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PETER HOLZER

Mut braucht eine
Stimme

Wie Sie Ihrem Leben Wirkung geben

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-797-2

ISBN epub 978-3-95623-521-4

Lektorat: Ulrike Hollmann, Hambergen

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de

Titelfoto: hxdyl / iStock

Autorenfoto: Teresa Rothwangl, Köln

©2017 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Das E-Book basiert auf dem 2017 erschienenen Buchtitel "Mut braucht eine Stimme" von Peter Holzer, ©2017 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

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Für Alina und Eryk

Inhalt

Klare Worte

Teil I: Stumm sein

1. Mitten im Tornado

2. Verschwendete Zeit

3. Alles weichgespült

Teil II: Laut werden

4. Raus aus der Sackgasse

5. Den Horizont finden

6. Im Tal der Tränen

7. Vom Wunsch zur Wirklichkeit

Teil III: Gehör finden

8. Abkürzen durch Umwege

9. Von der Glühbirne zum Laser

10. Sag, was ich nicht hören will

Vom Frosch zum Prinzen

Anhang

Lesestoff

Über den Autor

Klare Worte

Hinter dem Garten meines Elternhauses lag ein großes Grundstück. Als ich fünf Jahre alt war, standen dort vorübergehend Wohncontainer für Flüchtlinge. Die Stimmung auf diesem Platz war immer etwas angespannt, ich fürchtete mich davor.

Eines Nachts wurde ich aus dem Schlaf gerissen: Eine Kinderstimme hatte mich geweckt. Sie wimmerte und rief voller Angst. Ich stand auf, tappte barfuß durch das dunkle Haus zu meinen Eltern und weckte sie. Mein Vater ging mit mir auf den Balkon, von dem aus man über den Zaun auf das Grundstück schauen konnte.

Drüben schien ein Handgemenge im Gange zu sein. Ich konnte nichts sehen, denn ich war zu klein, um über das Geländer zu lugen. Aber die immer lauter werdenden Stimmen ängstigten mich. Mein Vater, der sonst in der Öffentlichkeit eher zurückhaltend war, straffte seinen Oberkörper und brüllte mit fester Stimme hinüber: »Lassen Sie das Kind in Ruhe!«

Mit einem Schlag herrschte Stille. Dann hörte ich ein Kind davonrennen, kurz danach entfernten sich schwere Schritte langsam in die andere Richtung.

Die klaren Worte meines Vaters hatten Wirkung gezeigt.

Teil I

STUMM SEIN

1. Mitten im Tornado

Lassen Sie mich raten: Ihr Terminkalender ist bestimmt proppenvoll. Auch der Ihres Partners oder Ihrer Partnerin ist voll. Auch der Ihres Nachbarn ist es. Sogar die Kalender Ihrer Kinder sind voll. – Gott sei Dank! Sonst würden Sie und alle um Sie herum ja als Schwächlinge dastehen …

Beschäftigtsein ist zum neuen Statussymbol geworden.

Ernsthaft: Beschäftigtsein ist zum neuen Statussymbol geworden. Wer zugibt, nicht rund um die Uhr etwas vorzuhaben, wird misstrauisch beäugt. Hat der nichts zu tun? Womit verdient er eigentlich sein Geld? Wer zu bequem ist, um die Chancen zu nutzen, die sich heutzutage jedem bieten, entscheidet sich gegen den Erfolg – so die allgemeine Auffassung. Nur wer viel rödelt, vermittelt den Eindruck, dass er sein Leben im Griff hat. Und erhält die entsprechende Anerkennung.

Irgendetwas ist faul am Umgang mit unserer Zeit. Die Etikettierung des Dauerbeschäftigten als Erfolgsmensch und – im Gegensatz dazu – des Menschen mit Zeit als Faulenzer oder sogar als Schmarotzer ist so einfach wie falsch. Das zeigte sich mir schon zu Studienzeiten, als ich als kleiner Praktikant bei einer großen Beratungsfirma in das erste Projekt involviert war.

Hauptsache, als Letzter nach Hause

Ich saß mit meinem Team in dem modernen Geschäftsgebäude, in dem sich unser Büro befand. Es war schon 20 Uhr. Langsam kroch Dunkelheit von draußen durch die bodentiefen Fenster des Großraumbüros. Ein Mitarbeiter nach dem anderen hatte seinen Computer heruntergefahren und war nach Hause verschwunden.

Nur wir Berater saßen noch da.

Und ich fragte mich, warum.

Eigentlich war ich fertig mit meinem Tagewerk. Und müde wurde ich auch, denn irgendwann ist es nun einmal vorbei mit der Konzentrationsfähigkeit. Kein Mensch kann, wenn er zwölf Stunden im Büro sitzt, auch wirklich zwölf Stunden Hochleistung erbringen. Doch wir blieben. Der Projektleiter hatte klargemacht: Wir verlassen dieses Bürogebäude als Letzte.

Meine Kollegen waren wie ich schon lange mit ihrem Tagewerk durch. Und so starrte der eine nachdenklich auf eine Excel-Liste, der andere fummelte an der Blauskalierung der PowerPoint-Präsentation. Von außen gesehen erweckten wir aber den Anschein, immer noch hoch konzentriert mit Daten und Analysen zu hantieren.

Wir sollten zeigen: Wir arbeiten so unglaublich viel. Wir sind unser Geld wert.

Wenn ich mich heute, rund 15 Jahre später, abends mit Freunden treffe, habe ich den Eindruck, dass sich seitdem in der Gesellschaft kaum etwas geändert hat. Nach einem typischen Arbeitstag wirken die Freunde ähnlich erschöpft wie Löwen, die gerade für ihr Rudel einen Büffel erlegt haben. Sie hocken erst mal stumm vor ihrem Drink und wirken leer und müde. Dann beklagen sie sich: »Ich war heute so beschäftigt, dass ich gar nicht mehr weiß, wo vorne und hinten ist. Ich habe telefoniert wie ein Weltmeister, war in fünf Meetings und habe Berge von Mails durchgearbeitet. Aber wenn ich jetzt so überlege, wo ich richtig vorwärtsgekommen bin … fällt mir nichts ein.«

Ohne Ende gerödelt, aber wenig erreicht.

Wir beschweren uns gerne, wie sehr wir beschäftigt waren. Die Klage »Was war das für ein beschissen produktiver Tag« höre ich dagegen nie. Vorherrschend ist das Gefühl, ohne Ende gerödelt, aber wenig erreicht zu haben. Unglaublich beschäftigt zu sein und doch nichts zu bewirken. Es ist, als ob wir in einem Karussell säßen und zu schwach wären, um auszusteigen. Als ob wir von einem Virus infiziert wären. Und tatsächlich leiden wir unter zwei unerbittlichen Krankheitserregern.

