebnisse und Konsequenzen

Zur Pisa-Studie 2000

Die PISA-Studie (Programme for International Student Assessment), die im Auftrag der OECD seit 2000 im dreijährigen Turnus durchgeführt wurde, überprüft die Lesekompetenz und den Leistungsstand in Mathematik und den Naturwissenschaften. Hierzu wurden in den Teilnehmerstaaten 15-Jährige über alle Schulformen hinweg in repräsentativer Weise untersucht.

Zur Lesekompetenz

Wie sahen die Testergebnisse deutscher Schüler im Hinblick auf ihre Lesekompetenz im Jahre 2000 aus? Rund 23 % der deutschen 15-jährigen Schüler mussten der potenziellen Risikogruppe schwacher und extrem schwacher Leser zugeordnet werden. „Dieser Anteil liegt deutlich über dem entsprechenden Durchschnittswert von etwas über 18 Prozent für die OECD-Staaten.“ Deutschland wies damit im internationalen Vergleich erheblich mehr 15-Jährige mit geringer Lesekompetenz auf. Darüber hinaus erreichten 13 % der schwachen Leser nur die erste von insgesamt fünf Kompetenzstufen. Diesen Jugendlichen wurde von der Studie bescheinigt, dass sie „erhebliche Schwierigkeiten beim Übergang in das Berufsleben haben werden“ (Deutsches Pisa-Konsortium 2001, S. 117). Sie wurden deswegen als „Risikogruppe“ definiert. Weitere 10 % der getesteten 15-Jährigen erreichten aber noch nicht einmal diese Kompetenzstufe 1!

Im Zuge der Untersuchung der Lesekompetenz wurde weiterhin festgestellt, dass in Deutschland viele Lehrerinnen und Lehrer die individuellen Einzelprobleme ihrer Schützlinge nicht hinreichend gut kannten. So haben die Lehrkräfte in der Hauptschule nur etwa 11 % derjenigen Schüler, die nicht einmal die Kompetenzstufe 1 erreichten, auch als schlechte Leser erkannt. Von den Schülern mit Kompetenzstufe 1 wurden sogar nur 4 % von den Lehrkräften als schlechte Leser eingeschätzt (Deutsches Pisa-Konsortium 2001, S. 119 f). Somit verkennen zahlreiche Lehrkräfte in deutschen Schulen in erschreckender Weise den Leistungsstand ihrer Schüler.

Zur Rechenkompetenz

Wenden wir uns den Ergebnissen der Pisa-Studie 2000 im Bereich Mathematik zu: 17 % der untersuchten 15-jährigen Schüler erreichten mit ihren Mathematikfertigkeiten nur Grundschulniveau und zusätzliche 7 % zeigten noch nicht einmal Grundschulniveau (vgl. Deutsches Pisa-Konsortium 2001, S. 168 ff). Diese Risikogruppe von annähernd 24 % schwankte jedoch aufgrund der sehr unterschiedlichen Schulsysteme der einzelnen Bundesländer zwischen 13,1 und 32,2 %.

Im Hinblick auf Mathematik, aber auch auf die Lesefertigkeiten, musste das Pisa-Konsortium (2001, S. 172) nach Abschluss der Studie folgende sehr ernüchternde Bilanz ziehen: „Das deutsche Bildungssystem ist besonders wenig erfolgreich bei der Förderung schwächerer Schüler sowie bei der Sicherung von Mindeststandards.“

Zu den Pisa-Studien 2003, 2006, 2009 und 2012

Auf Pisa 2000 folgten in den Jahren 2003, 2006, 2009 und 2012 Folgestudien. In Mathematik und besonders im Bereich Lesekompetenz zeigten sich erfreulicherweise deutliche und signifikante Verbesserungen. Die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Deutschland lagen 2012 im Durchschnitt in allen Testbereichen signifikant über dem OECD-Durchschnitt.

