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Titel

Inhalt

  1. I. Ein paar Dinge vorweg
  2. II. „Vater“
  3. Mehr Vertrauen geht nicht
  4. III. „Unser“
  5. Attacke auf die Einsamkeit
  6. IV. „Im Himmel“
  7. Kitsch ist etwas anderes
  8. V. „Geheiligt werde dein Name“
  9. Die Wiederentdeckung der Ehrfurcht
  10. VI. „Dein Reich komme“
  11. Sehnsucht nach einer anderen Welt
  12. VII. „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden“
  13. Verantwortung statt Schicksalsergebenheit
  14. VIII. „Unser tägliches Brot gib unsheute“
  15. Wie Beten zur Politik wird
  16. IX. „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“
  17. Das Ende der Verdrängung
  18. X. „Führe uns nicht in Versuchung“
  19. Jenseits von Pralinen und Bettgeschichten
  20. XI. „Erlöse uns von dem Bösen“
  21. Vorderhand ein Apfelbäumchen pflanzen
  22. XII. „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“
  23. Zwecklos, aber nicht sinnlos
  24. XIII. „Amen“
  25. Kein hemdsärmeliges „O.K.“
  26. XIV. Zum Schluss mindestens drei gute Gründe, das Vaterunser zu beten

I. Ein paar Dinge vorweg

  1. „Geht eigentlich immer“

    „Geht eigentlich immer.“ Die freundliche Verkäuferin in der Abteilung für Herrenmode macht ein aufmunterndes Gesicht. Nachdem ich mich bei dem Versuch, einen neuen Pullunder für die Übergangszeit zu erstehen, lange nicht zwischen Marineblau und Bordeauxrot entscheiden kann, hält sie mir schließlich eine unauffällige Strickjacke entgegen. „Hier. Versuchen Sie es doch einmal damit. Mit der Farbe können Sie im Grunde nichts falsch machen. Beige geht eigentlich immer.“

    „Geht eigentlich immer.“ Manchmal kann man den Eindruck gewinnen, als treffe das auch auf das Vaterunser zu. Kein evangelischer Gottesdienst, keine katholische Messe, keine ökumenische Andacht, keine kirchliche Amtshandlung, kaum eine seelsorgerliche Begegnung am Krankenbett ohne. Das Evangelische Gesangbuch z. B. empfiehlt das Vaterunser – neben dem gottesdienstlichen Gebrauch – sowohl für die Morgen- und Abendandacht als auch für ein mittägliches Friedensgebet, für Advents- und Passionsandachten, für Tagzeitengebete, Nottaufen und Einzelbeichten und schließlich für die Aussegnung eines Leichnams. Der Württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann bekennt freimütig: „Dieses Gebet passt immer. Ob ich zweifle oder vertraue, ob es mir gut geht oder schlecht, ob ich heiter bin oder traurig.“ Letztens behauptete eine Pfarrerin am Ende ihrer gottesdienstlichen Fürbitte sogar, dass „alles, was wir sonst noch auf dem Herzen haben“, in den Worten des folgenden Vaterunsers „zusammengefasst“ sei. Ich gestehe gerne, dass ich das meiste, was ich in dem Moment auf dem Herzen hatte, nicht in den Worten des Vaterunsers „zusammengefasst“ sah. Aber das mag an mir gelegen haben.