Nummer 1: Der Input-Virus

Sie haben ein Ziel, das Sie erreichen wollen. Zum Beispiel: Ihrem Eheleben neues Feuer einhauchen, die Beziehung zu den Kindern intensivieren, Ihre Englischkenntnisse verbessern oder ein paar Kilos abnehmen. Oder im Job den Umsatz steigern, neue Kunden gewinnen, Produktionsprozesse beschleunigen. Das alles ist Output. Am besten wird das mithilfe eines Bildes klar. Stellen Sie sich vor, dieser Output sei ein großer Felsbrocken, den Sie bewegen wollen.

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Das wird einfacher, wenn Sie einen Hebel an diesen Fels ansetzen. Der Hebel ist der Input. Unter Input verstehe ich Aktivität. Telefonieren, verkaufen, sich weiterbilden, einkaufen, ins Museum gehen, essen, lesen, Sport treiben, arbeiten, Fortbildungen besuchen – alles, was aktive Handlung ist. All das wirkt wie ein Hebel, den Sie an den Felsbrocken ansetzen, um ihn zu bewegen. Sie wissen aus Erfahrung, dass es Hebel gibt, die stärker wirken, und Hebel, die schwächer wirken. Wenn Sie zum Beispiel eine Tür aufstemmen wollen, wird Ihnen das mit einem längeren Brecheisen leichterfallen als mit einem kurzen.

Sie brauchen also Input, um auf den »Felsbrocken« einzuwirken – um Ergebnisse zu erzielen. Darum ist Aktivität grundsätzlich richtig und wichtig. Wenn diese Aktivität aber nicht zu Ergebnissen führt, dann hat Ihr Tun keine Wirkung. Wenn Sie sich mit Aktivitäten, die nur eine schwache Hebelwirkung haben, unglaublich beschäftigt halten, hinterlassen Sie trotz allen Rödelns keine Spuren im Leben. Dann haben Sie nichts geschaffen, woraus Sie Befriedigung ziehen könnten.

Vor lauter Input nicht mehr zum Output kommen.

Genau das bewirkt der Input-Virus: dass Sie vor lauter Input nicht mehr zum Output kommen. Der Input überschwemmt Sie, sodass es Ihnen nicht mehr gelingt, die hereinströmende Aktivität sinnvoll zu sortieren, zu priorisieren und vor allen Dingen zu selektieren. Das heißt: Input, der nicht wirkungsvoll ist, gilt es abzustellen. Vor lauter Beschäftigtsein können Sie sich keine Meinung bilden und keine Prioritäten setzen. Ohne eigene Meinung und mutige Entscheidungen werden Sie aber auch keinen herausragenden Output erzielen.

Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie das Wirken des InputVirus in den unterschiedlichsten Lebensbereichen erkennen. Sehen Sie sich die heutige Elterngeneration an: Sie sind mit der gesellschaftlichen Erwartung konfrontiert, ihre Kinder in der optimalen Weise zur Entfaltung zu bringen. Und das nicht erst mit Beginn der Schulbildung, sondern bereits vor der Geburt. Da wird die Mutter angehalten, sich in ganz bestimmter Weise zu ernähren, um den Weg ihres Kindes zum Genie nicht im Keim zu ersticken. Ausgewählte Musikbeschallung wird dabei ebenso empfohlen wie besondere Lichtreize und Sprechübungen.

Spätestens mit der Geburt wird den Eltern nahegelegt, die Bandbreite der Möglichkeiten frühkindlicher Förderung aktiv zu nutzen – das heißt Input nicht nur für die Eltern, sondern auch schon für das Kind. Schlechtes Gewissen inklusive, falls Sie sich womöglich gegen die zweite Fremdsprache in der Grundschule entscheiden.

Apropos Schule: Diese Institution ist ein Input-Virus in Reinkultur, denn für jedes Schulkind ist die Schulstunde exakt gleich lang. Wenn das Kind den Input nach zehn Minuten nicht mehr braucht, weil es bereits alles verstanden hat, darf es nicht etwa gehen oder sich mit einem anderen Thema beschäftigen. Es muss brav und still noch mehr Input der gleichen Sorte über sich ergehen lassen, obwohl dieser an seinem Output nichts mehr verbessert. Ob der ganze Input in der Schule für Erfolg im Leben überhaupt sinnvoll ist, wollen wir an dieser Stelle nicht diskutieren …

Ich gebe offen zu: Gerade in puncto Schule und Hausaufgaben bin auch ich selbst teilweise an der Verbreitung des Input-Virus beteiligt. Ich fühle mich beunruhigt, wenn ich sehe, dass mein Sohn »so wenig« Zeit mit Lernen verbringt. Unsere Auffassungen zum notwendigen Maß sind – wie so oft bei Vater und Sohn – nicht deckungsgleich. Doch wenn ich ehrlich zu mir bin, kann ich anhand seiner am Schreibtisch verbrachten Zeit nicht festmachen, ob sie zu seinem verbesserten Output tatsächlich etwas beitragen konnte. Oder ob er sich nur mir zuliebe für diese halbe Stunde hingesetzt hat, um meine Input-Wut zu befriedigen. Hat er dadurch wirklich etwas gelernt, was er bei der nächsten Klausur brauchen wird? Und noch weiter gedacht: Falls ja, wird ihm das bei der eigenständigen Gestaltung seines Lebens hilfreich sein?

Ich bin skeptisch, zumal ich weiß, dass es auch anders geht. In Finnland geht man schon neue Wege. Das finnische Schulsystem gehört nach seiner Reform zur Weltspitze. Der Schlüssel zum Erfolg? Weniger Hausaufgaben. Weniger Unterricht. Anders formuliert: weniger sinnloser Input.

Den Input-Virus finden Sie in ganz besonderer Ausprägung in der Arbeitswelt, denn die ist klassisch »Input-zentriert«. Wenn Sie eine 40-Stunden-Woche im Arbeitsvertrag stehen haben, heißt das ja zunächst einmal nur: Sie sind 40 Stunden in der Woche körperlich anwesend. Ob Sie aber in dieser Zeit eine Wirkung erzielen – darüber sagt die Stundenregelung nichts aus.

Kennen Sie Mitarbeiter, die bereits um 6 Uhr im Büro sind? Ich würde das verstehen, wenn sie die morgendliche Ruhe nutzen möchten, um konzentriert ein Projekt voranzutreiben. Aber wenn die erste Dreiviertelstunde dafür genutzt wird, um an der Kaffeemaschine zu stehen und mit den anderen Frühaufstehern zu tratschen, dann dient das frühe Erscheinen nur dem Absitzen von Arbeitszeit. Um wirkungsvollen Output geht es nicht.

