Für diejenigen, die fürchten, anders zu sein.

Und für diejenigen, die glauben, sie seien normal.

 

 

 

 

»Es ist seltsam, nicht seltsam zu sein.«

John Lennon

Eine kurze Bemerkung zu Quiver Town

Wenn ihr noch nie in Quiver Town wart (und mal ganz ehrlich, die meisten Leute waren es noch nicht), musstet ihr wahrscheinlich auch noch nie mit dem Fahrrad auf einem dauerhaft zugefrorenen See entlangschlittern, um einen Zusammenstoß mit einem Knäuel blauer Hasen zu vermeiden, die im Schneckentempo die Straße überqueren.

Und euch ist mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit auch noch nie eine Hündin mit einem Wurf lilafarbener Ferkel über den Weg gelaufen.

Und ihr habt sicherlich noch nie einen Wasserfall gesehen, der im Kreis fließt. (Nur fürs Protokoll: Das sieht aus wie ein Reißverschluss aus Wasser – es rauscht von unten geradewegs nach oben und dann wieder zurück.)

Wenn ihr noch nie in Quiver Town wart (und warum solltet ihr, wenn ihr bis zu diesem Zeitpunkt noch nie von diesem Ort gehört habt), zweifelt ihr bestimmt daran, dass es diese Dinge wirklich gibt.

Wenn ihr später also von einem Mädchen namens Ming lest, das bis hoch über die Baumspitzen schweben kann, einem Jungen mit Namen Ollie, der in der Lage ist, Metall nur mit seinen Gedanken zu verbiegen, und einem weiteren Mädchen, Penelope, das mithilfe von Bildern kommunizieren kann, die es in seinem Kopf entstehen lässt – dann werdet ihr das wahrscheinlich auch nicht glauben.

Inzwischen denkt ihr sicher, dass das hier die Worte eines notorischen Lügners sind. Einer Person mit Wahnvorstellungen, der man auf gar keinen Fall trauen darf. Einer Person, die man besser meiden sollte.

Aber das denkt ihr nur, weil ihr noch nie in Quiver Town wart.

Wenn ihr dort gewesen wärt, würdet ihr jetzt zustimmend nicken und wüsstet, dass die Welt so viel merkwürdiger ist, als sie scheint.

Kapitel 1 Professor Snellings Löffelverbiegerschule

Professor Snelling klaut einen Löffel von meinem Stapel, hält das untere Ende mit Zeigefinger und Daumen fest und verbiegt den Löffel nur mit der Kraft seiner Gedanken erst zu einem Kreis, dann zu einem Herzen und schließlich zu einem fünfzackigen Stern.

»Und, Grimsly – siehst du, wie einfach das ist? Es beginnt und endet hier.« Er tippt sich mit seiner gekrümmten Klaue gegen die Schläfe und nickt aufmunternd, und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich ihn für einen alten Angeber halten. Aber in Wahrheit habe ich ihn schon viel kompliziertere Formen in viel weniger Zeit machen sehen. Professor Snelling ist der beste Löffelverbieger in Quiver Town, fast so gut wie der Gründer unserer Stadt, Yegor Quiver – und das will wirklich etwas heißen.

Sein gezwirbelter Schnauzbart zuckt, und die Falten um seine Augen sind knittrig wie Origamipapier, als er mich ansieht und sagt: »So, und jetzt versuchst du es mal. Aber vorher erklärst du mir noch das Geheimnis erfolgreichen Löffelverbiegens!«

Ich räuspere mich, drücke meinen Rücken durch und rattere dann laut und deutlich die Worte herunter, die in Silber gerahmt an der gegenüberliegenden Wand hängen.

»Um etwas zu erreichen, musst du es vor dir sehen und daran glauben. Vorstellungskraft ist der Schlüssel zum Erfolg.«

Damit eines klar ist: Man muss das nicht ablesen. Diese Worte gehören zu unseren täglichen Übungen. Sie sind also sozusagen in mein Gehirn eingebrannt.

Trotzdem: An einem wichtigen Tag wie heute – an dem das Löffelverbiegerexamen der sechsten Klasse ansteht – ist mein Selbstvertrauen so gering, dass ich kein Risiko eingehen kann.

Trotz unzähliger Stunden sorgfältigen Unterrichts, trotz Klassenkameraden, die die Kunst vom ersten Tag an beherrscht haben und sie den Rest des Halbjahres nur noch perfektionieren mussten – meine mentalen Fähigkeiten in Sachen Löffelverbiegen sind noch genauso wenig ausgeprägt wie zu Beginn des Schuljahres. Und sosehr ich hoffe, dass heute der Tag gekommen ist, an dem sich der Unterricht endlich auszahlt und ich diesen Stapel Löffel in nicht wiederzuerkennende Silberteile verbiege – so ist es doch eine bittere Tatsache, dass ich froh sein kann, wenn ich wenigstens eine Krümmung hinbekomme, sodass ich diesen Raum mit einem letzten Fitzelchen Würde verlassen kann.

Jeder in Quiver Town hat wenigstens eine hervorstechende Besonderheit (und manchmal sogar zwei oder drei), die ihn von anderen unterscheidet. Die ihn extrem seltsam und hochgradig einzigartig werden lässt.

Jeder außer mir. Das einzig Seltsame an mir ist, dass ich so normal, durchschnittlich und langweilig bin, wie ein Mensch nur sein kann.

Snelling grinst auf eine Art, die seine Falten in Aufruhr versetzt und dem Gesicht einen düsteren Ausdruck verleiht – bis auf seine lange Hakennase, die komplett unberührt davon bleibt. Er schnappt sich einen weiteren Löffel von meinem Stapel, präsentiert ihn überschwänglich, und als er ihn vor mich legt, bricht mir schlagartig der kalte Schweiß aus. Jetzt gibt es keine Ausreden mehr. Der Moment ist gekommen.