    Dennoch frage ich mich: Ist das Vaterunser überhaupt ein Gebet „für alle Fälle“? So eine Art Passepartout, das irgendwie immer und bei jeder Gelegenheit „passt“? Und mit dem man wie mit einer Strickjacke in Beige jedenfalls „nichts falsch machen kann“? Oder könnte es sein, dass man gerade, indem man es wie eine „Allzweckwaffe“ bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten meint einsetzen zu können, nicht nichts, sondern am Ende alles falsch macht? Mich irritiert, wie gedankenlos oft mit diesem Gebet umgegangen wird – auch im evangelischen Raum. So als sei allein sein Wortlaut eine Art selbstwirksames Mantra, das durch seine ständige Wiederholung eine gewisse Kraft entfalte. Mich irritiert auch, wenn ich in einer katholischen Kirche aus irgendeiner Nische ein fortwährend und rasch gemurmeltes: „Vater unser im Himmel …“ vernehme, während die Perlen eines Rosenkranzes durch die Hände einer alten Frau gleiten. Ich will ja niemandem zu nahe treten, aber könnte es sein, dass das Vaterunser auch manchmal ein wenig zu viel, ein wenig zu stumpfsinnig, ein wenig zu inflationär runtergeleiert wird? Schon Martin Luther beklagte sich seinerzeit mehr als einmal darüber, dass das Vaterunser „der größte Märtyrer auf Erden“ sei. „Denn jedermann plagts und missbrauchts.“ Harte Worte, sicher. Aber hat der Mann so Unrecht?

    Doch dann denke ich wieder andersherum. Ein Gebet, das „eigentlich immer geht“, hat ja vielleicht auch sein Gutes. Hat ja vielleicht auch etwas Entlastendes an sich. Wo steht denn geschrieben, dass man sich bei all und jeder Gelegenheit immer gleich tiefe Gedanken darüber machen muss, wie und was man beten soll? Vielleicht ist es ja manchmal nur ein Gefühl oder ein unbedingtes Bedürfnis, jetzt ein Gebet zu sprechen. Solche Situationen gibt es doch. Und dann auch die Erfahrung, dass einem genau in solch einer Situation aus irgendeinem Grunde die Worte fehlen. Selbst der Apostel Paulus seufzte gelegentlich: „Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt“ (Römer 8,26). Ist es da nicht manchmal einfach gut und entlastend, auf Vorhandenes, durch Jahrhunderte hindurch Bewährtes zurückgreifen zu können, ohne lange nachdenken zu müssen? Der Theologe Eberhard Jüngel berichtet davon, wie seine Mutter während eines Bombenangriffs im Luftschutzbunker mit lauter Stimme das Vaterunser gebetet habe. Sie, eine – wie ersagt – „nicht im kirchlichen Sinne fromme Frau“, hatte in dieser Extremsituation, die einem die eigene Sprache gewiss verschlagen kann, einfach auf für sie vertraute Worte zurückgegriffen. War das so verkehrt? Muss ein Gebet, das „eigentlich immer geht“, deshalb auch immer gleich problematisch sein?

    So sind wir, noch ehe wir uns auch nur mit einem einzigen Wörtchen aus dem Vaterunser selbst beschäftigt haben, bereits mit etlichen nicht ganz unwichtigen Fragen konfrontiert. Eine weitere – scheinbar nur äußerliche – ist: Wie lautet eigentlich der richtige Name dieses Gebets?

  2. „Vaterunser“, „Unser Vater“, „Gebet des Herrn“ oder wie?

    „Vater unser im Himmel …“ So ist uns der Beginn des Vaterunsers wohl vertraut. Doch wenn wir nicht wüssten, dass es sich nun einmal um das zentrale Gebet der Christenheit handelt, müssten wir bereits jetzt stutzen. „Vater unser“ – hat da jemand im Deutschunterricht vielleicht nicht richtig aufgepasst? Es muss wohl im dritten oder vierten Schuljahr gewesen sein: „besitzanzeigende Fürwörter“. Mein, dein, unser, euer usw. Bitte grundsätzlich vor und nicht nach dem dazugehörigen Hauptwort. Also: „mein Haus“ und nicht: „Haus mein“. Doch hier: „Vater unser“. Komisch.

