INHALT

Vorwort

Merkel – ein Scheinriese

Norbert Bolz

Merkels Erfolgsgeheimnis – Über den autoritären machtpolitischen Stil der Kanzlerin

Werner J. Patzelt

Wohin steuert die Union? – Die Kanzlerin hat ihre Partei in eine schwierige Lage gebracht

Wolfgang Ockenfels

Das hohle C – Über Angela Merkels politisches Christentum

Ralf Georg Reuth

Merkels doppelte Biographie – Welche Folgen haben ihre DDR-Prägungen bis heute?

Birgit Kelle

Vergeudung weiblicher Potentiale – Die Sozialdemokratisierung der CDU-Familienpolitik

Daniel Koerfer

Der verlorene Kompass – Angela Merkels Abkehr von Ludwig Erhard und der Sozialen Marktwirtschaft

Dominik Geppert

Die Illusion der deutschen Thatcher – Zwischen der Kanzlerin und der Eisernen Lady liegen Welten

David Marsh

Die Widersprüche der Euro-Krise – Über deutsche Macht und Ohnmacht in der Währungsunion

Henning Klodt und Stefan Kooths

Von der roten Laterne zum Siegerpokal? – Merkels makroökonomische Bilanz erscheint besser, als sie ist

Justus Haucap

Deutschlands teurer Irrweg in der Energiepolitik – Gefährlich steigende Stromkosten bei null Klimaschutzwirkung

Roland Tichy

Lyssenko oder Apollo? – Die ideologisch-planwirtschaftliche Technologiepolitik der Kanzlerin

Cora Stephan

Versagen in der Flüchtlingspolitik – Merkel hat sich im entscheidenden Augenblick weggeduckt

Thilo Sarrazin

Anmerkungen eines Nicht-Hilfreichen – Wie man die fatale Migrationspolitik korrigieren müsste

Michael Wolffsohn

Populus und Pöbel – Angela Merkel und die Populisten – kein Nachruf

Rafael Seligmann

Bei aller Sympathie – Merkel hat Deutschlands Juden enttäuscht

Necla Kelek

Das Märchen von der Integration – Zwölf verlorene Jahre unter der Merkel-Regierung

Anthony Glees

Bye-bye Britain – Wie Angela Merkel den Ausschlag zum Brexit gab

Boris Kálnoky

Entfremdung von Deutschland – Die Kanzlerin hat die Osteuropäer vor den Kopf gestoßen

Andreas Unterberger

Von der Mutti Germaniae zur Minusfrau – Wie Merkel in Österreich gesehen wird

Christopher Caldwell

Ungleiche Paare – Bush, Obama, Trump: Merkels Verhältnis zu den amerikanischen Präsidenten

Erich Vad

Angela Merkel und das Dilemma deutscher Sicherheitspolitik – Eingeklemmt zwischen Pazifismus und maroder Bundeswehr

Über den Herausgeber

Die Autoren

VORWORT

MERKELEIN SCHEINRIESE

»Sie kennen mich« – mit diesem Satz warb Angela Merkel vor vier Jahren für ihre Wiederwahl. Doch wer ist Merkel wirklich? Was sind ihre Überzeugungen, was ist Opportunismus? Die Kanzlerin ist eine verschlossene Politikerin, sie bleibt vielen Beobachtern rätselhaft. Was sie denkt, wissen nur wenige Vertraute. Über ihre frühe Biographie ist kaum etwas bekannt. 1989 tauchte sie scheinbar aus dem Nichts auf der politischen Bühne auf, machte eine Blitzkarriere, die sie ins wichtigste Regierungsamt der Republik geführt hat. In ihrer Partei gilt sie heute als »alternativlos«. Doch was sind ihre Verdienste, was waren ihre größten Fehler? Die Meinungen darüber gehen weit auseinander.

Merkels politische Karriere erscheint im Rückblick unglaublich. Geboren wurde sie 1954 in Hamburg als Angela Kasner, Tochter eines Pfarrers, der mitsamt Familie in die DDR überwechselte. Dort konnte sie Physik studieren und arbeitete an der Akademie der Wissenschaften. Im Wendejahr 1989 wurde Merkel auf die politische Bühne katapultiert. 1990 trat sie in die CDU ein, schon zwei Jahre später saß sie als Kohls »Mädchen« im Bundeskabinett. Ende 1999 hat Merkel in der Spendenaffäre den politischen Ziehvater vom Sockel gestoßen, ist kurz darauf an die Spitze der CDU aufgestiegen. Seit 2005 amtiert Merkel als Bundeskanzlerin. Schon fast zwölf Jahre lang sitzt sie nun im Kanzleramt. Kein anderer Regierungschef der westlichen Welt hat sich in der stürmischen Zeit seit der Finanz-, Schulden- und Euro-Krise so lange halten können. Wird sie im September 2017 wiedergewählt, könnte Merkel an die 16 Jahre Amtszeit Kohls heranreichen. Adenauer hätte sie an Amtsjahren übertroffen.

Für ihre Fans ist Merkel eine Lichtgestalt. Sie sei die »letzte Verteidigerin des liberalen Westens«, schrieb die New York Times nach der Wahl Donald Trumps. Die Brüsseler Ausgabe des Internetmagazins Politico verstieg sich zur Überschrift, Merkels neuer Job sei »global savior« (globaler Heiland). Solch überzogene Erwartungen sind gefährlich, denn zwischen Schein und Sein klafft eine Lücke. Je mehr man Merkels politisches Wirken näher untersucht, desto brüchiger wird der Heiligenschein, desto mehr schrumpft die Riesengestalt. Merkel ist ein Scheinriese, eine gewiefte, aber überschätzte Politikerin.

Lässt man die Merkel-Jahre Revue passieren, findet man reihenweise planlose, undurchdachte Entscheidungen und abrupte, opportunistische Wenden – mit gravierenden Konsequenzen für Deutschlands gesellschaftliche Stabilität und Wohlstand. Das von ihren Spin Doctors gezeichnete Bild einer Kanzlerin, die alle Dinge »vom Ende her denkt«, die quasi kühl-naturwissenschaftlich die Konsequenzen, Chancen und Risiken abwägt, ist Fiktion. Vielmehr hat Merkel in entscheidenden Phasen – in der Euro-Krise, bei der Energiewende und in der Asylkrise – ohne Plan gehandelt. Sie fuhr in der Euro-Krise »auf Sicht« und hat sich verirrt. Bei der Energiewende hat sie sich von Ängsten in Medien und Bevölkerung leiten lassen. Und nicht zuletzt bei der Migrationskrise hat sie kopflos gehandelt und ganz Europa ein gewaltiges Problem aufgeladen.