Oder stellen Sie sich vor, Sie haben Rückenschmerzen und suchen einen Physiotherapeuten auf. Sie freuen sich auf 50 Minuten Behandlung. Stattdessen verabschiedet Sie der Therapeut bereits nach zehn Minuten. Sie schauen ihn fragend an. Er erklärt: »Ich habe die entscheidenden Griffe gesetzt und Ihre Wirbelsäule befreit. In circa einer Stunde sind Sie beschwerdefrei.« Wie reagieren Sie? Empört, weil Sie 50 Minuten bezahlt haben und nur 10 Minuten lang behandelt wurden? Erfreut, weil Sie den Output »beschwerdefrei« mit 40 Minuten Zeitersparnis erreicht haben? Oder sind diese Gedanken eh nur graue Theorie, weil in der Realität alle Therapeuten unter dem Input-Virus leiden und weitere 40 Minuten kneten werden? Ein bisschen hier, ein bisschen da – völlig sinnfrei. Hauptsache, der Patient ist zufrieden.

Der Input-Virus tobt um uns herum und lässt uns nicht zum Luftholen kommen. Und er wird in seiner Wirkung noch verstärkt durch einen zweiten Virus.

Nummer 2: Der Instant-Virus

Wir leben eindeutig im Instant-Zeitalter!

»Ich habe Ihnen vor 20 Minuten eine Mail geschickt und immer noch keine Antwort bekommen«, wiederholt mir ein Manager den Anruf eines aufgebrachten Kunden. Dieser hatte allen Ernstes erwartet, dass der Manager a) seine Mail innerhalb weniger Minuten liest und b) sich sofort an eine Antwort macht, ganz unabhängig davon, was er sonst zu tun hat. Spontan muss ich lachen über diese Erwartungshaltung. Aber das Lachen bleibt mir im Halse stecken. Denn sie ist nicht nur weit verbreitet, sondern normal geworden. Wenn Sie mit Ihrer Antwort zu lange warten, laufen Sie gleich Gefahr, als vermisst gemeldet zu werden. Auftraggeber suchen sich schon alternative Dienstleister und versenden gleich die nächste Anfrage. Seitdem Amazon die Maßstäbe setzt und sich mit der Same-Day-Delivery nun selbst übertrifft, leben wir eindeutig im Instant-Zeitalter (engl. instant = unmittelbar, sofort).

Die Geschwindigkeit hat sich in allen Bereichen erhöht, die Taktzahl steigt und steigt, und die Menschen haben in der Zwischenzeit verstanden, dass sie nur mithalten, wenn sie mitlaufen, wenn sie ihr Leben an diesen Geschwindigkeitsrausch anpassen. Wem der Nachrichtenstrom von Twitter bereits zu schnell ist, wird bei Snapchat völlig den Anschluss verlieren: Hier bleibt die Nachricht nur ein paar Sekunden lang lesbar. Danach löscht sie sich von selbst.

Heiß diskutiert werden in diesem Zusammenhang die veränderten Lesegewohnheiten. Seitdem alles schnell-schnell gehen muss, sehen auch Bücher aus wie Zusammenstellungen von Blogartikeln. Zeitungsartikel werden bald SMS-Form annehmen. Ich schreibe für Focus Online eine Kolumne. Aus den Gesprächen mit den Redakteuren weiß ich, dass alles gemessen wird: Besucherzahlen, Verweildauer, Klickraten. Texte sind ein Produkt, das zu messbarem Output führen muss. Was geklickt wird, wird an prominenter Stelle gezeigt. Wenn der Besucherstrom abreißt, verschwindet der Artikel im digitalen Nirwana. Was bedeutet das für den Verfasser? Der Text sollte bloß nicht zu lang werden, aber auch nicht zu tiefgründig sein und dennoch wertvollen Inhalt liefern. Die Kernbotschaften des Artikels sollten in Zwischenüberschriften zusammengefasst sein. So braucht der Leser nur diese zu scannen. Für Tiefgang hat er keine Zeit. Ich habe noch nie das Feedback bekommen: »Der Text ist zu kurz.« Eher zu lang. Und ich spreche von 3000 Zeichen.

Ähnlich ist es im Mailverkehr. Wenn Sie drei Themen zu behandeln haben, fassen Sie bloß nicht alles in einer E-Mail zusammen! Sprechen Sie jedes Thema in einer eigenen Mail an. Kurz und knackig auf den Punkt. Wenn Sie alles in eine einzige Mail packen, ist die Gefahr groß, dass Sie nur auf einen der drei Punkte eine Antwort bekommen. Der Rest bleibt unbeantwortet, weil ungelesen. Keine Zeit, keine Geduld.

Oder kennen Sie Folgendes? Während Sie telefonieren, hören Sie ein Tippgeräusch im Hintergrund: Ihr Telefonpartner tippt irgendetwas. Er möchte parallel zum Gespräch noch andere Dinge erledigen. Weil ja alles so eilig ist und der weitverbreitete Irrglauben herrscht, dass es die Fähigkeit zum Multitasking gäbe. Natürlich kann er nur noch einen kleinen Teil seiner Konzentration aufbringen für das, was Sie ihm erzählen. Ihr Gespräch ist für die Katz. Denn Ihr Gesprächspartner lässt Sie zwar ausreden, aber er hört Ihnen nicht zu.

Im Business führt der Instant-Virus noch zu einem besonderen Symptom. Laut Statistik kann eine Führungskraft durchschnittlich gerade einmal elf Minuten am Stück arbeiten, bevor sie unterbrochen wird. Aber das ist auch kein Wunder, denn sie fordert von ihren Mitarbeitern, dass alles am besten schon vorgestern fertig sein muss. Und so treiben die Chefs und die Mitarbeiter sich gegenseitig an, um all die parallel laufenden Dinge, die alle besprochen, abgewogen und eruiert werden müssen, möglichst fristgerecht zu erledigen. Der Drang, auf alles sofort eine Antwort zu bekommen, führt zu Dauerunterbrechungen. Selbst vom einfachen Mitarbeiter erwarten die Kollegen, die Kunden, die Dienstleister eine zügige Reaktion. Schließlich will jeder seine Arbeit schnell weiterführen.

Wie viel Tempo kann der Mensch im Leben verkraften?

George Orwell hat 1949 bereits geschrieben: »Wir beschließen, uns rascher zu verbrauchen. Wir steigern das Lebenstempo, bis die Menschen mit 30 senil sind.« Die Frage ist: Wie viel Tempo im Leben kann der Mensch verkraften?