»Grimsly«, sagt er mit ernster Stimme. »Du schaffst das! Du wirst schon sehen. Denk einfach daran, was ich dir beigebracht habe – du brauchst lediglich ein klitzekleines bisschen Gedankenmagie und den Glauben daran, dass du es schaffst.«

Ich rutsche an die Stuhlkante, presse meine Lippen zusammen und runzele die Stirn. Er mag vielleicht recht haben, aber was auf ihn zutrifft, muss nicht zwingend auch auf mich zutreffen. Das wird immer deutlicher.

Meine Augen gleiten durch den Raum und wandern vom überdimensionierten vergoldeten Bilderrahmen mit einem Porträt Yegor Quivers – sein weiser, allumfassender Blick soll uns aus dem Grab heraus inspirieren – zu der riesigen Vitrine mit allen möglichen kompliziert verdrehten Metallskulpturen, die ehemalige Schüler von Professor Snelling erschaffen haben – zum funkelnden Mobile, das von der Decke hängt und komplett aus verbogenem Gold- und Silberbesteck besteht –, bis ich vorsichtig auf den einzelnen unbiegsamen Löffel vor mir schiele.

»Du kennst die Regeln«, sagt er. »Eine Minute für alle.«

Ich freue mich schon, dass er es mir ein bisschen leichter machen will – schließlich habe ich einen Löffel weniger, um den ich mir Gedanken machen muss –, da nimmt er den Stern vom Tisch, bringt ihn mit einem Blinzeln zurück in seine Originalform und legt ihn wieder auf den Stapel.

Super. Sechzig Löffel in sechzig Sekunden. Jetzt kann mich nur noch ein Wunder retten.

Ich atme tief ein und konzentriere mich auf die Worte, die an die Tafel gekritzelt sind:

Fokussieren! Konzentrieren! Vorstellen! Glauben!

Das ist alles – ihr werdet es sehen!

In der Theorie klingt das einleuchtend, aber nachdem Snelling sich erst durch seinen eigenen und dann durch meinen Stapel gearbeitet und die Löffel verformt hat, als seien sie aus Gummi, muss ich der unvermeidlichen Wahrheit wohl endlich ins Auge sehen. Ich werde der erste Mensch in Quiver Town sein, der durch das Löffelverbiegerexamen rasselt. Genau die Art von Auszeichnung, auf die ich nicht sonderlich scharf bin.

Mit einem leichten Nicken zieht Professor Snelling eine Taschenuhr aus seinem Gewand. Als er dagegentippt, stellen sich alle Wanduhren auf 12 Uhr. Der Countdown läuft.

Der Sekundenzeiger bewegt sich mit einem hörbaren »Ticktack, ticktack« vorwärts, und ich schließe die Augen, um innerlich alles Schritt für Schritt durchzugehen. Zuerst stelle ich mir einen großen Kreis vor, und da meine Erwartungen nicht sonderlich hoch sind, ist es kein perfekter Kreis. Die Seiten sind nicht ganz rund, die eine wölbt sich etwas nach außen, die andere ist etwas nach innen gedrückt – ein Kreis eben, den selbst weniger talentierte Schüler hinbekommen sollten. Dann folge ich der Liste von Dingen, die mir die letzten paar Monate eingetrichtert wurden.

Ich fokussiere.

Konzentriere mich.

Und glaube aus tiefstem Herzen an diesen schiefen Kreis.

Und dann …

… passiert etwas Außergewöhnliches.

Etwas, das fast zu gut ist, um wahr zu sein.

Der Löffel, der eben noch gerade war, beginnt sich zu krümmen!

Da meine Augen geschlossen sind, kann ich es nicht sehen, aber irgendwie weiß ich einfach, dass dieser störrische Metallstab vor mir auf magische Weise endlich nachgibt. Und ich habe keinen Zweifel daran, dass die anderen das auch tun.

Als die sechzig Sekunden um sind, brummen die Uhren so laut, dass der ganze Raum zu vibrieren scheint. Ich reiße die Augen auf und grinse in freudiger Erwartung.

Bis ich Professor Snellings verzweifelten Blick sehe. Er starrt ungläubig auf den unscheinbaren Löffel, der hier so blöd vor mir liegt. Das Grinsen vergeht mir, als mir etwas klar wird: Welche Bilder ich auch in meinem Kopf vor mir gesehen habe, welche Gefühle ich in meinem Herzen gespürt habe – nichts davon hat einen Weg aus mir heraus gefunden. Der Löffel sieht noch genauso aus wie vorher, und keine meiner Anstrengungen wird ihn jemals davon überzeugen, irgendetwas anderes zu sein.

Snelling lässt niedergeschlagen die Schultern und seinen Bart hängen, selbst sein schnörkeliger Schnauzer scheint sich in die falsche Richtung zu neigen. Die kobaltblauen Spitzen zeigen jetzt nach unten. »Ich verstehe das nicht.« Die Worte purzeln in einem solch trauernden Tonfall aus ihm heraus, dass ich erst jetzt begreife, wie sehr ihn das belastet hat. In seinen Augen sind wir beide für diesen Misserfolg verantwortlich.

Er presst die Lippen aufeinander, sodass von seiner unteren Gesichtshälfte nur noch ein schlapper Schnauzer und ein bärtiges Kinn zu sehen sind.

Ich zupfe nervös an meinen weißen Hemdsärmeln herum und lockere die schlichte schwarze Krawatte um meinen Hals. In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nicht schlechter gefühlt als in diesem Moment.