Mathematik

Zwischen 2003 und 2012 erhöhte sich der Mittelwert der Mathematikleistung von 503 auf 514 Punkte. Auch der Anteil der Fünfzehnjährigen, deren Leistungen auf Kompetenzstufe I oder sogar noch darunter eingeordnet werden musste, verringerte sich in diesem Zeitraum von 21.6 Prozent auf 17.7 Prozent. „Allerdings bedeutet dieser Wert auch, dass jeder sechste Jugendliche in Deutschland die Mindestanforderungen für ein anschlussfähiges mathematisches Verständnis nicht erreicht und erhebliche Probleme haben dürfte, einen Ausbildungsplatz zu finden beziehungsweise eine Ausbildung erfolgreich abzuschließen sowie anspruchsvollere mathematische Anforderungen im Alltag zu bewältigen.“ (Prenzel 2013, S. 75). Der internationale Vergleich zeigt, dass dieser Anteil durchaus kleiner sein kann, beispielsweise fällt dieser Anteil in Finnland oder der Schweiz um über 5 %-Punkte geringer aus (vgl. OECD 2013a, S. 323).

Weiterhin ist das Auseinanderklaffen zwischen den Leistungen guter und schlechter Schüler in Mathematik in Deutschland nach wie vor höher als im OECD-Durchschnitt (vgl. Prenzel u. a. 2013, S. 73). Im Gegensatz zu Deutschland zeigen Finnland und Estland insgesamt deutlich bessere Leistungen und gleichzeitig ein deutlich geringeres Auseinanderklaffen zwischen den beiden Gruppen (vgl. Prenzel u. a. 2013, S. 71 und S. 73).

Lesen

Auch der Leistungszuwachs im Lesen von 2003 (491 Punkte) bis 2012 (508 Punkte) kann als sehr erfreulich und als statistisch signifikant bewertet werden (vgl. Prenzel 2013, S. 230f). Deutschland hat damit Rückstände in sehr deutlicher Weise aufgeholt. Obwohl sich der Anteil der schlechten Leser verbessert hat, macht er aber noch einen relativ hohen Anteil aus. „In Deutschland können, ähnlich wie bei PISA 2009, 14.5 Prozent der Schülerinnen und Schüler auf den untersten Kompetenzstufen verortet werden.“ (Prenzel 2013, S. 230) Dieser Anteil ist aber in Finnland, Kanada, Polen, Japan, Irland, Estland, Korea um 3 bis 7 Prozentpunkte geringer (vgl. Prenzel u.a. 2013, S. 231).

Die Ergebnisse für PISA 2012 zeigen weiterhin, dass es im Lesen zwischen den Schularten in Deutschland nach wie vor große Leistungsdifferenzen gibt. So liegen zwischen der leistungsschwächsten Schulart (Hauptschule) und der leistungsstärksten Schulart (Gymnasium) mehr als 160 Leistungspunkte; dies entspricht Leistungsunterschieden von über zwei Kompetenzstufen (vgl. Prenzel u. a. 2013, S. 235 und S. 242f). Die besten 10 Prozent der Hauptschülerinnen und Hauptschüler verfügten 2012 über genauso stark ausgeprägte Lesekompetenzen wie die schlechtesten 10 Prozent der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten (vgl. Prenzel u. a. 2013, S. 236).

Es gibt noch drei weitere Bereiche in denen Deutschland als „reiches“ und hochentwickeltes Industrieland trotz erkennbarer Fortschritte schlechter abschneidet als der OECD-Durchschnitt:

Signifikante Geschlechterdifferenzen zu Ungunsten der Mädchen in Mathematik

Mädchen erzielten 2012 in den Mathematiktests im Durchschnitt 14 Leistungspunkte weniger als die Jungen. Solche Unterschiede treffen aber nicht für andere Staaten wie beispielsweise Finnland, Schweden, Norwegen oder Polen zu. In Island sind die Mädchen sogar in statistisch signifikantem Maße besser als die Jungen (vgl. Prenzel u. a. 2013, S. 77). Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Leistungsunterschiede seit 2003 nicht verkleinert, sondern sich sogar noch von 9 auf 14 Punkte vergrößert haben (vgl. OECD 2013a, S. 331).