Angesichts des zurzeit geforderten Tempos scheinen viele Menschen bereits Schwierigkeiten zu haben, sich überhaupt noch eine fundierte Meinung zu bilden. Stattdessen reagieren viele reflexhaft, um all die vielen Fragen, die auf sie einstürmen und beantwortet werden wollen, so schnell wie möglich vom Tisch zu haben. Wenn Sie aber keine Zeit haben, alle Argumente zu erfassen, um sich eine eigene Meinung zu bilden, dann verlieren Sie nach und nach das Gefühl, wofür Sie eigentlich stehen. Ihre Werte kommen nicht mehr zum Einsatz und werden vergessen. So einfach ist das. Damit sind Sie gewissermaßen in Ihrer Identität erschüttert. Sie wissen nicht mehr, wer Sie sind, weil Sie sich das selbst schon zu lange nicht mehr gefragt haben. Sie sind es nicht mehr gewohnt, Ihre innere Stimme wahrzunehmen. Wird diese Stimme nicht gehört, verstummt sie. Und mit ihr verstummen auch Sie!

Reden und reden und doch stumm wie ein Fisch im Aquarium.

Nicht dass Sie nichts mehr sagen würden: Aber Sie sagen nur noch das, was andere auch sagen. Oder was andere hören wollen. Oder wovon Sie meinen, dass andere es hören wollen. Oder nur noch das, worüber Sie nicht lange nachdenken müssen, weil Ihnen dazu die Zeit fehlt. Sie reden und reden und sind doch stumm wie ein Fisch im Aquarium, der nur noch von Glasscheibe zu Glasscheibe schwimmt. Um Sie herum ist jedoch alles so schnell in Bewegung und hält Ihre Aufmerksamkeit so gefangen, dass Sie gar nicht bemerken, wie Sie verstummen. Vielleicht macht sich nur ein merkwürdiges, dumpfes Gefühl breit. Oder der Gedanke »Irgendetwas fehlt in meinem Leben«.

Unterschätzen Sie nicht, was das für Ihr Leben bedeutet – die australische Autorin Bronnie Ware hat in ihrem sehr beeindruckenden Buch über Gespräche mit todkranken Menschen einen Punkt formuliert, den Sterbende am Ende ihres Lebens besonders bereuen: »Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben.«

Wenn Sie Ihr eigenes Leben aber nicht leben, vergessen Sie, dass Sie überhaupt so etwas wie eine Stimme haben. Eine innere Stimme, die Sie als Person ausmacht. Sie vergessen ebenso, dass Sie den Mut haben könnten, diese innere Stimme laut werden zu lassen und dem Ausdruck zu verleihen, was sie Ihnen sagt. Das Ergebnis ist ein sich selbst verstärkender Teufelskreis: Je seltener Sie Ihrer inneren Stimme Gehör verschaffen, desto weniger merken Sie, dass Sie eine haben. Und je öfter Sie vergessen, dass Sie eine haben, desto ratloser stehen Sie vor den einfachsten Entscheidungen. Sie werden von Ihrer Umwelt gelebt, anstatt dass Sie Ihre Umwelt aktiv gestalten. Sie fühlen sich halt- und orientierungslos. Der InputVirus hat sie zusammen mit dem Instant-Virus in eine Art Tornado geschleudert.

Dieser Tornado, das ist der ganz »normale« Alltag, in dem Sie den Fokus verlieren, sich vom Horizont ablenken lassen, auf den Sie in Ihrem Leben doch eigentlich zusteuern wollen. Stattdessen: Verantwortung für die Kinder, den Partner, das Haus und den Hund, Stress im Büro mit 128 Mails pro Tag, 56 Rückrufbitten, Kundenbeschwerden, Diskussionen mit Mitarbeitern, Meetings, To-dos, verpassten Deadlines. Und Hobbys, Rechnungen, Briefe, längst überfällige Einkäufe … Nach und nach verbringen Sie immer weniger Zeit mit den Veränderungen, die Sie wirklich nach vorne bringen sollten. Und zack! – schon sind drei Monate vergangen, ohne dass Sie sich endlich mehr bewegt, nach einem neuen Job recherchiert oder sich mehr Zeit für Ihren Partner genommen hätten.

Es scheint, als gäbe es kein Entrinnen vor diesem Tornado. Doch so ist es nicht!

Selbst schuld (I)

Als ich Gerd, einen befreundeten Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens, frage, ob wir uns Samstag auf eine Runde Fitness im Studio treffen wollen, höre ich am Telefon, dass er stutzt. Zwei, drei Sekunden sagt er gar nichts. Dann fragt er vorsichtig nach:

»Meinst du diesen Samstag?«

»Ja«, sage ich und schaue leicht irritiert in den Kalender. Gibt es ein wichtiges Ereignis, das ich übersehen habe? Gerds Geburtstag? Champions-League-Finale?

»Mann, wie machst du das, dass du immer so spontan Zeit hast? Ich bin schon wieder so was von dicht! Jedes Wochenende ist gerade verplant!«

Unter der Woche hat Gerd auch selten Zeit, darum habe ich schon den Samstag vorgeschlagen.

»Machst du gerade eine Fortbildung an den Wochenenden, Gerd?«

»Haha! Schön wär’s«, lacht er herzhaft. »Nee, da sind lauter Familienevents. Kindergeburtstag, Judiths Eltern im Allgäu besuchen, hier ’ne Feier, dort ’ne Feier, einmal im Monat die Pokerrunde mit den Jungs, dann noch ein schon ewig geplantes Wellness-Wochenende im Schwarzwald und so weiter und so fort. Eigentlich total schön, aber alles ein bisschen viel gerade. Aber ja, Fitness mit dir ist überfällig. Wie wäre es am 25. Juli?«

Ich schaue in den Kalender: Das ist in zwölf Wochen! Sprachlos versinke ich in Gedanken.

»Peter, bist du noch da?«

»Hm, hm«, gebe ich ein Zeichen, während mein Kopf Gedankenschleife um Gedankenschleife dreht.

»Und was denkst du?«

Stille.

Ich weiß es nicht. Ich bin sprachlos. Das Einzige, was ich zu Gerd sagen kann, ist: »Lass mich mal eben überlegen …«

Menschen wie mein Kumpel Gerd führen mir immer wieder vor Augen: Der Tornado ist zu einem großen Teil hausgemacht. Das eine ist, in der Firma viel zu tun zu haben – und vom Input-Virus dominiert zu werden. Das andere ist, die Wochenenden so stark zu verplanen, dass selbst die Freizeit keine frei gestaltbare Zeit mehr ist, sondern ein Erfüllen von sozialen und gesellschaftlichen Verpflichtungen. Doch wozu dieser Freizeitstress?

Ja, wir haben in Deutschland einen sehr hohen Lebensstandard erreicht, den wir natürlich beibehalten wollten. Um Errungenschaften wie Rechtssicherheit, Sozialstaat etc. aufrechtzuerhalten und um gleichzeitig mit dem Wettbewerb mitzuhalten, wächst auch der Leistungsdruck in der Wirtschaft. Je fetter der Dienstwagen, desto höher die Firmenkosten. Je höher die Kosten, desto höher der erforderliche Umsatz. Und je ambitionierter die Umsatzziele, desto größer die Hektik. Mitarbeiter hetzen ihren Aufgaben hinterher, um mehr Ergebnisse in der gleichen Zeit zu erzielen.