»Sir«, beginne ich, weil er wissen soll, dass er trotzdem ein großartiger Lehrer ist und ihn überhaupt keine Schuld trifft.

Doch bevor ich weitersprechen kann, ploppen seine Lippen wieder an ihren ursprünglichen Platz zurück und er sagt: »Grimsly –«

Jetzt fummele ich an den schwarzen Anzugknöpfen und mache mich innerlich auf alles gefasst. Am meisten hoffe ich allerdings, dass er mir nicht vorschlägt, es noch einmal zu probieren. Man sollte immer wissen, wann es besser ist aufzuhören. Manchmal ist Kapitulation die einzige Lösung.

»Vergiss nie, dass du deine eigenen einzigartigen Fähigkeiten besitzt. Dein eigenen Aufgaben und Ziele.« Seine Stimme klingt überzeugend und er fixiert mich mit seinem Blick. »Du musst sie nur entdecken. Und da du einer der meistverehrten und -respektierten Bürger von Quiver Town bist, gibt es überhaupt keinen Grund, dass du dich schlecht fühlen musst wegen …« Er macht eine abschätzige Handbewegung in Richtung des beschämenden Stapels unverbogener Löffel, als wäre das alles egal. Es ist wirklich nett von ihm, dass er mir ein gutes Gefühl geben will, indem er so tut, als hätte ich einzigartige Fähigkeiten, die nur entdeckt werden müssten. Aber wir wissen beide, dass das Ausmaß meines Versagens enorm ist.

Eine schwere Stille legt sich über uns. Ich möchte so gern etwas sagen, doch mir fällt kein einziges Wort ein, das diesen Moment weniger enttäuschend machen würde.

Und ausgerechnet in dieser Situation bricht er das Professor-Schüler-Abkommen, an das wir uns im Unterricht stets halten. Für einen kurzen Augenblick ist er wieder mein Ziehvater, der sich um mich kümmert, seit ich klein bin.

»Jetzt geh!« Er klopft mir mit seiner juwelengeschmückten Hand tröstend auf die Schulter. Aber wenn man bedenkt, wie sehr ich ihn enttäuscht habe, fühle ich mich nur noch schlechter. »Und beeil dich. Sonst kommst du noch zu spät zu deiner eigenen Beerdigung!« Seine Augen blitzen, und obwohl ich sonst immer über diesen Witz lache, kann ich heute nicht mal so tun, als ob.

Das Außergewöhnliche an mir ist, dass ich Quiver Towns erster, führender und einziger Tierbestatter bin. Ich genieße alle Vorteile, die dieser Job mit sich bringt – in erster Linie den großen Wirbel, den alle um mich machen. Aber in Wirklichkeit ist das gar nicht so außergewöhnlich. Schließlich tue ich nichts anderes, als einen schwarzen Anzug zu tragen und die richtigen Worte für die Gedenkfeier eines verstorbenen Hamsters/Goldfischs und/oder einer Schildkröte zu finden. Dafür braucht man keine Schwänze, Schuppen oder übernatürlichen Fähigkeiten. Es ist gewollt außergewöhnlich im Gegensatz zu echt außergewöhnlich, und deshalb zählt es nicht.

»Lässt du bitte gleich den nächsten Schüler herein? Ich habe noch ein paar Prüfungen vor mir.« Die Stimme meines Ziehvaters reißt mich aus meinen Gedanken zurück in die Gegenwart.

Er dreht sich um und wirft seinen langen, blauen Zopf über die Schulter, der auf einer hellgrünen Schärpe landet. Dann begradigt er seinen Stapel von Löffeln (bei meinem nicht nötig), während ich mir meine Tasche schnappe und die Tür für das nächste Kind in der Reihe öffne.

»Hey, Grimsley!« Mein Klassenkamerad begrüßt mich mit einem Enthusiasmus, den ich nicht länger verdiene. »Wie ist es gelaufen? Hast du alle Löffel verbogen?« Er hat dieselbe Frisur wie ich, er trägt einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd, eine schwarze Krawatte sowie eine Umhängetasche – genau mein Outfit. Und das ist keine Schuluniform, sondern einfach meine Art, mich zu kleiden. Neulich ist mir aufgefallen, dass ein paar Kinder diesen Look kopieren. Der Junge grinst so breit, dass seine Schnurrhaare zucken und zwei riesige, nach vorn stehende Schneidezähne zutage treten.

Ganz offensichtlich bewundert er mich, weshalb ich versuche, cool zu sein und so zu tun, als wäre mein Prüfungsergebnis nicht weiter der Rede wert. Allerdings konnte ich noch nie besonders gut lügen. Es überrascht mich also nicht, dass ich mich beim Grimassenschneiden erwische, als ich mein Spiegelbild in der Glastür sehe. Das Nichtvorhandensein irgendwelcher körperlichen Besonderheiten – meine glatten, braunen Haare, meine dunkelblauen Augen und eine Reihe unspektakulärer Zähne, die sehr gut in meinen Mund passen – macht mich zur langweiligsten Person weit und breit. Dieser Junge muss verrückt sein, wenn er mich nachahmen will.

»Ich kann nicht glauben, dass ich nach dir dran bin«, fährt Hasenzahn fort und klammert sich hartnäckig an eine weitverbreitete Meinung, die einfach nicht stimmt. Noch nie stimmte.

Ich bin nicht besonders.

Ich bin nicht begabt.

Ich bin auf keine denkbare Art und Weise bemerkenswert.

Und so hart es auch ist, aber es lässt sich nicht länger leugnen, dass ich nicht hierher gehöre.