Signifikante Geschlechterdifferenzen zu Ungunsten der Jungen im Lesen

„Die Differenz zwischen der Lesekompetenz von Mädchen und Jungen beträgt in Deutschland 44 Punkte – das entspricht einem durchschnittlichen Leistungsabstand von mehr als einer halben Kompetenzstufe. Diese Differenz hat sich seit den letzten PISA-Erhebungsrunden kaum geändert. Deutschland gehört damit zu den OECD Staaten mit den größten Leistungsunterschieden zwischen Mädchen und Jungen im Lesen.“ (Prenzel u. a. 2013, S. 232)

Chancengerechtigkeit und Schülerleistungen

„In Deutschland … ist der prozentuale Anteil der Unterschiede in der Mathematikkompetenz, die sich durch den sozioökonomischen Status erklären lassen, überdurchschnittlich hoch.“ (Prenzel u. a. 2013, S. 253) Trotz erkennbarer Fortschritte seit 2003 erzielt in Deutschland ein sozioökonomisch bessergestellter Schüler in Mathematik immer noch durchschnittlich 43 Punkte mehr als ein sozioökonomisch weniger begünstigter Schüler (vgl. OECD 2013b, S. 5).

Zur Gruppe der Staaten, bei denen der Zusammenhang zwischen Mathematikkompetenz und sozioökonomischem Status signifikant niedriger ist als im OECD-Mittel, zählen etwa die skandinavischen Staaten Finnland, Norwegen, Island, Dänemark und Schweden oder auch Japan und Korea. (vgl. Prenzel u. a. 2013, S. 253)

Reaktionen auf die Pisa-Studien

Die Veröffentlichung der Ergebnisse, insbesondere der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 und der Nachfolgestudie im Jahr 2003, hat Deutschland regelrecht erschüttert. Der Begriff „Pisa“ ist seitdem fast zu einem Synonym für alle Schwierigkeiten unseres Bildungswesens geworden. Im Dezember 2001 versuchte die Kultusministerkonferenz durch die Benennung sog. „Handlungsfelder“ auf das deprimierende Pisa-Ergebnis zu reagieren. Verbesserungen sollten von der Vorschule bis zur Lehrerausbildung eingeführt werden. So sollten die Sprachkompetenz in der Vorschulzeit erhöht, der Übergang vom Kindergarten zur Grundschule besser verzahnt, die Grundschulausbildung verbessert, verbindliche Standards für Schulabschlüsse definiert und die Lehrerausbildung reformiert werden. Auch sollten bildungsbenachteiligte Kinder, insbesondere solche mit Migrationshintergrund, wirksamer gefördert werden. Weiterhin beschlossen die Kultusminister als Reaktion auf den Pisa-Schock bundesweite Bildungsstandards. Insbesondere auch der Ausbau von Ganztagsschulen, den man als naheliegende Lösung verstand, sollte forciert werden.

Neben der favorisierten Idee, das Konzept der Ganztagsschule werde Deutschland aus der Bildungsmisere führen, wurde auch die alte Schulstrukturdebatte wieder mit Leben gefüllt. Befürworter der Gesamtschule verwiesen dabei auf das hervorragende Abschneiden Finnlands, das sie auf sein System der Gesamtschulen zurückführten. Gegner dagegen verwiesen darauf, dass auch Länder, die zu den Testverlierern zählen, Gesamtschulsysteme hätten. Und Bayern, das konsequent an einem gegliederten Schulsystem mit harten Aufnahmekriterien für den Besuch weiterführender Schulen festhielt, schnitt schließlich 2000 im nationalen Vergleich am Besten ab. Pisa löste somit, neben der Forderung nach Ganztagsschulen, erneut eine heftige innerdeutsche Strukturdebatte über die Auswirkung von zwei-, drei- oder viergliedrigen Schulsystemen aus.