Warum entscheiden sich Menschen für unnötige Hetze?

So weit, so verständlich. Was ich aber gar nicht verstehe, ist, warum sich Menschen auch dann für Hetze, Hektik, Stress und Druck entscheiden, wenn er gar nicht nötig ist. Wie viele Menschen könnten in ihrer Freizeit kürzertreten und tun es trotzdem nicht? Man könnte sich doch einmal für ein Wochenende gar nichts vornehmen und schauen, worauf man spontan Lust hat. Doch die Realität sieht anders aus. Wie viele Menschen stressen sich im Job dermaßen, dass sie nach einem 14-Stunden-Büro-Power-Tag zu Hause am Esstisch weiterarbeiten und am Ende erschrocken feststellen, dass die Kinder schon längst schlafen?

Wem das zu anstrengend ist, ertränkt sich alternativ in Alkohol oder lässt sich auf dem Sofa vom inhaltsleeren TV berieseln. Bloß keine unverplanten Momente in der Freizeit! Stattdessen belegt man jede freie Stunde mit irgendwelchen Aktivitäten, mit der Begründung, dass es doch wichtig sei, die Schwiegermutter, Freunde, Geschäftspartner, Nachbarn … zu treffen. Dass jetzt dringend eine Gegeneinladung dran sei, nachdem die Schulzes schon zweimal hintereinander zum Grillen eingeladen hätten. Wie viele Menschen stecken in einem Schraubstock, den sie sich nicht nur selbst angelegt haben, sondern den sie selbst auch noch immer enger schrauben, bis es wehtut? Viel zu viele!

Selbst schuld (II)

Nachdem ich mich vom ersten Schock erholt habe, frage ich meinen Freund Gerd: »Warum machst du das eigentlich – deine Freizeit so zu verplanen?«

Stille. Schweigen.

Mein Gesprächspartner findet keine Antwort.

Schließlich druckst er herum: »Das gehört halt dazu. Wir haben nun mal einen großen Freundeskreis. Wenn du eingeladen werden willst, musst du eben auch eine Gegeneinladung aussprechen …«

Dass er den Stress selbst wählt, dass er sich also dafür entscheidet und sich nachher über seine eigene Entscheidung beschwert, ist ihm allerdings nicht bewusst. Das schlichte Lösungsangebot »Dann hör doch auf damit, wenn es dich so sehr stört« wollen diese Menschen meist nicht hören. Ein Satz aus dem Film »Fight Club« bringt diese Lebenshaltung für mich auf den Punkt. Brad Pitt sagt in einer Szene: »Von dem Geld, das wir nicht haben, kaufen wir Dinge, die wir nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die wir nicht mögen.« Und solange Menschen so leben, bleibt alles, wie es ist. Der Tornado wütet weiter und wird immer bedrohlicher.

Wir leiden an unserem eigenen unstillbaren Hunger.

Wenn ich mir anschaue, zu welchem Anteil die äußeren Umstände und zu welchem Anteil innere Antreiber den Tornado befeuern, kann ich nur feststellen: Tatsächlich leiden wir nicht so sehr unter dem Angebotsstress wie unter unserem eigenen unstillbaren Hunger. Unter einer Sehnsucht, die wir teilweise gar nicht genau kennen. Solange wir die wahre Ursache aber nicht kennen, werden wir unbewusst von ihr gesteuert – und unsere Lebenszeit rinnt uns ungenutzt durch die Finger.

Wenn Sie sich also fragen, warum Sie Ihre Ziele nicht in der Geschwindigkeit erreichen, in der Sie sich dies wünschen, und was Sie daran hindert, endlich das Leben zu leben, das Sie sich in Ihren kühnsten Träumen ausmalen, dann werden Sie sich der Antwort nur annähern, wenn Sie diese unterschwellige Sehnsucht genauer zu fassen bekommen.

Sein – Tun – Haben

Ein wesentlicher Teil des unstillbaren Hungers nach Aktivität wird den Kindern schon frühzeitig eingeimpft. Wenn ein Teenager in seinem Zimmer auf dem Bett rumlümmelt, ermahnen die Eltern ihn: »Beschäftige dich! Tu etwas Sinnvolles! Mach Hausaufgaben!« Das Tun wird zum Leitbild erhoben.

Jeder neue Kauf bekämpft das Gefühl der inneren Leere.

Das setzt sich im Erwachsenenalter fort. Wir tun unglaublich viel und sind unglaublich beschäftigt. Wenn wir eine innere Leere spüren, reagieren wir darauf, indem wir einfach noch mehr tun und zum Workaholic mutieren. Alternativ weichen wir in einen Konsumwahn aus und entwickeln eine Sammelwut: teure Uhren, schicke Schuhe, seltene Autos. Wir sammeln, um zu haben. Es ist gar nicht so wichtig, ob es auch verwendet wird. Doch jeder neue Kauf bekämpft das Gefühl der inneren Leere. Zumindest für kurze Zeit. Dann müssen wir wieder etwas Neues kaufen. Der Wunsch nach Haben treibt uns an.

Doch mehr tun oder mehr haben löst das Gefühl der inneren Leere nicht. Seit ein paar Jahren dürfen gestresste Menschen dann eben ins Burn-out ausweichen. Weil sie so viel tun, können sie nicht mehr. Dafür gibt es auf einmal respektvolle Anerkennung: »Wow, der hatte ein Burn-out.« Mir scheint dies eher ein Pseudo-Burn-out zu sein. Und gleichzeitig eine schallende Backpfeife für jene, die wirklich an Burn-out erkrankt sind.

Auch ein Pseudo-Burn-out ist langfristig keine Lösung, denn es befreit nicht von der Leere. Doch was kann helfen? Der Teenager hat es noch gewusst. Er gammelte ab. War einfach nur da, in einer Art meditativem Zustand. War im Sein. Wenn die Eltern ihn denn sein ließen …

Wenn Sie Tun und Haben völlig überstrapazieren, geraten Sie ins Ungleichgewicht. Dann verspüren Sie diese innere Leere, merken, dass noch etwas fehlt. Lösen können Sie es nur, indem Sie das tun, was notwendig ist: nämlich mehr sein. Also auf Ihre innere Stimme hören. Sich selbst, Ihre noch nicht genutzten Potenziale, Wünsche und Träume kennenlernen. Um der Mensch zu werden, der Sie sein können.

Das Diktat der Neugier

Wir sind anfällig für Angebote und Anfragen von außen, weil der Mensch von Natur aus neugierig ist. An dieser Eigenschaft ist nichts auszusetzen, sie spricht für Offenheit gegenüber Neuem, für einen Forscher- und Entdeckerdrang, der wiederum eine der Voraussetzungen für Kreativität, Innovation und Fortschritt ist.