Ich seufze schwer, betrachte ein letztes Mal die zuckenden Schnurrhaare und die strahlend weißen Hasenzähne und trete dann durch die Tür.

Während ich in den immerwährenden Dunst aus Nebel und Wolken spähe, der über unserer Stadt liegt, frage ich mich wieder einmal, warum manche Menschen so einzigartig auf die Welt kommen und ich nicht aus der Haut meines langweiligen Ichs kann.

Kapitel 2 Sweetcrafts Süßigkeitenhöhle

Ich bin der Tierbestatter, erinnere ich mich selbst, weil ich die Hoffnung habe, dass mich ein wenig Zuspruch aufheitert. Ich bin überall bekannt und überall beliebt. Verdammt, es gibt zig Kinder, die mich vergöttern, sich anziehen wie ich, so sein wollen wie ich …, obwohl ich überhaupt nicht weiß, warum.

Vielleicht, weil Snelling mein Ziehvater ist, und Snelling ist so ziemlich die wichtigste Person der Stadt.

Oder es ist wegen meines Jobs und der Tatsache, dass ich etwas tue, auf das noch niemand vor mir gekommen ist.

Es könnte sogar deshalb sein, weil ich einen Friedhof besitze, der nach mir benannt ist.

Aber am wahrscheinlichsten ist es, dass in einer Stadt, in der jeder irgendeine magische oder übernatürliche Fähigkeit besitzt, ein Langweiler wie ich einfach total heraussticht.

Daran habe ich mich gewöhnt. Und während ich es einerseits durchaus zu schätzen weiß, dass immer alle versuchen, mir Mut zu machen, mich freundlich zu behandeln und mir das Gefühl geben, ein wichtiger Teil der Gesellschaft zu sein, wäre ich andererseits viel lieber so unauffällig, dass ich mich einfach so einfüge.

Ich glaube, dass ich schon immer anders war. Was komisch ist, weil ich hier geboren wurde und aufgewachsen bin wie alle anderen. Ich esse dasselbe und trinke dasselbe Wasser, und deshalb frage ich mich, wie es sein kann, dass ich bei all der Magie im Angebot irgendwie nichts davon abbekommen habe.

Und um das mal deutlich zu sagen – nicht alle hier haben Hasenzähne und Schnurrhaare oder mit glitzernden Schuppen bedeckte Körper. Zwei meiner engsten Freunde, Ollie und Ming, sehen mehr oder weniger normal aus. Aber weil Ollie praktisch seit seiner Geburt Löffel verbiegen kann und Ming eher schweben als laufen konnte, würde man sie wohl kaum als gewöhnlich bezeichnen. Ich bin der Einzige, der diesen Ruf genießt.

Auf dem Marktplatz tobt das Leben. Die Vorbereitungen für die jährliche Examensfeier heute Abend sind in vollem Gang und alle berichten aufgeregt von ihren Abschlussprüfungen.

Wie immer habe ich alle meine Prüfungen der letzten Woche mit »sehr gut« abgeschlossen. Doch in einer Stadt wie dieser zählen die mystischen Künste am meisten. Nach dem Seiltanzen in der vierten Klasse (habe ich gerade so bestanden) und dem Gedankenlesen in der fünften Klasse (habe ich nicht bestanden) folgt für jeden Jahrgang in der sechsten Klasse Snellings Löffelverbiegerprüfung. Diejenigen, die bestehen, gehen weiter auf die Manifestierer-Akademie. Die anderen … na ja, bislang ist noch niemand durchgefallen.

Eigentlich dürfte mich mein Versagen gar nicht so überraschen. Es gab keinen einzigen Hinweis darauf, dass das Gegenteil eintreten würde. Trotzdem habe ich mich wahrscheinlich an die Hoffnung geklammert, dass dieses eine Mal ein kleines bisschen Magie auf mich abfärben würde.

Irgendwo in der Nähe ruft ein Junge meinen Namen. Ich blicke die Straße entlang und sehe ein Kind mit hellgrünem Schwanz, das eine Umhängetasche trägt und aufgeregt winkt.

»Grimsly! Hey – Grimsly! Hier drüben!«, ruft er, als wäre ich jemand Wichtiges – so wichtig, dass er nicht einfach nur für sich aufgeregt ist, sondern für mich gleich mit. »Wie war die Löffelverbiegerprüfung?«

Ich weiß, dass er es nur nett meint, deshalb winke ich ihm kurz zu, ziehe dann aber den Kopf ein und eile durch die gepflasterten Straßen. Das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, ist eine Unterhaltung, für die ich noch nicht bereit bin.

Ich rase an einer langen Reihe deformierter Ladenfronten vorbei. Einige haben sich durch den permanenten Dunst aus Nebel und Wolken verzogen, während andere gewollt so aussehen – mit schiefen Fenstern und kleinen Eingangstüren, bei denen die meisten normal großen Leute den Kopf einziehen müssen.

Für einen Außenstehenden sieht dieser Ort wahrscheinlich genauso seltsam aus wie seine Leute. Aber da nie irgendwelche Außenstehenden herkommen, kann ich es nicht sicher sagen. Ich weiß nur, dass ich mir selbst nicht mal erlaube, auch nur einen Blick in Sweetcrafts Süßigkeitenhöhle zu werfen, was wohl mein absoluter Lieblingsladen ist.

Ich bin schon fast auf dem Weg nach Hause, als sich ein sehr dünner Arm aus einer geöffneten Tür schiebt und mich ein paar extralange Finger am Ärmel packen.