In diesem Buch nähern sich renommierte Wissenschaftler und Publizisten dem Phänomen Merkel in seinen verschiedenen Facetten. Es ist eine differenzierte, ehrliche Analyse ihres Wirkens. Die Autoren entstammen einem liberal-konservativen intellektuellen Milieu, sind eigentlich Sympathisanten einer bürgerlichen Regierung, einige sind CDU-Mitglieder. Doch ihre Irritation ist groß. Durch abrupte Kehrtwenden und die Verschiebung der Union weit nach links hat Merkel zur Entfremdung weiter Teile des klassischen Bürgertums von der CDU beigetragen. Die vorliegende Merkel-Bilanz ist somit auch ein Dokument der Enttäuschung der konservativen und liberalen Kreise über ihre Kanzlerin.

Der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz befasst sich im ersten Text des Bandes mit dem politischen Stil der Kanzlerin. Ihre modische Unauffälligkeit, ihre kolportierte Uneitelkeit, ihr Fleiß und intelligenter Opportunismus, die Rolle als »Mädchen« in Kohls Kabinetten, das von allen Konkurrenten unterschätzt wurde, die Merkel-Raute als Erkennungszeichen, die vage Rhetorik, das »Schweigen als Waffe«, der Mythos der Naturwissenschaftlerin – all dies sind für Bolz Elemente des merkelschen Erfolgsrezepts. Er zeigt, dass die Kanzlerin einen autoritären Politikstil betreibt, der nicht auf einem offenen, demokratischen Diskurs beruht, sondern auf der Verweigerung von Debatten.

Europa, Deutschland und ihre Partei gespalten

Ein Dauerbegleiter von Merkels Kanzlerschaft war und ist die Euro-Krise. Das Projekt der europäischen Einigung hat tiefe Risse bekommen. Dazu hat die deutsche Regierungschefin maßgeblich beigetragen. Die Bundesrepublik ist de facto Zahlmeister, wird aber im Süden der EU wie ein Zuchtmeister wahrgenommen. Noch folgenreicher war Merkels Alleingang in der Flüchtlingskrise. Er hat nicht nur Europa gespalten, wie mehrere Autoren dieses Buches kritisieren, sondern auch das Brexit- Lager in Großbritannien zum Erfolg geführt, wie der Londoner Politikwissenschaftler Anthony Glees zeigt. Mit dem Brexit verliert Deutschland in Europa einen seiner wichtigsten Verbündeten. Während Merkel auf Dutzenden Gipfeltreffen darum kämpfte, das kleine, periphere Griechenland an Bord zu halten, zeigte sie den Briten die kalte Schulter.

Die Flüchtlingskrise 2015/2016 ist die eigentliche Zäsur ihrer Kanzlerschaft. Von »Merkel-Dämmerung« war plötzlich die Rede. Die CDU hat danach in mehreren Landtagswahlen Niederlagen erlitten. Schon zuvor hat es Merkel zugelassen, dass eine Partei rechts der Union aufsteigt: Die AfD gründete sich als Protestpartei gegen Merkels Euro-Politik, den richtigen Schub bekam sie aber erst durch ihre Flüchtlingspolitik. Dadurch zeichnet sich eine langfristige tektonische Verschiebung der parteipolitischen Landschaft ab, analysiert der Politologe Werner Patzelt.

Mit ihrer Politik der anfangs unbegrenzten Aufnahme von Migranten hat Merkel nicht nur Deutschland und die Unionsparteien, sondern ganz Europa gespalten, wie die Journalisten Andreas Unterberger und Boris Kálnoky beschreiben. »Merkel, die bis dahin als nüchterne, gefühllose Pragmatikerin gegolten hatte, wurde in Mittelosteuropa zum Inbegriff überheblich moralisierender Inkompetenz am Steuer des mächtigsten Landes in Europa«, schreibt Kálnoky. Während die Balkanländer die Hauptroute der Migranten schlossen, was Merkel kritisierte, fädelte sie etwas später den umstrittenen Deal mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Erdoğan ein. Seither ist Deutschland abhängig von einem autoritären Neo-Sultan.

It’s the economy, stupid

Wahlen werden oft mit Wirtschaftsthemen gewonnen oder verloren. »It’s the economy«, sagte einmal ein Berater des früheren amerikanischen Präsidenten Bill Clinton. Auch die CDU verweist im Wahljahr 2017 auf die angeblich bärenstarke Wirtschaftsbilanz der Kanzlerin. Wir leben in einer »Boomdesrepublik Deutschland«, schrieb die »Bild«-Zeitung im April. Anders als im Rest Europas ist die Arbeitslosenquote hierzulande niedrig. Deutschland gleicht einer Insel der Seligen inmitten eines Meeres von Schulden, Arbeitslosigkeit und stagnierenden Einkommen. Die Stärke Deutschlands wird im Ausland bewundert – und gefürchtet. Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron nannte sie im Wahlkampf »unerträglich«.

Nur ist die Frage, was an dieser starken Wirtschaftslage Merkels Verdienst ist. Henning Klodt und Stefan Kooths vom Kieler Institut für Weltwirtschaft zeigen, dass Merkel vor allem von der Arbeit der Vorgängerregierung profitierte. Das »Beschäftigungswunder« ist größtenteils den Reformen ihres Vorgängers, der »Agenda 2010« Gerhard Schröders, zu verdanken, der dafür mit dem Amtsverlust bezahlte. Hinzu kommt die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Die Nullzins- und inzwischen sogar Negativzinspolitik gibt der Konjunktur einen Extraschub, den Sparern aber bringt sie jedes Jahr Milliarden-Einbußen.

Die Euro-Krise ist zudem längst nicht überstanden, wie der britische Währungsexperte David Marsh schreibt. Griechenland bleibt das Sorgenkind des Euroraums. Bei realistischer Betrachtung wird ein Großteil der an das Land vergebenen Hilfskredite abzuschreiben sein. Das kostet Deutschland einen zweistelligen Milliardenbetrag. In der Krise hat sich der Charakter der Währungsunion schleichend gewandelt: zu einer Haftungsunion.

Als die widerstrebenden Deutschen von Kanzler Helmut Kohl in die Währungsunion geführt wurden, beschwor man das »No-Bailout«-Prinzip als Sicherung gegen eine Schulden- und Transferunion: »Was kostet uns der Euro?«, hieß es auf einem inzwischen legendären CDU-Wahlplakat zur Europawahl 1999. »Muss Deutschland für die Schulden anderer Länder aufkommen? – Ein ganz klares Nein.« Aufgrund der Maastricht-Stabilitätskriterien könnten »die Euro-Teilnehmerstaaten (…) auf Dauer ohne Probleme ihren Schuldendienst leisten«. Soweit das Versprechen. Heute kann man darüber nur lachen – oder weinen.