    Um das zu verstehen, müssen wir einen kleinen Schritt zurückgehen. Das Vaterunser ist – wir werden darauf noch verschiedentlich zu sprechen kommen – ursprünglich ja nicht in Deutsch, sondern in Griechisch aufgeschrieben worden, der Sprache des Neuen Testaments. Und hier ist es nun einmal so, dass das besitzanzeigende Fürwort in der Regel nicht vor, sondern nach dem Hauptwort kommt. Ähnlich ist es im Lateinischen, also der Sprache, in die die Bibel schon ein paar Jahrhunderte später übersetzt wurde. Auchhier gilt – anders als im Deutschen – in der Regel: besitzanzeigendes Fürwort (Possessivpronomen) bitte hinter das Hauptwort (Substantiv). Der Anfang des Vaterunsers hört sich dann – so viel Latein darf es jetzt mal sein – so an: „pater noster“.

    Nun kennen wir den Begriff „Paternoster“ noch aus einem ganz anderen Zusammenhang. Im Hauptverwaltungsgebäude der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See in Bochum z. B. befindet sich ein merkwürdiger Aufzug. Ohne anzuhalten, kreisen dort ein paar Personenkabinen von Stockwerk zu Stockwerk. Und zwar im Kreise auf und ab: ein Paternoster. Wie kommt der Aufzug zu diesem Spitznamen? Es gibt da einen, zugegeben: etwas schrillen Zusammenhang. Beim Anblick der Konstruktion eines Paternosters kann man sich nämlich mit etwas Phantasie an eine Perlenschnur, gleich dem katholischen Rosenkranz, erinnert fühlen. Dieser ist – wir erinnern uns – zumindest für die katholische Frömmigkeit eine sozusagen „handgreifliche“ Möglichkeit, das Vaterunser wiederholend zu beten. Jetzt also: jede Kabine gewissermaßen eine Vaterunser-Perle. Spitznamen haben manchmal merkwürdige Entstehungsgeschichten.

    Unser „pater noster“ war nun über viele Jahrhunderte hinweg insofern bedeutsam, als Latein das gesamte Mittelalter hindurch die allumfassende, alle verbindende Kirchensprache war. In den Gottesdiensten wurde von Generation zu Generation eben das lateinische „pater noster“ gebetet. Besser gesagt: vorgebetet. Denn des Lateinischen mächtig waren, wenn überhaupt, nur die Mönche und Priester. Das einfache Volk dagegen vernahm fremde Vokabeln und murmelte sie vielleicht nach. Ob es immer verstanden hat, was es da zu hören und nachzumurmeln gab, sei dahingestellt.

    Eines der Verdienste der Reformation war es jedenfalls, den christlichen Glauben aus dieser sprachlichen Fremdbestimmung befreit zu haben. Deshalb übersetzte Luther das Neue Testament ins Deutsche. Und so eben auch das ehemalige „pater noster“. Über die Frage, weshalb er nun – etwa in seinen Katechismen – nicht, wie es grammatisch korrekt gewesen wäre, mit „unser Vater“, sondern mit „Vater unser“ übersetzt, kann man nur Vermutungen anstellen. Wahrscheinlich war es einfach nur eine kleine Konzession an seine römisch-katholische Herkunft, mit der er ja ursprünglich gar nicht brechen wollte. Nicht nur beim Namen des Vaterunsers kann man bei Luther immer wieder seine römischen Eierschalen erkennen. Warum auch nicht? „Niemals geht man so ganz“, sang Trude Herr. Das trifft in gewisser Weise auch auf die Reformatoren zu. Zumindest die lutherischen. Anders die reformierten Reformatoren, Zwingli, Calvin und wie sie alle hießen. Ursprünglich durchaus von Luthers Erkenntnissen auf den Weg gebracht, zogen sie doch mitunter erheblich radikalere theologische Konsequenzen, was den Neuanfang der Kirche betrifft. Etwa die in reformierten Kirchen anzutreffende sehr auffällige Kargheit ist auch Ausdruck des Willens, sich von allem katholischen Anschein unbedingt abzusetzen. Keine Bilder, kein Altar, kein Kreuz, keine Kerzen, keine Blumen. Und so eben auch kein immer noch an das katholische „pater noster“ erinnernde „Vater unser“, sondern „unser Vater“. Alle reformierten Bekenntnisschriften, Lehrbücher und Gottesdienstordnungen ziehen diese Sprachregelung durch. Bis heute wird in einem reformierten Gottesdienst konsequent das „Unser Vater“ und nicht das „Vaterunser“ gebetet. Weshalb es bei Letzterem dann noch einmal zu einer Wortverschmelzung gekommen ist, ist wohl den ungeschriebenen Gesetzen stehender Redensarten geschuldet, so wie wir das von dem Paternoster in der Bochumer Hauptverwaltung her kennen.