»Grimsly«, ruft eine schrille Stimme grüßend. Ich erkenne, dass sie zu Mr Sweetcraft gehört, dem Besitzer der Süßigkeitenhöhle. »Du kommst genau richtig.«

»Genau richtig für was?« Ich bleibe vor seinem Laden stehen. Ich mag Mr Sweetcraft – jeder tut das –, aber ich habe gleich eine Tierbestattung. Da Tierbestattungen der einzige Bereich sind, in dem ich gut zu sein scheine, möchte ich sie ungern verpassen.

»Genau richtig, um meine neueste Kreation zu probieren«, sagt er.

Bevor ich höflich ablehnen kann, verschwindet sein Arm wieder im Laden und zieht mich gleich mit. Und plötzlich befinde ich mich in der funkelnden Höhle, die komplett aus Süßigkeiten gemacht ist.

Glitzernde silberne Wände, die mit kristallisiertem Zucker überzogen sind, und die gewölbte Decke mit bunt schimmernden Süßigkeitenstalaktiten – egal, wie oft ich hier bin, dieser Ort verliert nichts von seiner Faszination.

Ich folge Mr Sweetcraft zu einer kleinen, blauen Brücke, die auf die andere Seite des Karamellwasserfalls führt, der in einen flimmernden See aus weißer Schokolade fließt.

»Bedien dich!« Er fährt einen seiner Finger in Richtung einer Fledermaus aus, die genau neben mir kopfüber an der Wand hängt.

»Ich stehe nicht so auf Lakritz«, erkläre ich.

»Dann hast du Glück. Die ist nicht aus Lakritz gemacht.«

»Aus was dann?« Ich studiere die zwei leuchtend roten Kugeln, die die Augen der Fledermaus darstellen.

»Streng geheim!« Mr Sweetcraft dreht sich zu mir um und legt einen Finger auf die Lippen. Seine extralangen Wimpern streifen mit jedem Blinzeln seine Stirn und seine Wangen.

»Ich glaube, ich nehme lieber eine von den Spinnen.« Ich zupfe eine Spinne aus Milchschokolade von der Wand und stecke sie mir in den Mund. Ich reiße überrascht die Augen auf, als sich ihre Beine auf meiner Zunge bewegen.

»Die ist auch neu.« Er grinst. »Ich nenne sie Krabbelspinne. Wie findest du das?«

Sie ist lecker, keine Frage – trotzdem muss ich mir immer wieder sagen, dass sie nur aus Schokolade ist, um sie komplett runterschlucken zu können.

»Sehr realistisch.« Ich wische mir mit dem Handrücken über die Lippen, um das letzte Kribbelkrabbelgefühl loszuwerden. Ich wende mich gerade zum Gehen, als Mr Sweetcrafts Arm vorschnellt und mich festhält.

»Das ist aber nicht die neueste Kreation«, sagt er. »Sondern diese hier.«

Er zieht mich zu sich heran und präsentiert etwas, das wie ein normales hellblaues Kaugummi aussieht. Auch wenn nichts in der Süßigkeitenhöhle das ist, wonach es aussieht. Und da ich bereits das Glück hatte, eine seiner früheren Kaugummikreationen zu testen, bin ich zugegebenermaßen ziemlich gespannt auf diese hier.

»Es funktioniert genau wie die anderen«, erklärt er mir. »Trotzdem wirst du einen großen Unterschied feststellen.«

Er reicht mir das Kaugummi und ich nehme es, ohne zu zögern.

»Du musst es richtig gut durchkauen.« Er beobachtet mich in freudiger Erwartung. »Dann, wenn es schön weich und formbar ist, mach die größte Blase, die deine Lungen hergeben.«

Mein Kiefer arbeitet hart. Beim letzten Mal hatte ich ein gelbes Kaugummi. Als ich damit eine Blase gemacht habe, erschien ein limettengrüner Frosch darin und hüpfte herum. Dann ließ Mr Sweetcraft die Blase mit einem Süßigkeitenstalaktiten platzen und der Frosch sprang in der Gegend herum. Ich habe die nächsten zehn Minuten damit verbracht, Kaugummifetzen von meinen Klamotten und meinen Wangen zu zupfen.

»Das muss ich noch verbessern«, hatte er nur gemeint und mir beim Saubermachen geholfen.

Meine Freunde glauben, dass jede Farbe für eine andere Überraschung steht. Wenn man mit dem pinkfarbenen Kaugummi eine Blase macht, befindet sich eine Brille darin, mit der man noch einmal die tollsten Momente seines Lebens durchleben kann. Das lilafarbene beinhaltet einen Kartensatz, der sich von selbst mischt und verteilt. Ich kann es also kaum erwarten, was das blaue Kaugummi zu bieten hat.

»Bist du bereit?« Er klatscht aufgeregt in die Hände.

Ich drücke das Kaugummi flach gegen den Gaumen, schiebe es dann an den Schneidezähnen entlang und ziehe es mit der Zungenspitze ein bisschen zurecht.

»Sei vorsichtig …« Mr Sweetcraft hält die Luft an und beobachtet mich ganz genau.

Langsam beginne ich mit der Blase. Mit fast schon schielendem Blick beobachte ich, wie sie größer und größer wird.

»Noch ein bisschen«, drängt er.

Ich weiß nicht, wie viel Luft noch hineingeht. Die Blase berührt inzwischen fast den Boden und ist – soweit ich das beurteilen kann – leer.

»Ich … ich verstehe das nicht.« Mr Sweetcraft schaut zwischen der Blase und mir hin und her. »Ich habe zig Testläufe gemacht. Das ist noch nie passiert. Nicht ein einziges Mal.«

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe eine riesengroße Blase ohne Inhalt vor meinem Gesicht.

Soll ich sie zerplatzen lassen?