Werfen wir noch einmal einen Blick auf Finnland, um zu verstehen, was das finnische Bildungssystem so erfolgreich macht und woraus wir unsere Lehren für die Schul- und Unterrichtspraxis in Deutschland ziehen sollten. Zwischen 1972 und 1977 wurden in Finnland Gemeinschaftsschulen mit den Klassen 1 bis 9 eingeführt. Ab 1980 folgte „die klassenlose gymnasiale Oberstufe“. Seit 1994, mit Einführung neuer Lehrpläne, wurde die Verantwortlichkeit der Kommunen und der Schulen gestärkt. Auch wurden eine schulische Evaluation sowie landesweite Fortbildungs- und Schulprojekte eingeführt. Seit 1998 regelt das Gesetz den heutigen Gesamtschulunterricht. Finnlands Schulen haben eine hervorragende personelle Ausstattung, unter anderem mit Sozialpädagogen. Wo es nötig ist, stützt eine zweite Lehrkraft die unterrichtende Erstlehrkraft. Die Klassenstärken liegen bei weniger als 20 Schülern. Die Schulen haben eine weitgehende Autonomie, verbunden mit wirkungsvoller Qualitätskontrolle. Die finnische Bildungsbürokratie gibt keine detaillierten Lehrpläne vor, sondern Lernziele, die die Schulen in Eigenregie umsetzen und deren Erreichbarkeit wiederum mittels standardisierter Testverfahren überprüft wird. Die nationalen Fortbildungsprojekte beinhalten die Stärkung der Fremdsprachenvielfalt, mathematische und naturwissenschaftliche Förderung sowie die Förderung der Lesekompetenz. Und, Finnland ist ein – im Hinblick auf seine Bevölkerungszahl – „kleines“ Land, das offensichtlich ein hohes Gemeinschaftsgefühl aufweist: „Jeder Einzelne ist wichtig.“ Das finnische Fördersystem macht ein wesentliches Element der dortigen Schulphilosophie aus. Diese beruht, so Pauli Siljander, Erziehungswissenschaftler an der Universität Ooulo, ganz wesentlich auf folgender Einstellung: Kein Kind dürfe zurückgelassen, kein Kind solle beschämt werden. Dafür sind die Lehrkräfte in der „Regelschule“ sonderpädagogisch qualifiziert. Zusätzlich kümmern sich ausgebildete Sonderpädagogen um entwicklungsverzögerte und verhaltensauffällige Kinder. Der Lehrplan für Kinder mit Lernschwierigkeiten wird flexibel erstellt (vgl. Siljander 2005, S. 432).

In Deutschland sind Anzahl und Anteil der Klassenwiederholer, d. h. derjenigen Kinder, die sitzenbleiben, weiterhin enorm hoch. So müssen etwa 250.000 Schüler pro Schuljahr eine Klasse wiederholen. Im Durchschnitt haben ca. 20 % der 15-Jährigen mindestens einmal eine „Ehrenrunde“ gedreht (vgl. OECD 2013b, S. 10). Sitzenbleiber erreichen in deutschen Schulen im Rahmen des Normalunterrichts nicht das Klassenniveau und werden sozusagen dafür bestraft und beschämt, in dem sie „sitzengelassen“ werden. Finnland hat dagegen schon lange einen anderen Weg im Umgang mit Kindern, die Lernschwierigkeiten zeigen, eingeschlagen: Lernprobleme werden frühzeitig angepackt und mit verschiedenen Fördermaßnahmen wird dafür gesorgt, dass es gar nicht mehr nötig ist, dass ein Kind die ganze Klasse wiederholen muss. Der lernschwache Schüler wird in Finnland nicht stigmatisiert. Im Rahmen der 9-jährigen Gesamtschule wurde ein Förderunterrichtssystem mit besonderen Möglichkeiten für die Schüler aufgebaut, die unter vorläufigen oder ständigen Lernschwierigkeiten leiden. Dies hat auch Auswirkungen auf die Bewertung von Lernergebnissen. Die traditionelle Bewertung mit Noten, so wie es Praxis in Deutschland ist, basiert auf dem Vergleich mit den Mitschülern und führt anschließend zur Selektion. In Finnland werden Schüler im Verhältnis zu ihren eigenen Lernzielen bewertet. Bewertung wird somit nicht mehr zum Stigmatisierungsinstrument, sondern kann als Hilfsmittel für den Lernprozess eingesetzt werden. Bewertung dient somit sogar als Unterstützung und Motivation für den Lernprozess des Schülers.