    Zuweilen begegnen aber auch andere Namen „Gebet des Herrn“ oder auch nur „Herrengebet“. Oder – wie es in manchen Gottesdiensten heißt – „das Gebet, das Jesus Christus selbst uns gelehrt hat“. Da ist etwas dran. Denn das Vaterunser ist uns ja in der Tat als ein Gebet Jesu überliefert. Die Formulierung „Gebet des Herrn“ weist also auf die Einzigartigkeit und besondere Autorität dieses Textes hin. Es ist schon etwas anderes, ob ich meine eigenen, nicht selten auch kümmerlichen Worte zusammenkrame oder ob ich so bete, „wie Jesus Christus selbst uns gelehrt hat“. Ohne damit die manchmal auch kümmerlichen eigenen Gebetsworte gering zu schätzen. Zumindest hält uns das „Herrengebet“ – im Englischen „Lord’s Prayer“ – eher dazu an, sorgfältig auf seine Worte zu achten. Und genau darum soll es uns ja gehen.

    „Vaterunser“, „Unser Vater“ oder „Gebet des Herrn“? Wenn man weiß, was man betet, muss man die Bedeutung dieser unterschiedlichen Begriffe nicht zu hoch hängen. Und schon gar nicht eignen sie sich für einen konfessionellen Stellvertreterkrieg. Wer am Ende theologisch Recht hat – Katholiken, Lutheraner oder Reformier-te –, das entscheidet sich ganz gewiss nicht an ein paar korrekten Vokabeln. Warum kann man – etwa als reformierter Christ – nicht die christliche Freiheit haben, „Vater unser“ wacker mitzubeten, wenn es um höhere, etwa ökumenische Belange geht? Und was die rein sprachliche Fremdheit angeht, so sind wir ja auch sonst nicht so zimperlich in unseren Kirchen. Welcher normale Christenmensch weiß denn genau, was es mit dem Wort „Kyrie eleison“ auf sich hat? Oder weshalb wir nicht „Christus“, sondern „Christe, du Lamm Gottes“ singen? Von „Leib Christi“ oder „Jesu (statt: Jesus), meine Freude“ ganz zu schweigen. Nein, an Vokabeln und Grammatiken kann es nicht hängen. Aber woran dann? Schon wieder also eine Frage. Doch muss das von Nachteil sein?

  3. Eine Art Modell

    In der Bibel begegnet uns das Vaterunser in zwei verschiedenen Versionen. Wir finden sie bei den Evangelisten Matthäus und Lukas.

    Matthäus 6,9-13:

    Unser Vater im Himmel!

    Dein Name werde geheiligt.

    Dein Reich komme.

    Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.

    Unser tägliches Brot gib uns heute.

    Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

    Und führe uns nicht in Versuchung,

    sondern erlöse uns von dem Bösen.

    Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

    Amen.

    Lukas 11,2-4:

    Vater!

    Dein Name werde geheiligt.

    Dein Reich komme.

    Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag

    und vergib uns unsre Sünden;

    denn auch wir vergeben allen, die an uns schuldig werden.

    Und führe uns nicht in Versuchung.

    Schon ein erster flüchtiger Blick zeigt, dass beide Texte nicht völlig identisch sind. Hartgesottene Fundamentalisten werden bereits hier ihre Probleme bekommen: Kann es denn sein, dass sich Jesus bei der einen oder anderen Version vertan hat? Dass er, der Sohn Gottes, ausgerechnet bei solch einem wichtigen und zentralen Gebet den korrekten Wortlaut nicht mehr richtig zusammengekriegt hat?