Die Kanzlerin leistete in der Euro-Krise zwar Lippenbekenntnisse zum »No-Bailout«-Prinzip. Faktisch hat es aber doch eine Vergemeinschaftung der Schulden gegeben, wie David Marsh schreibt. Zum einen über die Rettungskredite, zum anderen über das Target-Zahlungssystem, eigentlich ein bloßes Zahlungsabwicklungssystem der Notenbanken, das aber seit Ausbruch der Euro-Krise für gigantische Überziehungskredite der Südländer genutzt wird. Im Frühjahr 2017 überstiegen die Target-Schulden der Krisenländer mehr als eine Billion Euro, die deutschen Target-Forderungen belaufen sich auf mehr als 800 Milliarden Euro. Zu fragen ist, wie es um die demokratische Legitimation der Euro-Rettungspolitik steht, die von Merkel als »alternativlos« durchs Parlament gepeitscht wurde. Nicht nur Marsh verwundert, dass es über die Target-Milliarden und die daraus erwachsenden Verlustrisiken noch nie eine Debatte im Deutschen Bundestag gegeben hat. Dem Volk wird Sand in die Augen gestreut. Beruhigend heißt es, die Euro-Krise sein weitgehend ausgestanden.

Planwirtschaft statt Marktwirtschaft

Als zweites Milliardengrab hat sich die sogenannte Energiewende entpuppt. Kurz nach dem Fukushima-Unglück verkündete Merkel einen abrupten Schwenk hin zu einem beschleunigten Ausstieg aus der Atomenergie. Kein anderes Land der Welt folgte ihrem Beispiel, selbst Japan nicht, das von dem Unglück unmittelbar betroffen war.

Deutschland reist mit der Energiewende in eine ungewisse Zukunft. Der frühere Umwelt- und heutige Kanzleramtsminister Peter Altmaier hat die Gesamtkosten auf eine Billion Euro geschätzt. Eine Studie des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie DICE um den Ökonomen Justus Haucap kommt allein für die kommenden zehn Jahren auf 520 Milliarden Euro Kosten zulasten der Verbraucher. Haucap kritisiert den energiepolitischen Sonderweg in diesem Buch vor allem deshalb, weil er planwirtschaftlich angelegt ist und damit übermäßig hohe Kosten verursacht.

Das Tragische dabei ist, dass die klimapolitische Wirkung der deutschen Energiewende praktisch gleich null ist. Keine einzige Tonne CO2 wird in Europa eingespart. Denn die Gesamtmenge der CO2-Emissionen ist durch den europäischen Zertifikatehandel gedeckelt. Verbraucht Deutschland weniger CO2-Zertifikate, fällt deren Preis, und andere Länder und Industrien kaufen mehr Zertifikate: Die Gesamtmenge der Emissionen bleibt absolut gleich. Die Kanzlerin, die sich von den Medien als »Klimakanzlerin« feiern ließ, ist hier eindeutig ein Scheinriese. Man könnte sogar von Hochstapelei sprechen.

Der Publizist Roland Tichy vergleicht die Energiewende mit anderen technologiepolitischen Großprojekten, nämlich dem amerikanischen Apollo-Raumfahrtprogramm und der sowjetischen Agrarforschung. Für ihn ist die deutsche Energiepolitik viel zu stark von Ideologie getrieben. Auch der von Merkel forcierte Plan zur Elektromobilität mit der Zielvorgabe, bis 2020 eine Million Elektrofahrzeuge auf die Straße zu bringen und dafür staatliche Kaufsubventionen zu geben, atme planwirtschaftlichen Geist.

Im direkten Vergleich mit Ludwig Erhard, dem Gründervater der Sozialen Marktwirtschaft, schneidet die Kanzlerin miserabel ab, resümiert der Historiker Daniel Koerfer. Merkel fehle der ordnungspolitische Kompass. Die wirtschaftlichen Grundprinzipien der Bundesrepublik – individuelle Freiheit und Verantwortung, Wettbewerb und stabiler staatlicher Rahmen – seien in ihrer Kanzlerzeit beschädigt worden. Die Steuer- und Abgabenquote liegt in Deutschland mit fast 50 Prozent für einen Normalverdiener auf dem zweithöchsten Niveau aller Industrieländer. Aus liberaler Perspektive seien die Merkel-Jahre verlorene Jahre. Auch im Vergleich mit Margaret Thatcher, der früheren britischen Premierministerin, schneidet Merkel schlecht ab. Während die Britin als »Eiserne Lady« stets zu marktwirtschaftlichen Prinzipien stand, sei Merkel flexibel bis zur Beliebigkeit, schreibt der Historiker Dominik Geppert.

Im Migrationschaos: Wie Mutter Angela die Flüchtlinge einlud

Besonders aufgewühlt hat die Deutschen und alle Europäer Merkels Flüchtlings-, Migrations- und Integrationspolitik. Mehrere Beiträge in diesem Band analysieren, was bis heute falschläuft und welche Verantwortung Merkel dafür trägt. Die Publizistin Cora Stephan kritisiert ein eklatantes Regierungsversagen. Aus Angst vor »unschönen Bildern«, wenn Flüchtlinge und Migranten zurückgewiesen würden, scheute Merkel davor zurück, den schon vorliegenden Befehl an die Bundespolizei zur Grenzsicherung im Herbst 2015 zu unterzeichnen. Bis heute sind ihre Motive für die Flüchtlingspolitik umstritten. Merkel habe ein angeblich »warmes Herz« über den kühlen Verstand gestellt, meint Stephan, wohl auch, weil sie die medial inszenierte Willkommenseuphorie falsch einschätzte. Auch als die Stimmung längst gekippt war, hielt die Kanzlerin noch monatelang an ihrem »Wir schaffen das«-Kurs fest.

Für einen fundamentalen Kurswechsel in der Migrations- und Asylpolitik plädiert der frühere SPD-Politiker Thilo Sarrazin. Die langfristige finanzielle Belastung durch die Flüchtlinge schätzt er auf bis zu eine Billion Euro. »Für noch schwerwiegender als die finanziellen Kosten halte ich die sozialen Kosten und die langfristigen Risiken einer millionenfachen Einwanderung aus islamischen Ländern«, schreibt Sarrazin. Nötig wäre ein radikaler Schwenk – hin zu einer nach Qualifikation steuernden Einwanderungspolitik und einem Asylsystem, das nicht länger faktisch ein Einfallstor für unkontrollierte Zuwanderung ist.

Aus einer anderen Perspektive beurteilt der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn die Entscheidungen der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise. Zwar kritisiert er, dass sie eine chaotische Immigration zugelassen habe. Dennoch, so betont Wolffsohn, leitete Merkel ein »humanitärer Imperativ«. Das sei lobenswert, gerade angesichts der deutschen Geschichte. Allerdings kritisiert auch er, dass die heutige Asylpolitik zu neuen Problemen führe. Man importiere mit der muslimischen Massenimmigration die Konflikte des Orients, neue Integrations- und Sicherheitsprobleme. Wer das aber kritisiere, werde als »Populist« rasch in die rechte Ecke gestellt und diffamiert.