Soll ich versuchen, sie wieder in meinen Mund zu saugen?

Ich sehe Mr Sweetcraft fragend an, aber er ist zu sehr von seiner Verzweiflung über das Kaugummiversagen eingenommen.

»Es funktioniert immer. Es ist noch nie danebengegangen. Alle Tests, die ich durchgeführt habe – und glaub mir, es waren viele –, waren erfolgreich.«

Ich nicke verständnisvoll, während meine Augen ihn anflehen, mir einen Hinweis zu geben, wie ich jetzt weitermachen soll.

»Ich kann es mir einfach nicht erklären.« Sein orangefarbener Haarschopf fällt in sich zusammen. Niedergeschlagen lässt er seine schmalen Schultern sinken. Mit einem schwachen Kopfschütteln sticht er eine Nadel in die Blase, und ich sehe sie verschwinden, als wäre sie nie da gewesen.

»Aber diesen Teil haben Sie perfektioniert«, sage ich, auch wenn ich nicht weiß, ob er es gehört hat. Er ist zu sehr in Trauer über das missglückte Süßigkeitenexperiment versunken. »Sie sollten nicht aufgeben. Probieren Sie es noch einmal. Vielleicht war das Stück Kaugummi einfach nicht so geeignet.«

Meine Bemühungen, ihn aufzuheitern, scheinen gar nicht zu ihm durchzudringen. Also lasse ich mich selbst hinaus und mache mich auf den Nachhauseweg. Hätte ich ihm von meiner verpatzten Prüfung erzählen sollen? Vielleicht hatte dieser Misserfolg (keine Ahnung, wie genau, aber irgendwie) Einfluss auf die Kaugummivorstellung? Vielleicht kann sich ja ein Misserfolg vervielfachen.

Ich laufe durch den Park und freue mich, wie der immerwährende Nebelschleier umherwabert, wenn meine Arme und Beine ihn berühren, als mir eine Menschenansammlung vor der Verfrorenen Bucht auffällt. Sie stehen so eng beieinander, dass ich nicht erkennen kann, warum sie in heller Aufregung sind.

An jedem anderen Tag würde ich keine Sekunde zögern und nachfragen. Aber nach dem unerwarteten Abstecher in die Süßigkeitenhöhle habe ich keine Zeit. Genau wie Snelling vorhin gewitzelt hat: Ich will wirklich nicht zu spät zu meiner eigenen Beerdigung kommen.

Also laufe ich weiter und meine zu hören, dass jemand »Die Verfrorene Bucht kocht über!« brüllt. Aber das kann überhaupt nicht sein.

Die Verfrorene Bucht ist immer kühl. Das war schon immer so.

Genau wie die Kreiselfälle im Kreis fließen und einige Leute mit spitzen Elfenohren oder Löffelverbiegerfähigkeiten geboren wurden.

Alles andere ist komplett unwahrscheinlich.

Eine verpatzte Löffelverbiegerprüfung und ein nicht funktionierendes Kaugummi bedeuten nicht das Ende der Welt.

Ich schiebe den Gedanken beiseite und rase nach Hause. Schließlich habe ich eine Tierbestattung abzuhalten. Alles andere kann warten.

Kapitel 3 Innig geliebter dahingeschiedener Goldfisch

»In inniger Liebe sind wir heute hier zusammengekommen, um des überraschend langen und denkwürdigen Lebens von Mr Wiggles, dem Goldfisch, zu gedenken. Als Black-Moor-Goldfisch war Mr Wiggles bekannt für seine samtige, dunkle Farbe, seine Teleskopaugen, seine schlechte Sehkraft und seinen langsamen Schwimmstil, der den Eindruck erweckte, als würde er durch sein Aquarium schlängeln …«

 

Ich schwafele vor mich hin, die Worte gehen mir leicht über die Lippen. Doch dann schweifen meine Gedanken plötzlich ab. Die Predigten sind immer ziemlicher Standard. Aber jetzt, wo ich die Löffelverbiegerprüfung verhauen habe, hat die Gedenkfeier eine größere Bedeutung als je zuvor. Da Tierbestattungen mein einziges Spezialgebiet sind – das, was mich von allen anderen unterscheidet –, habe ich das Gefühl, alles geben zu müssen.

»Aufgrund seines besonderen Schwimmstils kam Mr Wiggles oft als Letzter an sein Futter heran. Aber zum Glück gab es Albie, der sich liebevoll um ihn kümmerte. Nachdem Albie das Problem erkannt hatte, setzte er Mr Wiggles in sein eigenes Aquarium, wo er wuchs und gedieh und seine früheren Aquariumskollegen sogar um einige Jahre überlebte …«

Ich werfe einen Blick auf Albie. Seine hervorstehenden, goldfischartigen Augen sind mit Tränen gefüllt, genau wie an dem Tag, als er mich um eine angemessene Abschiedsfeier für Mr Wiggles gebeten hatte.

»Es ist, als hätte ich einen Bruder verloren«, sagte er. »Vielleicht sogar einen Zwillingsbruder. Hilfst du mir?«

Natürlich sagte ich zu. Tu ich immer. Auch wenn es seltsam ist, dass eine eigentlich einmalige Sache – nämlich die Beerdigung meiner Maus Merlin, die starb, als ich acht Jahre alt war – plötzlich zu dem wurde, wofür ich jetzt bekannt bin.

Albies zitternde Finger halten den winzigen Sarg in Fischform umklammert. Er schnieft so laut, dass ich ihm ein Taschentuch reiche, ohne meine Rede zu unterbrechen.