Die Erziehungswissenschaftlerin Kati Jauhiainen (2005) berichtet, dass sich im Laufe der Jahre auch die Sichtweise der Lehrkräfte grundlegend verändert habe. Anfangs wollten viele Lehrer, dass die pädagogischen Zusatzkräfte ihnen die schwierigen Schüler abnehmen und sodann wieder „geheilt“ zurückbrächten. Heute, nach 20 Jahren, so Jauhiainen, werde die kollegiale Beratung im multiprofessionellen Team als Notwendigkeit für gelungenes Lernen angesehen. Lehrer seien sich heute darüber einig, dass „die Heterogenität der Schüler und des ganzen Personals einer Schule die Antriebskraft der positiven pädagogischen Weiterentwicklung ist“ (Jauhiainen 2005, S. 19). Mit dem Grundsatz, dass Gerechtigkeit und Gleichberechtigung dort Wirklichkeit werden, wo diejenigen Hilfe bekommen, die sie am meisten brauchen, habe Finnland erreicht, dass „84 Prozent der jungen Leute vor ihrem 25. Geburtstag die Hochschulreife erreichen“ (Jauhiainen 2005, S. 19).

Finnlands Schulsystem, in dem jeder Einzelne wichtig ist und Kinder mit Lernschwierigkeiten nicht stigmatisiert, sondern ermutigt und gezielt gefördert werden, scheint erfolgreich zu sein.

Unserer Auffassung nach gilt es, den Blickwinkel nicht mehr so sehr auf die äußeren Strukturen des Schulsystems zu richten, sondern vielmehr verstärkt eine Veränderung und Verbesserung der Lernprozesse an sich ins Auge zu fassen. Damit könnte vor allem der immer noch sehr hohe Anteil an schlechten Schülern in Mathematik und im Lesen verringert werden. Ebenso gilt es die sehr auffälligen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen abzubauen. Mädchen müssen besonders in Mathematik, Jungen besonders im Lesen in passender Weise gefördert werden.

3. Weist uns die Gehirnforschung einen Weg aus der Bildungsmisere?

Gilt es heute, wie wir meinen, den Lernprozess zu verbessern, könnte hierfür vielleicht die Gehirnforschung einen wichtigen Beitrag leisten. Moderne bildgebende Verfahren haben es möglich gemacht, unser Wissen auf dem Gebiet der Hirnforschung im letzten Jahrzehnt enorm auszuweiten. Lehrer, Pädagogen und Eltern verfolgen in Deutschland seit einigen Jahren gespannt die Aussagen populärer Neurowissenschaftler zum Thema Lernen.

Allen voran ist hier Manfred Spitzer zu nennen, Psychiatrieprofessor und Neurobiologe. Spitzer möchte „die Hirnforschung in die Schulen bringen“. Seit der Veröffentlichung seines Buches „Gehirnforschung und die Schule des Lebens“ (2002) hat er den Boden für die Idee geebnet, bessere Unterrichtskonzepte auf dem Hintergrund eines aktuellen neurobiologischen Verständnisses für Lernprozesse zu entwickeln. Entsprechende Erkenntnisse sollen gesichtet und im Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) gebündelt werden. Unterstützung erfährt Spitzer von seinem Kollegen Henning Scheich, Direktor des Magdeburger Leibniz-Instituts für Neurobiologie, der kategorisch erklärt: „Wer nichts vom Hirn versteht, hat keine Ahnung davon, wie Kinder am besten lernen“.