Der deutsch-jüdische Schriftsteller Rafael Seligmann erklärt, dass viele Juden in Deutschland mit Blick auf Merkels Flüchtlingspolitik gemischte Gefühle haben: Einerseits unterstützen sie die Absicht, Verfolgten zu helfen, doch angesichts der muslimischen Massenimmigration fürchten viele das Konfliktpotential und zunehmenden Antisemitismus. Noch deutlicher wurde der Philosoph Alain Finkielkraut in einem Interview: »Ich habe Angst vor Merkels Gesinnungsethik.« Die Deutschen unter Merkel seien blind für die mit einer muslimischen Masseneinwanderung verbundene Gefahr der Islamisierung, warnte der Philosoph aus Frankreich, das mit muslimisch-arabischen Ghettos in seinen Vorstädten schlimme Erfahrungen gemacht hat.

Die türkisch-deutsche Soziologin Necla Kelek analysiert in ihrem Beitrag die Fort- und Rückschritte in Sachen Integration in Deutschland in den Merkel-Jahren. Ihr hartes Urteil: Es waren »zwölf verlorene Jahre«. Die Integration der Muslime sei zum großen Teil missglückt. »Integration ist das Fake-Wort des Jahrzehnts, die einzige Lüge, für die es eine eigene Beauftragte der Bundesregierung gibt«, schreibt Kelek. Mit Blick auf die Türken beklagt Kelek sich verfestigende Parallelgesellschaften. In zahlreichen Moscheen werde gegen die Integration gepredigt. Die Regierung Merkel habe das viel zu lange geduldet.

Linksverschiebung, verflachtes Profil, offene Flanke

Zu Merkels bleibendem Erbe zählt die Verschiebung des Parteienspektrums. Einige Zeit lang war die als »Modernisierung« bezeichnete Linksverschiebung der Union und die »asymmetrische Mobilisierung« (eher linke Themen bedienen, um linke Wähler einzuschläfern) für die Union wahltaktisch erfolgreich. Doch auf die Dauer hat Merkel damit viel Raum rechts neben der CDU gelassen, wie der Politologe Werner Patzelt analysiert. In diese Repräsentationslücke ist die AfD als neue Konkurrenz von rechts vorgedrungen. Nun rächt sich, dass Merkel den rechten Flügel der Union verdorren ließ. Viele enttäuschte CDU-Mitglieder gehörten zu den AfD-Mitgründern. Was CSU-Übervater Strauß verhindern wollte – die Etablierung einer demokratisch legitimierten Partei rechts der Union –, ist unter Merkel Realität geworden. Außerdem fremdelte die sozialdemokratisierte CDU in der Koalition mit der FDP und sah deren Absturz 2013 ungerührt zu – eine bittere Erfahrung für die Liberalen.

Auch das C-Profil der Union hat sich unter Merkel stark verwässert, kritisiert der Sozialethiker Wolfgang Ockenfels, ein langjähriges CDU-Mitglied. Aus dem hohen C drohe ein hohles C zu werden. Über die Sozialdemokratisierung der CDU-Familienpolitik schreibt die Publizistin Birgit Kelle. Den Lebensentwurf von Müttern, die keine Erwerbsarbeit ausüben und sich auf die Erziehung der Kinder konzentrieren, hat Merkel in anmaßender Weise als »Verschwendung weiblicher Potentiale« bezeichnet, kritisiert Kelle. Faktisch habe die CDU ihr altes Familienbild entsorgt und sich der SPD-Familienpolitik mit (meist staatlicher) Fremdbetreuung der Kinder angepasst. Es drohe eine »DDR 2.0«, schreibt Kelle.

Von der DDR-Prägung Merkels, ihrer »doppelten Biographie«, handelt der Beitrag des Historikers Ralf Georg Reuth. Merkel spreche nicht ehrlich über die Zeit vor der Wiedervereinigung. Reuth hat aus Archivquellen und Zeitzeugenbefragungen ein Bild ihres »ersten Lebens« rekonstruiert, das Merkel als eine intelligente Opportunistin im SED-Regime zeigt. Im Wendejahr 1989 schloss sie sich dem »Demokratischen Aufbruch« an, einer Partei von Reformsozialisten, die die DDR reformieren, nicht abschaffen wollten. Erst als diese Illusion platzte, wechselte Merkel abrupt ihre Ansichten und das Vehikel, das sie zur Macht bringen sollte. Reuth bezweifelt, dass die Kanzlerin tiefe Grundüberzeugungen habe; sie sei vielmehr eine extrem wendige Frau, die Politik als kalkuliertes Machtspiel betreibt.

Zenit der Macht überschritten

Am Schluss des Buches werfen zwei Beiträge einen Blick auf die weltpolitische und sicherheitspolitische Lage. Der amerikanische Publizist Christopher Caldwell beschreibt die drei ungleichen transatlantischen Paare Merkel-Bush, Merkel-Obama und Merkel-Trump. Mit Trump werde es Merkel schwer haben, meint der Autor. Ironischerweise ist die Kanzlerin an seiner Wahl nicht ganz unschuldig, Stichwort Flüchtlingspolitik. Merkel war im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016 wiederholt als Negativfaktor präsent. Trump warnte, seine demokratische Konkurrentin Hillary Clinton wolle »Amerikas Angela Merkel« sein und das Land mit Fremden fluten.

Nicht wenige Medien haben Obamas Abschiedsbesuch in Berlin im Januar 2017 wie eine Staffelübergabe des scheidenden »Führers der freien Welt« an seine Nachfolgerin beschrieben. Aber es ist eine Illusion, dass Merkel eine Weltführerin sein könnte, gar die »letzte Verteidigerin des liberalen Westens«, schreibt General Erich Vad, der mehrere Jahre lang der führende sicherheitspolitische Berater im Kanzleramt war. Dafür sei Deutschland militärisch und außenpolitisch viel zu schwach. Auch wenn er die Kanzlerin selbst als erstaunlich kaltblütig erlebt hat, etwa als ihr Hubschrauber einmal im afghanischen Grenzgebiet von Taliban mit Raketen beschossen wurde. Damals sei die Kanzlerin »vollkommen ruhig und gefasst« geblieben.

Die Kontrolle über ihre Emotionen hat Merkel lange genutzt. In zentralen politischen Krisen hat sie die Kontrolle jedoch verloren und kopflos gehandelt. Die Kanzlerin wird diese kritische Bilanz vermutlich »nicht hilfreich« finden. Das Bild, das die Autoren und Autorinnen dieses Bandes zeichnen, ist das einer überschätzten Politikerin, die gravierende Fehler gemacht hat.

Bislang hat Merkel genutzt, dass die SPD stets eher schwache Herausforderer aufgestellt hat. Der kurze Medien-Hype um den SPD-Kandidaten Martin Schulz vom Februar und März 2017 ist längst verpufft, sein »Schulz-Zug« entgleist. Die CDU hat bei den drei Landtagswahlen im Frühjahr 2017 Siege eingefahren. Merkel dürfte die Bundestagswahl im September abermals gewinnen.

Den Zenit ihrer Macht hat sie aber überschritten. In der Endphase ihrer Kanzlerschaft werden die Konflikte zunehmen, auch in ihrer Partei. Zunehmend dringlich wird die Frage diskutiert, wer nach ihr kommt. Denn nichts und niemand ist alternativlos.