»… Mr Wiggles, wir danken dir für die Freude, die du in das Leben deiner Liebsten gebracht hast. Und jetzt ist es an der Zeit, Abschied zu nehmen. Leb wohl, alter Freund – bis wir uns wiedersehen!«

Nach einem dezenten Nicken in Richtung Band lassen die Hornbläser eine schwermütige Melodie erklingen. Ich nehme Albie die kleine Schachtel ab und stelle sie in das Loch, das ich heute Morgen gegraben habe, als ich über den Summerfield-Rasen zur Schule gelaufen bin. Albie kniet sich hin, um etwas Erde in Mr Wiggles’ Grab zu schaufeln. Und als die restlichen Trauergäste vortreten, um dasselbe zu tun, fällt mir erneut auf, dass viele genauso angezogen sind wie ich.

Ein Mädchen, dessen Beine mit glänzenden Schuppen bedeckt sind, zieht eine Packung Fischfutter aus seiner Umhängetasche, streut es auf den Erdhaufen und reicht die Packung dann an den Jungen zu seiner Rechten weiter. Es ist nicht ganz einfach für ihn, sie zu greifen, weil seine Hände wie ziemlich große Hummerscheren geformt sind, bei denen die Außenfinger zusammengewachsen sind und der Mittelfinger fehlt.

Der Junge dreht sich um und sieht mich an – ich habe Mühe, ihn einzuordnen. Von seiner hochgezogenen Kapuze, die ihm tief in die Stirn hängt, ist sein halbes Gesicht bedeckt. Einen Augenblick später fragt Albie: »Wie schnell kann ich mir einen neuen besorgen?«, und der Junge mit den ungewöhnlichen Händen ist fast vergessen.

Albie wischt sich die Hände an der Hose ab und sieht mich mit diesen riesigen, runden, wässrigen und hervorstehenden Augen an. »Bei allem Respekt für Mr Wiggles … ich hatte einfach immer einen Fisch. Ich hatte niemals keinen Fisch. Und deshalb habe ich irgendwie Angst, ihn zu ersetzen.« Er wirft einen schuldbewussten Blick auf das Grab seines geliebten Haustiers. »Aber glaubst du, dafür ist es zu früh?«

Für einen Tierbestatter gehört es sich, zuzuhören, mitzufühlen und manchmal auch, den Trauernden einen Rat zu geben. Das ist ein Teil des Jobs, den ich sehr ernst nehme.

Ich ruckele meine Krawatte zurecht, bis sie genau auf der langen Knopfreihe meines Hemds liegt. Dann sehe ich ihn an und sage: »Ich sehe darin kein Problem. Ich denke, dass Mr Wiggles deinen Wunsch nach einem neuen Fischfreund verstehen würde.«

Der Junge wischt sich über die Augen und geht davon – nur um einen Moment später kehrtzumachen und zu sagen: »Oh, das habe ich fast vergessen – hier.« Er zieht eine kleine Schachtel aus seiner Tasche hervor und reicht sie mir. »Das ist aus Mr Wiggles’ Aquarium.« Er deutet auf das »Fischen verboten«-Schild, das sich darin befindet. »Ich wollte es dir überlassen. Von allen Deko-Elementen fand er das am besten. Für einen Fisch hatte er einen ziemlich guten Sinn für Humor.«

Ich blicke ihm hinterher und lasse das Schild in die Innentasche meines Anzugs gleiten. Später werde ich es auf den wachsenden Stapel von Hundeleinen, Bällen, Kautieren und Hamsterrädern legen – den Schrein der Erinnerung aller Haustiere, die in den vergangen drei Jahren gestorben sind. So lange biete ich diese Dienstleistung nämlich schon an. Und für einen kurzen Moment frage ich mich, ob mein Versagen vielleicht doch gar nicht so schlecht ist.

Vielleicht hat Snelling recht.

Vielleicht habe ich wirklich andere, bessere Fähigkeiten, die bislang inaktiv waren, aber bald entdeckt werden.

Außerdem ist Snelling nicht der Typ, der mit meiner verpatzten Prüfung hausieren geht. Also wird es vielleicht niemals jemand herausfinden.

»Wir wissen über deine Prüfung Bescheid.«

Ich drehe mich um und entdecke Ming, die unter ihrem gerade geschnittenen, dunklen Pony hervor auf mich herabsieht. Ihre Füße stecken in Ballerinas (ich habe sie noch nie andere Schuhe tragen sehen) und schweben ein paar Zentimeter über dem Boden.

Penelope steht ruhig neben ihr. Mit ihrer blassen Haut und dem dunklen Kleid aus Samt und Spitze ist sie eine ziemlich geisterhafte Erscheinung, aber dazu zwirbelt sie sich noch eine rote, gelockte Haarsträhne um ihren Zeigefinger. Ihre Augen – eines blau, das andere grün – fixieren mich.

»Wir wissen alles darüber«, fährt Ming fort, und als ich ihren Gesichtsausdruck sehe – die Art, wie sie ihre dunklen Augen verengt und ihre Mundwinkel nach unten wandern –, wird mir klar, dass ich mir die ganze Zeit etwas vorgemacht habe. In einer kleinen Stadt mit sehr merkwürdigen Menschen, die übernatürliche Fähigkeiten besitzen, ist es unmöglich, Geheimnisse für sich zu behalten.

»Ignorier sie einfach.« Ollie wirft Ming einen bösen Blick zu und sieht mich aufmunternd an. »Alles okay bei dir, Grimsly?«, fragt er. Als direkter Nachfahr von Yegor Quiver hat Ollie das wilde, gewellte blonde Haar, die dunklen Augen und die olivfarbene Haut seines Ururgroßvaters geerbt. Und laut seiner Mutter hat er praktisch von Geburt an eine wahnsinnige Begabung in Sachen Löffelverbiegen an den Tag gelegt. Immer, wenn sie versuchte, ihn zu füttern, verbog er den Löffel so, dass das Essen in ihrem Schoß und nicht in seinem Mund landete.