    Ehe wir uns hier in unfruchtbaren Spekulationen verlieren, sollten wir uns nüchtern vor Augen halten, dass uns der Originalton dessen, was Jesus einmal tatsächlich gesagt hat, nirgendwo erhalten ist. Was wir haben, das sind die Zeugnisse von Menschen, die das, was sie von ihm gehört haben, weitergeben. Zunächst von Mund zu Mund, später durch Aufschreiben und Abschreiben. Hatte Jesus selbst noch das damals in Israel gebräuchliche Aramäisch gesprochen, so sind die späteren schriftlichen Aufzeichnungen seiner Worte und Taten im Neuen Testament allesamt in Griechisch verfasst, der seinerzeitigen Verkehrssprache im gesamten Mittelmeerraum. Man kann sich nur wundern, dass es bei solch einem komplexen Entstehungsprozess überhaupt noch so viele inhaltliche Übereinstimmungen in den Evangelien gibt. Doch wo Menschen am Werk sind, gibt es natürlich auch unterschiedliche Wahrnehmungen und eigene Akzentsetzungen. So erklären sich – bei allen Übereinstimmungen – die durchaus vorhandenen Unterschiede in den neutestamentlichen Zeugnissen. Nicht zuletzt auch in den beiden Versionen des Vaterunsers.

    Manche sehen darin die Autorität der neutestamentlichen Texte angekratzt. Kann man so sehen. Man kann es aber auch anders sehen. Verschiedene Wahrnehmungen ein und derselben Sache müssen sich ja nicht zwangsläufig widersprechen. Sie können ja auch einander ergänzen und sich am Ende vielleicht sogar gegenseitig bereichern. Wenn also die beiden Evangelisten Matthäus und Lukas den Wortlaut des Vaterunsers nicht hundertprozentig deckungsgleich wiedergeben, laden sie uns zunächst einmal ein, von ihren unterschiedlichen Wahrnehmungen zu profitieren. Was der eine nicht hat, hat vielleicht der andere. Schön dumm, wollten wir von vornherein auf eine Bereicherung unserer Erkenntnis verzichten.

    Warum nun Matthäus und Lukas zwei verschiedene Versionen des Vaterunsers aufgeschrieben haben, darüber können wir allerdings nur Vermutungen anstellen. Lag es daran, dass sie auf verschiedene Überlieferungen zurückgreifen mussten? Lag es an ihren verschiedenen „religiösen Sozialisationen“, wie wir heute sagen würden? Lag es womöglich an ihren unterschiedlichen theologischen Interessen? Wir wissen es nicht. Durchgesetzt hat sich in der weltweiten Christenheit jedenfalls bis heute die längere Version des Evangelisten Matthäus. Deshalb werden wir im Folgenden an ihrem Wortlaut entlanggehen und da, wo es sinnvoll erscheint, auf die Varianten beim Evangelisten Lukas eingehen.

    Ein erster unterschiedlicher Akzent beider Versionen ergibt sich bereits aus dem jeweiligen Zusammenhang, in dem sie stehen. Bei Matthäus begegnet uns das Vaterunser im Zusammenhang der Bergpredigt. In deren Verlauf kommt Jesus auf viele verschiedene Themen zu sprechen. So auch auf das Thema „Frömmigkeit“. Für die jüdischen Menschen der damaligen Zeit bestand diese vor allem im regelmäßigen Almosengeben, Beten und Fasten. Dagegen hat Jesus grundsätzlich nichts. Ist er doch schließlich selbst Jude und hält sich, wie wir immer wieder lesen, treu an die religiöse Glaubenspraxis seines Volkes. Im Judentum gehört dazu auch ein ausgeprägtes Gebetsleben. Neben den Psalmen belegen das vor allem die vielen jüdischen Gebetstexte, etwa das Schma Jisrael („Höre Israel“),das Achtzehngebet oder die verschiedenen Versionen des Kaddisch („Heilig“), um nur einige zu nennen. Wir können davon ausgehen, dass Jesus diese Texte vertraut waren und er sie selber praktizierte.