Erlaubt sei an dieser Stelle die Frage, ob fachfremde Neurowissenschaftler tatsächlich in der Lage sind, erfolgreiche, d. h. tragfähige Unterrichtskonzepte zu entwickeln. Was wissen und verstehen sie vom pädagogischen Alltag? So müssen sich Spitzer und sinngemäß argumentierende Kollegen nicht zu Unrecht Kritik gefallen lassen. Pädagogen, Psychologen, aber auch bekannte Hirnforscher wie Gerhard Roth bestreiten nicht, dass die Neurowissenschaften interessante Einsichten in grundlegende Lernvorgänge liefern können. Sie fragen sich jedoch, inwieweit mit diesen Erkenntnissen eine praktische Relevanz für die Gestaltung von schulischer Lernumgebung verbunden ist. Die Pädagogische Psychologin und Bildungsforscherin Elsbeth Stern formuliert ihre Kritik an der sog. Neurodidaktik scharf in folgendem Vergleich: „Wenn man herausfinden möchte, warum Menschen in manchen Teilen der Erde hungern müssen, wird man keine passende Antwort finden, wenn man sich mit Stoffwechselvorgängen im Körper befasst statt mit den ökologischen und ökonomischen Bedingungen.“ (Stern 2006, S. 9)

Welche Anstöße aus der Gehirnforschung sollten wir im Hinblick auf neue Unterrichtskonzepte aufnehmen?

Die Erkenntnisse über die molekularen Grundlagen des Lernens gehören ohne Zweifel zu den gleichermaßen spektakulären wie wichtigen Erfolgen der Hirnforschung. Setzte man sich das Ziel, diese Erkenntnisse in unseren Schulen angemessen zu berücksichtigen, müsste die bisherige Unterrichtspraxis radikal infrage gestellt werden.

Die deutsche Schulwirklichkeit sieht vielerorts so aus, dass die Lehrer ihren Lehrplan „abarbeiten“, eine Vielzahl an fachdidaktisch orientierten Methoden einsetzen und ihren Schülern somit ein „Lernangebot“ machen. Werden diese Angebote vom Kind nicht übernommen, wird diesem und manchmal auch seinen Eltern die Verantwortung für ein mögliches Scheitern übertragen. Nimmt man die Anstöße aus der neueren Hirnforschung ernst, so müssten sich heute Lehrer auch als Manager und Kontrolleure für die „Konstruktion und Vernetzung“ neuronaler Netzwerke im Gehirn des einzelnen Schülers verstehen. Überspitzt formuliert wäre somit die Arbeitsstelle des Lehrers das Gehirn des einzelnen Schülers. Der Lehrer müsste in seiner alltäglichen Unterrichtspraxis somit Verantwortung für den Aufbau neuronaler Netzwerke im Gehirn des einzelnen Schülers übernehmen und sich stets Rechenschaft darüber ablegen, dass nur das, was das Kind konkret denkt und wiederholt, auch im Gehirn seine neuronale Entsprechung findet.

Trotz kontroverser Sichtweisen, in welcher Form neurowissenschaftliche Erkenntnisse in Unterrichtskonzepte einfließen sollten, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass unser Gehirn das zentrale Organ allen menschlichen Denkens und Lernens ist. Was immer wir uns merken möchten, muss an den Synapsen, d. h. den Verknüpfungsstellen der Nervenzellen entsprechende Spuren hinterlassen. Geschieht dies nicht, können wir Lerninhalte nicht mehr aus unserem Gedächtnis abrufen.

Lehrer sollten Spezialisten für kindliches Lernen sein und auch die entsprechende pädagogische Verantwortung dafür übernehmen. Nehmen wir die Anstöße aus der Hirnforschung ernst, so sind in der Schule keine methodischen Weltmeister gefragt. Methodenvielfalt und kreative Gestaltung des Unterrichtes sollten kein Selbstzweck sein. Ohne Reflektion darüber, was mithilfe der vielfältigen „bunten“ Unterrichtsmethoden wirklich im Gehirn des Schülers hängen bleibt, mangelt es dieser Art der Didaktik an Seriosität. Leider werden heute Lehrer aber immer noch häufig vorrangig danach bewertet, wie methodisch vielfältig sie ihren Unterricht gestalten – dies wird gleichgesetzt mit einem gesicherten Lernerfolg. Ein Umdenken erfolgt zumeist erst dann, wenn sich einzelne Lehrer kritisch mit der bisherigen Praxis und intensiv mit den neuen Erkenntnissen der Hirnforschung auseinandergesetzt haben. So wie jene Schulrätin, die im Anschluss an eine unserer Fortbildungsveranstaltungen äußerte: „Mir ist bewusst geworden, dass die Methoden kein Selbstzweck sind, sondern immer hinterfragt werden muss, welche Spuren sie im Gehirn hinterlassen bzw. überhaupt hinterlassen können.“