Frankfurt, im Mai 2017

Philip Plickert

Vorwort zur siebten Auflage

Der große Erfolg dieses Buchs, das mehr als drei Monate auf der »Spiegel«-Bestsellerliste stand und nun in siebter Auflage erscheint, hat das Erdbeben der Bundestagswahl 2017 schon angedeutet: Die Merkel-CDU fiel auf das schlechteste Ergebnis seit 1949, Millionen Wähler liefen zu den wiedererstarkten Liberalen und zur AfD über. Es gibt eine deutliche Entfremdung des liberal-konservativen Bürgertums von der Merkel-CDU. Irritierend waren die Worte der Kanzlerin nach der Wahl, sie wüsste nicht, was sie hätte anders machen sollen. Sie bleibt aber flexibel. Als »Chamäleon der Macht« wollte sie sich in enger Absprache mit den Grünen in eine Jamaika-Koalition begeben, doch das scheiterte. Nun quälen sich Union und  SPD in eine Schrumpf-Groko. Inhaltlich hat die Union kaum noch wahrnehmbare eigene Positionen, es geht rein um den Machterhalt Angela Merkels. Die Erosion ihrer Autorität und Macht ist aber mit Händen greifbar. Sie ist nun eine Kanzlerin auf Abruf.


Philip Plickert,
im Dezember 2017

NORBERT BOLZ

MERKELS ERFOLGSGEHEIMNIS

Über den autoritären machtpolitischen Stil der Kanzlerin

Wie konnte aus Helmut Kohls »Mädchen« die mächtigste Frau der Welt werden? Um diese Frage zu beantworten, muss man beim Äußerlichen anfangen, nämlich ihrer Unauffälligkeit. Angela Merkel hat vor allem eines nicht: Charisma. Deshalb hat man sie von Anfang an unterschätzt. Als sich dann, nach ihrer erstaunlich dauerhaften Selbstbehauptung an der Machtspitze, weder die Politiker noch die Journalisten weiter trauten, sie als »Mädchen« zu belächeln, wurde sie Deutschlands »Mutti«. Aber auch durch diese ironisch-respektvolle Umetikettierung änderte sich das Entscheidende nicht.

Nach wie vor liegt der Akzent auf ihrem asexuellen Auftritt. Das hat Christine Eichel in ihrem schönen Buch über das protestantische Pfarrhaus als Hort des Geistes und der Macht überzeugend herausgearbeitet: »Die modische Zurückhaltung der Kanzlerin wirkt auch deshalb adäquat, weil sie mit ihren immer gleichen farbigen Blazern und schwarzen Hosen im Grunde die Uniform der Dienenden trägt. Nicht die Staatslenkerin steht am Rednerpult, sondern die Staatsdienerin. Keine modische Übertreibung, keine Weiblichkeit, keine Koketterie lassen das Amt hinter der Person zurücktreten. Sie gibt sich so asexuell, wie man die Frauen in Pfarrhäusern gern hatte. Schon in der Schule hieß es, sie hätte keinem Jungen die Augen verdreht. Uniformen wie auch der Talar des Pfarrers vermitteln eine Botschaft: Ich nehme mich nicht wichtig, ich gehe in meinem Berufsstand auf und ordne ihm Persönliches unter.«

Die Mutti eines neuen Biedermeiers

Am Beginn ihrer politischen Karriere war Angela Merkel nicht nur eine uninteressante Erscheinung, sondern geradezu auffallend unauffällig. Ihr Image hatte deshalb nur zwei Entwicklungsdimensionen: Fleiß und Selbstbeherrschung. Dass dies von den Deutschen als authentischer, überzeugender Auftritt empfunden wurde, kann man aber nur verstehen, wenn man sich daran erinnert, gegen wen sich das Pfarrhausmädchen aus der DDR durchgesetzt hat. Angela Merkel hatte das Glück, einen doppelten Kairos zu erwischen. Zum einen gab es mit dem Spendenskandal der CDU die unverhoffte Möglichkeit, den Koloss aus Oggersheim zu stürzen. Zum anderen hatte die Agenda 2010 die rot-grüne Regierung in eine Krise gestürzt.

Durch diese Krise wurden zwei Figuren demontiert, die bisher souverän die politische Szene beherrschten. Gerhard Schröder und Joschka Fischer waren Glamour-Boys mit männlichem Sex-Appeal, denen das Regieren Spaß machte. Schröder war der Genosse der Bosse, der gerne im Brioni-Anzug und mit Cohiba-Zigarre auftrat. Er war ein echtes politisches Tier, das ganz von unten kam und erfolgreich am Gitter des Kanzleramts gerüttelt hatte. Unvergessen ist sein »Basta!«, mit dem er im Herbst 2000 der Gewerkschaft ÖTV die Riester-Rente einbläute. Schon zwei Jahre vorher hatte Schröder mit der flapsigen Formel »Familie und Gedöns« für das Familienministerium eine Probe seiner Macho-Rhetorik gegeben. Ähnlich faszinierend war auch der Auftritt des ehemaligen Taxifahrers und Straßenkämpfers Fischer, der zunächst als hessischer Turnschuh-Minister die Medienöffentlichkeit entzückte und schließlich als Außenminister für alle deutlich sichtbar die Last der Welt auf seinen Schultern trug. Angela Merkel war die exakte Gegenfigur zu diesen Machos Schröder und Fischer. Nach den Rock’n’Rollern und Streetfighting Men kam die Mutti eines neuen Biedermeier.

Nach dem Fall der Mauer betritt ein analytischer Kopf die politische Bühne. Sie ist fleißig und diszipliniert, kinderlos, geschieden und, seien wir ehrlich, manchmal hässlich. Aber gerade das schützt sie vor der Eitelkeit, die Schröder und Fischer zu Fall gebracht hat. Unter der kommunistischen Diktatur war Merkel keine Widerstandskämpferin. Aber sie hat den Zusammenbruch des Kommunismus sofort entschlossen für einen Sprung in die Politik genutzt. Nun könnte man vermuten, dass ihre Herkunft aus einem protestantischen Pfarrhaus sie für die Partei der reinen Gesinnungsethiker disponieren würde. Aber Angela Merkel stammt eben nicht nur aus einem protestantischen Pfarrhaus, sondern aus einem in der DDR. Von Kindesbeinen an hat sie einen intelligenten Opportunismus im Verhältnis zur DDR eingeübt. Man könnte auch sagen: die Kunst des Überlebens. Und deshalb ist ihr Machiavelli genauso nah wie die Bergpredigt.

Dafür gibt es ein interessantes Symptom. Wenn wir davon ausgehen, dass in der Medienwirklichkeit der Auftritt, die Performanz zählt, dann muss sich unsere Aufmerksamkeit auf Merkels berühmte eingefrorene Geste richten: die Raute. De facto resultiert sie aus dem Versuch, einen stabilen Platz für die Arme zu finden, mit denen sie nichts anzustellen weiß. Mittlerweile aber ist sie zum weltweit bekannten Symbol geworden. Für was? Für Ruhe und Kraft, Harmonie und Zusammenführung, Besonnenheit und Status quo – you name it!