Neugier ist nur eine Form von Gier.

Auf der anderen Seite ist die Neugier, wie der Begriff es schon sagt, eine Form von Gier. Und Gier hat die Eigenschaft, dass sie unstillbar ist. Wenn der Mensch gierig ist auf Neues, dann schnüffelt er wie eine ausgehungerte Hyäne an allem, was frisch auf den Markt dringt und einen Mehrwert verspricht: an den Trainingsmethoden des diesjährigen Tour-de-France-Gewinners, dem neuen Nassrasierer mit noch einer Klinge mehr, der nun endlich wirklich gut rasiert, am neuen Kochbuch von Sarah Wiener, an der neuesten Software für die Personalverwaltung, die noch mehr Vorgänge automatisiert, an der neuen Heimgymnastik aus den USA, die eine unglaubliche Elastizität in der Wirbelsäule verspricht, an der nächsten Veränderungswelle in der Firma, die durch tolle Namen und Hochglanzbilder überzeugen will, an der neuesten Windelmarke und natürlich am Konkurrenzprodukt, das – lange erwartet – den Windelfüllstand per Smartphone anzeigt, und schließlich am neuen Lebenspartner, der nun endlich das erhoffte Seelenglück mit sich bringt und nicht so viele Fehler hat wie der Ex. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Neu, neu, Hauptsache, neu.

Momentan sind im Business zum Beispiel die »agilen Methoden« in aller Munde. Kein Unternehmen, das ich derzeit berate, ist nicht darum bemüht, »agiler« zu werden. Auf die Frage, wofür genau das Unternehmen diese Methoden braucht, haben die meisten Führungskräfte allerdings keine spezifische Antwort. Ob es in ihrem Fall sinnvoll ist oder nicht, diese Methoden einzusetzen, darüber haben sich die wenigsten ernsthaft Gedanken gemacht. Die meisten springen auf den fahrenden Zug auf, weil der Zug eben fährt – und sie keinen Trend verpassen wollen, der sich später vielleicht als wichtig herausstellen könnte.

Und natürlich gibt es unzählige solcher Hypes. Die gesamte Wirtschaft ist im Grunde nur damit beschäftigt, alten Wein in neuen Schläuchen zu verkaufen. Warum tun Unternehmen das? Weil diese Strategie aufgeht. Weil wir bei Neuem wie der pawlowsche Hund anfangen zu sabbern. Wenn »neu« auf der Packung steht, greifen wir zu. Immer in der Hoffnung, dass das Neue noch besser, noch schneller, noch einfacher ist.

Und genau das meine ich, wenn ich sage: Das Diktat der Neugier ist einer der wesentlichen Treiber der unstillbaren Sehnsucht in uns. Sie bewegt uns zu Handlungen, deren Notwendigkeit wir häufig nicht erklären können. So verlieren wir eher den Fokus, als dass wir dorthin gelangen, wohin wir wirklich wollen.

Weiter zeigt sich die unstillbare Sehnsucht in einer unbändigen Sammelwut, die seit der Altsteinzeit nur das Objekt der Begierde gewechselt hat, aber in ihrer Intensität erhalten geblieben ist.

Wir sammeln und bunkern unabhängig vom Bedarf.

Vor zwei Millionen Jahren war es eine lebenserhaltende Maßnahme, dass der Mensch alles Essbare, was er fand, sammelte. Nahrung war damals rar, und es war eine schlichte Notwendigkeit, dorthin zu gehen, wo die Pilze, Beeren und Kräuter wachsen, diese einzusammeln und dann weiterzuziehen zu den nächsten Pilzen, Beeren und Kräutern. Heute wiederum wäre unser Überleben kaum gefährdet, wenn wir etwas weniger Kalorien, vor allem aber auch weniger Zertifikate, Fortbildungen, Hobbys, Urlaubseindrücke, Alltagsgegenstände oder Kontakte sammeln würden. Doch irgendwie können wir es nicht lassen. Wir sammeln und bunkern weiter, als ob es kein Morgen gäbe, und setzen damit – unabhängig vom Bedarf – die alte Tradition unserer Vorfahren fort.

Darüber hinaus denke ich: Hinter dem Sammeln und der Neugier steckt noch etwas anderes. Und zwar Angst. Angst vor der Zukunft. Angst davor, Ziele nicht zu erreichen. Angst vor Verlust, vor Versagen, vor dem Verlieren. Angst, den falschen Weg einzuschlagen. Angst, etwas zu verpassen.

Diese Angst bestimmt unser Handeln. Wie ein Hund nehmen wir jede Fährte auf, die sich finden lässt, und folgen ihr, auch wenn wir nicht wissen, ob der Weg sinnvoll ist, uns einfach nur ablenkt oder vielleicht sogar ins Verderben führt. Immer noch besser, als Ungewissheit passiv zu ertragen.

Aber sosehr sie auch in uns verankert sein mag – sie ist kein Phänomen, dem wir hilflos ausgeliefert sind. Im Gegenteil: Jeder Einzelne von uns kann der Angst durch aktives Handeln etwas entgegensetzen. Wir tun dies mehr oder weniger bewusst. Es gibt Alternativen, wir müssen nur lernen, sie zu sehen.

Input-Fabrikanten

So war ich damals: Ich dachte vollkommen Inputzentriert.

Der Großteil des Inputs, der uns erschlägt, ist nicht gottgegeben. Nein, den produzieren Sie und ich selbst. Wenn ich an die Zeit zurückdenke, als ich noch in der Finanzbranche Karriere machen wollte, muss ich heute lachen. Was war ich damals vernarrt in Input! Da bin ich allen Ernstes durch die halbe Republik gefahren, zu jedem Kontakt, der auch nur halbwegs nach Potenzial aussah. Besuchte jedes anspruchsvolle Verkaufs- und Führungsseminar, das ich nur finden konnte. Wir erstellten neue Flyer, erarbeiteten neue Rechentools, produzierten neue Homepages und gaben jedem neuen Vertriebsansatz die Chance, uns zum Durchbruch zu verhelfen. In meinen Mittzwanzigern strotzte ich nur so vor Energie und Ehrgeiz. Dass das Klinkenputzen nach dem Gießkannenprinzip vielleicht doch nicht die Lösung war, dämmerte mir, wenn ich mich – nach einer 450 km langen Autofahrt – in teilweise doch recht zwielichtigen Büros wiederfand, aus denen ich in erster Linie nur so schnell wie möglich wieder rauswollte. So war ich damals – ich dachte vollkommen Input-zentriert. »Wir brauchen Umsatz, also fahre ich überall hin«, statt den Output zu prüfen: »Was kann ich mit dem Termin erreichen? Ist es wirklich notwendig, dorthin zu fahren? Oder reicht auch ein Telefonat aus?«

Keine Sorge: Meine Akquisetätigkeit hat sich vollkommen verändert, und heute überlege ich mir sehr genau, wie ich mit meiner Zeit umgehe. Doch ich kann es immer noch nicht lassen, mir einen Meter Bücher zu bestellen, wenn mich ein bestimmtes Thema interessiert. Wirklich lesen tue ich zwar erst mal nur ein Drittel davon. Für den Output, den ich brauche – etwa meinen Vortrag anzupassen oder eine neue Idee zu entwickeln –, würden mir sogar schon zwei, drei Titel reichen. Aber ich erliege meiner Neugier und den Verlockungen des riesigen Angebots von jährlich rund 70 000 Neuerscheinungen in Deutschland; so hole ich mir den gesamten verfügbaren und möglicherweise relevanten Input ins Haus und verliere mich gerne darin.