Er sieht mich erwartungsvoll an und auch Penelope und Ming lehnen sich interessiert nach vorn.

Aber in Wahrheit habe ich keine Ahnung, was ich sagen soll. Sie sind meine besten Freunde, deshalb weiß ich, dass sie es nur gut meinen, aber das macht es auch nicht einfacher.

Ollie besitzt Wahnsinns-Löffelverbieger-Fähigkeiten (er kann zwei Stapel Löffel in weniger als einer Minute verbiegen), Ming kann ballerinahaft schweben (sie schwebt nicht einfach nur durch die Luft, sie dreht sich und wirbelt herum und vollführt atemberaubende Grands Jetés, die sie für eine lange Zeit halten kann), und Penelope besitzt nicht nur Elfenohren, sondern auch eine telepathische Begabung – damit sind die drei auf so erstaunliche Weise sonderbar, dass sie unter keinen Umständen verstehen würden, wie es ist, so langweilig und normal zu sein wie ich.

So gut wie jeder geht davon aus, dass Ollie eines Tages Professor Snellings Platz einnehmen und die nächste Generation von Löffelverbiegern unterrichten wird.

Auf der einen Seite freue ich mich und weiß, dass es das einzig Sinnvolle ist, aber auf der anderen Seite habe ich irgendwie immer gehofft, dass diese Aufgabe an mich weitergegeben würde. Wahrscheinlich klingt das verrückt, weil ich ja nicht richtig mit Snelling verwandt bin, aber seitdem meine echten Eltern tot sind, ist er für mich wie ein Vater. Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben, und ich habe mich deshalb immer schuldig gefühlt, obwohl Snelling mir versichert, dass mich keine Schuld trifft. Dann, zwei Jahre später, starb mein Vater an einem gebrochenen Herzen. Er war so verzweifelt über den Verlust meiner Mutter, dass sein Herz einfach aufgehört hat zu schlagen.

Snelling meint, er habe mich über den Summerfield-Rasen krabbeln sehen und ich sei von einem Knäuel bunter Hasen begleitet worden. Er habe keine Ahnung gehabt, wie ich dorthin gekommen sei, aber er sei dazu bestimmt, mir über meine tragische Vergangenheit hinwegzuhelfen. Und ohne zu zögern, hat er sich der Aufgabe angenommen, mich großzuziehen, und seitdem habe ich ihn Dinge mithilfe seiner Gedanken verbiegen sehen.

Verdammt, ich bin im größten verdrehten Haus aus Holz und Metall dieser Stadt groß geworden. Wenn man sich das alles vor Augen führt, sollte man doch meinen, dass wenigstens ein bisschen seines Talents auf mich abgefärbt hätte.

Ganz offensichtlich lag ich damit falsch.

»Ich habe es gesehen«, sagt Penelope und der Klang ihrer Stimme erschreckt mich. Als Telepathin ist ihr Vokabular sehr eingeschränkt. Außerdem spricht sie nicht oft.

»Sie hat jetzt immer Visionen«, erklärt Ming. »Und eine handelte von dir.«

»Ich kann für mich selbst sprechen.« Penelope verdreht das blaue Auge, während das grüne stehen bleibt. »Ich hatte eine Vision«, wiederholt sie, kann aber nicht mehr dazu sagen. Ming kriegt einen hysterischen Anfall, woraufhin Penelope ein finsteres Gesicht macht.

»Was denn für eine Vision?«, frage ich. »Meinst du so was wie eine Fernwahrnehmung? Du hast mir von Weitem hinterherspioniert?« Ich frage mich, welche Folgen diese neue Enthüllung hat. Vor langer Zeit haben wir abgemacht, dass das Gedankenlesen zwischen Freunden aus verschiedenen Gründen streng verboten ist. Aber ein Fernwahrnehmer – jemand, der Ereignissen zusehen kann, ohne selbst dabei zu sein – wäre noch viel schlimmer. Bis jetzt war niemand meiner Freunde dazu in der Lage, aber könnte es sein, dass Penelope diese Fähigkeit entwickelt hat?

»Entspann dich.« Ming wirft Penelope einen zaghaften Blick zu, bevor sie weiterspricht. »Es ist nicht das, was du denkst.«

»Niemand liest die Gedanken des anderen«, versichert Ollie mir. »Du weißt doch sicher, dass sie mithilfe von Worten und Bildern kommuniziert, oder?« Er nickt Penelope anerkennend zu.

Ich zucke mit den Schultern. Da ich keine übernatürlichen Fähigkeiten besitze, weiß ich es nicht genau. Im Gegensatz zu allen anderen konnte ich noch nie eines von Penelopes Gedankengemälden empfangen. Aber seitdem mir alle versichert haben, dass diese Bilder atemberaubend sind, gehe ich einfach davon aus, dass das stimmt.

»Na ja, jetzt empfängt sie plötzlich aus heiterem Himmel Bilder«, sagt Ming. »Und obwohl sie sich nicht sicher ist, woher sie kommen, war ich dabei, als es geschah und –«

»Und wir wussten nicht, ob es stimmt, bis wir dich trafen«, beendete Ollie ihren Gedanken.

»Sie hat ein Bild deines Gesichts gesehen – wie ein Ölgemälde, ein Porträt«, übersetzt Ming für Penelope. »Deine Augen waren dunkel und hohl, deine Mundwinkel hingen