Wille zur Macht und alternativlose Politik

Für die CDU war die Raute schließlich das Nonplusultra des Wahlkampfs. Aber man kann in Angela Merkels Raute auch eine Demutsgeste sehen, die ihren Machiavellismus verdeckt. Und aus dieser Perspektive können wir schon eine erste Antwort auf unsere Ausgangsfrage geben: Der Aufstieg von Kohls »Mädchen« zur mächtigsten Frau der Welt ist deshalb so verblüffend, weil man Angela Merkel aufgrund ihres bescheidenen, unprätentiösen Auftretens eines am allerwenigsten zugetraut hätte: einen gewaltigen Willen zur Macht.

Demokratie muss man üben, und Menschen, die in der freien Welt aufgewachsen sind, haben gute Chancen, sie von Kindesbeinen an zu lernen. Aber Angela Merkel hatte vor ihrem Sprung in die westdeutsche Politik nur unter der SED-Diktatur gelebt. Da konnte sich Freiheitsverlangen bilden, aber kein alltägliches Demokratieverständnis. Demokratie hat sie sich buchstäblich angelesen. Ihre analytische Schärfe und ihre Durchsetzungskraft werden ja weltweit bewundert, aber sie gehen mit der autoritären Attitüde einher, stets die absolut richtige Entscheidung getroffen zu haben. Wer das in Zweifel zieht, wird aus dem Verkehr gezogen oder mundtot gemacht. Diese Rhetorik der Alternativlosigkeit hat für viele Menschen natürlich einen Entlastungseffekt. Man muss nur Mutti folgen, dann ordnet sich die Welt. Aber diese Rhetorik hat eben auch den Effekt, dass sich innerhalb der CDU und der Regierung gar kein Alternativenbewusstsein mehr bilden kann. Deshalb war es gar nicht überraschend, dass sich angesichts der Euro-Krise und des Griechenland-Debakels, als Angela Merkel erstmals penetrant behauptete, es gebe zu ihrer Politik keine Alternative, eine neue Partei bildete, in deren Namen schon das ganze Programm steckte: Alternative für Deutschland. Was auch immer aus dieser neuen Partei bis heute geworden sein mag – ihr Gründungsimpuls war zutiefst demokratisch.

Alternativlos präsentiert sich aber nicht nur Merkels Politik, sondern auch ihre Person. Die seltenen Talkshows mit ihr, in denen sie natürlich der einzige Gast ist, verwandeln sich sofort in unterwürfige Hofberichterstattung. In Peter Altmaier verfügt sie über eine unwiderstehliche rhetorische Dampfwalze, die den Weg ihrer alternativen Politik planiert. Und wer sonst noch als Christdemokrat öffentlichkeitswirksam auftreten will, muss sich der Schar der Schmeichler und Mutti-Anhänger anschließen. Niemand wagt es, gegen sie aufzustehen. Auch CSU-Chef Seehofer bildet da keine Ausnahme. Obwohl er mit seiner Forderung einer Obergrenze für Flüchtlinge die schärfste Antithese zur Politik von Angela Merkel formuliert hat, muss er sie nun doch als einzig mögliche Kanzlerin der nächsten vier Jahre anpreisen.

Es ist Merkels größte Stärke, ihre Schwächen in Stärken verwandeln zu können. Wie geschickt sie ihre Unscheinbarkeit als Statement von Sachlichkeit und Glaubwürdigkeit inszeniert, haben wir bereits gesehen. Ähnliches gilt für eine weitere Schwäche, die für einen Politiker eigentlich fatal sein müsste: Angela Merkel kann nicht gut reden. Max Weber hatte ja noch die Vorstellung, Politik sei Kampf, und dieser Kampf werde als Redeschlacht im Parlament ausgetragen. Davon haben wir uns mit der Pfarrerstochter aus der DDR unendlich weit entfernt. Doch wie kann man aus der Schwäche, nicht gut reden zu können, eine Stärke machen? Die Antwort findet sich bei dem antiken Philosophen Sokrates. Er hat die Rhetorik der Antirhetorik erfunden: Ich kann nicht gut reden, ich kann nur die Wahrheit sagen. Und genau so präsentiert sich Angela Merkel. Zu ihrem Kult der Einfachheit gehört auch das Schweigen als Waffe. Es erstickt jede Debatte im Keim – ob innerparteilich, parlamentarisch oder kulturell. Viele empfinden dieses neue Biedermeier als durchaus angenehm. Mutti schwebt über den Parteien und behält mit der Raute das letzte Wort.

Ein radikaler Umbau der Traditionspartei

Am Anfang war der Vatermord. Helmut Kohl hatte Angela Merkel als sein »Mädchen« aufgezogen und musste plötzlich erfahren, dass er eine Schlange an seinem Busen genährt hat. Den tief in die CDU-Parteispendenaffäre verstrickten Altkanzler, der sein Ehrenwort über das Aufklärungsinteresse des Parlaments stellte, hat Merkel im Alleingang politisch ermordet. Das war scheinbar motiviert von protestantischer Rechtschaffenheit, aber gnadenlos machiavellistisch exekutiert. Seither liebt sie es, Alpha-Tiere abzuservieren. Es kann deshalb nicht überraschen, dass es seit Jahren für sie keinen Herausforderer mehr gibt, weder in der Partei noch im Parlament. Und daran wird auch Martin Schulz nichts ändern, der von den SPD-Fans nur deshalb so enthusiastisch gefeiert wurde, weil er ein unbeschriebenes Blatt ist, auf das jeder seine Sehnsüchte projizieren kann.

Geräuschlos werden innerparteiliche Gegner niedergehalten. Roland Koch und Friedrich Merz sind nur die bekanntesten Namen auf einer langen Opferliste. Und indem Angela Merkel alle Kritiker ausschaltet, macht sie sich selbst alternativlos. Das hat allerdings auch zur Folge, dass sich in der CDU niemand mehr profilieren kann. Wer Karriere machen will, hat nur noch die Option, in den Chor der Schmeichler einzustimmen. Deshalb macht sich auch niemand mehr über die unbeholfene Pfarrerstochter lustig. Denn jeder weiß, dass es lebensgefährlich ist, sie zu unterschätzen. Tatsächlich hat Merkel mittlerweile eine eigentümliche Souveränität des Auftritts erreicht. Diese Souveränität zeigt sich in dem müden Blick, mit dem sie jedem Kritiker oder Gegner Langeweile und Verachtung zugleich signalisiert.