Stellen Sie sich vor, Sie besuchen eine Veranstaltung, einen Kongress oder ein Seminar. Ohne ein konkretes Ziel. Stattdessen denken Sie »Mal schauen, was es dort gibt; ich lasse mich überraschen« oder »Networking ist immer gut« oder »Nicht dass ich etwas Wichtiges verpasse«. Das wäre so, als würden Sie in eine Kiste mit 3000 Puzzleteilen greifen, in der Hoffnung, dass das herausgezogene Teil schon irgendwie ins Gesamtbild passt. Um ein Puzzle zusammenzusetzen, brauchen Sie eine Vorlage. Ein Gesamtbild, das Ihnen zeigt, wozu Sie das einzelne Puzzleteil brauchen. Doch wenn Sie ohne konkrete Output-Erwartung auf Ihre Veranstaltung gehen – wie wollen Sie dann sinnvollen Input bekommen? Schlimmstenfalls ist es zielloser Input, der Sie weiterhin dadurch beschäftigt hält, dass Sie Energie aufwenden, um zu überlegen, was Sie denn damit bloß machen könnten.

Selbst produzierter, nicht verwertbarer Input hat nämlich die fiese Eigenschaft, noch mehr nicht verwertbaren Input nach sich zu ziehen. Er sprießt wie Pilze aus dem Waldboden, nachdem es geregnet hat. Denn wenn Sie schon in eine Sache investiert haben, wollen Sie auch, dass etwas dabei herumkommt. Also werden Sie der verlorenen Zeit und dem schlechten Geld weitere Zeit und weiteres Geld nachwerfen – in der Hoffnung, dass dann ein vernünftiger Output herauskommt. Erfahrungsgemäß passiert das allerdings selten. Der Grund dafür liegt schlicht darin, dass all diesen Aktionen eine Grundidee fehlt. Eine Daseinsberechtigung. Eine Vorstellung davon, wozu sie existieren. Eine Richtung.

Der Tornado ist ein prima Betäubungsmittel.

Indem wir ständig ziellos unnötigen Input produzieren, tragen wir zu dem Tornado, der uns umtost, aktiv bei. Interessanterweise ist es in diesem Fall zunächst einfacher, den Tornado aufrechtzuerhalten, als ihn zu stoppen. Schließlich ist er ein prima Betäubungsmittel.

Bestes Beispiel ist mein Kumpel Jens. Jens hat ungefähr mein Alter, einen sehr guten Job und ist Single. Seine durchschnittliche Beziehungsdauer beträgt zwei Monate. Mit der hohen Frauenfluktuation in seinem Leben kommt er gut zurecht. Und der Akquiseaufwand ist aufs Äußerste optimiert. Um auf Jagd zu gehen, muss er sich nicht einmal physisch bewegen. Er erledigt das über eine der vielen Onlineplattformen. Die wiederum bedient er wie eine hocheffiziente Vertriebsmaschine. Hat er einmal eine gute Anmache formuliert, kann er sie kopieren und in Serienproduktion in allen attraktiven Damenprofilen hinterlassen. Dazu noch ein paar Photoshop-optimierte Fotos. Fertig. Mehr Arbeit erfordert das Dating nicht. Seitdem er jetzt zusätzlich eine der neuen Dating-Apps auf sein Handy geladen hat, muss er nicht einmal mehr schreiben. Er schaut sich nur noch die Bilder der Frauen an und wischt über den Screen: Nach rechts heißt daten, nach links heißt ablehnen.

Wenn Jens von seinen hochoptimierten Eroberungsstreifzügen erzählt, wirkt er auf den ersten Blick tatsächlich wie ein freier, wilder Cowboy. Hört man ihm aber länger zu, wird deutlich: Tief in seiner Seele sieht es düster und traurig aus. Aber er muss sich dieser Traurigkeit nicht stellen. Denn die hohe Aktivität lenkt ihn ab – dem Input-Virus sei Dank. Er versteckt seine innere Stimme vor sich selbst unter dem Deckmantel des Beschäftigtseins und fühlt sich wie ein Held, der im Tornado nicht untergeht.

Doch am Ende gewinnt der selbst angefeuerte Tornado immer über die Stimme, die sich im Inneren meldet und gehört werden will. Im Getöse, das der Tornado verursacht, hat sie keine Chance mehr, gehört zu werden. Es bleibt ihr auf Dauer nichts anderes übrig, als komplett zu verstummen.

2. Verschwendete Zeit

Der Tornado um Sie herum tobt. Sie stehen mittendrin. Sie haben alles und nichts vor Augen. Von allen Seiten prasselt es ständig auf Sie ein und Sie können kaum noch Luft holen. Wie in einem Sandsturm. Die Sandkörner treffen Sie schmerzhaft, sie verstopfen Ihnen Nase und Ohren. Den Mund öffnen Sie besser nicht, sonst werden Sie das Knirschen zwischen den Zähnen nicht mehr los. Schließen Sie besser auch die Augen. Sehen können Sie sowieso nichts.

Was tun Nomaden in der Wüste, wenn sie vom Sandsturm überrascht werden? Ziehen sie unverdrossen weiter? Ganz bestimmt nicht. Die Gefahr wäre viel zu groß, in die falsche Richtung zu laufen und die Wasservorräte zu verschwenden. Die Nomaden suchen sich deshalb einen geschützten Platz und warten, bis der Sturm sich gelegt hat. Erst dann ziehen sie weiter.

Und was machen Sie? Sie ziehen trotz des Tornados weiter. Und zwar in einem Affenzahn. In welche Richtung? Na ja, mal in die eine, mal in die andere – wie es sich so ergibt. So genau können Sie die Richtung in dem ganzen Trubel ja auch nicht ausmachen.

Nein, verdursten werden Sie im alltäglichen Tornado nicht so schnell. Wasser haben Sie ja genug. Wenn Sie blind weiterziehen, verschwenden Sie etwas anderes, etwas viel Kostbareres, von dem Sie auch nur äußerst begrenzte Vorräte haben:

Sie verschwenden Ihre Zeit.