Lernen bedeutet – in diesem Punkt stimmen wir mit Manfred Spitzer ganz überein – eine Veränderung der synaptischen Übertragungsstärke. Diese Modifikation findet jedoch nur an den Synapsen statt, die aktiv sind. Deshalb ist es richtig, auf die besondere Notwendigkeit des Übens hinzuweisen: „Nur derjenige, der sehr viel übt, wird im Laufe der Zeit sehr gut“ (Spitzer 2002, S. 271).

Die Gehirnforschung trägt dazu bei, den Blick zu schärfen für die Fragestellung, wie Lernen überhaupt erfolgreich sein kann. Dies tut der Schulpädagogik und -didaktik sicher gut. Lösungswege können aber nicht von der Gehirnforschung, sondern nur von pädagogisch-psychologischer Seite entwickelt werden.

Aus der jüngeren Gehirnforschung werden jedoch auch Ratschläge abgeleitet, die unserer Erfahrung nach wenig hilfreich sind. Greifen wir hier einmal exemplarisch einen der populärsten Slogans heraus: „Lernen muss Spaß machen“. Manfred Spitzer zum Beispiel sieht diese These als seine „wichtigste Botschaft“ an die Politik an (Interview mit der Badischen Zeitung v. 17.05.2003). Anhand der Auseinandersetzung mit diesem Spotlight aus der Hirnforschung möchten wir aufzeigen, dass es problematisch ist, wenn Hirnforscher aus ihren Erkenntnissen Schlussfolgerungen ziehen, ohne detaillierte Kenntnisse über deren pädagogische Alltagstauglichkeit und Realität zu haben.

Die Gehirnforschung hat uns noch einmal die seit langem bekannte pädagogische Erfahrung vor Augen geführt und belegt, dass Lernen immer auch mit Emotionen verknüpft ist. Angst ist ein ungünstiger Begleiter des Lernens, während positive Gefühle über die Aktivierung unseres Belohnungssystems einen guten Abruf des Gelernten aus dem Gedächtnis ermöglichen. Lernen, so die Gehirnforscher, sollte also möglichst bei „guter Laune“ erfolgen. Gleichzeitig werden das selbständige Lösen von Aufgaben sowie das freiwillige Üben als besonders günstig herausgestellt: „Ein Kind lernt dann am besten, wenn es Aufgaben selbständig löst“ (Spitzer in „Der Spiegel“ 27/2002, S. 69). Der Schüler solle also möglichst zur eigenen Problemlösung angeregt werden, denn nur dieser Weg aktiviere das eigene Belohnungssystem. Druck von außen wirke sich ungünstig aus. Aus den obigen Erkenntnissen der Neurowissenschaften zieht Spitzer die Schlussfolgerung: „Lernen muss Spaß machen! Deshalb muss man dafür sorgen, dass die Bedingungen so sind, dass das Lernen Spaß macht …“. Verändere man in diesem Sinne die schulischen Rahmenbedingungen und käme noch der „Spaßfaktor Lehrer“ hinzu, dann liefen Lernprozesse quasi „wie von selbst“ (vgl. Spitzer 2002, S. 194).

Der Ruf nach der Schule, die Spaß machen soll, erinnert an den Begriff der Spaßgesellschaft. Wird hier, so fragen wir uns, die pädagogische Realität möglicherweise etwas ausgeblendet und verkannt? Betrachten wir Lernbereiche, in denen ein Schüler Schwächen aufweist und Lücken sowie Defizite ausgleichen muss, so werden diese Bereiche von ihm gefühlsmäßig nur selten mit Spaß verbunden. Auch geänderte Rahmenbedingungen dürften dies nicht wesentlich ändern können.

Mit Lernen von Unterrichtsinhalten ist unserer Erfahrung nach immer auch Arbeit verbunden. Lernen, besonders auch bei Schwächen, kann mühsam sein vgl.