Nach dem politischen Vatermord hat Angela Merkel eine rigorose Strategie der Modernisierung der CDU verfolgt – mit so durchschlagendem Erfolg, dass man heute beim besten Willen nicht mehr sagen kann, was konservativ an dieser Partei sein soll. Seither sind die konservativen Bürger in Deutschland heimatlos. Durch eine konsequente Sozialdemokratisierung und Vergrünung hat Merkel die CDU entkernt. Machtpolitisch betrachtet war das ein genialer Schachzug. Da die SPD-Basis immer schon größte Vorbehalte gegen Schröders Agenda 2010 gezeigt hat, war es für Merkel ein Leichtes, sich selbst als deren Verteidigerin zu positionieren. Dies – und nicht erst die Große Koalition – hat es der SPD fast unmöglich gemacht, sachliche Kritik an einer Kanzlerin zu artikulieren, die praktisch sozialdemokratische Politik exekutiert.

Gleichzeitig hat Angela Merkel den Grünen alle wesentlichen Themen weggenommen. Mit der Entscheidung, aus der Atomenergie auszusteigen, ist das jedem deutlich geworden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Kanzlerin gerade unter Grünen-Politikern viele Fans hat.

Ein derart radikaler Umbau einer Traditionspartei war nur möglich, weil Angela Merkel immer ein Fremdkörper in der CDU gewesen ist. Die bürgerlich-konservative Geschichte dieser Partei ist für sie unverbindlich. Gerade deshalb kann sie sich als politische Dialektikerin bewähren. Das Bild, das sie den Bürgern im kommenden Wahlkampf vermitteln will, sieht so aus: Mit der Agenda »Deutschland 2025« präsentiert sich die ursprünglich ja einmal konservative CDU als die eigentliche zukunftsorientierte Partei, während die ursprünglich ja einmal reformorientierte SPD gegen ihre eigene Agenda 2010 zurück in die Vergangenheit will. Wer dieser Dialektik nicht folgen kann und einfach nur christdemokratisch wählen möchte, wird im Herbst ratlos vor dem Wahlzettel stehen. In Deutschland haben nur die Bayern noch die Möglichkeit, eine bürgerlich-konservative Partei zu wählen.

Der Mythos der nüchternen Naturwissenschaftlerin

Auf der Suche nach dem Erfolgsgeheimnis von Angela Merkel stoßen wir schließlich auf den Mythos von der nüchternen Naturwissenschaftlerin. Dass sie an der Karl-Marx-Universität in Leipzig zur Physikerin ausgebildet wurde und heute mit einem Physikochemiker verheiratet ist, weckt die Erwartung von Sachlichkeit und analytischer Intellektualität. Und tatsächlich steht sie zunächst für eine durchaus ideenfreie Politik des Opportunismus und der »resilience«. Man muss wohl beide Begriffe angesichts der Komplexität der politischen Welt mit einem positiven Vorzeichen versehen, denn Opportunismus ist ja eigentlich nur der Sinn für die günstige Gelegenheit, die rechtzeitig zu ergreifen gerade den guten Politiker ausmacht. Und »resilience« ist der nicht elegant übersetzbare englische Begriff für die Fähigkeit, auf Unvorhergesehenes geistesgegenwärtig und elastisch zu reagieren. Es spricht also vieles für Charles Lindbloms Definition der Politik als Wissenschaft vom Sichdurchwursteln. Dass man nur »auf Sicht« fahren kann und die »Visionen« besser den Propheten überlässt, hat Angela Merkel anfangs überzeugend verkörpert.

Doch alles änderte sich am 11. März 2011 mit der Reaktorkatastrophe in Fukushima. Fügen wir hier gleich hinzu, dass schon zuvor und verstärkt dann 2012 in Griechenland Merkel aufgrund ihrer Euro-Politik mit Hitler verglichen wurde. Beides muss sie traumatisiert haben. Denn von nun an startet sie ihre Alleingänge in Europa, ja in der Welt – ein Alleingehen, das natürlich als Vorausgehen interpretiert wird. Mit der »Energiewende« nach Fukushima und der »Willkommenskultur«, die mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gebracht hat, sind zwei emotionale Großentscheidungen gefallen, die unser Land in unabsehbarer Weise verändern werden.

Wohlgemerkt: emotionale Großentscheidungen. Denn man kann nicht von Strategie, sondern nur von Hysterie sprechen, wenn ein Land aufgrund einer Havarie auf der anderen Seite des Globus plötzlich entscheidet, aus der Atomenergie auszusteigen, während die restliche Welt weiter Atomkraftwerke betreibt, und zwar gerade auch die Nachbarn Deutschlands, und eben auch nach wie vor Japan. Dieser deutsche Alleingang zwingt uns zu der Interpretation, dass wir die einzig Vernünftigen in einer Welt von Verblendeten sind. Das Gleiche gilt für die Flüchtlingskrise. Kein anderes europäisches Land denkt auch nur im Traum daran, Flüchtlinge in ähnlicher Zahl wie Deutschland aufzunehmen. Müssen wir daraus schließen, dass wir die einzig Guten sind, der Rest der Europäer aber herzlos ist?

Man müsste tief in der deutschen Nachkriegsseele loten, um zu erklären, warum diese emotionalen Großentscheidungen fast widerstandslos akzeptiert wurden. Was sie Merkel politisch gebracht haben, ist allerdings leicht zu sagen. Mit der »Energiewende« hat sie das stärkste grüne Oppositionssymbol »Atomkraft? Nein danke« aus der Welt geschafft. Und mit der »Willkommenskultur« hat sie sich an die Spitze der Gutmenschenbewegung gesetzt. Die asexuelle Physikerin entpuppt sich als Mutter Teresa. Dass sie genau das kommunizieren will, machen die berühmten Selfies mit Flüchtlingen klar.

Das größte Selbstopfer seit dem Zweiten Weltkrieg: »Wir schaffen das«

Mit ihren emotionalen Großentscheidungen hat Angela Merkel den Deutschen das größte Selbstopfer seit dem Zweiten Weltkrieg zugemutet. Wer nach den Gründen fragt, wird zwangsläufig zum Hobbypsychologen. Hat sie der Vergleich mit Hitler in Griechenland getroffen? Haben sie die Bilder der weinenden syrischen Kinder erweicht? Man kann aber auch etwas härter und zynischer fragen: Spekulierte sie auf den Friedensnobelpreis? Es ist ja leicht erkennbar, dass der Spruch »Wir schaffen das«, mit dem sie in die Geschichte eingehen wird, eine deutsche Kopie von Barack Obamas Wahlkampfslogan war. Aus dem »Yes, we can«, das dem amerikanischen Präsidenten schon kurz nach Amtsantritt, also ohne dass er schon etwas geleistet haben konnte, den Friedensnobelpreis einbrachte, wurde das merkelsche »Wir schaffen das«.