Richtung braucht Klarheit

Der Anzug

Es sind nur noch wenige Tage bis zum Hochzeitstermin und alle Vorbereitungen bereits getroffen: die Papiere zusammengesucht, das Standesamt gebucht, das Restaurant gefunden, der Blumenschmuck ausgewählt, das Brautkleid geschneidert. Alle Freunde und Verwandten haben schon lange die liebevoll ausgewählten Einladungen vorliegen, fast alle haben zugesagt. Die Liste der Gäste ist lang.

Ich sitze auf der Kante unseres Doppelbetts, den Kopf in die Hände gestützt. Aus dem Kinderzimmer unserer schicken Wohnung dringt die Stimme meines Sohnes.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt meine Freundin, als sie von nebenan hereinkommt. Ich räuspere mich, und doch ist meine Stimme krächzend, als ich sage: »Ich kann nicht … Ich habe keinen Anzug gekauft.« Sie schüttelt einen Moment ungläubig den Kopf und lacht. Doch beim Blick in mein Gesicht erstirbt ihr Lachen.

Einige Monate später. Wir haben die Hochzeit abgesagt. Meine Freundin ist mit unserem Sohn in eine andere Stadt gezogen, um den Schmerz mithilfe der Distanz zu betäuben.

Ich habe einen Termin für eine Wohnungsbesichtigung. Die Wohnung, die ich zuvor mit meiner Freundin und unserem Kind hatte, will ich verlassen. Orte haben ein Gedächtnis … Doch ich weiß: Wenn ich mir jetzt eine neue Wohnung anschaue und umziehe, dann ist die Tür zu meiner Familie endgültig zugeschlagen. Auf dem Weg zum Auto durchdringt die Nässe des Kölner Schmuddelwetters meine Sneakers. Eigentlich sollte ich losfahren, stattdessen bin ich wie gelähmt. Ich starre auf das Lenkrad.

Plötzlich ist die Stimme da. Sie sagt mir, in welche Richtung ich gehen sollte.

Ich weiß nicht, wie lange ich so dasitze – vielleicht nur Sekunden, vielleicht Minuten. Doch plötzlich ist die Stimme da. Sie sagt mir, in welche Richtung ich gehen sollte. Und das ist nicht die, in die ich gerade renne.

Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.

Ich greife zum Handy und suche mit bebenden Fingern den Kontakt. Der Verbindungsaufbau dauert quälend lange. Endlich das Klingeln. Sie hebt ab. Ich atme tief durch und sage mit klarer Stimme: »Darf ich wieder zu dir kommen?«

Ich habe durch mein Rumgeeiere so viel Zeit verschwendet. Weil ich nicht klar war. Und was mindestens genauso schlimm ist: Ich habe nicht nur meine Zeit verschwendet. Ich habe vor allem die meiner Frau und meines Sohnes verschwendet.

Meine Frau war die ganze Zeit klar. Sie kannte ihren Horizont. Sie wollte eine Familie. Vertrautheit, Stabilität, Freundschaft, gemeinsame Zeit, Tiefe. Der Haken an der Sache: Ich kannte meinen Horizont nicht. Irgendwie bin ich in diese Situation hineingeraten. Natürlich hatte ich Gefühle für meine Frau und meinen Sohn. Aber mein Verhalten zeigte das nicht. Ich fühlte mich wie im Nebel. Betäubt. Betäubt durch 14-Stunden-Tage im Büro, zu viele Geschäftsreisen, mindestens 60 000 km mit dem Auto im Jahr und mehr Nächte in Hotels als zu Hause im eigenen Bett.

Sie haben diesen Moment nur ein Mal.

Verschwendete Zeit ist immer die Zeit, die Sie mit Dingen vertun, die Sie nicht in die Richtung Ihres eigenen Horizontes bringen. Und Zeit, die Sie verschwenden, ist unwiederbringlich verloren. Sie können sie nicht zurückdrehen. Sie haben diesen Moment nur ein Mal, und wenn er vorbei ist, ist er vorbei. Wenn Sie unglaublich beschäftigt sind mit Karriere & Co. und merken plötzlich mit fünfzig: »Oh, shit, eine Familie und eigene Kinder sind mir wichtig« – dann ist Ihre Frau vielleicht bereits aus dem gebärfähigen Alter raus und die vielen Jahre vorher sind verschwendete Zeit. Sie sind nicht aktiv auf Ihr Ziel zugesteuert. Und jetzt ist es zu spät.

Wenn Sie in Ihrem Leben nicht selbst auf Ihr eigenes Ziel zusteuern, werden Sie unweigerlich durch die Aktivität anderer angeschoben. Und die arbeiten wahrscheinlich auf ein völlig anderes Ziel hin – nämlich ihr eigenes. Sie sind dann nur noch wie ein Spielstein, der auf dem Feld hin und her geschoben wird. Und unter Umständen werden Sie irgendwohin geschoben, wo Sie gar nicht sein wollen.

Sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie wie ein Knetgummi von anderen gedrückt und geformt werden? Oder wollen Sie selbst bestimmen, wer oder was Sie sind?

Beschäftigtsein ohne Richtung ist wie Zocken im Kasino.

Doch das ist alles nicht so einfach, wie es klingt. Denn Beschäftigtsein ohne Richtung, ohne zu wissen, was Ihnen wichtig ist, ist wie Zocken im Kasino: Mit viel Glück kann es gut gehen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass es schiefgeht, ist ungleich größer. Wenn Sie zum Beispiel reich werden wollen, können Sie die Verantwortung dafür der Lottofee überlassen. Und wenn Ihre Zahlen nie gezogen werden, hat es eben nicht sollen sein – ganz einfach.

Zu einfach.

Ob Ihr Ziel nun lautet, reich zu werden, Ihr Golf-Handicap unter zehn zu bringen oder eine neue Sprache zu lernen: Sie müssen für Ihr Ziel einstehen. Die Amerikaner nennen das Commitment oder Ownership. Frei übersetzt: Sie müssen bereit sein, den Preis dafür zu zahlen. Denn für jedes anspruchsvolle Ziel benötigt man Kraft, Energie und Anstrengung. Ohne Konsequenz und Disziplin degradieren Sie das, was Ihnen wirklich wichtig ist, zum reinen Glücksspiel. Fürs Glücksspiel benötigen Sie nur einen Lottoschein. Für Ihre Lebensziele müssen Sie jedoch aktiv werden.

Das Gute daran: Wenn Sie aktiv auf Ihr Ziel zusteuern, sind Sie der Spieler. Sie sind es, der entscheidet, welcher Spielstein wo gesetzt wird. Das bedeutet, dass Sie Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen. Eine Garantie, dass Sie es schaffen, haben Sie auf diese Weise zwar auch nicht. Aber Sie erhöhen deutlich die Chance, dass Sie Ihr Ziel erreichen werden.