    Was er in der Bergpredigt allerdings heftig anprangert, ist nicht der Gebrauch, sondern der Missbrauch von Frömmigkeit. Nun kann man sagen: Missbrauch von Almosengeben, o. k., haben wir schon mal was von gehört. Wenn man z. B. an die vielen Firmen oder Promis denkt, die sich vor Weihnachten mit ihren Spenden öffentlichdicketun, nur um ihr Image zu polieren, das ist schon peinlich. Und Missbrauch von Fasten, nun gut, soll es auch geben. Man kann schließlich alles übertreiben, wenn man sich allein die vielen Magermodels vor Augen hält. Aber Missbrauch des Gebets? Kann es das auch geben? Ja, sagt Jesus. „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.“ (Matthäus 6,5.7)

    Diesem Missbrauch des Gebets hält Jesus nun das Vaterunser entgegen: „Darum sollt ihr so beten.“ Man kann fragen, was genau mit dem Wörtchen „so“ gemeint ist. Wenn man den eingangs erwähnten, manchmal fast schon inflationären Gebrauch des Vaterunsers ansieht, dann kann dieses „so“ keinesfalls bedeuten, ausgerechnet mit dem Vaterunser in den Missbrauch des „Viele-Worte-Machens“ zurückzufallen. Und wenn man sich die beiden Textvarianten bei Matthäus und Lukas vergegenwärtigt, dann kann das „so“ wohl auch nicht als ein „so und nicht anders“ verstanden werden. Der Zusammenhang legt vielmehr nahe, das „so“ so zu verstehen, dass mit den Worten des Vaterunsers eine Art Anleitung zum rechten Beten gegeben werden soll, ein Hinweis darauf, was im Gebet wichtig ist und was nicht. Sicher ist das Vaterunser selbst ein Gebet. Und auch nicht irgendeins, sondern in der Tat das, „das Jesus Christus selbst uns gelehrt hat“. Und schon deshalb sollte sein Gebrauch von höchstem Respekt und großer Gewissenhaftigkeit geprägt sein. Mehr noch aber scheint es ein grundlegendes Modell zu sein, wie rechtes Beten aussehen kann. Und warum dann nicht auch mit anderen oder gar eigenen Worten?

    Für diese Deutung des Wörtchens „so“ spricht auch der Zusammenhang bei Lukas. Auch dort geht es um das Thema „Beten“, aber anders als bei Matthäus. Es heißt da: „Und es begab sich, dass Jesus an einem Ort war und betete. Als er aufgehört hatte, sprach einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte.“ (Lukas 11,1) Die Frage der Jünger richtet sich also auf das „wie“ des rechten Betens, so wie sie das etwa bei Johannes dem Täufer und dessen Anhängerschaft beobachtet hatten. Indem Jesus nun auf die Bitte seiner Jünger antwortet: „Wenn ihr betet, so sprecht“, dann ist dieses „so“ offenbar genau die Antwort auf das erbetene „wie“. Das Vaterunser also vor allem die Antwort auf die Frage nach der rechten Art und Weise des Betens.

    Bereits diese ersten Beobachtungen am biblischen Text machen deutlich, dass das Vaterunser ganz und gar nicht dazu angetan ist, bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit sozusagen ohne Sinn und Verstand „geplappert“ zu werden. Ganz im Gegenteil. Das Vaterunser mit seinen vielen gewichtigen Inhalten hält uns dazu an, uns selber Gedanken zu machen, wie und was überhaupt verantwortungsvoll zu beten ist. Das Vaterunser ist kein Gebet zum gedankenlosen Runterleiern. Es ist vor allem ein Gebet zum Nachdenken.