Diese Formel war erfolgreich, weil zwei Fragen nicht gestellt wurden. Erstens: Wer ist das »Wir«? Ist es der Pluralis Majestatis der Kanzlerin, die diese einsame Entscheidung getroffen hat? Oder ist die politische Verantwortung der Großen Koalition gemeint? Oder ist es das Wir des deutschen Volkes, dem seine Kanzlerin gut zuredet, dass es die Folgelasten schon tragen wird? Und die zweite Frage, die durch das »Wir schaffen das« verdeckt wird, lautet: Wollen wir das überhaupt schaffen? Der Merkel-Slogan möchte suggerieren, dass nicht die Kanzlerin allein, sondern wir alle diese Jahrhundertentscheidung getroffen haben, eine Million Flüchtlinge und Migranten weitgehend unkontrolliert ins Land zu lassen. »Wir schaffen das« ist das Spitzenprodukt einer Rhetorik der Alternativlosigkeit.

Natürlich gab es auch kritische Stimmen, aber sie waren in den Mainstream-Medien kaum öffentlichkeitswirksam. Die politische Korrektheit hat sie von Anfang an als »rechtspopulistisch« marginalisiert – und das gilt bis zum heutigen Tag nicht nur für die AfD, sondern auch für die Regierungspartei CSU. Dennoch ist es erstaunlich, dass auch die prominenteste dieser kritischen Stimmen kaum Gehör fand. Auf Veranlassung des Freistaats Bayern legte der Verfassungsrechtler Udo di Fabio ein Gutachten vor, das Merkels Politik fortdauernden Rechtsbruch bescheinigt. Indem sie die in Ungarn befindlichen Flüchtlinge nach Deutschland schleuste, setzte Angela Merkel das Dublin-Verfahren der EU und eine wirksame Kontrolle der eigenen Landesgrenzen außer Kraft. Als hätte die Pfarrerstochter über die Realpolitikerin gesiegt, galt humanitaristische Moral mehr als Verfassungsrecht.

Wir können dahingestellt sein lassen, ob di Fabios Gutachten zutreffend ist oder nicht. Viel wichtiger ist in unserem Zusammenhang die Frage, warum dieser gravierende Vorwurf des Rechtsbruchs keine ernsthafte öffentliche Diskussion auslöste. Warum ließen sich die Massenmedien die Chance einer Skandalisierung entgehen? Die Antwort kann man an ähnlichen, aber kleinformatigeren Fällen ablesen, zum Beispiel Manfred Stolpe, der mit seiner Stasi-Vergangenheit konfrontiert wurde, und Joschka Fischer, dem man die aktive Teilnahme an gewalttätigen studentischen Demonstrationen nachweisen konnte. Der Medienwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger hat sehr schön gezeigt, dass die Skandalisierung in diesen Fällen scheiterte, weil ihr die politischen Interessen der Journalisten selbst im Weg standen. Das gilt eben auch für Angela Merkel. Sie repräsentiert die humanitaristischen Positionen der meisten Journalisten. Dafür gibt es weltweit Beifall, der allerdings von Heuchelei kaum zu unterscheiden ist. Wer hierzulande naiv genug ist, sonnt sich seither in dem Wohlgefühl: Wir sind Weltmeister im Guten.

WERNER J. PATZELT

WOHIN STEUERT DIE UNION?

Die Kanzlerin hat ihre Partei in eine schwierige Lage gebracht

Schon Anfang Februar 2015 hatte sich Kanzlerin Merkel plötzlich unwohl gefühlt. Ende des Monats musste sie in eine Klinik; kurze Zeit später druckte man Nachrufe. Sie alle rühmten Angela Merkels beispielhafte Pflichterfüllung, lobten die verstorbene Kanzlerin als Meisterin umsichtiger Staatskunst, nannten sie ein Vorbild an Verantwortungsethik und Weitblick. Viele Deutsche fühlten sich verwaist beim Abschied von einer Kanzlerin auf dem Gipfel ihres Ansehens. Die CDU erinnerte sich stolz einer Vorsitzenden, die bei Bundestagswahlen ihre Partei verlässlich zu Siegen geführt und sie in der »Sonntagsfrage« der Meinungsforschungsinstitute viele Jahre lang auf über 40 Prozent gebracht hatte. Unangreifbar war sie als Anführerin Europas. Und auch wenn man sie in Südeuropa nicht sonderlich mochte, war sie in Deutschland die beliebteste Politikerin. Nur eine plötzliche Erkrankung konnte sie besiegen.

Eine Bilanz mit dunklen Flecken

Es kam anders. Noch viele Jahre voller Gesundheit und Tatkraft seien Angela Merkel gewünscht. Doch einst werden die Nachrufe auf sie anders klingen. Sie dürften handeln von Merkels Anteil am Auseinanderdriften Europas, an der finanziellen und emotionalen Überforderung des guten Willens der deutschen Einwanderungsgesellschaft, an der Entprofilierung der CDU, am Zulassen einer dauerhaften Konkurrenzpartei rechts der Union. Vielleicht wird Kohls Erbin als meist vorsichtige Bundesmutter erinnert werden, doch auch als Stiefmutter ihrer Partei.

Gewiss wollte sie deren Bestes, natürlich in Verbindung mit eigener Macht und persönlichen Möglichkeiten zu gestaltender Politik. Und sie versuchte ihre Stellung gerade auch mit dem Aufgeben solcher Positionen zu sichern, deren Verteidigung nicht länger zu lohnen schien. Doch manch verlassene Stellung gilt vielen Christdemokraten weiterhin als wichtig – aus sachlichen Gründen, wie beispielsweise die allgemeine Wehrpflicht und die Nutzung der Kernenergie, oder für die Seelen von Partei und Land, wie ein freudiges Bekenntnis zur traditionellen Familie, zur eigenen Kultur und zur deutschen Nation. Bei alledem scheint die Kanzlerin nach Meinung vieler auch ohne den auf Eile drängenden Entscheidungszwang, wie bei der Euro- und der Flüchtlingskrise, falsch gehandelt zu haben – und auch bei der Auswahl von Bundespräsidenten oder beim Umgang mit der FDP als Koalitionspartner.

Und durchaus fremdeln lässt es mit der eigenen Vorsitzenden, wenn sie in Wahlkämpfen – wie 2016 in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz – fast überschwängliches Lob vom politischen Gegner, wie den Grünen, für solche Politik bekommt, die – wie die Zuwanderungspolitik – in den eigenen Unionsreihen höchst umstritten ist, der neuen Konkurrenz von rechts aber ziemlich nützt. Da helfen auch rekordverdächtige Applaussequenzen für die Vorsitzende auf CDU-Parteitagen nur wenig, auch nicht Ergebnisse bei der Vorsitzendenkür wie einst im Osten. Nicht wenige Beobachter halten das nämlich für eine Fassade, die mehr durch Parteidisziplin, Druck, Opportunismus und Feigheit ihrer innerparteilichen Gegner als durch belastbare Überzeugungen aufrechterhalten wird.

Erst das eigene Medienbild, dann mediengenährter Meinungsdruck – und am Ende das Schicksal der klassischen CDU: So kommt nicht wenigen die Ratio von Merkels Handeln vor, und zwar nicht nur bei der Flüchtlingspolitik. Allerdings beugt man sich solcher Führung, solange die CDU das sein kann, was sie am liebsten ist: ein Kanzler(innen)wahlverein.

Tatsächlich